Die Institutionalisierung des Imperiums

Studien zum Ostblock der Chruschtschovära


Forschungsarbeit, 2008

490 Seiten


Leseprobe


Inhalt

1. Der Ostblock als internationales System: Gegenstand und Begriffe

2. Hierarchien als Ausdruck von Macht

3. Institutionentheorie, institutionelle Konfigurationen, institutioneller Wandel

4. Das Krisenjahr

5. Die Institutionalisierung des RGW in der ersten Hälfte der 60er Jahre

6. Die Koordinierung des Westhandels im RGW

7. Eine institutionelle Konfiguration des Ostblocks?

8. Quellen- und Literaturverzeichnis

1.) Der Ostblock als internationales System: Gegenstand und Begriffe

1.1) Das Forschungsinteresse

Wir wissen nicht hinreichend, wie der Ostblock funktionierte. Wir wissen nicht hinreichend, wie Imperien funktionieren. Wir wissen nicht hinreichend, wie Institutionalisierung funktioniert. So könnte zugespitzt das Forschungsinteresse wie das Dilemma dieser Arbeit charakterisiert werden. Probleme bestünden dann auf drei Ebenen: historisch konkreter Gegenstand, universalhistorische Typologie und theoretisches Modell. Den Ausweg soll eine Symbiose aller drei Ebenen bieten.

Wenn diese Aussage für den Ostblock zutreffend ist, liegt die Ursache weniger in fehlenden „Quellen“ als in fehlenden oder zumindest „stumpfen“ Analyseinstrumenten. Somit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis historischer quellengestützter Forschung und politischer Theorie. John L. Gaddis hat dies mit einer Marktanalogie anschaulich gemacht: “One way historians might solve this problem would be to regard themselves as consumers but not necessarily as producers of theories. Consumers select merchandise from a wide variety of sources according to their own utilitarian standards; producers specialize by turning out only commodities for which they believe markets exist. No producer, however ambitious, can hope to satisfy all consumer needs; no consumer would feel obliged to purchase only what a single producer makes.” Und weiter: “The task of the historian, then - like the role of the consumer in the marketplace - may well be to take from the shelf those theories that help us to understand what happened, to reject those that do not, but to do this without producing the unfortunate side effects that come than incompatible theories, like indigestible commodities, are mixed together.”[1] Geschichte wäre in diesem Sinne eher eine “kaufende” Wissenschaft, die auswählen, anwenden und testen kann.

Warum aber diese Selbstbeschränkung auf die Konsumentenposition? Sicher ist dies ein Gebot der Arbeitsteilung auf dem „Marktplatz“ wissenschaftlicher Erzeugnisse, also arbeitsökonomischer Vernunft und wissenschaftlicher Professionalität. Zudem schränkt sich die „Verkäuflichkeit“ der Ergebnisse ein, wenn man nicht gezielt für einen Markt produziert. Dennoch kann diese Selbstbeschränkung mit ihrem Gewinn an Spezialwissen dazu führen, auf einem Auge blind zu bleiben. Gerade für das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und politischer Institutionentheorie ist dies relevant: „Denn weder ist die Theoriebedürftigkeit für die Geschichtswissenschaft noch ist die historische Grundlegung für die Politikwissenschaft ein jeweils additiver Luxus. Vielmehr enthält die Formel ‚historische Theorie’ eine für beide Wissenschaften gültige komplementäre Verweisung.“[2] Dabei soll es allerdings nicht um die „Historizität“ von Institutionen in dem Sinne gehen, dass ein „Gewordensein“ die Voraussetzung jeder Institution ist. Dies ist entweder trivial oder es konstituiert eher eine Forschungsfrage, die sich auf die Typen von Institutionenbildung bezieht, als ein methodologisches Vorverständnis. Geschichte ist hier eher eine Frage des Gegenstandes und der empirischen Methoden, weniger aber eine theoretische Implikation.

In einer kurzen Bestandsaufnahme der Zeitgeschichtsforschung zu unserem Gegenstand wurden drei Charakteristika benannt, die einen aktuellen Trend, den Anspruch des konkreten Projekts wie die Zukunftschancen der Disziplin ausdrücken. Der aktuelle Trend ist offensichtlich und dominant: „echte zeitgeschichtliche Forschung“ mittels „neuer Quellen“. Zum zweiten bedürfe die „Ausdifferenzierung der vielfältigen Dimensionen“ des Gegenstandes des „interdisziplinären Vorgehens“[3]. Zum dritten seien „neue Möglichkeiten des wissenschaftlichen und intellektuellen Diskurses“ gegeben, die „andere methodische Kontroversen“ beinhalten werden.[4] Die letzten beiden Forderungen decken sich wiederum mit dem Anspruch der neuen institutionalistischen Ansätze.[5] Hier sollen die Chancen, ja die Notwendigkeit hervorgehoben werden, diese drei Dimensionen zusammenzufügen. Es gibt zudem eine Reihe „pragmatischer“ Gründe für den Versuch, eine interdisziplinäre Theoriediskussion mit historischer Quellenarbeit zu verknüpfen. Geschichte ist keineswegs nur ein Illustrationsfeld für Theorien. Die historische Methode bietet eine spezifische Form und ein höheres Maß an Selbstkontrolle; eine Verbindung ist fruchtbar.[6] Für den Institutionalismus trifft dies in besonderem Maße zu. Einerseits wäre eine theoretische Entwicklung von erheblicher Bedeutung, die „important areas of theoretical convergence among scholars studying the advanced capitalist states, the former Soviet bloc, and the several regions of the less developed world“ leisten würde; andererseits erscheint diese noch weit entfernt vom Status einer Theorie.[7] Insgesamt kann man A. Wendt darin folgen, “that just as good social science is historical, good history is structural and theoretical”.[8] Es soll also eine „solche disziplinübergreifende, geschichts- und politikwissenschaftliche Untersuchungen mit einbeziehende Perspektive“ gewählt werden, die R. Blänkner angeregt hat.[9] Wie steht es allerdings mit dem Gegenstand? Ist er für ein solches Herangehen geeignet? Besteht ein Forschungsinteresse“

Das Ende des Ostblock bedeutete für seine Erforschung einen Anfang. Dennoch musste mehr als zehn Jahre nach diesem „Wendepunkt der Geschichte“ konstatiert werden, dass der Ostblock zu den „vernachlässigten Bereichen der Historiographie“ gehört.[10] Um so mehr gilt dies für die Erforschung seiner inneren Beziehungen. Der Gegenstand ist durch seinen „Untergang“ neuen Perspektiven ausgesetzt, nicht zuletzt aber Gesamtdeutungen. Es braucht nicht weiter erläutert zu werden, dass die „Überreste“ des realen Sozialismus eine ganz neue Basis für seine Untersuchung bieten. Der „Sturm auf die Archive“ droht allerdings die Präzisierung der tragenden Konzepte weit hinter sich zu lassen und beraubt sich damit zugleich seiner Möglichkeiten. Aber nicht nur angesichts des enormen Quellenfundus bietet die Geschichte des Ostblocks neue Chancen auch für die Theorieentwicklung. Der hier gewählte Gegenstand ist gekennzeichnet durch eine spezifische Merkmalskonstellation, die andere „Tests“ erlaubt als andere Konstellationen. Bestimmte Variablentypen sind in besonderem Maße ausgeprägt, andere wiederum gar nicht. Möglicherweise sollte ja die Spezifik des Ostblocks, die Erkenntnis, dass die Beziehungen zwischen ihren Teilen in vielerlei Hinsicht eine Beziehungsform sui generis darstellt[11], nicht als Hemmnis für theoretische Zugänge gewertet werden, sondern als Chance. Die Eignung des Themas zur Bereicherung der theoretischen Diskurse steht im Gegensatz zum bisher dominierenden Interesse der Forschung.[12] Es wurde darauf hingewiesen, dass „bestimmte Konstellationen ein ‚umrissenes Handlungssystem’ darstellen, also eine abgegrenzte, nicht zu große und im wesentlichen gleichbleibende Gruppe von Akteuren bilden“.[13] Dies trifft hier zu und ermöglicht es, bestimmte Variablen als konstant anzunehmen. Damit ist der Gegenstand für die Bildung von Typen (z.B. Imperium) wie von Theorien (z.B. Institutionalismus) besonders geeignet.

Weiterhin existierte ein Akteur mit eindeutigen Ressourcenvorteilen, wodurch es möglich wird, Theorien von Macht und Einfluss zu testen. Ähnliches trifft auf den Anspruch der Akteure zu, ihr Handeln durch eine Ideologie leiten zu lassen. Zudem spielten die „Umweltbedingungen“ eine wesentliche Rolle – Bedingungen, die im Spannungsfeld von scharfer Abgrenzung wie hoher Interdependenz existierten. Es soll allerdings gezeigt werden, dass ein Forschungsdesign für den Ostblock nicht bei der Frage nach dem Einfluss von Macht und/oder Ideologie stehen bleiben darf. Diese Konzepte gilt es zu präzisieren, zu differenzieren und als Konfiguration ihrer Ausprägungsstufen und Mechanismen wieder zusammenzuführen. Dazu sollen institutionentheoretische Ansätze genutzt werden, die zugleich eine Klärung ihrer Grundlagen und Anwendungsformen erfahren können. Für die Institutionentheorie ist es besonders interessant, dass trotz der genannten Bedingungen zahlreiche „soziale Dilemmata“ zwischen den Akteuren existierten, die zu einem spezifischen Institutionalisierungsniveau beitrugen. Zunächst gilt es, die Konzepte der Ostblockforschung zusammenzutragen, zu systematisieren und auf ihre Übertragbarkeit in ein integratives Konzept zu befragen.

1.2) Konzepte und Begriffe der Ostblockforschung

Welche Lösungen bietet die Literatur auf die Frage „Was war der Ostblock?” Dies meint seine Natur, sein Wesen, seine Typik als eine Art „internationales Subsystem“. Hier können Antworten erwartet werden; immerhin galt die „nature of Soviet-East European relationship on an interstate level“ als eines der bedeutendsten Themen der Kommunismusforschung.[14]

Die Standartbezeichnungen für den Ostblock[15] verweisen auf ein Ordnungskriterium, das einer vorläufigen Einordnung bisheriger Ansätze dienen kann. Er erscheint als in hohem Maße ungleiche Beziehungsform. Dies lässt sich am ehesten unter dem Begriff einer hierarchischen Beziehung zusammenfassen. Somit verwundert es nicht, dass „Imperium” als weit verbreitetes Konzept gelten kann.[16] Nicht nur die beiläufige Benennung des Ostblocks als Imperium, sondern auch die ambitionierte Einordnung als „essential imperial system“ bleiben aber ohne Definition desselben.[17] Dabei zeigt sich ein Mangel an Kriterien, die ein solches Imperium erkennbar und abgrenzbar gegenüber anderen Konzepten machen. Wenn der Wandel von einem Moskauer „Kolonialimperium“ zu einer „much looser configuration“ gerade an dem Wandel von „informellen“ zu „formellen“ Beziehungsstrukturen deutlich gemacht wird[18], spricht dies deutlich für eine Verwirrung der Begriffe und Konzepte. Für die Stalinsche Phase herrscht im wesentlichen Konsens, dass eine „essentially empirial relationship“ (Gitelman) bestand. Diese sei gekennzeichnet durch „complete political subordination“ – ausgedrückt in den ökonomischen Beziehungen, der Position sowjetischer Berater, Diplomaten und Funktionäre, dem engen Grad für erlaubtes politisches Verhalten (inklusive der „methods of deviance control“), wie der Konformität bei der Nachahmung des sowjetischen Vorbildes.[19] Diese Kriterien werden spätestens für die 60er Jahre in hohem Maße zweifelhaft. Ist also „Imperium“ als übergreifender Begriff für den Ostblock im gesamten Verlauf zu gebrauchen? Historiker bejahen dies durchaus, ohne dass der Begriff geklärt wird.[20] Die sowjetischen Parteiführer erscheinen als „die höchsten Entscheidungsträger des größten Imperiums der Welt“.[21] Mitunter ist von einem „sowjetischen Neo-Imperialismus“ die Rede, zu dessen Instrumenten gerade neue institutionalisierte Formen und Räume wie Warschauer Vertrag und RGW gehören.[22] Andere Autoren gehen davon aus, dass Osteuropa bis zu Stalins Tod „much like the peripherie of a national empire in which the Soviet Union had effective decision making power and military control“ ausgesehen habe, dann aber starken Veränderungen unterworfen war. Die Charakterisierung dieser Veränderung erschöpft sich aber darin, mehr „leverage“ für die kleineren osteuropäischen Staaten zu konstatieren.[23] Wenn für das Jahr 1957 von einer „Wiederherstellung der hierarchischen Strukturen im Ostblock“ die Rede ist, andererseits für 1955/57 von einer „qualitativen Wandlung“ vom „Protektorat zur begrenzten Souveränität“[24], muss nach graduellen wie qualitativen Veränderungen dieser Hierarchie gefragt werden wie nach den Mechanismen, auf denen sie beruhte. Darauf wird gleich zurückzukommen sein. Für zahlreiche Autoren bleibt der Befund eindeutig: „Der sowjetische Block fungierte in fast jeder Hinsicht, nur nicht dem Namen nach, als Imperium.“[25]

Dem „Imperium“ eng verwandt ist eine Beschreibung als „Block“. Dies kann durchaus über die bloße Bezeichnungsfunktion dieses Begriffs (die in dieser Arbeit genutzt wird) hinausgehen und eine spezifische Merkmalskonstellation abbilden. So sei der Ostblock eine innengerichtete Verbindung von Staaten mit hoher „vertikaler Integration“. Er sei durch einen Hierarchiegrad zwischen einem voll ausgebildeten Satellitensystem und einer wirklichen Allianz unter Gleichen anzusiedeln. Damit erscheint der „Grad der hegemonialen Kontrolle“ als wichtiges Unterscheidungskriterien gegenüber anderen regionalen „Blöcken“.[26]

Somit verwundert es kaum, dass die Bezeichnung als hegemoniale Ordnung zu den verbreitetsten gehört.[27] Darstellungen, die einer totalen sowjetischen Hegemonie Phasen einer kontinuierlichen Erosion der Hegemonie gegenüberstellen[28], implizieren allerdings stufenlose Ausprägungen und Veränderungen von Hegemonie im sowjetischen Einflussbereich, ohne die Bezeichnung verändern zu müssen. So wird auch in der neuesten Forschung die „sowjetische Hegemonie“ als die Beziehungsform des Ostblocks angenommen, aber auch mit der anfänglichen „Unmöglichkeit, eine von der sowjetischen (...) Linie abweichende Außenpolitik betreiben zu können“, gleichgesetzt.[29]

In enger Nachbarschaft zur „Hegemonie” steht die Beschreibung als „Allianz” unter Beteiligung einer klar dominanten Macht. „A portrait thus begins to emerge of an alliance containing many behavioral cleavages – an organization that, despite its founding by an authoritarian hegemon, has become diverse and dynamic. The Soviet Union is confronted by an alliance which, for all intents and purposes, includes states that do not behave as allies (…).”[30] Dies ist vor allem als Trendaussage gedacht, nach der sich der Charakter des Warschauer Vertrages in einem Spektrum vom Imperium zur Allianz bewegte: „Behaviorally, the Warsaw Pact has become so diverse that it no longer evinces the mark of Soviet dominance that it did fifteen years ago.”[31] Allerdings befriedigt die Vorstellung eines linearen Trends von einem Stalinschen Imperium zu einer Breshnewschen Allianz[32] keineswegs. Es ließe sich zumindest ergänzen oder ersetzen durch ein zyklisches Modell, in dem sich fragilere Phasen der Einheit oder gar Krisen mit Trends zu „cohesion and unity“ abwechselten. Immerhin wandelte sich gemäß Einschätzungen auch neuer Forschungen das „Hegemoniegebiet“ der UdSSR, ihre „Machteinflusssphäre“ in einen „politisch homogenen, gegenüber der westlichen Welt feindlichen, praktisch in sich geschlossenen und durch innere Bindungen vereinten Staatenblock, der von den Interessen der sowjetischen Politik gelenkt wurde“.[33] Dies impliziert – für uns von besonderem Interesse – die Vorstellung von einem politisch gesteuerten Wandel der institutionellen Formen, die diese Stabilität garantierten. So wurde eine “very real transformation in Soviet-East European relations” konstatiert, “away from domestic innovation in pursuit of regime viability and toward ‘unity and cohesion’ through a comprehensive integrationist program”.[34] Ließe sich dies nicht auch für unseren Zeitraum nach 1956 behaupten? Gerade eine institutionenorientierte Darstellung konstatiert eine solche Entwicklung: “This evolutionary process has not always been irreversible but, on the whole, present methods of cooperation between the USSR and the other members of the socialist commonwealth have leaned in the direction of mutual concession, conference, and discussion.”[35] Eine solche Entwicklung des „neuen Osteuropa“ zu einer „neuen Allianz“ seit 1956 wurde insbesondere in der Forschung vor dem Prager Frühling beobachtet.[36] Aber auch die neueste Forschung konstatiert im Verhältnis der UdSSR zu ihren Satelliten um das Jahr 1956 „einen Paradigmenwechsel weg von rigoroser Hegemonialpolitik hin zu begrenzter Souveränität“.[37] Wie zu zeigen sein wird, schließen Standartdefinitionen von Hegemonie den Erhalt von Souveränität gar nicht aus.

Am Ende des Spektrums steht das Konzept einer realen Allianz, die ungeachtet der Machtdifferenz Anreize für alle Beteiligten produzierte. „We may thus consider the monolithic unity of the Socialist countries established at the beginning of the 1950s to be objectively justified, mainly by the international situation, but it must not be treated as an inherent feature of the Socialist system. As a matter of fact, this unity gave essential profits to all the Socialist countries, bringing them economic aid and political security.” Diese Betonung auch positiver Anreize für die “Einheit” gerät allerdings in Konflikt mit den “Methoden”: “On the other hand, the Stalinist methods of securing this unity gave rise to negative effects, such as, above all, the violation of the theoretical principle that guaranteed equal rights to all members of the Socialist camp.”[38] Das Allianzkonzept wird aber auch in einer völlig entgegengesetzten Intention verwendet; es dient als Muster, um den spezifischen Charakter des Ostblocks, seine Abweichungen vom Grundmodell einer Allianz thematisieren zu können.[39] Insgesamt wurde gegen dieses Label eingewandt, dass “the word alliance is so broad as to be virtually synonymous with international politics in general”, so dass seine Perspektiven für die allgemeine Analyse unklar werden.[40] Der Allianzbegriff macht wohl nur als Ausdruck schwacher Hierarchien einen Sinn.

Im Gegensatz zu den dominierenden Vorstellungen eines extrem hierarchischen Gefüges entdeckte die amerikanische Forschung Mitte der 70er Jahre die osteuropäischen Länder als Akteure von „international politics“.[41] Dies bedeutet, dass die Instrumente „normaler“ politikwissenschaftlicher Forschung auf den Gegenstand angewendet wurden, vor allem aber bedeutet es eine Ausdifferenzierung der Perspektiven wie die Abkehr von einem einheitlichen Label. Eine Suche nach einheitlichen Beschreibungskategorien fand damit gerade nicht statt. Eine gewisse Ausnahme bildet ein Beitrag von Kuhlman, der auf der Basis eines „issue-linkage“-Ansatzes Schritte zu einem Gesamtmodell versucht, das (außen-) politisches Verhalten im Ostblock systematisch darstellbar macht. Dabei konstruiert er vier Variablensets, die miteinander in Beziehung stehen und unterschiedliches Gewicht besitzen. Als zentrales Element ständen die Parteieliten der Politikformierung am nächsten. Abhängige wie unabhängige Variablensets sind inhaltlich miteinander verbunden, aber nicht systematisch geordnet. So erscheinen auf der Seite der „domestic politics“ historisch-kulturelle, sozial-ökonomische, organisatorisch-institutionelle Faktoren, an zentraler Stelle ergänzt um Eliten und Faktionen. Auf der Seite der internationalen Politik stehen: I. Ökonomie und Sicherheit, II. Kern und Peripherie; Solidarität mit der Region; III. Die Position in der internatonalen Bewegung wie die Entwicklung der Ideologie; IV. Diplomatie und Vereinte Nationen.[42] Dies ist eher eine systematisierte Checkliste als eine systematisches Modell. Somit verwundert es nicht, wenn Charles Gati in seiner Einführung eines wichtigen Sammelbandes keinen Versuch macht, die Beiträge durch ein gemeinsames Band zu verknüpfen, dagegen aber betont, dass die behandelte Region als „enfant terrible of the international Politics of this century“ gelten könne.[43]

Insgesamt ist es somit nicht erstaunlich, wenn konstatierende Versuche über den Ostblock sich nicht festlegen wollen: „The image of a monolithic Soviet empire in Eastern Europe always lacked credibility, probably most of all in Moscow. But the notion of a polycentric order in Eastern Europe, with individually states engaged in the pursuit of wholly independent policies, is equally absurd.”[44] Wir erfahren, dass sowjetische Macht und sowjetischer Einfluss nicht kongruent sind, dass die kleinen Mitglieder des Ostblocks in der Lage waren, eigene Interessen zu formulieren und dass das politische Ergebnis ausgehandelt wurde. Trotzdem: “In each case the external (Soviet) environment remains a recognized input in the foreign policy process.”[45] Die Erklärungen erscheinen so vage wie die Prognose, dass mit steigender Komplexität auch die Partizipation der kleineren Partner steige. Damit bleiben selbst Versuche, die Veränderungen des Ostblocks zu systematisieren, widersprüchlich. Einerseits wird der Wandel von einem monolithischen, straff gelenkten Imperium mit unbeschränkter Befehlsgewalt Moskaus zu einem „ideologisch bestimmten hegemonischen Bündnissystem“ konstatiert, in dem sich die imperialen Merkmale abgeschwächt haben; andererseits soll es sich bei Stalins Imperium nur um eine „besonders konzentrierte Form der Hegemonie“ gehandelt haben. Zudem soll Chruschtschov das Ziel Stalins, die sowjetische Hegemonie in Richtung eines Imperiums, d.h. einer absoluten Herrschaft, auszubauen, seit 1961 wieder aufgenommen haben. Als „politischer Ordnungsbegriff“ oder sogar als „Rechtsbegriff“ ist die Entwicklung „von Stalins Imperium zum hegemonischen Bündnis“ genauso wenig zu fassen wie der anhaltende „Schwebezustand“ zwischen „absoluter Herrschaft (De-jure-Imperium) und dem Zerfall des Hegemonialverbandes“.[46] Auch die neueren Versuche, gestützt auf die Auswertung osteuropäischer Archive, „qualitative Wandlungen“ vom „Protektorat zur begrenzten Souveränität“ zu beschreiben, zeigen die grundsätzlich fehlende Präzision und Aussagekraft solcher Bezeichnungen.[47] Dies sagt nicht mehr und nicht weniger als die üblichen Feststellungen, dass sich der Handlungsspielraum der kleineren Länder erweitert habe, insgesamt aber begrenzt geblieben sei. Dies trifft auch für die jüngeren Bemühungen zu, solche Beziehungen als disproportionale, aber gegenseitige Abhängigkeit zu erfassen. Eine solche „hegeomonial-imperiale Beziehung“ bleibt aber jenseits der vagen Feststellung einer deutlichen und dennoch eingeschränkten Hierarchie inhaltsleer.[48]

Im Rahmen dieser Beschreibungen sind Institutionen eigentlich irrelevant, erscheinen bestenfalls als verbesserte, modernisierte Hülle der grundlegenden Hierarchie. Die Geschichte des Warschauer Vertrages reflektiert demnach die „major periods of Soviet policy-interest, both internal and external“. Die politisch-militärische Organisation des Ostblocks erscheint als “entangling alliance”, deren “primary purpose is to contain a turbulent and eruptive group of countries under Moscow’s influence. Consequently, the central uses of the Warsaw Pact are internal; to contain, to police and to maintain stability.”[49] Allerdings stehen wir nicht nur vor dem Problem, Typen, Stufen und Ausprägungen hierarchischer Beziehungen exakter bestimmen zu müssen; auch und gerade die Mechanismen, die hierarchische Beziehungen fundieren, verschwinden zumeist hinter einer Sprache, die solche Beziehungen für selbstverständlich nimmt. Oder was soll es bedeuten, wenn die sowjetische Führung 1956 bemerkte, dass „das von Stalin geschaffene sowjetische ‚Imperium’ weder organisch gewachsen war noch durch natürliche Bindungsfaktoren zusammengehalten wurde“.[50]

Bei dieser ersten Betrachtung der Begriffe und Konzepte zur Beschreibung des Ostblocks zeigen sich also gravierende Defizite. Bevor die Frage beantwortet werden kann, ob diese Konzepte überhaupt einen sinnvollen Ausgangspunkt für ein Forschungsdesign bieten können, müssen die Probleme und Defizite systematisiert werden.

1. Es erfolgt keine Abgrenzung der Konzepte; häufig werden die Begriffe vermischt oder synonym gebraucht. So erscheint das „sowjetische Hegemonie“ als perfekt integriertes Befehlssystem[51], was eher ein „Imperium“ bedeuten könnte. Es kann parallel von einem Hegemonialbereich die Rede sein, der mit „realistischen“ Konzepten des Machtgefälles begründet wird, und einer perfekten politischen Integration.[52] Oder die Begründung der „Soviet Hegemony“ wird neben der militärischen Interventionsfähigkeit in der Kontrolle über die Ernennung der Spitzenfunktionäre gesehen, was eher auf Theorien strukturellen Imperialismus verweist.[53] Andere Darstellungen, die eine sowjetische Hegemonie als typisches Charakteristikum annehmen, sprechen gleichzeitig von einem „multifaceted system of influence“.[54] Dies liegt nicht nur an einer mangelnden Abgrenzung der Begriffe, sondern auch an ihrer Verwendung in unterschiedlichen logischen Kontexten. So wird das Stalinsche „hegemonic system“ als Imperium bezeichnet, ersteres zur Kennzeichnung der Beziehungsform, zweiteres zur Beschreibung des Beziehungsraumes.[55] Die gleichzeitige Bezeichnung als Imperium, Hegemonie und Allianz zeigt, dass es zumeist um plausible Bezeichnungen geht, aber nicht um heuristische Konzepte.[56]

2. Die Beschreibungen des Ostblocks sind zumeist unterkonzeptionalisiert: die Begrifflichkeiten sind unscharf, theoretische Bezüge meist nur vage. Renommierte Handbücher kommen ohne präzisierte Begriffe oder gar theoriegeleitete Konzepte aus und begnügen sich mit zeitgenössischen Formulierungen wie „unity in diversity“. Nicht nur Darstellungen, die sich bewusst als historisches Essay verstehen, beschränken sich auf Metaphern wie den „Soviet umbrella“.[57] Dahinter können sich aber ganz unterschiedliche Vorstellungen verbergen. Es dominiert eine intuitive Verwendung von Konzepten, die als vage gehaltenes Gleichnis die Verhältnisse im Ostblock plausibel machen sollen.[58] Selbst die wenigen Darstellungen, die sich vor der „Erzählung“ um eine „theoretische Perspektive“ bemühen, konstatieren vorrangig die geringe Angemessenheit westlicher Theorien wie „Integration“, die Einmaligkeit des Gegenstandes und den „great deal of situalism in all this“.[59]

[...]


[1] Gaddis.- in: The long postwar peace 1991, S. 26.

[2] Blänkner 1994, S. 86.

[3] Wie begrenzt Interdisziplinarität hier - bei der Erforschung des Schlüsseljahres 1956 - gedacht wird, zeigt die praktizierte Zusammenarbeit von „Historikern, Kunsthistoriker und Literaturwissenschaftlern“. Hahn/ Olschowsky 1996, S. 9. Dies erstaunt umso mehr als die Beziehungsdimensionen des Ostblocks hier im Mittelpunkt stehen.

[4] Auch diese wieder begrenzt gedacht: „z.B. ob stärker sozialgeschichtlich oder politikgeschichtlich, stärker äußere oder innere Faktoren gewichtend“. Hahn/ Olschowsky 1996, S. 9.

[5] Göhler 1994.

[6] Zürn 1992; King/ Keohane/ Verba 1990.

[7] Remmer 1995, S. 49 u. 60 f.

[8] Wendt 1987, S. 364.

[9] Blänkner 1994, S. 88.

[10] Foitzik 2003, S. 39.

[11] Stellvertretend Hutchings 1983, S. 5.

[12] Für seinen Gegenstand: Gitz 1992, S. 4.

[13] Schimank 1999, S. 59, der sich auf Mayntz/ Nedelmann 1987 bezieht.

[14] Gitz 1992, S. 3.

[15] Staar 1982, S. 325 ff.

[16] Rothschild 1989, S. 160, Hegedüs 1996, S. 136; Meissner 1967; Kaiser 1997; Dallin 1961; Bunce 1985.

[17] Gitz 1992, S. 2.

[18] Korbonski 1970, S. 944.

[19] Gitelman 1972, S. 7.

[20] Laut Rothschild 1989 blieb der Ostblock ein „empire in essential ways“.

[21] Dalos 2006, S. 70.

[22] Singer 1970, S. 152 ff.

[23] Remington 1971, S. 175.

[24] Ihme-Tuchel 1994, S. 178; Volkov 1999, S. 14.

[25] Maier 2005, S. 34 f.

[26] Hutchings 1983, S. 3 f.

[27] So unter anderen Staigl 1999, S. 163; Kyrow/ Zselicky 1999, S. 95, Byrnes 1971, Meissner 1967; Abonyi/ Sylvian/ Caporaso 1976, S. 79; Jones 1976.

[28] Gilberg.- in: Gati 1976, S. 103 u. 106; Hutchings 1983, S. 5.

[29] Lemke 1999, S. 240f.

[30] Nelson 1986, S. 117 f.

[31] Nelson 1986, S. 117 f.

[32] Zusammenfassend Gitz 1992, S. 4, Holloway 1984, S. 38.

[33] Staigl 1999, S. 163.

[34] Hutchings 1983, S. 9 f.

[35] Grzybowski 1964, S. 2.

[36] Croan 1966, Brown 1966, Skilling 1965.

[37] So V. Volkov, vgl. Olschowsky 1999, S. 280.

[38] Tomaszewski 1989, S. 223.

[39] Hutchings 1983, S. 4 f.

[40] Croan 1966, S. 63.

[41] Dies markierte einen "shift in the way Eastern european States are viewed by the academic world in the United States". Denitch.- in: International Politics of Eastern Europe 1976, S. 239.

[42] Kuhlman.- in: International Politics of Eastern Europe 1976, S. 278.

[43] Gati.- in: International Politics of Eastern Europe 1976, S. 3.

[44] Moreton.- in: Holloway/ Sharp 1984, S. 143.

[45] Moreton.- in: Holloway/ Sharp 1984, Zitat S. 159.

[46] Meissner 1967.

[47] Protektorat könne auch mit „Satellit“ umschreiben werden. „Sätze“ gäben ein Zeugnis für den „eng gesteckten Rahmen der sogenannten begrenzten Souveränität“ ab. Die Kontrollmechanismen werden als „sanfter Druck“ beschreiben, vor allem mittels ökonomischer Hebel und unter dem Schutzmantel der Ideologie. Das „Selbstverständnis der Zugehörigkeit zu einem politischen Lager“ habe eine eigene Logik entwickelt. Volkov 1999, S. 14ff.

[48] Bei den Beziehungen DDR – UdSSR handele es sich um eine „hegemonial-imperiale Beziehung, in der die Sowjetunion in der Regel mit widerspruchsloser Unterordnung der von ihr abhängigen SED rechnen konnte. Dass diese unbedingte Subordination ausblieb (...)“, weise auf eine zwar zugunsten der Sowjetunion disproportionale, aber beidseitige Abhängigkeit im Verhältnis der ungleichen Partner hin“. Lemke 2002, S. 74f.

[49] Kolkowicz 1969, S. 89, 96 (Zitat) und 86; ähnlich Wolfe 1970, S. 3; Dagegen betont Holden 1989 die Verbindung dieser mit Allianzfunktionen.

[50] Hacker 1983, S. 573.

[51] So realisiere sich die „sowjetische Hegemonie“ mittels „Weisungen“ oder „Befehlen“ des Politbüros der KPdSU bzw. durch direkte sowjetische Einflussnahme. Csizmas 1972, S. 21, 31, 34. Selbst die Auffassung einer „unstable“ bzw. „precarious“ hegemony beinhaltet „chains of command“. Byrnes 1971. Vgl. auch Meissner 1967.

[52] Csizmas 1972, S. 34 f.

[53] Jones 1981, S. 1.

[54] Gilberg.- in: Gati 1976, S. 123

[55] Rubinstein 1985; Ploughman 1976/77.

[56] Wolfe 1970, S. 3 f. Alföldy spricht von einem „imperialistischen Hegemonialsystem“. Alföldy 1998, S. 42. Für die Publizistik stellvertretend Harprecht 2003. Das Problem existiert in gleichem Maße für das „American „Empire“. Kroes 1999, S. 503.

[57] Zeman 1991, S. 271 ff. Jones beginnt einen Aufsatz in einer politikwissenschaftlichen Zeitschrift über die sowjetische Hegemonie ohne jeden Definitionsversuch. Jones 1976.

[58] Beispiele bei Hoensch 1984.

[59] Hutchings 1983, S. 7; Rothschild 1985.

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Details

Titel
Die Institutionalisierung des Imperiums
Untertitel
Studien zum Ostblock der Chruschtschovära
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Autor
Jahr
2008
Seiten
490
Katalognummer
V117034
ISBN (eBook)
9783640189397
Dateigröße
3034 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Institutionalisierung, Imperiums
Arbeit zitieren
Ralph Sowart (Autor:in), 2008, Die Institutionalisierung des Imperiums, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/117034

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