Wortzeugnisse in der Grundschule. Einstellungen von Grundschullehrkräften zum Anspruch des Wortzeugnisses


Masterarbeit, 2015

118 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Die Entwicklung des Wortzeugnisses

2 Aktuelle Situation - formale und inhaltliche Grundlagen des Wortzeugnisses

3 Diskussion
3.1 Pro-Argumente des Wortzeugnisses
3.2 Contra-Argumente des Wortzeugnisses

4 Die Diagnostik als Grundlage des Wortzeugnisses
4.1 Psychologische Diagnostik: Das Wortzeugnis und Urteilsfehler
4.2 Padagogische Diagnostik in Bezug auf das Wortzeugnis
4.2.1 Bezugsnormorientierung und Informationssammlung
4.2.2 Beobachtungsdokumentation

5 Das Wortzeugnis und die Erwartungen der Adressaten
5.1 Anspruche der Schulerinnen und Schuler an ein Wortzeugnis
5.2 Anspruche der Eltern an ein Wortzeugnis

6 Forschungsstand: Das Wortzeugnis aus der Perspektive der Lehrkrafte

7 Die eigene Untersuchung
7.1 Zwischenfazit und Folgerungen fur die eigene Untersuchung
7.2 Fragestellungen der eigenen Untersuchung

8 Methodisches Vorgehen der eigenen Untersuchung
8.1 Der inhaltliche Aufbau des Fragebogens
8.2 Die Konstruktion des Fragebogens
8.3 Methodik der Fragebogenauswertung

9 Informationen zur Erhebung
9.1 StichprobengroBe und Rucklaufquote
9.2 Die Berufssituation der befragten Lehrer

10 Auswertung der Ergebnisse
10.1 Einstellung zum Wortzeugnis und zur Belastung
10.3 Einstellung zum Anspruch des Wortzeugnisses
10.3.1 Inhaltlicher Anspruch
10.3.2 Anspruch der Adressaten
10.3.3 Diagnostischer Anspruch
10.3.4 Der Problembereich der groBten Zustimmung
10.3.5 Auswertung der Extrema
10.4 Umgang mit dem diagnostischen Anspruch des Wortzeugnisses
10.4.1 Mittel der Informationsgewinnung
10.4.2 Mittel der Informationsdokumentation
10.4.3 Sonstige Hilfsmittel fur die Informationsdokumentation

11 Interpretation der Ergebnisse

12 Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

Einleitung

Ein Blick auf das wirtschaftliche, gesundheitliche und institutionelle Leben der Deutschen veranlasst einige Kritiker dazu, dieses mit einem Wort zu be- schreiben: Die Leistungsgesellschaft. Gernot Bohme erklart:

Wir leben in der BRD in einer Gesellschaft mit hervorragenden Einrichtungen, [.] einer Gesellschaft, die gleichwohl den Menschen kein Gefuhl der Zufrie- denheit vermittelt. Im Gegenteil sind alle Burger im Stress und in einem Den- ken befangen, das ihnen auf allen Gebieten immer mehr Leistung abverlangt [...] (Bohme 2010: 7)

Insbesondere durch die Institution Schule werden Schulerinnen und Schuler sehr fruh mit einer Wettbewerbssituation konfrontiert (vgl. ebd.: 33). Wie sie aus dem Wettbewerb hervorgehen, wird ihnen in Form eines Zeugnisses vermittelt. Dass die Mitteilung uber den Leistungsstand eines Schulers be- ziehungsweise einer Schulerin notwendig ist, ist kaum anzuzweifeln. Eine wichtige Frage gibt allerdings, fruher wie heute, Anlass fur Diskussionen in der Padagogik: Ist das traditionelle Zeugnis, das die Schulerinnen und Schu­ler mit Zensuren bewertet, bereits in der Primarstufe das richtige Ruckmel- dungsinstrument?

In den 70er Jahren wurde eine neue Art der Leistungsbeurteilung in der Schuleingangsphase der Grundschule in NRW initialisiert: Das Wortzeug- nis. Im Worterbuch fur Erziehung und Unterricht wird dies als ein Zeugnis definiert, das Anlagen, Neigungen und Fahigkeiten des/r Schulers/rin verbal darstellt und die „Begabungsstruktur des Schulers in der Regel besser tr[ifft] als Intelligenztests [.].“ (Kock 2008: 559 f.). Dieser Effekt stelle sich al- lerdings nur dann ein, wenn die individuelle Begutachtung des Lehrers nicht auf „formelhafter Phraseologie“ beruhe (ebd.: 560). Demzufolge ist es von der Lehrperson abhangig, ob die Leistung des Schuler oder der Schulerin angemessen festgehalten wird.

Studiert man die Forschungsliteratur zum Thema Wortzeugnis, werden hau- fig Studien genannt, die darauf abzielen, die Angemessenheit, Vollstandig- keit und Wirksamkeit von Wortzeugnissen zu analysieren. Es werden ver- schiedene Abforderungen an ein gelungenes Wortzeugnis aus padagogischer Sicht gestellt. Selten wird allerdings danach gefragt, mit welchem Aufwand und Leistungsvermogen das Verfassen eines Wortzeugnisses auf Seiten der Lehrkrafte verbunden ist. Dabei ist die Lehrkraft, wie auch Silvia-Iris Beutel erklart, die wichtigste Instanz, die fur die Qualitat eines Wortzeugnisses verantwortlich ist (Beutel 2005: 77).

Genau an jenem Aspekt setzt die nachfolgende Masterarbeit an, indem sie der Fragestellung nachgeht: Wie stehen die Lehrpersonen zu dem Anspruch des Wortzeugnisses: Empfinden sie das Verfassen des Wortzeugnisses als belastend beziehungsweise in welchem Bereich sehen sie die meisten Prob- leme? Erganzend zu dieser Fragestellung wird auBerdem untersucht, welche Informationen die Lehrer fur das Verfassen des Wortzeugnisses nutzen und wie diese organisatorisch festgehalten werden. Folglich kann ein Bild davon entwickelt werden, wie die Grundschullehrkrafte das Wortzeugnis im Schulalltag wahrnehmen.

Bevor in einer praktischen Lehrerbefragung die Einstellung der Lehrperso- nen zum Anspruch des Wortzeugnisses genauer untersucht werden kann, muss zunachst der Anspruch des Wortzeugnisses auf Basis der theoretischen Forschungsliteratur analysiert werden. Als erstes wird der Frage nachgegan- gen, wie das Wortzeugnis entstanden ist (Kapitel 1), welche inhaltlichen Standards diesem in Lehrplan und Schulgesetz zugrunde gelegt werden (Kapitel 2) und wie diese in der padagogischen Debatte eingeschatzt werden (Kapitel 3). Daraufhin wird die Perspektive der inhaltlichen Anforderungen an ein Wortzeugnis erweitert, indem auf Anspruche im Bereich der Diag- nostik eingegangen wird (Kapitel 4). AuBerdem wird berucksichtigt, dass im personlichen Austausch mit den Adressaten des Wortzeugnisses ebenfalls Erwartungen an das Wortzeugnis und demzufolge auch an die Lehrkraft ge- richtet werden (Kapitel 5). Letztere deuten moglicherweise bereits Probleme in der praktischen Umsetzung des Wortzeugnisses im Berufsalltag der Lehrpersonen an, die unter Einbezug des Forschungsstandes im nachfolgen- den Kapitel konkretisiert werden (Kapitel 6).

Wie die Einstellung der Lehrkrafte zum Anspruch des Wortzeugnisses im Rahmen der eigenen Untersuchung ist, kann daran anknupfend detaillierter erforscht werden (Kapitel 7). Die eigene Untersuchung basiert auf der quan- titativen Methode des Fragebogens, die die emotionale Reaktion der Lehr- personen auf die eingangs vorgestellten Anforderungen einfangen soll. Nachdem uber wissenschaftlich fundierte Grundlagen, die bei Konstruktion und Auswertung des Fragebogens hinzugezogen wurden, aufgeklart wurde (Kapitel 8), kann nun ein Uberblick uber die tatsachliche Praxis der verba- len Beurteilung aus der Perspektive der Lehrpersonen gegeben werden (Ka- pitel 9-10). Welche Konsequenzen aus den Eindrucken der Lehrkrafte in Bezug auf zukunftige Forschung und Praxis des Wortzeugnisses resultieren, ist abschlieBend zu diskutieren (Kapitel 11-12).

1 Die Entwicklung des Wortzeugnisses

Die ersten Ansatze von Wortzeugnissen sind Walter Dohse zufolge bereits im 16. Jahrhundert zu finden (Dohse 1967: 12 ff.). Dabei bedient sich die ursprungliche Form des Zeugnisses, das „Benefiziumzeugnis“ oder auch „Sittenzeugnis“ (ebd.: 13), genauso wie das heutige Wortzeugnis, der Spra- che, wenn auch zunachst der lateinischen. Wie der lateinische Terminus „beneficium“ (=Wohltat) andeutet, handelte es sich um ein auf Anfrage er- stelltes „gezeugnus“ (sic. zitiert nach: ebd.), das primar fur sozial bzw. fi- nanziell benachteiligte Zoglinge erstellt werden konnte. Somit erfullte es eher eine wirtschaftliche als eine padagogische Funktion (ebd.: 11). Demzu- folge war der Adressat der Staat und das Ziel nicht die Auslese oder der Leistungsnachweis, sondern die Empfehlung fur Freiplatze, Stipendien oder auch den Ubergang zur Universitat. Eine positiv gehaltene Empfehlung wurde nur fur Kinder mittelloser Eltern verschriftlicht (vgl. ebd.: 13). Inhalt- lich sollten sowohl der FleiB und der Gehorsam als auch die mentalen Kenntnisse des Schulers beziehungsweise der Schulerin beschrieben wer- den.

Auch im 19. Jahrhundert ist das Verfassen von Wortzeugnissen noch ublich, das haufig als Empfehlungsschreiben beim Schulabgang der Sekundarstufe II fungierte. In einem Wortzeugnis aus dem Jahr 1837 heiBt es beispielswei- se:

Abgangs-Zeugnis fur den Primaner Friedrich E. [.], [der] sich vorzugsweise wahrend seines Aufenthaltes in Prima eines recht guten Betragens befleiBigt [hat], namentlich durch Bescheidenheit, Offenheit und Gemuthlichkeit seinen Lehrern sich empfohlen, ingleichen von guten Anlagen unterstutzt ein ruhmli- ches Streben, sich eine umfassende wissenschaftliche Bildung anzueignen [.]. Der Unterzeichnete entlaBt den lieben Schuler, [...] Der Herr segne und beglei- te ihn. (Bottcher/Brosch/Schneider-Petri 1999: 12 ff.)

Neben dem sozialen Verhalten des Zoglings wurden auBerdem seine Kom- petenzen in den Bereichen Sprachen und Wissenschaften beschrieben und Perspektiven fur das folgende „Geschaftsleben“ in Aussicht gestellt (ebd.: 14).

Die Entwicklung des Wortzeugnisses ist von Beginn an allerdings nicht als allgegenwartige Form der Leistungsbeurteilung zu charakterisieren. Eben- falls im 16. Jahrhundert kann laut Dohse der Ursprung des Ziffernzeugnis- ses datiert werden. Im Zuge des Nationalstaatsgedankens im 19. Jahrhundert gewinnt es zunehmend an Bedeutung und bringt die Autoritat von Staat und Lehrperson zum Ausdruck (Dohse 1967: 49). So ist in der Studienordnung der Jesuitenschule aus dem Jahr 1834 schon eine Notenskala zu finden, die zunachst dreigliedrig ist, und wenig spater auf sechs Stufen erweitert wurde. Auch wenn sich die benotete Form des Zeugnisses mit steigender sozialer und padagogischer Auslesefunktion fur Schuler, Lehrer und Eltern vielfach durchsetzt, da sie „jede Leistung und jeden Schuler betrifft und diese mit Hilfe einer festen Skala einstuft“ (ebd.: 47), ist sie stets begleitet von pada- gogischer Kritik. Diese spitzt sich im 20. Jahrhundert zu.

In den 1950er Jahren richten sich Reformversuche in der Primarstufe vor- nehmlich gegen die produktorientierte Auslese- und Kontrollfunktion der Ziffernzeugnisse, die die Entwicklung der Kinder wenig berucksichtige und eine „Autoritatspadagogik“ (Zeidler 1933: 197) der Lehrer verfolge. Viele Kritiker fordern zunachst eine inhaltliche Erganzung des Ziffernzeugnisses ein. Ein wichtiger padagogischer Wissenschaftler, der die Etablierung des Zeugnisses als reines Wortzeugnis ohne Noten maBgeblich beeinflusste, war Peter Peterson. Im Rahmen des Jena-Plans, der ein kinderfreundliches Schulkonzept propagierte, stellte er in den 50er Jahren die Vorzuge des Be- richtszeugnisses vor: „Der objektive Bericht soll dazu dienen, die Eigenart des Kindes, seine Begabungen, seine guten und schlechten Neigungen so vielseitig wie nur moglich im rechten Lichte erkennen zu lassen [...]“ (Pe­tersen 1980: 64). Wahrend der objektive Bericht fur die Eltern allein be- stimmt war, sollte ein weiterer subjektiver Bericht geschrieben werden, der sich an das Kind richtete und demnach nur Aspekte enthalten durfe, die „fur das Kind das Beste“ seien (vgl. ebd.: 65). Die Idee, sowohl kindliche als auch elterliche Anspruche in einem Wortzeugnis zu vereinen, verfolgte Karl Albrecht in einem zeitnahen Konzept. Albrechts reformerische Bestrebun- gen zielten auf die „Erganzung der Zensuren durch ein zuverlassiges, le- bensvolles und lebensnahe Wesensbild“ ab, wobei er konkrete Kategorien nannte, die teilweise auch noch im heutigen Wortzeugnis vorhanden sind:

a) Korperlicher Verfassung, b) Kraftehaushalt, c)Triebe, Neigungen, Interes­sen, d) Lernwille, Bildungswille, e) Willensleben, f) Gefuhlsleben, g) Haltun- gen und Stimmungen, h) Aufmerksamkeit, i) Gedachtnis, k) Ausdrucksverhal- ten, l) Manuelles Geschick und praktisches Verhalten, m) Soziales Verhalten, n) Geistiges Leben o) Abweichungen vom Durchschnitt.

(Albrecht, Karl: 1952 zitiert nach Dohse 1967: 99)

In den 1960er Jahren machte die zunehmende Pluralitat der kindlichen Le- bensumstande, Erziehung und Lernvoraussetzungen neben der Kritik am Ziffernzeugnis eine verbalisierte Beurteilungsform in der Grundschule noch dringlicher (Arnold/Jurgens 2001: 25). Neben der Forderung nach Hetero- genitat, der ermutigenden Erziehung wider den Leistungsdruck, der Erho- hung von Chancengleichheit durch Verhinderung fruhzeitiger Selektion wurde aus padagogischer Sicht vor allem die Reduzierung von Konkurrenz- verhalten wichtiger (vgl. Ullrich/Wobcke 1981: 9 ff.). AuBerdem wurde die Kritik an der ansteigenden Leistungsgesellschaft ausgepragter, unter der, so Ziegenspeck, vor allem das Kind zu leiden gehabt habe (vgl. Ziegenspeck 1999: 80).

Der Bildungsrat veroffentlichte im Jahr 1970 seine Bedenken und Losungs- ansatze aus dieser Problematik, die die Argumente, die zum Wortzeugnis fuhrten, zusammenfassen:

Das Leistungsprinzip, wie es im gesellschaftlichen Wettbewerb gilt, kann nicht auf den BildungsprozeB [.] des Kindes ubertragen werden. Der Wettbewerb muB vielmehr in Formen eingefuhrt werden, die dem Alter entsprechen [,..]Die Geltung des padagogischen Leistungsprinzips in der Schule - das Prinzip der Herausforderung, die keine Angst erzeugt - muB im Zusammen- hang mit einem differenzierten Lernangebot gesehen werden. (Deutscher Bil- dungsrat 1970, zitiert nach Ziegenspeck 1999: 80)

Auf die Erorterung der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates folgte die endgultige Entscheidung der Kultusminister von NRW am 2.9. 1970, in der ersten und zweiten Klasse der Primarschulen das Wortzeugnis einzufuhren. Tatsachlich in den Grundschulalltag in Nordrhein-Westfalen integriert wurde das Berichtszeugnis im Jahr 1977. Heute sind dafur formale und inhaltliche Vorgaben im Schulgesetz, der Prufungsordnung bzw. im Lehrplan zu finden, auf die im Folgenden kurz eingegangen werden soll.

2 Aktuelle Situation - formale und inhaltliche Grundlagen des Wort- zeugnisses

Im Schulgesetz von NRW wird das Wortzeugnis unter der Rubrik Leis- tungsbewertung in Paragraph §48 eher sekundar erwahnt (vgl. Schulministe- rium NRW 2014: Schulgesetz: 11) Bevor eine explizite Erklarung zu ein- zelnen Noten erfolgt, wird beschrieben:

Die Leistungsbewertung soll uber den Stand des Lernprozesses der Schulerin oder des Schulers Aufschluss geben; sie soll auch Grundlage fur die weitere Forderung der Schulerin oder des Schulers sein. Die Leistungen werden durch Noten bewertet. Die Ausbildungs- und Prufungsordnungen konnen vorsehen, dass schriftliche Aussagen an die Stelle von Noten treten oder diese erganzen. (ebd.)

In der Prufungsordnung von NRW wird der Lehrer darauf hingewiesen, dass Schulerinnen und Schuler erst ab Klasse drei mit Noten bewertet werden durfen und es seine Aufgabe ist, die Kinder vor dem Ubergang in die Klasse drei auf die benotete Leistungsbewertung vorzubereiten (§6: vgl. Schulmi- nisterium NRW 2014: Prufungsordnung: 1). Die Schulerinnen und Schuler erhalten in den Klassen eins und zwei am Ende des Schuljahres ein Wort- zeugnis, das in Klasse drei, wenn nicht in einer Schulkonferenz anders be- schlossen, auBerdem Noten enthalt. Es wird weder das Wortzeugnis nament- lich erwahnt noch werden uber die Aspekte Lernentwicklungsstand und Leistungsstand hinaus, konkrete Angaben zum Inhalt des Wortzeugnisses genannt. Stattdessen wird fur genauere Informationen auf das Schulgesetz verwiesen, das ebenfalls wenig Aufschluss uber Inhalt und Form des Zeug- nisses in der Schuleingangsphase gibt (s.o.).

Blickt man in den Lehrplan fur die Grundschule in NRW, wird deutlich, das hier ebenso kaum Hinweise zur inhaltlichen oder formalen Struktur eines Wortzeugnisses gegeben werden (vgl. Richtlinien und Lehrplane fur die Grundschule in NRW 2012). Unter dem Punkt Schuleingangsphase wird von der Lehrperson gefordert, gerade die Kinder dieser Phase auf der Basis des diagnostizierten Lernstandes individuell zu unterstutzen, um zukunftig moglichst erfolgreiches Lernen zu bedingen (ebd.: 17). AuBerdem bedarf es im Rahmen der Reflexion von Erziehungs- und Bildungsarbeit einer „sorg- faltige Analyse des Lernstands und der Lernentwicklung der Schulerinnen und Schuler“ (ebd.), die ebenfalls Aufgabe der Lehrperson ist. Inwiefern diese Analyse in Form eines Wortzeugnisses realisiert werden soll, wird in dem Paragraphen zu Leistung fordern und bewerten ansatzweise dargestellt (vgl. ebd.: 16). Es werden die Grunde, die hinter dem Konzept Wortzeugnis stehen, genannt, wie etwa die prozessorientierte Bewertung und die Aner- kennungsfunktion. Fur den inhaltlichen Aufbau wird auf die Kompetenzbe- reiche im Lehrplan verwiesen, die als Orientierungshilfe dienen konnen.

In den „Empfehlungen fur die Arbeit in der Grundschule“, die die Kultus- minister von NRW als zusatzliche Orientierungshilfe zu den Bildungsstan- dards auf ihrer Internetseite zur Verfugung stellen, werden inhaltliche Richt- linien bezuglich des Wortzeugnisses angedeutet (vgl. KMK 1996). Die An- gaben, die auf dem Beschluss des 2.7.1970 beruhen, wurden 1996 zuletzt uberarbeitet und haben die heutigen Lehrplane grundsatzlich gepragt. Dass die Einfuhrung der Verbalbeurteilung nur ein Aspekt eines facettenreichen , neuen padagogischen Verstandnisses der Leistungsbeurteilung innerhalb der Grundschulentwicklung darstellt, wird in den Empfehlungen der Kul- tusminister deutlich: Es wird zunachst ausfuhrlich daruber informiert, dass sich das Verstandnis von Lernen und Leben in der Grundschule gewandelt hat (ebd.: 9). Die Heterogenitat in der Lernentwicklung erfordert neue di- daktische Wege in der Unterrichtsarbeit, wobei der offene Unterricht mit ei- nem differenzierten Lernangebot zur Forderung aller Kinder beitragen soll. Eine konkrete Beschreibung des Entwicklungsstandes und der Perspektiven fur weiteres Lernen in Form einer Verbalbeurteilung kann daher als Konse- quenz dieses Verstandnisses von Lernen gesehen werden: „Mit einer Leis- tungsbeurteilung in Berichtsform konnen die individuellen Fortschritte, Starken und Schwachen in einzelnen Lernbereichen detailliert beschrieben werden. Damit sind hilfreiche Hinweise zur Verbesserung von Lernergeb- nissen moglich.“ (ebd.). Daruber hinaus werden keine Vorgaben zum Be- richtszeugnis im Speziellen aufgegriffen.

Im Rahmen rechtlicher und bildungspolitischer Bestimmungen werden zwar Richtlinien zum padagogischen Verstandnis und zur inhaltlichen Gesamt- vorstellung des Wortzeugnisses genannt, eine explizite kategorische In- haltsvorgabe, wie sie etwa Karl Albrecht in den 50er Jahren vorschlug, ist auf der bildungspolitischen Ebene des Schulministeriums NRW aktuell nicht vorzufinden (vgl. Kapitel 1). Wahrend bis zum Jahr 1997 Publikatio- nen der KMK beziehungsweise des Landesinstituts fur Schule und Weiter- bildung mit detaillierten Vorgaben erschienen sind, in denen „bedeutsame Leistungsmerkmale“ wie Anstrengungsbereitschaft, Ausdauer, Zugewinn an Strategien und Techniken, Lerninteresse, Motivation, individuelles Fort- schreiten, Lernkompetenz, soziale Arbeitsformen und Personlichkeitsent- wicklung genannt werden, sind derartige Standards heute nur noch als Ori- entierungsangebote zu charakterisieren (vgl. Bartnitzki/Bambach 1997: 19 ff.). Heute werden in erster Linie Hilfestellungen im Bereich der Formulie- rung von einer Vielzahl an PC-Programmen zur Verfugung gestellt (vgl. Deutscher Bildungsserver NRW 2014).

Inwieweit Anforderungen an das Wortzeugnis in Anlehnung an das Schul- gesetz, die Prufungsordnung oder den Lehrplan tatsachlich umgesetzt wer- den, entscheidet sich schulintern. Demzufolge kann das Wortzeugnis in Form, Adressatenprioritat und vielen anderen Aspekten variieren (vgl. Rei­mers 1989: 11). In der Anfangsphase der Wortzeugnisse wurden vor allem geschlossene Formen der Berichterstattung wie zum Beispiel Rasterzeugnis- se und Bausteinzeugnisse praferiert (vgl. Bartnitzki/Bambach 1997: 104 ff.). Hierbei wahlen die Lehrkrafte aus vorgefertigten Kompetenzbereichen und Formulierungen die aus, die fur das jeweilige Kind zutreffen. FordermaB- nahmen formulieren sie frei. Offenere Formen der Berichtszeugnisse, wie Lernberichte, die heute an vielen Schulen prasent sind, werden im Ganzen frei verbalisiert. Sie berichten entweder uber das Kind in der dritten Person Singular oder adressieren es direkt in Form eines Zeugnisbriefes. Sie enthal- ten die ausfuhrliche Analyse des Lernstandes des Kindes innerhalb der Ler- nentwicklung, Informationen uber soziale und kognitive Kompetenzen und Forderempfehlungen. Eine padagogisch wertgeschatzte Art der Realisierung ist in der Bielefelder Laborschule zu finden, die eine Kombination von Lernbericht und Zeugnisbrief praktiziert (vgl. Schaub 1993: 9). Dabei rich- tet sich der Lernbericht an die Eltern und der Zeugnisbrief an die Kinder, wie bereits in den 50er Jahren von Peter Petersen vorgeschlagen wurde (vgl. Kapitel 1). Inwieweit diese zweifache Ausfuhrung des Wortzeugnisses al- lerdings zeitlich zu organisieren ist, ist fraglich (vgl. Schaub 1993: 10). Um den Zeitaufwand an ein Wortzeugnis zu reduzieren, wurden aktuell Ent- wicklungsvorhaben von Schulen in NRW gehegt, zu der geschlossenen Form der Rasterzeugnisse zuruckzukehren (vgl. Schulministerium 2014: Entwicklungsvorhaben).

Wortzeugnisse werden demnach sehr unterschiedlich verfasst. Grunde fur eine Vermeidung von festen Vorschriften innerhalb von Nordrhein- Westfalen sieht Bambach in dem Individualitatsanspruch der Schule und des Kindes. Es ist nicht sinnvoll eine standardisierte Zeugnisform fur alle Schu- len vorzugeben, wenn es in einigen Schulen flieBende Ubergange zwischen Klassenstufen gibt, wie beispielsweise in der Bielefelder Laborschule, und in anderen Schulen, ein eher traditionelles, jahrgangsstufenbezogenes Kon- zept des Unterrichts verfolgt wird (vgl. Bambach 1994: 10 ff.). Die Gestal- tungsfreiheit sei auBerdem dem Konzept der individuellen, kindgerechten Leistungsbewertung geschuldet, mit dem die Lehrperson sensibel und ver- antwortungsbewusst umgehen musse (ebd.). Heide Bambach folgert:

Wir haben mit unterschiedlichen Berichtsformen experimentiert und sind uber ihr Fur und Wider bis heute in der Diskussion. Herauskristallisiert haben sich Rahmenvorgaben und sogenannte Standards, nicht aber formale und inhaltliche Festlegungen. Meines Erachtens kann und sollte es diese auch nicht geben, weil Kinder und Eltern, die mit den Berichten erreicht werden sollen, ja eben- falls nicht alle von derselben Art sind. (Bambach 1994: 14)

Das zweite Kapitel hat gezeigt, dass nach Etablierung des Wortzeugnisses die formalen Grundlagen eine differenzierte Auffassung des Wortzeugnisses zulassen. Daher hat sich die Form des Wortzeugnisses pluralistisch weiter- entwickelt. Es gibt schulinterne Standards fur die Verfassung eines Wort- zeugnisses. Deren gelungene Umsetzung in der individuellen Berichtserstat- tung, wie beispielsweise die Formulierungsfahigkeit und inhaltliche Ver- standlichkeit und Vollstandigkeit, ist von der Lehrperson abhangig. Wenn sich die Lehrperson inhaltlich an dem padagogischen Verstandnis (vgl. Ka- pitel 1: 7) des Wortzeugnisses orientiert, ergeben sich Vorteile fur das Kind, die zunachst thematisiert werden.

3 Diskussion

In der heutigen Diskussion um das Wortzeugnis knupfen die Befurworter genau dort an, wo sie vor Einfuhrung der verbalen Beurteilungsform aufge- hort haben: Bei der Forderung nach individueller Forderung, ermutigender Erziehung, Chancengleichheit und weniger Konkurrenzverhalten (vgl. Ull­rich/ Wobcke 1981: 9 ff.). Diese Pro-Argumente haben demzufolge nicht nur das Wortzeugnis hervorgebracht, sondern sind auch noch in der aktuel- len Diskussion von Relevanz. Eine explizitere Auseinandersetzung mit je- nen Argumenten erscheint daher sinnvoll. Im Folgenden werden Vorteile des Wortzeugnisses fur das Kind aus entwicklungspsychologischer und pa- dagogischer Sicht naher beleuchtet. Zudem werden positive Konsequenzen fur Eltern und Lehrer daran angeknupft.

3.1 Pro-Argumente des Wortzeugnisses

Aus entwicklungspsychologischer Sicht wird das Wortzeugnis gerade in der Schuleingangsphase als forderlich fur die kindliche Entwicklung gesehen. In Eriksons und Freuds Modellen der Personlichkeitsentwicklung wird deut- lich, dass sich das Kind ab dem Alter von sechs Jahren in einem Stadium der Latenz befindet (vgl. Oerter/Montada 2008: 662). In dieser Phase kann die kindliche Personlichkeit als instabil eingeschatzt werden. Das bedeutet, dass Jungen und Madchen im Einschulungsalter in ihrer psychosozialen Entwicklung einen inneren Konflikt zwischen Kompetenz und Minderwer- tigkeit zu bewaltigen haben (ebd.). Um das Kind in dieser inneren Krise zu unterstutzen und das Selbstbild zu festigen, sind verbal verfasste Beurtei- lungen zielfuhrender, da sie das Konnen der Kinder hervorheben (Kompe- tenz). Die Beurteilung durch das Wortzeugnis ermoglicht so einen schonen- deren Ubergang vom Kindergarten in die Grundschule, da auch nicht- leistungsrelevante Fortschritte aufgefuhrt werden, die wichtig fur die Sozia- lisation des Kindes sind (vgl. Scheerer/Schmied/Tarnai 1985: 175).

Diese Meinung wird auch aus padagogischer Sicht geteilt. Corinna Schmu- de betont, dass gerade zu Schulanfang besonders hohe, neue Erwartungen an die Schulerinnen und Schuler gerichtet werden, die soziale, lerntechni- sche und insbesondere leistungsbezogene Anforderungen beinhalten (Schmude 2002: 89). Demzufolge ist laut Schmude das Wortzeugnis „we- sentlich fur die optimale Entwicklung des einzelnen Kindes“ verantwortlich, da es „die Aufrechterhaltung und Starkung der kindlichen Leistungsbereit- schaft und -fahigkeit und die Ermoglichung von Konnenserlebnissen“ be- dingt (ebd.). Dadurch, dass sich die Verbalbeurteilung neben inhaltlichen Lernzielen (sachliche Bezugsnorm) an der individuellen Entwicklung des Kindes (individuelle Bezugsnorm) und weniger an dem sozialen, vergleich- baren Bezugsrahmen der Klasse (soziale Bezugsnorm) orientiert (vgl. Krope 2000: 69 f.), konnen negative psychosomatische, selbstwertschadliche Kon- sequenzen fur die kindliche Personlichkeit verhindert werden (Schmude 2002: 90).1 Eiko Jurgens begrundet dies damit, dass Kinder im Einschu- lungsalter noch nicht fahig sind, selbstreflexiv auf kritische Beurteilungen zu reagieren, sodass gerade die Anerkennung in Form eines Entwicklungs- berichts unabdingbar erscheint (Jurgens 1998: 7).

Die individuelle, kindgerechte Leistungsbeurteilung durch das Wortzeugnis entspricht nach Eiko Jurgens daruber hinaus dem heutigen Erziehungsauf- trag der Schule. Dieser ist aus reformpadagogischen Ideen erwachsen und akzentuiert die Wurde und Ermutigung des Kindes (ebd.: 6). Die reformpa- dagogische Bewegung forderte dazu auf, „das Kind in seiner Ganzheitlich- keit wahr- und anzunehmen“ (ebd.). Ubertragen auf die heutige schulische Erziehung des Kindes, stehen nach Jurgens immer noch padagogisch- anthropologische Grundbedurfnisse im Vordergrund (Jurgens 2010: 156 f.): Die Pluralisierung von Lebensstilen in unserer Gesellschaft fuhrt zu einer differenzierten Kindheit, die eine neue Forderung in der Grundschulpadago- gik abverlangt. Der Erziehungsauftrag des Elternhauses fallt teilweise aus, da eigene kindliche Erfahrungen mit Erfolgen meist durch medialen Kon- sum ersetzt werden. Die Schule muss als Ruckzugraum der Kinder gesehen werden, in denen Chancenungleichheit und Leistungsangst ausgeschlossen werden konnen und Konzentration sowie intrinsische Motivation unterstutzt werden (vgl. ebd. 158). Nur eine individuelle, wurdevolle Leistungsbeurtei- lung, die zusatzlich zu fachlichen Leistungen auch soziale und emotionale Verhaltenszuge dokumentiert, kann demzufolge dem Anspruch aller Kinder genugen.

Die wachsende Heterogenitat der kindlichen Entwicklung ist auch Jorg Ramseger zufolge das wichtigste Argument, das fur eine differenzierte Form der Leistungsbeurteilung spricht (Ramseger 1993: 6). Dies wird vor allem in Bezug auf den veranderten Umgang mit Fehlern von Schulerinnen und Schulern deutlich: Dadurch, dass Fehler seit der konstruktivistischen

Wende nicht mehr als Schwachstellen in der Lernleistung des Kindes gese- hen werden, sondern vielmehr als Spuren von Fortschritten in der kindlichen Entwicklung, sind auch Noten allein nicht fur die Bewertung des Lernstan- des ausreichend. Gerade die Eigenart jedes einzelnen Kindes muss betont werden und darf nicht durch eine stigmatisierende Art der Bewertung an Wertschatzung verlieren (ebd.).

Nicht nur die Entwicklung des Kindes, sondern auch die Veranderungen in der Bildungspolitik sprechen fur eine verbale Zeugnispraxis fur die Kinder. In den aktuellen Lehrplanen wird Leistung nicht mehr produkt- sondern prozessorientiert aufgefasst. Es wird zwischen Kompetenzen differenziert, die im Lernprozess des Kindes erreicht werden sollen. Lernen und Leisten stehen demzufolge in einem wechselseitigen Bedingungsverhaltnis zueinan- der, wobei Leistung durch die Steigerung von Lernprozessen verbessert werden kann (vgl. Berkemeyer/Beutel/Schenk 2011: 9). Dies ist nur mog- lich, wenn eine kontinuierliche Ruckmeldung uber die erreichten Kompe- tenzen erfolgt, die uber Noten hinausgeht. Berkemeyer, Beutel und Schenk folgern demnach: „Lernentwicklungsberichte werden als Beitrag zur Star- kung eines kompetenzorientierten Lernens gesehen.“ (ebd.: 9).

Dass Wortzeugnisse durch ihre prozessorientierte Perspektive auf das Ler- nen tatsachlich eine Leistungssteigerung bedingen konnen, wird bei dem Blick in andere Lander erkennbar. Gerade Finnland, das bis zur funften Klasse nur Wortzeugnisse erteilt, erhalt durchschnittlich die besten Ergeb- nisse in Schulleistungsstudien (Matthies/Skiera 2009: 210 ff.). Ein Kausal- zusammenhang zwischen Verbalberichten und Leistungssteigerung ist zwar nicht eindeutig, da auch andere Faktoren des finnischen Bildungssystems auf die Leistungsfahigkeit der Schuler einwirken konnen. Dennoch kann die grundsatzliche Effektivitat von notenfreien Zeugnissen demzufolge bestatigt werden, vor allem in Bezug auf Leistungsmotivation.

Neben dem Kind als Adressat des Verbalzeugnisses profitierten auch die Lehrpersonen und Eltern von der differenzierten Beurteilungsform (Einsied- ler/Schell 1995: 120 f.). Die Beschreibung des kindlichen Lernstandes fallt

2 Als konstruktivistische Wende wird ein Wandel in der Padagogik verstanden. Lernen wird nicht mehr quantitativ, sondern qualitativ verstanden, das heiBt Entwicklungsfortschritte werden anhand von Fehlern oder Kompetenzstufen analysiert.

in der Verbalbeurteilung sehr differenziert aus. Fur die Verfassung eines Wortzeugnisses ist die Lehrerin auf gezielte Beobachtung und Beschreibung von sozialen und kognitiven Verhaltensweisen der Schulerinnen und Schu­ler angewiesen, um ein facettenreiches Bild dieser entwickeln zu konnen. Demzufolge lernt sie das einzelne Kind besser kennen und ein hoherer In- formationsgehalt als bei einem Notenzeugnis kann garantiert werden.

Einsiedler argumentiert am Beispiel der Lesekompetenz: „Was wurde die Note 3 am Ende des ersten Schuljahrs bedeuten? Hat Thomas noch Proble- me bei der Lesefertigkeit? Kann er nicht sinnzusammenhangend lesen? [...]“ (ebd.: 121). Da der Lehrer eben nicht Noten vergeben kann, ist er ge- zwungen mehr uber den Unterricht und die Entwicklung der Kinder nach- zudenken, woraus Optimierungsmoglichkeiten im Bereich der Diagnostik resultieren und einseitige Charakterfestschreibungen vermieden werden konnen (vgl. ebd.). Dies ist selbstverstandlich auch im Interesse der Eltern, die an einem differenzierten Einblick in den Lernprozess und in das soziale Verhalten des Kindes interessiert sind. Ein intensiverer Kontakt von Eltern und Lehrern wird daher ebenfalls angeregt (vgl. Scheerer/Schmied/Tarnai 1985: 176).

Die Pro-Argumente lassen sich wie folgt zusammenfassen: Das Kind kann durch das Wortzeugnis in seiner individuellen Personlichkeits- und Lern- entwicklung sowie in seiner Lernzuversicht und Selbstachtung in einer wur- devollen Atmosphare gefordert werden. Dies wird in Folge der individuel- len, sachlichen Bezugsnorm und der Prozessorientierung der Beurteilungs- form ohne Noten moglich. Die Eltern und Lehrer profitieren auBerdem von einem hohen Informationsgehalt des verbalen Zeugnisses.

Ob die theoretischen Anforderungen, die an ein Wortzeugnis gestellt wer- den, auch tatsachlich erfullt werden konnen und die Einfuhrung des Wort- zeugnisses allein zu positiven Konsequenzen fuhrt, ist allerdings diskutabel. Nachfolgend wird die negative Perspektive auf das Wortzeugnis einge- nommen, um einem einseitigen Blick auf das verbale Zeugnis entgegenzu- wirken.

3.2 Contra-Argumente des Wortzeugnisses

Die Kontrahenten des Wortzeugnisses argumentierten gegen die verbale Beurteilungsform, da sie nicht unbedingt eine positive Wirkung auf das Kind hat.

Wie aus der reformpadagogischen Perspektive bereits beschrieben, ist das Wortzeugnis als kindgerechte Beurteilungsform zu bewahren, die Leis- tungsangst oder Selbstwertverlust verhindert. Die Wertschatzung des Kin- des wird allerdings nicht nur durch das Wortzeugnis bedingt. Ursula Leppert verdeutlicht, dass die Erfolgszuversicht und Selbstachtung gerade durch die Ziffernzeugnisse gestarkt werden konnen (vgl. Leppert 2010: 61 f.). Eltern und GroBeltern konnen die wenigen oder vielen guten Leistungen des Kin- des im Ziffernzeugnis honorieren, was ihnen leichter fallt als bei der verba- len Beurteilung, da sie selbst als Kinder mit dem Notenzeugnis konfrontiert wurden.

Arnold und Jurgens betonen auBerdem, dass die Verstandlichkeit der Zif- fernzeugnisse allgemein eher garantiert ist als beim Verbalbericht. Aufgrund von stereotypen oder beschonigenden AuBerungen kann es zu Fehlinterpre- tationen von Eltern und demzufolge zu Konfliktpotenzialen zwischen Eltern und Lehrern fuhren (Arnold/Jurgens 2001: 37). Die Ermutigung jedes ein- zelnen Kindes wird nicht immer in der Praxis umgesetzt, da durch bescho- nigende AuBerungen alle Kinder falschlicherweise gleich behandelt werden (vgl. ebd.). Demzufolge ist es Joseph Kraus zufolge zu uberdenken, ob fur die Bewahrung der Wurde des Kindes nicht andere padagogische Impulse wirksamer sind als die Verwandlung der Schule in eine „leistungsfeindliche Spielwiese“ (Kraus 2014: 3).

Renate Valtin schatzt gerade die Beschreibung des Sozialverhaltens, die die Personlichkeitsentwicklung unterstutzen soll, als Ursache fur Stigmatisie- rungen ein: „Die Lehrerinnen werden ermutigt, sich nicht auf beobachtete Lernlei stungen zu beschranken, sondern eine Art 'Charaktergutachten' zu erstellen — mit der Gefahr von Etikettierungen, Verletzungen und Entmu- tigung der Schuler.“ (Valtin 2002: 14). Dies bestatigt auch Markus Maier. Er argumentiert, dass die Lehrkrafte beim Verbalzeugnis auf diagnostische Informationen zuruckgreifen mussen, die genauso durch Urteilsfehler beein- flusst werden konnen wie Ziffernnoten (Maier 2003: 74).

Daruber hinaus ist der kausale Zusammenhang von Zeugnissen ohne Noten und Begunstigung der Personlichkeitsentwicklung in der Forschung nicht klar nachgewiesen worden (Valtin 2002: 15). Dies gilt auch fur die Auswir- kungen von individueller Bezugsnormorientierung auf die leistungsbezoge- ne Charakterentfaltung (ebd.: 16.). In einer Untersuchung zum Einfluss der Verbalbeurteilung auf die Personlichkeitsentwicklung stellten Wagner und Valtin fest, dass die entwicklungsunterstutzende Wirkung im Wortzeugnis nicht signifikant hoher einzuschatzen ist als beim Ziffernzeugnis (Wag- ner/Valtin 2003: 27 ff.).

In Studien, die ausgehend von den 80er Jahren bis heute die Qualitat des Wortzeugnisses anhand von Zeugnisanalysen und Umfragen prufen, wird auBerdem bestatigt, dass Wortzeugnisse Aspekte der Personlichkeitsent- wicklung inhaltlich wenig berucksichtigen. Dietrich Benner und Jorg Ram- seger gingen 1985 der Frage nach, ob die Einfuhrung des Wortzeugnisses zu einer padagogisch verbesserten Leistungsbeurteilung gefuhrt hat (ebd.: 153 ff.). Bei der Zeugnisanalyse wurde festgestellt, dass in der Zeugnispraxis eher beschonigende als ermutigende und normative als entwicklungsbezo- gene Beurteilungen verfasst wurden. Die individuelle Bezugsnormorientie- rung wurde dementsprechend nicht als Bewertungsgrundlage genutzt. Statt- dessen fand der Zeugnistyp normorientiertes Wortzeugnis, der lediglich ei- ne Verbalisierung von produktorientierten Ziffernnoten darstellt, haufig Verwendung. Ahnlich fiel auch das Ergebnis der 1985 veroffentlichten Stu- die von Scheerer, Tarnai und Schmidt aus, die in der verbalen Beurteilungs- praxis kaum Entwicklungsberichte vorfinden konnten (ebd.: 175 ff.). Sie ziehen die Bilanz, dass Wortzeugnisse nur dann eine positive padagogische Wirkung haben, wenn sie sich inhaltlich auf die individuelle Entwicklung des Kindes beziehen. Viele Wortzeugnisse seien aber primar ein „Ausweis uber Praferenzen und Ziele der Lehrperson als uber die Besonderheit der Schuler“ (ebd.: 175). Demzufolge scheinen die Wortzeugnisse in der Praxis nur teilweise den inhaltlichen Anforderungen zu genugen.

Daran hat sich auch ca. 20 bis 30 Jahre nach Einfuhrung der Verbalberichte nicht viel geandert. Im Jahr 1993 stellte Helga Ulbricht heraus, dass quanti- tativ nach wie vor die Beschreibung von fachbezogenen Lernleistungen in den Verbalberichten uberwiegt (ebd.: 127). Jachmann betont in einer Studie aus dem Jahr 2003 daruber hinaus, dass kaum Angaben zu konkreten For- dermaBnahmen gegeben werden und sie von geringer Informationsvielfalt gepragt sind (ebd.: 78). Horst Schaub resumiert, dass die Zeugnisse eher ei- nen einseitigen Bericht darstellen, anstatt Ermutigung, Forderdiagnostik o­der die Lernentwicklung zu dokumentieren (Schaub 1993: 9). Wenn die Lernberichte dem padagogischen Anspruchen nicht gerecht werden konnen, ist es fraglich, ob weitere Ziele wie die Verringerung von Leistungsdruck, die Leistungssteigerung und der Informationsreichtum erfullt werden kon- nen (ebd.).

Es ist festzuhalten, dass das Wortzeugnis und das Ziffernzeugnis noch im- mer im Konflikt zueinander stehen, der hier nur kurz angerissen werden konnte. Bei Ruckbezug auf Wirksamkeitsstudien wird deutlich, dass es nicht den Voraussetzungen der individuellen Bezugsnorm genugen kann. AuBer- dem werden in der Schulpraxis Verbalberichte haufig in Form von verbali- sierten Notenzeugnissen realisiert. Die Individualitat des Kindes und der Schwerpunkt der Forderdiagnostik, der eine kindgemaBe Leistungsbeurtei- lung bedingen soll, werden daher inhaltlich nicht erfullt. Dadurch, dass die Wortzeugnisse nicht klar formuliert werden bzw. nicht von allen padago- gisch involvierten Personen verstanden werden, werden die personlichkeits- bzw. entwicklungsbezogenen Vorteile fur das Kind unwahrscheinlicher.

Aus den Ergebnissen der Diskussion lasst sich keine eindeutige positive o­der negative Bilanz bezuglich des Wortzeugnisses ziehen. Dennoch ist deut- lich geworden, dass dem inhaltlichen Anspruch an das Wortzeugnis in der Praxis nicht unbedingt nachgekommen werden kann. Berkemeyer, Beutel und Schenk heben hervor, dass eine Qualitatssteigerung der Beurteilungs- praxis notwendig ist. Sie argumentieren:

[Das Wortzeugnis] setzt voraus, dass eine differenzierte Diagnose und Be- schreibung vorliegt, aus der Zielvereinbarungen abgeleitet werden konnen.

Diese Anspruche machen deutlich, dass verbale Zeugnisformen eine vorausset- zungsreiche und anspruchsvolle Textsorte ist. (Berkemeyer/Beutel/Schenk 2011: 9)

Ein Losungsansatz, der die inhaltliche Qualitat des Wortzeugnisses erhohen soll, wird demnach in der professionellen Diagnosekompetenz der Lehrper­son gesehen. HauBer betont, dass das diagnostisch kompetente Agieren der Lehrperson Fehlurteile ausschlieBen und eine differenzierte Leistungsdar- stellung im Wortzeugnis gewahrleisten kann (vgl. HauBer 1991a: 358). Die diagnostischen Aufgaben sind dabei sehr vielfaltig (vgl. Terhart 2011: 709). Welche konkreten diagnostischen Anforderungen an die Lehrperson hin- sichtlich des Wortzeugnisses gestellt werden, wird im nachsten Kapitel ge- nauer untersucht.

4 Die Diagnostik als Grundlage des Wortzeugnisses

Der Terminus Diagnostik ist linguistisch auf diagnoskein (griech. = unter- scheiden) zuruckzufuhren. Er beschreibt in der Padagogik die differenzierte Analyse von Schulerinnen und Schulern, die aus der Anwendung geeigneter Methoden resultiert (vgl. Schaub/Zenke 2007: 169 f.). Die Diagnosekompe- tenz wird von der KMK als die essentielle Kompetenz, die eine Lehrperson fur die Beurteilungspraxis verinnerlicht haben muss, vorausgesetzt (Bern- tzen 2004: 3). Da der Begriff Diagnostik ursprunglich in der Psychologie konzeptualisiert worden ist und bei der Entwicklung des Wortzeugnisses auch psychologische Einflusse eine Rolle spielen, wird zunachst auf diese eingegangen. Es werden potentielle Urteilsfehler aus der psychologischen Diagnostik genannt, die im Hinblick auf das padagogische Beurteilungs- instrument Wortzeugnis erortert werden.

4.1 Psychologische Diagnostik: Das Wortzeugnis und Urteilsfehler

Das Ziel von psychologischer Diagnostik ist es, interindividuelle Differen- zen oder intraindividuelle Charakteristika und Veranderungen von Personen oder einer Personengruppe zu erfassen, um zukunftiges Verhalten zu prog- nostizieren (Vgl. Beauducel/Leue 2014: 21). Im Diagnoseprozess, der dem Wortzeugnis vorangeht, hat die Lehrperson die Verantwortung, die zu diag- nostizierenden Individuen, also die Schulerinnen und Schulern, vor einer ubertriebenen oder verfalschten Fremdzuschreibung von Merkmalen zu schutzen (ebd.: 15). Aus den in der psychologischen Diagnostik quantitativ erforschten Urteilsfehlern sind die Interferenzen im Urteil wichtige Verzer- rungseffekte, da sie bei der Entwicklung eines merkmalsorientierten Wort- zeugnisses entscheidend sind.

Interferenzen sind Voreingenommenheiten im Urteil, die sich beispielsweise in Form von premature closure oder confirmation bias (ebd.: 61), logischen Fehlern oder auch Halo-Effekten widerspiegeln (vgl. Sacher 1996: 39 f.). In der psychologischen Diagnostik versteht man unter premature closure vor- eilige Schlusse. Das heiBt, dass Diagnosen gestellt werden, ohne dass genu- gend Informationen gesammelt werden, die die Entscheidung im diagnosti- schen Prozess bestatigen. Fur die Entwicklung eines Wortzeugnisses bedeu- te dies, dass beispielsweise ein Kind als rechenschwach beschrieben wurde, ohne ausreichende Informationen uber die mathematische Kompetenz in al­len Aufgabentypen bzw. Bereichen der Mathematik gesammelt zu haben. Bei dem Bestatigungsfehler confirmation bias wird das diagnostische Vor- gehen bereits durch eine zu Beginn festgelegte Hypothese geleitet, deren Bestatigung unbewusst angestrebt wird. Dies kann sich in einem logischen Fehler auBern, in dem man ein bekanntes Leistungsmerkmal eines Kindes schlussfolgernd auf ein anderes ubertragt. Im Wortzeugnis besteht aufgrund des logischen Fehlers die Gefahr, dass die Merkmalsauspragung eines Kin- des sehr einseitig bzw. beschonigend dargestellt wird. Zum Beispiel wird von einer exzellenten Leistung in Mathematik auf eine sehr gute Leistung in Deutsch oder von einer maBigen Kooperationsbereitschaft auf eine schlech- te Lernmotivation geschlossen. AuBerdem besteht die Tendenz, dass der wahrgenommene Gesamteindruck eines Schulers zu einer Beeinflussung des Urteils fuhrt (Halo-Effekt). Unter Einfluss des Halo-Effektes konnte die Beliebtheit eines Kindes in der Klasse beispielsweise das Gesamtbild und somit die soziale und kognitive Leistungsbeschreibung im Wortzeugnis ins- gesamt negativ oder positiv verzerren.

Damit Urteilsfehler bei der Verfassung eines Wortzeugnisses vermieden werden konnen bzw. die Wahrscheinlichkeit ihrer Beeinflussung reduziert werden kann, ist vorauszusetzen, dass sich die Lehrperson der vermeintli- chen Fehlerquellen bei der Beurteilung bewusst ist und dementsprechend agiert. Um beispielsweise Verzerrungstendenzen wie premature closure o­der Halo-Effekte zu reduzieren, ist zu empfehlen, sich nicht an zufalligen Einzelbeobachtungen, sondern an gezielten Beobachtungen zu orientieren (vgl. Sacher 1996: 40). AuBerdem sollte sich die Lehrperson nicht auf Vor- informationen eines Schulers berufen. Sacher empfiehlt, dass man sich vor allem bei einer neu ubernommenen Klasse unbedingt zuerst selbst seine ei- gene Meinung uber einen Schuler beziehungsweise eine Schulerin bilden sollte (vgl. ebd.: 41). Somit konnen voreilige Schlusse vermieden werden (ebd.). Die gezielte Informationssammlung bei geringer Berucksichtigung von Vorinformationen ist vor allem bezuglich des Halo-Effektes essentiell: Erst wenn die selbst beobachteten Einzelinformationen uber einen Schuler zu einem Gesamturteil fuhren, kann die Festigung von einem voreinge- nommenen Gesamtbild minimiert werden. In Bezug auf das Wortzeugnis konnte die Lehrperson demnach beispielsweise als erstes die Lernmotivati- on fur alle Kinder beschreiben und anschlieBend mit der Ausformulierung von Notizen zum Kooperationsverhalten fortfahren. Auf diese Art ist es auch moglich, sehr dominante Merkmale eines Schulers oder einer Schule- rin temporar auszublenden, damit diese nicht andere Eigenschaften im Ge- samtbild des Kindes verzerren (vgl. logischer Fehler).

Das unbewusste Verfolgen von anfanglich entwickelten Hypothesen (con­firmation bias) sollte ebenso moglichst reduziert werden. Die Lehrkraft muss dazu Hypothesen, die bei der Beobachtung kindlichen Vorgehens auf- gestellt wurden, bei neuem Erkenntniszuwachs revidieren oder modifizieren (vgl. Beauducel/Leue 2014: 61 f.). Dabei ist es sinnvoll, auch weitere Per- sonen, wie zum Beispiel Kollegen, in den diagnostischen Prozess miteinzu- beziehen. Dadurch werden die Beobachtungs- sowie die Beurteilungsper- spektiven vielseitiger. Die daraus resultierende Interrater-Reliabilitat, das heiBt, die Ubereinstimmung zwischen den Diagnostikern (Lehrpersonen), bedingt diagnostische Genauigkeit. Zudem wird die Zuverlassigkeit des Ur- teils genauer, da es quantitativ und qualitativ gepruft werden kann.

Werner Sacher fasst die diagnostische Aufgabe der Lehrperson wie folgt zu- sammen:

Man muss sich im wortlichen Sinne ein Bild vom Schuler und von seiner Leis- tung „machen“, d.h., systematisch erarbeiten! Nur, wenn wir unser Bild vom Schuler nicht irgendwie zustande kommen lassen, sondern es uns systematisch nach festen und klaren Regeln erarbeiten, verhindern wir, daB zufallig ablau- fende und unbewuBte Prozesse unsere Wahrnehmung und unser Urteil bestim- men. (Sacher 1996: 42)

Das Kapitel hat exemplarisch gezeigt, wie wichtig das Wissen uber psycho- logische Effekte auch im Rahmen des Wortzeugnisses ist. Es wurden Ver- fahren angedeutet, die zu einem professionellen Umgang mit Urteilsfehlern beitragen konnen, vorausgesetzt sie werden aktiv eingesetzt. Eines der do- minantesten Mittel der Informationssammlung, das zu einer Reduzierung von Urteilsfehlern fuhren kann, ist die Beobachtung. Bevor auf geeignete Beobachtungsverfahren im Kontext des Wortzeugnisses eingegangen wer- den kann, ist zunachst zu klaren, welche diagnostischen Kompetenzen in der Padagogik von der Lehrperson verlangt werden.

4.2 Padagogische Diagnostik in Bezug auf das Wortzeugnis

Diagnostisch kompetentes Handeln setzt aus Sicht der padagogischen Diag- nostik die Verfugbarkeit von Metawissen voraus (vgl. Kretchmann 2006: 30). Neben der Kenntnis uber mogliche Urteilsfehler, sind vor allem die di- agnostischen Rahmenbedingungen relevant, die eine ermutigende Leis- tungsbewertung des Wortzeugnisses bedingen. Diese schlieBen die Orientie- rung an einer kindgerechten Bezugsnorm und die dementsprechende Aus- wahl geeigneter Diagnoseinstrumente und Organisationsstrukturen bei der Informationssammlung mit ein. AuBerdem wird eine professionelle Reakti- on auf die Diagnoseergebnisse verlangt (vgl. ebd.).

4.2.1 Bezugsnormorientierung und Informationssammlung

Eine wichtige Voraussetzung, die eine ermutigende Leistungsbeurteilung im Wortzeugnis garantiert, ist die Orientierung an dem individuellen Lernfort- 3

schritt des Kindes (individuelle Bezugsnormorientierung). Biographische Voraussetzungen sowie das Elternhaus, die Herkunft und sonstige Lernbe- dingungen der Kinder finden bei der Beurteilung Berucksichtigung. Der VergleichsmaBstab ist nicht primar, wie etwa bei der sozialen Bezugsnorm, die Klasse, oder wie bei der sachlichen Bezugsnorm, das jeweilige Lernziel, sondern die vorherige Leistung des Kindes (Krope 2000: 69). Die Akzentu- ierung der sozialen Bezugsnorm bedeute, dass die Wettbewerbssituation, die durch das Wortzeugnis minimiert werden sollte, betont wurde. Die Reduzie- rung auf die sachliche Bezugsnorm ist vor allem deswegen nicht im Sinne des ermutigenden Wortzeugnisses, da diese nicht nur die Starken des Kindes hervorhebt (vgl. ebd.).

Da die Prasens aller drei Bezugsnormen im Alltag der verbalen Beurtei- lungspraxis nicht auszuschlieBen ist, gehort zu dem Metawissen padagogischer Diagnostik der professionelle Umgang mit diesen (vgl. ebd.: 69). Wahrend der Vergleich wegen des Wegfalls an Noten Bohl zufolge im Wortzeugnis weniger Bedeutung haben sollte, steht die sachliche Bezugs- norm in einem unabdingbaren Zusammenhang mit der individuellen Be- zugsnorm. Bohl erklart: „Ohne individuellen Fortschritt wird eine sachliche Norm nicht erreicht. Wenn es gelingt, die individuelle Leistungsentwick- lung sichtbar zu machen, dann werden individuelle Starken und Schwachen und ihr Verhaltnis zu einer sachlichen Norm erkennbar“ (Bohl 2009: 65). Wenn mit diesem Verhaltnis im Wortzeugnis transparent und kompetent umgegangen wird, werden individuelle FordermaBnahmen und eine ermuti- gende Leistungsbeurteilung moglich (vgl. ebd.).

Damit eine Lehrperson die Starken von Schulerinnen und Schulern in Bezug auf Lernziele angemessen einschatzen kann (sachliche Bezugsnorm), ist ei- ne konkrete Vorstellung uber die Entwicklung der Lernprozesse der Kinder zunachst notwendig (vgl. Beutel/Vollstadt 2000: 38 f.). Im Wortzeugnis werden kognitive und soziale Fahigkeiten des Kindes beschrieben. Ohne Grundkenntnisse uber die konstruktive und individuelle Entwicklung von Rechen- und Schreibfahigkeiten sowie uber soziale Aspekte der Entwick­lung, ist es unmoglich, die sachlich erreichten Lernziele angemessen darzu- stellen. Demnach ist dieses Metawissen eine Voraussetzung, um die sachli- che Bezugsnorm mit dem individuellen Bezugsrahmen in Einklang zu brin- gen (vgl. Kretschmann 2006: 28).

Um die individuelle Bezugsnorm bereits bei der Informationssammlung be- rucksichtigen zu konnen, ist auf spezifische padagogische Verfahren zu- ruckzugreifen. Paradies, Linser und Greving charakterisieren es als Grund- lagen der Diagnosekompetenz des Lehrers, unterschiedliche Diagnoseeinst- rumente zu kennen und sie problem- und zielorientiert auszuwahlen (Para- dies/Linser/Greving 2006: 63). Traditionelle produktorientierte Diagnosein- strumente wie Klassenarbeiten, Tests oder mundlichen Leistungskontrollen werden Jurgens zufolge sehr haufig zur Datensammlung benutzt (Jurgens 2010: 81). Der Bezug auf diese Elemente allein im Hinblick auf das Wort- zeugnis ist allerdings problematisch, da sie nur punktuelle Einblicke des Lernstandes der Kinder abbilden konnen (ebd.).

Tillmann und Vollstadt betonen demnach, dass bei der Informationssamm- lung fur das Wortzeugnis eine Distanz zu produktorientierten Verfahren der Leistungsmessung aufgebaut werden sollte (Tillmann/Vollstadt 2009: 32). Der padagogische Gedanke, der mit dem Wortzeugnis verbunden ist, siehe eine individuelle, vergleichsunabhangige Bezugsnorm vor und musse daher die klassischen diagnostischen Verfahren ablosen (vgl. ebd.). Sie folgern, dass das Wortzeugnis als eine reformpadagogische Alternative zum Ziffern- zeugnis „den meBtheoretischen Anspruch und die Standardisierung der Leistungsuberprufung und -bewertung [ablehnt]“. Stattdessen muss „eine akzentuierte Hinwendung zur [.] Beobachtung der individuellen Leis- tungsentwicklung, uber die mit Hilfe von verbalen Lernberichten reflektiert wird“ (ebd.) erfolgen.

Als „Hilfen fur eine ermutigende Leistungsbewertung“ (Bartnitzki/Bambach 1997: 87) werden in der Literatur sehr verschiedene Formen von Beobach- tungen prasentiert (vgl. Reimers 1989; Bartnitzki/Christiani 1994: 55 ff.; Tilstone 1998: 24 ff.; Nuding 2008: 30 ff.; Arnold/Jurgens 2001: 78 ff.; Ja­ger 2007: 57 ff.). Unter Berucksichtigung des Wortzeugnisses als Ziel des Diagnoseprozesses, werden die Beobachtungsarten im folgenden Kapitel kurz zusammengefasst.

4.2.2 Beobachtungsdokumentation

Eine allumfassende Beobachtung eines Schulers ist in Anbetracht der viel- seitigen padagogischen Aufgabe des Lehrers unmoglich. Dennoch sind sich die padagogischen Wissenschaftler einig, dass die Beobachtung essentiell ist, um Informationen uber das Verhalten der Schulerinnen und Schuler zu erhalten (vgl. Tilstone 1998: 3). Damit die Qualitat der Informationen, die im Wortzeugnis dargestellt werden, besonders hoch ist, und Urteilsfehler weitestgehend vermieden werden konnen, ist eine strukturierte Art der Do- kumentation notwendig (vgl. Schumacher 2006: 9). Bevor uber das Verfah- ren der Dokumentation entschieden werden kann, mussen zunachst geeigne- te Beobachtungssituationen im Unterricht gesucht werden.

Wie bereits in Kapitel 4.1 angedeutet, ist die Beobachtung als systematisch und unsystematisch zu charakterisieren (vgl. Heller 1984: 211, Jager 2007: 57). Die unsystematische Beobachtung obliegt keiner methodischen Kon- trolle und wird auch als indirekt oder unkontrolliert beschrieben. Es werden beispielsweise Gesprache oder Aktivitaten zwischen Kindern, meist eher unbewusst, wahrgenommen. Aus diesen konnen Informationen uber soziale Eigenschaften, wie zum Beispiel das Kooperationsverhalten, gewonnen werden. AuBerdem sind kognitive Lernzuwachse, die fur das Wortzeugnis relevant sind, zu beobachten, wenn offene Fragen von Kindern oder Ge- sprache zwischen zwei Kindern bei Problemloseprozessen berucksichtigt werden (vgl. Nuding 2008: 35). Als besonders effektiv wird die systemati- sche Beobachtung definiert, die eine methodisch geplante Beobachtung in bewussten Unterrichtssituationen beinhaltet (ebd.: 35). Es werden haupt- sachlich zwischen drei situationsbedingt unterschiedlichen systematischen Beobachtungsformen differenziert: der ereignisbezogenen Beobachtung (Event Recording), der Intervallbeobachtung (Interval Recording) und der Beobachtung in Standardsituationen (Continuous Observation) (vgl. Tilsto- ne 1998: 25ff.).

Die ereignisbezogene Beobachtung bezieht sich auf das Beobachten bei be- sonderen Ereignissen wie beispielsweise das Verhalten eines Kindes bei der Partner- oder Gruppenarbeit oder vor und wahrend Prufungssituationen. Aus diesen Beobachtungen konnen wichtige Erkenntnisse fur das Wortzeugnis abgeleitet werden, da Kategorien des Lernverhaltens wie etwa der Konzent- ration, Selbstsicherheit oder gar Prufungsangst analysiert werden konnen (vgl. Bartnitzki/Christiani 1994: 57).

Bei der Intervallbeobachtung hingegen wird die Dauer eines Beobachtungs- intervalls von vornherein festgelegt, sodass gezielt einzelne Kinder, bei- spielsweise wahrend der Pause, fokussiert werden. Dadurch konnen Ent- wicklungsprozesse, die in der Beurteilung ohne Noten von besonderer Wichtigkeit sind, erfasst werden (vgl. ebd.). Tilstone empfiehlt eine An- wendung dieser Beobachtungsmethode in Bezug auf Schuler „with special educational needs“ (Tilstone 1998: 35). Das heiBt, insbesondere fur Kinder mit Lernschwierigkeiten eignet sich diese Methode der Beobachtung.

Damit Ergebnisse aus ereignisbezogenen Beobachtungen oder Intervallbe- obachtungen ausreichend uber den Lernentwicklungsstand oder uber soziale Fahigkeiten des Kindes informieren konnen, ist die Uberprufung des Ver- haltens in kontinuierlichen Standardsituationen unabdingbar (vgl. ebd.: 33).

Diese konnen durch die Beobachtungen der Kollegen oder Eltern erganzt werden. AuBerdem ist eine Erfragung der Selbstbeobachtung des Schulers sinnvoll, der uber eigene Lernfortschritte oder Schwierigkeiten, die wieder- holt bei Losungsprozessen auftauchen, berichten kann (vgl. Kretschmann 2006: 37).

Eine transparente Nutzung von Beobachtungen fur die Erstellung des Wort- zeugnisses bedingt eine organisierte Dokumentation von jenen Wahrneh- mungen. Diese muss je nach Beobachtungsmethode angepasst werden (vgl. Tilstone 1998: 35). Einige fur das Wortzeugnis essentielle Dokumentations- formen sind das padagogische Tagebuch, der Beobachtungsbogen, der Lernbegleitbogen und das Karteikastensystem (vgl. Reimers 1989: 58 ff.; Bartnitzki/Bambach 1997: 91-96). In einem padagogischen Tagebuch wer- den fortlaufend auffallige Situationen oder Verhaltensweisen von verschie- denen Kindern notiert. Die Dokumentation kann taglich oder wochentlich erfolgen, solange eine RegelmaBigkeit besteht. Der Beobachtungsbogen bie- tet daruber hinaus die Moglichkeit ubersichtlich die Lernentwicklung ein- zelner Kinder zu verfolgen, da fur jeden Schuler ein Bogen mit Kompe- tenzerwartungen des Lehrplans verfasst wird, die beobachtend uberpruft werden. Um individuelle Starken und Schwachen von Kindern hervorzuhe- ben, sind Lernbegleitbogen, die sich auf Teilfertigkeiten innerhalb einer Aufgabe beziehen, geeignet. Das Karteikartensystem kann auBerdem mit ei- ner Registereinteilung von Kategorien, die sich auch im Wortzeugnis wie- derfinden, eine strukturelle Grundlage fur das Wortzeugnis bilden. Es er- moglicht eine Organisation der Lernentwicklung, da eine Registersortierung nach Monaten moglich ist.

Insgesamt fungieren die Verfahren der Beobachtungsdokumentation nicht nur der inhaltlichen Organisation des Wortzeugnisses, sondern auch der Planung von gezielten FordermaBnahmen und Unterrichtseinheiten (vgl. Pa- radies/Linser/Greving 2006: 39). Wahrend der Frontalunterricht eine diffe- renzierte Schulerbeobachtung weitestgehend ausschlieBt, lassen individuali- sierte Unterrichtsformen mit selbstorganisierten Lernsituationen gezielte Beobachtungen zu (ebd.: 49). Damit die Informationssammlung,- dokumentation und die Ableitung von FordermaBnahmen im Rahmen des Wortzeugnisses erfolgen kann, muss der Unterricht dementsprechend von der Lehrperson organisiert werden.

Aus dem Kapital der padagogischen Diagnostik ist zu resumieren, dass das Verfassen des Wortzeugnisses eine vielfaltige Diagnosekompetenz voraus- setzt. Tillmann und Jachmann heben hervor, dass der Anspruch auf Lerndi- agnose zwar bei allen Formen der Leistungsbewertung gegeben sei, er sich bei Wortzeugnissen allerdings „in besonderem MaBe“ erhohe (Till- mann/Jachmann 2009: 33). Folgende Schlussfolgerung ist demnach aus Sicht von Werner Sacher zu ziehen:

Es ist zu billig, der Grundschullehrschaft per Verordnung Wortgutachten abzu- verlangen, ohne sie dafur zu qualifizieren und ohne schulorganisatorische ma- terielle Voraussetzungen zu schaffen, die es erlauben, den Unterricht so zu ge- stalten, dass wirklich jene Daten uber die Schuler gesammelt werden konnen, die man fur solide Wortgutachten benotigt. (Sacher 1996: 163)

Damit ein gelungenes Wortzeugnis verfasst werden kann, werden an die Lehrperson folglich hohe Anforderungen im diagnostischen Bereich ge- stellt, die in diesem Kapitel zusammengefasst wurden.

5 Das Wortzeugnis und die Erwartungen der Adressaten

In der Praxis der verbalen Leistungsbeurteilung spielen nicht nur eine pro- fessionelle inhaltliche und diagnostische Organisation von Informationen im Wortzeugnis eine Rolle: Ob das Wortzeugnis tatsachlich in seiner Qualitat uberzeugt, zeigt sich vor allem an der Reaktion von Personen, die dieses le- sen. Neben Eltern als wichtigen Adressaten des Wortzeugnisses sind auch die Anspruche der Schulerinnen und Schuler entscheidend. Letztere werden zunachst dargestellt.

5.1 Anspruche der Schulerinnen und Schuler an ein Wortzeugnis

Witlof Vollstadt und Silvia-Iris Beutel betonen, dass Kinder einen hohen Qualitatsanspruch an ein Wortzeugnis stellen (Beutel/Vollstadt 2002: 600). In der Forschungsliteratur gibt es nur einige wenige Studien, die Kinder in Bezug auf das Wortzeugnis zu Wort kommen lassen (Beutel/Vollstadt 2002; Beutel 2005; Wagner/Valtin 2002; Binder 2010; Hossl 2006; Klausen 2014; Morys 2007). Im Folgenden werden die Erwartungen der Kinder an ein Wortzeugnis anhand jener durchgefuhrten Umfragen analysiert und gegebe- nenfalls entwicklungspsychologisch begrundet.

Eine erste Erwartung der Kinder besteht darin, ihr Elternhaus im Wortzeug- nis zu berucksichtigen, auch wenn sie dies nicht explizit artikulieren kon- nen. In Interviews mit Kindern mit Migrationshintergrund wird deutlich, dass viele Schulerinnen und Schuler das Wortzeugnis gar nicht verstanden haben (vgl. Beutel 2005: 179). Die Eltern der Kinder konnen aufgrund von sprachlichen Defiziten nicht uber das Wortzeugnis kommunizieren (vgl. ebd.). Das Interesse an der kindlichen Entwicklung kann daher nicht zum Ausdruck gebracht werden, obwohl dies implizit von Kindern verlangt wird. Beutel folgert, dass ein Gesprach zwischen Lehrperson und Schulerinnen und Schulern mit Migrationshintergrund zu einer besseren Rezeptionsfahig- keit beitragen musse, da dies eine „unausgesprochene [.] Voraussetzung fur einen [.] wirkungsvollen Umgang mit Berichtszeugnissen in der Schu- le [ist]“ (Beutel 2006: 190).

Weiterhin ist aus den Aussagen der Kinder zu entnehmen, dass sie sich ei- nen selbstbestimmten Umgang mit Kritik wunschen. In einem Kinderinter- view, in der die Kritzelei eines Kindes kritisiert wird, bestatigt die selbstbe- wusste Reaktion eines Kindes beispielsweise die Forderung nach Autono- mie: „Aber ich will das auch nicht sonderlich verbessern oder so.“ (Beu- tel/Vollstadt 2002: 404). Jene Reaktion auf Kritik bedeutet allerdings nicht, dass die Kinder kritische Elemente im Wortzeugnis ablehnen. Sie fordern vielmehr Kritik, die den Schutz ihrer Besonderheit bewahrt. Demzufolge gibt ein weiteres Kind zu Bedenken „Da steht drin, dass ich alles verstanden habe, aber das haben doch alle Kinder.“ (Beutel 2005: 163). Eine Ableh- nung von Gleichsetzung mit anderen Kindern wird impliziert.

Dass daruber hinaus auch der Vergleich zu anderen Kindern negativ einge- schatzt wird, verdeutlicht, dass die Schulerinnen und Schuler die soziale Bezugsnorm nicht unbedingt gutheiBen. Sie begrunden dies damit, dass die Gegenuberstellung ihrer Leistung mit der ihrer Klassenkameraden das Ge- fuhl einer Etikettierung vermittelt. Ein befragter Schuler erklart: „Ni- klas.sagt dann, guck mal, ich hab 'ne Eins und was hast du? Muss ich sa- gen: Ich hab 'ne Vier. Bah,bah,bah ich hab 'ne Eins und du 'ne Vier.“ (Beu- tel/Vollstadt 2002: 603).

Die Enttauschung uber den sozialen Vergleich wird nicht nur von leistungs- schwacheren, sondern auch von leistungsstarkeren Kindern zum Ausdruck gebracht (Hossl 2006: 488 ff). Ein Kind mit einer durchschnittlichen Lern- leistung bestatigt dies, in dem es erzahlt: „Ich hab 31 Sternchen. Das finde ich eigentlich.. .fur mich geht das. Aber die Beste von uns, das ist Nina, die hat 64. Also meilenweit von mir entfernt“ (ebd.: 488). Die Ergebnisse aus Wagner und Valtins Studie zum Einfluss von verbaler Beurteilung auf die kindliche Personlichkeitsentwicklung ergaben, dass gerade die leistungs- schwacheren Schuler und Schulerinnen weitaus mehr von der individuellen Leistungsbeurteilung im Wortzeugnis profitieren (Wagner/Valtin 2002: 136). Im Gegensatz dazu, sprechen sich auch leistungsstarke Kinder indirekt fur eine individuelle Bezugsnormorientierung aus, da diese angeben, unter dem Konkurrenzkampf der Klasse sehr zu leiden zu haben (vgl. Hossl 2006: 488). Ein leistungsstarker Junge aus der dritten Klasse erzahlt beispielswei- se, dass es ihn traurig mache, dass er eine Eins weniger auf dem Zeugnis habe als im letzten Halbjahr (vgl. ebd.: 489).

Die Mehrheit von allen Kindern verbindet mit dem Wortzeugnis eine Mog- lichkeit, den schulischen Anforderungen weniger leistungsangstlich zu be- gegnen, da sie diese wesentlich geringer einschatzen als bei der Bewertung durch einer Ziffernnote (vgl. Wagner/ Valtin 2002: 136). Demzufolge be- furworten Schulerinnen und Schuler Wortzeugnisse, da sie diese als Litera- tur uber sich selbst auffassen, auf die sie stolz sind (vgl. Beutel 2005: 38). Da der Individualitatsanspruch aus kindlicher Perspektive haufig in Inter­views genannt wird, ist es wichtig nach Grunden fur diese Forderung zu su- chen.

In der Forschungsliteratur wird deutlich, dass die Fokussierung der indivi- duellen Lernfortschritte aus Sicht der Schulerinnen und Schuler gerade des- wegen wunschenswert ist, da sie ermutigt werden wollen. Eine ermutigende Leistungsbeurteilung lasst sich entwicklungspsychologisch begrunden. Kin­der haben ein narzisstisches Grundbedurfnis, das vor allem zu Beginn der Schullaufbahn sehr stark ist, sodass sie sich meist in ihrem AusmaB an Wis- sen uberschatzen (Binder 2010: 45 ff.). Der psychologisch bedingte Drang nach positiven Informationen, die das Fahigkeitsselbstkonzept aufrecht- erhalten, muss daher unbedingt in Form von ermutigend gestalteten Leis- tungsruckmeldungen gewahrt werden. Wenn negative Ruckmeldungen vor- herrschen wurden, wird dieses Bedurfnis nicht erfullt, sodass die Lernmoti- vation gestort werden kann (ebd.).

Schulerinnen und Schuler wunschen sich deswegen einen vorsichtigen Um- gang mit negativen Kommentaren, da sich diese sonst hemmend auf die Lernmotivation auswirken konnen. Auf die Frage, wie haufig ein Kind kriti- siert werden durfe, antwortet ein Schuler in Beutels Studie beispielsweise: „Ein bisschen. Aber nicht zu viel. Weil, sonst werden die Kinder, das mo- gen sie dann nicht mehr, weil sie keinen SpaB mehr an der Schule haben.“ (Wagner/Valtin 2002: 606). Erfolgserlebnisse und Lernfreude haben dem- nach fur Kinder einen viel groBeren Stellenwert als im Vergleich zu anderen Kindern besser abzuschneiden (ebd.: 494).

Wenn die Lernfreude bereits zu Beginn der Schulzeit wenig Berucksichti- gung findet, besteht auBerdem die Gefahr, dass das Kind denkt, dass es fur die Lehrerin oder die Eltern lernt und nicht dafur, seine Starken zu intensi- vieren. Regine Morys erklart: „Kinder fragten nach dem Sinn des zu Ler- nenden - scheint dieser fur sie nicht klar erkennbar [...] [wird] das Lernen in den Dienst der Beziehung gestellt [ ] und so gar zu einer 'emotionalen Fessel'.“ (Morys 2007: 44). Dies kann die Lernmotivation und das Selbst- bild negativ beeinflussen.

Die Determiniertheit der schulischen Leistungsentwicklung ist fruh erkenn- bar. Dies wird auch von den Kindern wahrgenommen (vgl. Hossl 2006: 485): Ein leistungsschwaches Kind wird sich nach Misserfolgserlebnissen schnell als ein solches identifizieren. Als Schulerinnen und Schuler befragt wurden, ihre Leistungen einzuschatzen, bewerteten leistungsschwachere Schuler ihre eigenen Fahigkeiten weitaus negativer, wahrend ihre Mitschu- ler ihnen weitaus mehr zutrauten (vgl. Klausen 2014: 179). Der padagogi- sche Auftrag der Lehrerin besteht demnach darin, jede(-n) Schulerin und Schuler im Wortzeugnis zu ermutigen. Eine selbstwertschadigende Wirkung kann allerdings nur dann reduziert werden, wenn die Eltern diese mitverfol- gen (vgl. Hossl 2006: 487). Nicht selten stehen die kindlichen und elterli- chen Erwartungen im Kontrast zueinander. Da die Eltern als die Hauptad- ressaten des Wortzeugnisses verstanden werden konnen, ist eine Untersu- chung ihrer Interessen im Hinblick auf das Wortzeugnis von Bedeutung.

[...]


1 Eine explizitere Auseinandersetzung mit der Bezugsnormorientierung erfolgt in dem Kapitel der Padagogischen Diagnostik (Kapitel 4).

Ende der Leseprobe aus 118 Seiten

Details

Titel
Wortzeugnisse in der Grundschule. Einstellungen von Grundschullehrkräften zum Anspruch des Wortzeugnisses
Hochschule
Universität Münster  (Germanistik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
118
Katalognummer
V1170502
ISBN (eBook)
9783346583536
ISBN (Buch)
9783346583543
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Textzeugnis, Lehrerumfrage, Bewertung in der Grundschule
Arbeit zitieren
Fabiane Rieke (Autor:in), 2015, Wortzeugnisse in der Grundschule. Einstellungen von Grundschullehrkräften zum Anspruch des Wortzeugnisses, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1170502

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Wortzeugnisse in der Grundschule. Einstellungen von Grundschullehrkräften zum Anspruch des Wortzeugnisses



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden