Selbstverletzendes Verhalten von Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe


Facharbeit (Schule), 2021

34 Seiten, Note: 1,0

Vanessa Nobis (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Stationäre Jugendhilfe

3 Besondere Problemlage für Jugendliche in der stationären Jugendhilfe

4 Entwicklungsaufgaben im Jugendalter

5 Selbstverletzendes Verhalten (SSV) und Nichtsuizidales Selbstverletzendes Verhalten (NSSV)
5.1 Formen von NSSV oder SSV
5.2 Ursachen von NSSV oder SSV
5.2.1 Psychologischer Aspekt
5.2.2 Biologische Faktoren
5.2.3 Soziale Faktoren
5.3 Funktionen von NSSV oder SSV
5.3.1 Selbstregulation
5.3.2 Bewältigung von belastenden Lebensereignissen
5.3.3 Soziale Funktion

6 Interventionsmöglichkeiten in der stationären Jugendhilfe
6.1 Erste Ebene, der Zu-Betreuende Jugendliche
6.2 Zweite Ebene, die Wohngruppe
6.3 Dritte Ebene, das Team, bestehend aus pädagogischen Fachkräften

7 Zusammenfassung

8 Literaturverzeichnis

9 Anlagenverzeichnis

10 Anlagen
10.1 Abbildung
10.2 Abbildung
10.3 Abbildung

1 Einleitung

„Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Die Hautoberfläche schließt mich ab gegen die fremde Welt: auf ihr darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will.“1

In der neunten Klasse wurde ich das erste Mal mit selbstverletzendem Verhalten konfrontiert. Meine damalige beste Freundin schickte mir Bilder, auf denen sie sich mit einer Schere, Rasierklinge oder mit dem Zirkel tiefe Wunden in ihre Haut schnitt. Auf der einen Seite fand ich es unglaublich traurig und war hilflos, da ich keinen Weg sah, ihr helfen zu können. Auf der anderen Seite machte es mich neugierig und ich probierte es selber einmal aus. Ich wollte wissen, wieso es sich für sie so gut anfühlte, sich zu schneiden. Da es bei mir keine „Befriedigung“ bewirkte, sondern ich nur Schmerzen empfand, blieb es bei dem einmaligen Versuch. Kurze Zeit später begannen auch andere Freunde von mir, sich selbst zu verletzen. Bei den meisten waren es nur kleine Wunden, die kaum sichtbar verheilten, andere jedoch versteckten ihre mit Narben und Brandwunden übersäten Arme und Beine. Häufig stellte ich mir die Frage, was sie wohl bewogen hat, ihren Körper zu entstellen. Im zweiten Lehrjahr meiner Ausbildung zur Erzieherin arbeitete ich für elf Wochen in einer Wohngruppe und traf erneut auf Jugendliche, die ihre Aggressionen gegen sich selbst richteten. Dies war der Beweggrund, mich mit diesem unerforschten Problem auseinanderzusetzen.

In dieser Arbeit möchte ich herausfinden, unter welchen teils schwierigen Voraussetzungen Jugendliche in der stationären Jugendhilfe versuchen, ihre Entwicklungsaufgaben zu meistern, welche Ursachen dazu führen, dass sie scheitern können und sich dysfunktionale Verhaltensweisen, zu denen auch die Selbstverletzung zählt, aneignen. In meiner Darstellung erkläre ich, was man unter selbstverletzendem Verhalten versteht, welche Ursachen zu diesem führen, welche Formen es annehmen kann und welche Funktionen es erfüllen soll. Zum Schluss gehe ich darauf ein, welche Interventionsmöglichkeiten einer pädagogischen Fachkraft in der stationären Jugendhilfe zur Verfügung stehen, um diesem entgegenzuwirken. Zunächst möchte ich die stationäre Jugendhilfe erläutern, um auch den gesetzlichen Hintergrund vorzustellen.

Aus Gründen der Lesbarkeit wurde bei Personenbezeichnungen das generische Maskulinum gewählt, es sind jedoch stets alle Geschlechter angesprochen.

2 Stationäre Jugendhilfe

In der Regel ist das zu Hause nicht nur ein Ort, sondern die Familie. Nun kann es passieren, dass durch verschiedene Einflüsse Kinder und Jugendliche aus ihrem engsten Umfeld herausgenommen werden müssen. „Zumindest so lang, bis sich die Situation daheim wieder entspannt hat und die Entwicklung/ das Wohl des Jugendlichen nicht mehr gefährdet ist. Je nach Lebenslage wird dann entschieden, ob der Zu-Betreuende zurück in seine Herkunftsfamilie geführt werden kann oder auf eine Verselbstständigung hingearbeitet wird“, so gibt es das Sozialgesetzbuch vor. 2 Zu den stationären Hilfen zählen die Vollzeitpflege in Pflegefamilien, Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform und die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung. Dies ist gesetzlich verankert im SGB VIII § 33, § 34, § 35. Der § 33 bezieht sich auf die Vollzeitpflege in Pflegefamilien. „Hier gibt es drei verschiedene Formen; dazu zählen: Pflegefamilie auf Zeit, die Ergänzungsfamilie und die Ersatzfamilie. Konträr zu der Heimerziehung, sind hier die Zu-Betreuenden überwiegend jünger als sechs Jahre alt, wenn sie in einer Pflegefamilie aufgenommen werden. Durch die Vollzeitpflege können Kinder in einem sozial intakten Wohnungsumfeld aufwachsen. Meistens kommen Kinder mit internalisierenden Störungen (Bsp. soziale Angst, generalisierende Angststörung) eher in eine Pflegefamilie, als welche mit externalisierenden (aggressive Verhaltensauffälligkeiten, delinquentes Verhalten).“3 Die Heimerziehung (§ 34) verfügt über verschiedene Gruppenformen, wobei das Klientel dementsprechend untergebracht wird. Es gibt Familiengruppen, Kinderdorfgruppen, Außenwohngruppen oder vielfältige Intensivgruppen. Meistens werden die Kinder mit einem Durchschnittsalter von 13,5 Jahren aufgenommen. In Deutschland steigt die Zahl der aufgenommenen Kinder in Heimen stetig an. Im Jahr 2011 waren es 32.528 Kinder, welche in einer Heimbetreuung untergebracht sind. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2016 schon 46.122. Dies beträgt einen Anstieg um 42 Prozent (s. Abb.1). Bedingt auch durch die europäische Flüchtlingskrise, wurden vermehrt auch ausländische Kinder/ Jugendliche aufgenommen. Eine weitere Form der stationären Hilfe, ist die intensiv sozialpädagogische Einrichtung. Dieses Unterstützungssystem ist im § 35 des SGBVIII verankert und wird sowohl im In- als auch Ausland praktiziert. Meistens sind es Jugendliche mit sozial auffälligem Verhalten die in schwierigen Milieus aufwuchsen, sich beispielsweise schon früh prostituierten, drogenabhängig waren, schon bis zu 25 betreute Wohnformen besucht hatten und keine Hilfe zur Erziehung mehr wirkte. Der Jugendliche wohnt für eine Zeit in einer eigenen Wohnung oder in einer Wohngruppe und wird im Eins-zu-Eins Setting betreut. Blickt man geschichtlich zurück, so lassen sich im Bereich der allgemeinen Heimerziehung deutliche Wandlungen erkennen. Die Jahre zwischen 1950-1970 werden heute als die „Schwarze Pädagogik“ bezeichnet. Man versuchte damals, den Kindern das „Böse“ aus der Seele zu treiben. Mit extremen Sanktionierungen und Folterungen wurden sie für ihr Fehlverhalten bestraft. Beispielsweise mussten die Kinder, welche einnässten, eine Nacht lang auf dem Korridor stehen, andere, die sich übergeben hatten, zwang man, ihr eigenes Erbrochenes wieder essen. Auch sexuelle Misshandlung waren Teil ihrer Erfahrungen.4 Ein Zeitzeuge erzählt: „Weil ich so wie auch heute immer gegen Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit auftrat, erlebte ich Einzel-Arrest, und als das nicht mehr reichte, wurde bei mir Hirnwasser punktiert, und ich bekam über Jahre hinweg regelmäßig Lepinaletten und später Faustan verabreicht. Faustan war damals schon ein starkes Barbiturat und zählte auch heute zu den Drogen!“5 Viele dieser Gedemütigten leiden heute noch unter schwersten physischen und psychischen Folgen. Man kann von Glück reden, dass es im Jahr 1970 zu einem großen Wandel kam. So wurden der Erziehungsstil, beziehungsweise die Erziehungsmaßnahmen nicht nur kritisch hinterfragt, sondern grundlegend verändert. Heutzutage wird jedes Kind in seiner Individualität angenommen. In der Regel besteht eine Wohngruppe aus sieben bis zehn Zu-Betreuenden, welche jeweils einen Bezugserzieher haben. Meistens verfügt jedes Kind über sein eigenes Zimmer. Überwiegend dürfen die Kinder ihr eigenes Reich selber gestalten, so wie es möchten. Es wird ressourcenorientiert darauf hingearbeitet, dass die Kinder ihre Fähig- und Fertigkeiten voll ausschöpfen können. Die Zu - Betreuenden erfahren durch routinierte Abläufe im Alltag eine Erziehung zur Selbstständigkeit. Sie sollen verstehen, wie ein intaktes soziales Umfeld funktioniert und dabei alle lebenspraktischen Aufgaben kennen lernen. Eine der Hauptaufgaben der pädagogischen Fachkraft besteht somit darin, die Bedürfnisse der Zu-Betreuenden wahrzunehmen und diesen mit Achtsamkeit nachzukommen.

3 Besondere Problemlage für Jugendliche in der stationären Jugendhilfe

Zunächst sei zu erwähnen, dass Kinder aus einer betreuten Wohnform meistens als Randgruppe der Gesellschaft gesehen werden. Also ist damit die Hilfe selbst für den Jugendlichen nicht nur diskriminierend, sondern auch noch die Ansichtsweise der Öffentlichkeit ihm gegenüber. In der Herkunftsfamilie waren die Jugendlichen meistens einer extremen psychischen und physischen Belastung ausgesetzt. „Ungefähr 60% [...] haben gesicherte Missbrauchs-, Misshandlungs- oder Vernachlässigungserfahrungen“.6 Des Weiteren stellt der Umzug von den Jugendlichen, beispielsweise in eine Wohngruppe, eine massive non-normative Transition dar. Eine Transition oder auch Übergang genannt, ist ein komplexer Wandlungsprozess, welcher sowohl positiv als auch negativ wahrgenommen werden kann. Dabei muss eine Entwicklungsanforderung schneller und intensiver bewältigt werden. Ich möchte nun näher auf Transitionen eingehen, wobei in zwei Arten unterschieden wird. Ein normativer Übergang ist vorhersehbar, sodass man sich darauf einstellen kann. Dagegen ist eine non-normative Transition nicht zu erwarten und stellt einen tiefen Einschnitt im Leben dar. Meistens ist der Umzug nicht berechenbar für die Jugendlichen und kann als kritisches Lebensereignis gewertet werden. Dies hängt von der jeweiligen Verarbeitungsfähigkeit ab, wobei einerseits Umweltbedingungen wie das soziale Umfeld und der gesellschaftliche Kontext darauf einwirken, andererseits aber ebenso personale Ressourcen, zu denen die kognitive und emotionale Fähigkeit und die körperliche Gesundheit zählen. Zu erwähnen ist ebenfalls, dass die meistens Zu-Betreuenden schon im Kindesalter in eine betreute Wohnform gezogen sind. Wie jeder Zu-Betreuende mit seiner individuellen Geschichte umgeht, hängt besonders von der Resilienz ab. Hierunter versteht man die psychische Widerstandsfähigkeit, die keine angeborene, sondern im Laufe des Lebens erworbene Fähigkeit darstellt. Gerät der Mensch in eine Lebenskrise, die zum Verlust des inneren Gleichgewichts führt, und wird er somit „mit Ereignissen oder Lebensumständen konfrontiert […], die er im Augenblick nicht bewältigen kann, weil sie seine bisherige Problemlösungsmethoden übersteig[en]“ 7, entscheidet seine Resilienz, ob und wie er dieses Lebensereignis bewältigt. Schlussendlich führt es zu einer Anpassung oder Fehlanpassung. Im Gegensatz zur Anpassung entsteht bei der Fehlanpassung, bedingt durch psychische Beeinträchtigungen, ein negatives Entwicklungsergebnis. Auf die Resilienz wirken Schutz- und Risikofaktoren, welche von jedem Einzelnen individuell gewertet werden und in Wechselwirkung das Wohlbefinden eines Individuums steuern. „Als Schutzfaktor auch protektiver Faktor genannt, bezeichnet man einen umgebungsbezogenen oder persönlichen Faktor, der die psychische Wirkung von belastenden Umweltbedingungen oder anderen risikoerhöhenden Faktoren auf einen Menschen abpuffert“8. Risikofaktoren lassen sich „in Vulnerabilitätsfaktoren (genetische Faktoren, Bindung, Temperament) und Risikofaktoren aus der Umwelt, die auch als Stressoren bezeichnet werden“9, unterscheiden. Auch die Wohngruppe könnte eventuell ein Risikofaktor darstellen, falls die Fachkräfte nicht pädagogisch wertvoll handeln, beziehungsweise die Strukturen den Zu-Betreuenden belasten. Häufig können die Jugendlichen nicht die Gründe nachvollziehen, weshalb sie nun in einem Heim untergebracht sind. Viele sehen es auch als eine Art Bestrafung an. „Strukturell gesehen, stellt eine Heimgruppe eine Zwangsgemeinschaft auf Zeit dar, die künstlich zusammengesetzt ist und deren Stabilität nicht auf den konkreten Individuen, sondern auf den Rolleninhabern basiert.“10 Die Zu-Betreuenden werden aus ihrem Lebensumfeld herausgerissen und das bisherige Leben, was sie führten, findet nicht mehr statt. Der Tagesplan hat eine feste Struktur, welcher nur bedingt Freizeit ermöglicht. Außerdem wird von den Jugendlichen verlangt, zunehmend selbstständig Essen zu kochen, ihr Zimmer sauber zu halten, Wäsche zu waschen und vieles mehr. Alle Aufgaben die sie im späteren Leben erwarten, sollen sie kennenlernen und verinnerlichen. Ebenso sind die sozialen Beziehungen in Heimen wichtig. Diese sind nämlich meistens sehr instabil, da die pädagogischen Fachkräfte nicht 24 Stunden, 7 Tage die Woche lang Dienst haben. Auch der Kontakt zu Freunden, Peer-Groups oder einer Jugendszene kann in manchen Fällen durch die räumliche Entfernung unterbrochen sein.

Aus diesen genannten Gründen ist ersichtlich, dass die betreffenden Jugendlichen mit den verschiedensten Problemlagen konfrontiert werden. Sie müssen diese Situationen verarbeiten und mit Hilfe des Fachpersonals versuchen, einen eigenen Lebensweg zu finden, was leider nicht immer positiv gelingt.

4 Entwicklungsaufgaben im Jugendalter

Nun möchte ich weiter darauf eingehen, welche Entwicklungsaufgaben die Jugendlichen meistern müssen. Deren Bewältigung sind wichtig, damit eine erfolgreiche Entwicklung des Individuums möglich ist und sie in der Gesellschaft akzeptiert werden. Im Allgemeinen bedeutet die Entwicklung eine dauerhafte Veränderung, welche durch die Faktoren Reifung, sensible Perioden, kritische Lebensereignisse und Entwicklungsaufgaben beeinflusst wird. „Die Adoleszenz an sich stellt eine biologische wie psychosoziale Belastung dar. In einem engen Zeitraster müssen viele neurobiologische Reifungsprozesse und psychosoziale Anforderungen bewältigt werden.“11 Die Adoleszenz beginnt ungefähr mit elf Jahren und endet mit dem 21. Lebensjahr.12 Dabei sei zu bemerken, dass Mädchen schon im Alter von 8 Jahren in die Pubertät kommen und eher einsteigen als die Jungen.13 Die Jugend ist im Allgemeinen die Zeit, wo die meisten Veränderungen eines Menschen stattfinden. Egal ob physisch, psychisch, emotional oder sozial. Nicht jeder muss diese normative Phase als eine seelische Krise durchlaufen. Vordergründig bildet sich zunächst in der Adoleszenz die Identität der Heranwachsenden. Diese wird durch die Faktoren Erziehung, Bindung und Sozialisation geformt. Jugendliche in der stationären Jugendhilfe hatten in ihrem Leben schon viele einschneidende Erlebnisse, wobei meistens die Bindung zu den Eltern/ Familienangehörigen gelitten hat. „Bindung ist von großer Bedeutung für soziale Beziehungen, für die eigene Verortung in der Welt, das Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein eines Menschen“14. Besonders in der Jugendhilfe, ist es daher wichtig zu wissen, wie man kontinuierlich eine gute Beziehung zu den Zu-Betreuenden aufbaut. Dies beansprucht eine lange und intensive Zeit, bis der Jugendliche erkennt, dass sein Vertrauen nicht missbraucht wird. Im Team sollte abgesprochen sein, wie mit Bindungsstörungen umgegangen wird, damit einheitlich gehandelt werden kann. „Spätestens in der Adoleszenz können unsichere oder desorganisierte Bindungsmuster zu Anpassungsproblemen und unkorrigiert zu fortführenden Entwicklungshindernissen führen“15. Eine desorganisierte Bindung zeichnet sich dadurch aus, dass der Jugendliche in einem Moment extreme Zuneigung beansprucht und sie im anderen vehement ablehnt. Je sicherer sich der Zu-Betreuende fühlt, desto mehr wird er selbstsicher die Umwelt erkunden (Explorationsverhalten). Der Beziehungsaufbau wirkt sich zugleich sehr auf den Faktor Erziehung aus. Je offener die Bindung von dem Kind zum Erzieher ist, desto mehr wird er Lob und Konsequenzen anerkennen. Zunächst wird der Begriff Erziehung nochmals unterteilt in die intentionale Erziehung und die funktionale Erziehung. Bei der intentionalen Erziehung werden bewusst Erziehungsmaßnahmen vom Erzieher vollzogen, welche auch planbar sind. Bei der funktionalen Einflussnahme sind es die pädagogisch nicht gezielten Maßnahmen, sondern die der Umwelt, beispielsweise durch Peer Groups, Jugendszenen oder dem Bekanntenkreis. Die Erziehung wird als Interaktion betrachtet, zwischen dem Zu-Erziehendem und dem Erzieher, wobei der Erzieher zielgerichtet Werte und Normen vermittelt, Lernprozesse unterstützt und, falls notwendig, eine dauerhafte Verhaltensänderung hervorrufen kann. Dieser Prozess ist irgendwann abgeschlossen. Speziell in der Jugendhilfe wird versucht, mögliches Fehlverhalten der Zu-Betreuenden zu korrigieren und sie zu normalisieren, denn erst durch die Sozialisation wird ein Mensch handlungsfähig in der Gesellschaft. Sie vermittelt Werte und Normen und dient der Identitätsbildung. Ein ganzes Leben lang wird ein Mensch von der Gesellschaft geformt. Es besteht eine dauerhafte Wechselwirkung zwischen dem Individuum und der Umwelt. Dieser Sozialisationsprozess ist stark beeinflusst von den jeweiligen Erfahrungen jedes einzeln Zu-Betreuenden. Sehr entscheidend ist ebenfalls, ob die Einrichtung ressourcenorientiert arbeitet und die Entwicklung positiv geprägt wird. „Im Vergleich zu Jugendlichen aus „normalen“ Familien haben gerade die Jugendlichen mit den „nachweislich schlechtesten Ausgangslagen“ wesentlich früher die Anforderung zu bewältigen „auf eigenen Beinen zu stehen““.16 Bei der Identitätsentwicklung kommt es dazu, dass die Jugendlichen Antworten auf ihre Fragen suchen, so zum Beispiel: Wer bin ich? Wer möchte ich sein? Wie möchte ich von Anderen gesehen werden? Die Zu-Betreuenden können in einen innerlichen Konflikt geraten, falls unterschiedliche Wert- und Normvorstellungen von wichtigen Bezugspersonen verfolgt werden. Sie fangen an, ethische/ religiöse Ansichten nicht mehr nur hinzunehmen, sondern hinterfragen und bilden sich selber eine Meinung. Dabei entsteht ein eigenes Werte- und Normsystem. Hier ist es wichtig als pädagogische Fachkraft den Jugendlichen nicht zu stark zu beeinflussen, bei seiner Identitätsentwicklung zu unterstützen und trotzdem auf verschiedene Risikofaktoren zu achten. Die Jugendlichen lösen sich immer mehr von den primären Bindungspersonen ab, wobei in der stationären Jugendhilfe es meistens die Erzieher sind und nicht die leiblichen Eltern. Durch die Autonomieentwicklung und das Austesten beziehungsweise Überschreiten von Grenzen entstehen häufiger Konflikte mit den Zu-Betreuenden. Dabei hängt die Ausbreitung des Konfliktes mit der Emotionsregulierung des Jugendlichen zusammen. Sie müssen lernen, adäquat mit Emotionen wie Wut, Trauer oder Ärger umzugehen. Die Jugendlichen entwickeln Deeskalationsstrategien, wodurch sie negative Emotionen besser steuern können und sich schneller beruhigen.17 Meist wirken mehrere Faktoren auf die Zu-Betreuenden ein. Der schulische Druck wächst zunehmend, da die Zu-Betreuenden sich nun entscheiden müssen, in welcher Branche sie später mal arbeiten möchten. Von Seiten der Schule werden immer höhere kognitive Anforderungen gestellt, welchen die Jugendlichen gerecht werden müssen. In der Jugendhilfe sollte man deshalb darauf achten, die Jugendlichen bezüglich der Bewältigung von Aufgaben oder dem Erreichen guter Zensuren nicht zu überfordern. Dadurch könnte sich bei dem Zu-Betreuenden, je nach psychischer Verfassung, ein innerer Druck, Stressor, aufbauen. Die Jugendlichen sollten selber erkennen, wie viel sie lernen müssen, um ihr Leistungspotential auszuschöpfen, womit wir wieder bei dem Thema Selbstständigkeit wären. Eine Zukunftsperspektive für sich zu finden, entwickelt sich jedoch recht langsam. Die berufliche Orientierung kann für viele Angstauslösend wirken, falls sie sich zu unschlüssig sind, wo sie sich später einmal arbeiten sehen. Um die Selbstständigkeit der Jugendlichen zu fördern, bietet es sich an, eine Bildungsmesse zu besuchen, die Zu-Betreuenden bei Entscheidungsprozessen zu unterstützen, Gespräche mit den Jugendlichen über ihre beruflichen Träume, Stärken und Schwächen zu führen. Als pädagogische Fachkraft sollte man hier als Berater fungieren und die Jugendlichen in keinen Berufsweg drängen. Des Weiteren werden erste intime Beziehungen ausprobiert und aufgebaut. Die Zu-Erziehenden werden Liebeskummer kennen lernen, denn nicht immer werden die Gefühle des Anderen erwidert. Sie fangen an darüber nachzudenken, wie sie später ihre Familie gestalten möchten und vergleichen dabei ihre Vision mit ihrer eigenen konkreten Situation. Falls Zu-Betreuende Gesprächsbedarf signalisieren, müsse man darauf emphatisch und sensibel reagieren.

Sie entwickeln eine Geschlechtsidentität, wobei sie lernen müssen, mit ihrer körperlichen Reife umzugehen. Bei Mädchen setzt die Menstruation ein, was manche verunsichern kann. Damit verbunden sind möglicherweise auch Schmerzen, wobei der Erzieher extrem auf das Nähe- und Distanzverhältnis zu der Jugendlichen Acht geben muss. Hier wäre es von Vorteil, wenn der Bezugserzieher mit dem Mädchen darüber spricht, falls er den Bedarf dafür verspürt. Die Mädchen produzieren mehr Körperfett und nehmen dadurch zu und die Brüste wachsen. Bei den Jungen passiert der erste Samenerguss und sie geraten in den Stimmbruch. Beide Geschlechter müssen mit fettigen Haaren, wachsender Schambehaarung, Mitessern, häufigerem Schwitzen und vielen weiteren physischen Veränderungen klar kommen.18 Eine weitere Entwicklungsaufgabe in der Adoleszenz ist das Aufbauen eines Freundeskreises, beziehungsweise das Einfinden in einer Peer Group oder Jugendszene. Die Einrichtung muss den Zu-Betreuenden genügend Freizeit zur Verfügung stellen, damit keine Ausgrenzung von anderen Jugendlichen stattfindet. In Peer Groups werden verschiedene Rollen ausprobiert und die Jugendlichen müssen sich öfter selbst behaupten. Zusätzlich wird die Meinung eines jeden Jugendlichen durch Ansichten anderer beeinflusst, was sowohl positive Aspekte mit sich zieht, als auch negative. Mutproben oder auch Neugier verleiten manche Jugendliche, Drogen oder andere verbotene Substanzen auszuprobieren. Sie kommen ebenso mit Alkohol in Kontakt, wobei das sogenannte Rauschtrinken in den letzten Jahren immer populärer wurde. In einer Statistik wurde beschrieben, dass im Jahr 2000, 9500 Jugendliche im Krankenhaus wegen einer Alkoholvergiftung behandelt werden mussten. Im Jahr 2007 stieg die Zahl auf 23165. In sozialen Medien tauschen sie sich über ihre Exzesse aus, die sie am Wochenende hatten, laden Fotos ihrer Aktionen hoch und kommentieren diese dann mit sogenannten Hashtags (#) und Wörtern wie „Komasaufen“ oder „Kampftrinken“.19 Eine Jugendszene wird vom Jugendlichen individuell nach den Interessen/ Hobbys, aber auch entsprechend seiner politischen und moralischen Einstellung ausgesucht. Dabei bildet sich seine Identität weiter aus.

„Die Jugendlichen müssen an ihren sozialen Kompetenzen arbeiten, um im sozialen Gefüge agieren zu können. Dabei werden zunehmend persönliche Probleme nicht mehr mit den primären Bezugspersonen besprochen, sondern eher mit den engsten Freunden.“20 In der heutigen Gesellschaft finden der kommunikative Austausch und das Kennenlernen neuer Freunde viel über die Medien statt.21 Dabei sollte man mit den Zu-Betreuenden präventiv arbeiten und Gefahren im Internet aufzeigen. Als pädagogische Fachkraft ist es wichtig zu erkennen, wann ein Zu-Betreuender Unterstützung benötigt. Deswegen sollte man stets Gesprächsbereitschaft zeigen und mit Wertschätzung, sowie Empathie arbeiten.

Abschließend lässt sich zu den Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz zusammenfassen, dass die pädagogische Fachkraft durch Beobachtungen und Dokumentationen die Entwicklung der Schutzbefohlenen betreuen muss und mit Transparenz und Achtsamkeit den Jugendlichen unterstützen sollte. Nun kann es jedoch passieren, dass die Hilfe für den Jugendlichen nicht ausreicht, er seine Entwicklungsaufgaben nicht adäquat bewältigen kann und durch verschiedene Faktoren, wie zum Beispiel die eigene Herkunftsgeschichte, in eine seelische Krise rutscht. Durch diesen Konflikt können sich dysfunktionale Verhaltensweisen ausprägen. Ein Variante dieser kann das selbstverletzende Verhalten sein, worauf ich nun genauer eingehen werde.

[...]


1 Aus: Heidelberger-Leonard, Irene (Hrsg.): Jean Améry Werke. https://germanistik.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/inst_germanistik/Textarchiv/Dusini/spuerbarkeit-zeichen/amery_dietortur.pdf, S.66 (13.10.2020).

2 Vgl.: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Kinder- und Jugendhilfe. Achtes Buch Sozialgesetzbuch, https://www.bdja.org/files/kjhg.pdf, S.83. (10.10.2020).

3 Vgl.: Hammer, Richard/Hermsen, Thomas/Macsenaere, Michael: Hilfen zur Erziehung. Lehrbuch für sozialpädagogische Berufe, Köln 2015, S.59-70.

4 Vgl.: Suppe, Claus: Kritischer Blick auf das Wirken der FDJ. in: Thüringische Landeszeitung - Unstrut-Hainich-Kreis (2020), S. 6.

5 Aus: Ebd. S.6.

6 Aus: Niemann, Katrin: Seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe / Heimerziehung. Eine Untersuchung zur Effizienz pädagogischer Intervention in der stationären Jugendhilfe in Rostock, Rostock 2013, S.25.

7 Aus.: Aufzeichnungen LF 6.

8 Aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Schutzfaktor (20.09.2020).

9 Vgl.: http://www.resilienz-freiburg.de/index.php/was-ist-resilienz/das-risiko-und-schutzfaktorenkonzept (20.09).

10 Aus: Barth, Andrea: Systemisches Denken in der Kinder- und Jugendhilfe aus dem Fokus des teilstationären sowie des stationären Bereiches der Rummelsberger Dienste für junge Menschen, Erlangen-Nürnberg 2007.

11 Aus: Sabban, Jana: Psychosoziale Belastungen Jugendlicher in der nichttherapeutischen Jugendhilfe. Anforderungen an beteiligte Jugendlich und Konsequenzen für das Hilfesystem, Berlin 2009, S.17.

12 Vgl.: Aufzeichnungen Hefter LF4.

13 Aus: Gartinger, Silvia/Janssen, Rolf (Hrsg.): Erzieherinnen + Erzieher. Sozialpädagogische Bildungsarbeit professionell gestalten, Berlin 2. Auflage 2020, S.142.

14 Aus: Otto, Jeanette: Bindungen muss sich jeder selbst erarbeiten. in: Die Zeit Nr. 35 (2020), S. 27.

15 Aus: Sabban, Jana: Psychosoziale Belastungen Jugendlicher in der nichttherapeutischen Jugendhilfe. Anforderungen an beteiligte Jugendlich und Konsequenzen für das Hilfesystem, Berlin 2009, S.53.

16 Aus: Ebd. S.12.

17 Vgl.: Sabban, Jana: Psychosoziale Belastungen Jugendlicher in der nichttherapeutischen Jugendhilfe. Anforderungen an beteiligte Jugendlich und Konsequenzen für das Hilfesystem, Berlin 2009, S.50.

18 Vgl.: Gartinger, Silvia/Janssen, Rolf (Hrsg.): Erzieherinnen + Erzieher. Sozialpädagogische Bildungsarbeit professionell gestalten, Berlin 2. Auflage 2020, S.140 -141.

19 Aus: Stolle, Martin/Sack, Peter-Michael/Thomasius, Rainer: Rauschtrinken im Kindes- und Jugendalter. Epidemiologie, Auswirkungen und Intervention, https://www.aerzteblatt.de/archiv/64513/Rauschtrinken-im-Kindes-und-Jugendalter (23.09.2020).

20 Vgl.: Sabban, Jana: Psychosoziale Belastungen Jugendlicher in der nichttherapeutischen Jugendhilfe. Anforderungen an beteiligte Jugendlich und Konsequenzen für das Hilfesystem, Berlin 2009, S.50-52.

21 Vgl.: Gartinger, Silvia/Janssen, Rolf (Hrsg.): Erzieherinnen + Erzieher. Sozialpädagogische Bildungsarbeit professionell gestalten, Berlin 2. Auflage 2020, S.140.

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Selbstverletzendes Verhalten von Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
34
Katalognummer
V1171468
ISBN (eBook)
9783346596758
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Selbstverletzendes Verhalten, Stationäre Jugendhilfe
Arbeit zitieren
Vanessa Nobis (Autor:in), 2021, Selbstverletzendes Verhalten von Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1171468

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