Die These der Arbeit ist, dass die Phasen des Erlassens und Lockerns von Corona- Schutzverordnungen im Zusammenspiel mit weiteren Schlüsselmomenten der Pandemie, das Auftreten stetig neuer Sozialfiguren bedingen.
Zur Umsetzung des Forschungsvorhabens und der Beantwortung der Forschungsfrage wird zunächst im Kapitel 1 theoretisches Hintergrundwissen zum gesellschaftlichen Umgang mit der Coronakrise ausgearbeitet. Darin erfolgt eine historische und gesellschaftspolitische Einordnung der Coronakrise. Kapitel 2 setzt sich mit dem theoretischen Konzept der Sozialfiguren auseinander. Im Fokus stehen dabei die Eigenschaften, die Genese und die Erforschung von Sozialfiguren.
Im Rahmen einer vergleichenden Analyse wird außerdem untermauert, weshalb es sich beim Sozialfigurenkonzept um eine eigenständige Theorie handelt. Das in der Arbeit zur Anwendung kommende methodische Vorgehen wird in Kapitel 3 vorgestellt. Darin werden im ersten Teil weitere Forschungsfragen formuliert, die an die Untersuchung von Sozialfiguren anknüpfen.
Im zweiten Teil von Kapitel 3 wird die zur Anwendung kommende Methode der kritischen Diskursanalyse vorgestellt und in einem dritten Teil auf die methodischen Voraussetzungen für die Erstellung der Figurentableaus eingegangen. Daran anschließend werden im Kapitel 4 die Sozialfiguren im Rahmen der Diskursanalyse untersucht. In Kapitel 5 werden mithilfe der Ergebnisse aus der Diskursanalyse in einem ersten Schritt ein zeitliches Figurentableau und in einem zweiten Schritt ein Figurenkonfigurationstableau erstellt und ausgewertet. Abschließend werden in Kapitel 6 im Fazit die Erkenntnisse aus der sozialfigurativen Erforschung der Coronavirus-Krise zusammengetragen und überlegt, wie die ausgearbeitete Methode für die Untersuchung zukünftiger gesellschaftlicher Krisen genutzt werden kann.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Gesellschaft in der Coronakrise
2.1 Historische Einordnung
2.2 Risikopolitik
3. Das Sozialfigurenkonzept
3.1 Zu den Eigenschaften und der Genese von Sozialfiguren
3.2 Sozialfiguren im theoretischen Vergleich
3.3 Erforschung von Sozialfiguren
4. Forschungsdesign
4.1 Kritische Diskursanalyse
4.2 Ein Leitfaden zur Erforschung von Sozialfiguren
4.3 Figurentableaus
5. Sozialfiguren der Coronavirus-Krise
5.1 Patient 0
5.2 Der Hamsterkäufer
5.3 Die Systemrelevanten
5.4 Der Virologe
5.5 Der Krisenmanager
5.6 Die Geimpfte
5.7 Der Querdenker
6. Figurentableaus
6.1 Zeitliches Figurentableau
6.2 Figurenkonstellationstableau
7. Fazit und Ausblick
Literatur- und Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Suche nach Begriff "Patient 0" (Screenshot von Google Trends/ eigene Bearbeitung)
Abbildung 2: Suche nach Begriff "Hamsterkäufer" (Screenshot von Google Trends/ eigene Bearbeitung)
Abbildung 3: Suche nach Begriff "Systemrelevant" (Screenshot von Google Trends/ eigene Bearbeitung)
Abbildung 4: Suche nach Begriff "Virologe" (Screenshot von Google Trends/ eigene Bearbeitung)
Abbildung 5: Suche nach Begriff "Jens Spahn" (Screenshot von Google Trends)
Abbildung 6: Suche nach Begriff "Geimpfte" (Screenshot von Google Trends/ eigene Bearbeitung)
Abbildung 7: Suche nach Begriff "Querdenker" (Screenshot von Google Trends/ eigene Bearbeitung)
Abbildung 8: Zeitliches Figurentableau
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Übersicht der Detailoppositionen
Tabelle 2: Figurenkonstellationstableau
1. Einleitung
Die Ausbreitung des COVID-19 Virus hat eine globale Krise mit weitreichenden politischen, ökonomischen und sozialen Konsequenzen ausgelöst. In Deutschland und vielen anderen Ländern kam das öffentliche und private Leben wiederholt zum Erliegen. Bürgerliche Grundrechte wurden außer Kraft gesetzt, bis dahin gültige Normen und institutionalisierte Verhaltensweisen mussten zum Schutz der kritischen Infrastruktur hinterfragt werden. Die Coronavirus-Krise stellt folglich eine ernstzunehmende „strukturelle Erschütterung des [...] Sozial- und Gesellschaftssystems" (Rosa 2020, 193) dar. Die mit der Krise einhergehende strukturelle Veränderung befeuert ökonomische und freiheitliche Sorgen und wirft Fragen bezüglich des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf.
Die Kommunikation kollektiver Krisenerfahrungen erfolgt dabei in figurativer Form über sogenannte Sozialfiguren (vgl. Moser und Schlechtriemen 2018). Diese treten vornehmlich in unsicheren Umbruchs- und Krisenzeiten in Erscheinung und weisen in der Art normativer Seismographen auf strukturelle Brüche, gesellschaftliche Problemlagen und normative Konflikte hin. Aufgrund ihrer kommunikativen Anschlussfähigkeit wird in der Coronakrise unter Rückgriff auf Sozialfiguren über neue wissenschaftliche Erkenntnisse, politische Entscheidungen und - durch die Pandemie verschärfte - soziale Ungleichheiten diskutiert. Die Konstitution von Sozialfiguren und ihre gegenseitige Bezugnahme konturiert den Krisendiskurs und legt sich-verändernde gesellschaftliche Einstellungen zur Corona-Pandemie offen.
Moser und Schlechtriemen, die Autoren des Sozialfigurenkonzepts, haben eine Reihe von Texten zusammengetragen, die sich verschiedenen Sozialfiguren der Corona-Krise widmet (KWI 2021). Die Autoren betonen, dass sich dabei nicht um eine vollständige Sammlung handelt und stellen die These auf, dass sich die zeitliche Entwicklung der Coronakrise an einem Tableau ablesen ließe (Moser und Schlechtriemen 2021, 2). Eine über einen längeren Zeitraum angelegte Sammlung zu Sozialfiguren der Coronakrise sowie ein Tableau, aus dem die zeitlichen Phasen der Pandemie und die Beziehung einzelner Sozialfiguren zueinander hervorgeht, existieren bisher nicht. Ziel der vorliegenden Masterarbeit ist es, an diese Forschungslücke anzuknüpfen. Einerseits sollen hierfür charakteristische Merkmale ausgewählter Sozialfiguren herausgearbeitet werden, andererseits sollen die, durch die Figuren zum Ausdruck gebrachten Gefühls- und Problemlagen im Gesamtzusammenhang als ein sich fortlaufend wandelndes Krisennarrativ untersucht werden. Die erkenntnisleitende Forschungsfrage lautet dabei: Welche gesellschaftlichen Erfahrungen und Problemstellungen der Coronavirus-Krise werden über Sozialfiguren kommuniziert?
Die Autoren des Sozialfigurenkonzepts gehen davon aus, dass es nur bedingt möglich ist den Zeitpunkt vorherzusagen, zu dem eine Sozialfigur in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung an Relevanz gewinnt (Moser und Schlechtriemen 2020, 3). Dies ist kritisch zu hinterfragen. Die These der vorliegenden Arbeit ist, dass die Phasen des Erlassens und Lockerns von Corona- Schutzverordnungen im Zusammenspiel mit weiteren Schlüsselmomenten der Pandemie, das Auftreten stetig neuer Sozialfiguren bedingen. Zur Umsetzung des Forschungsvorhabens und der Beantwortung der Forschungsfrage wird zunächst im Kapitel 1 theoretisches Hintergrundwissen zum gesellschaftlichen Umgang mit der Coronakrise ausgearbeitet. Darin erfolgt eine historische und gesellschaftspolitische Einordnung der Coronakrise. Kapitel 2 setzt sich mit dem theoretischen Konzept der Sozialfiguren auseinander. Im Fokus stehen dabei die Eigenschaften, die Genese und die Erforschung von Sozialfiguren. Im Rahmen einer vergleichenden Analyse wird außerdem untermauert, weshalb es sich beim Sozialfigurenkonzept um eine eigenständige Theorie handelt. Das in der Arbeit zur Anwendung kommende methodische Vorgehen wird in Kapitel 3 vorgestellt. Darin werden im ersten Teil weitere Forschungsfragen formuliert, die an die Untersuchung von Sozialfiguren anknüpfen. Im zweiten Teil von Kapitel 3 wird die zur Anwendung kommende Methode der kritischen Diskursanalyse vorgestellt und in einem dritten Teil auf die methodischen Voraussetzungen für die Erstellung der Figurentableaus eingegangen. Daran anschließend werden im Kapitel 4 die Sozialfiguren im Rahmen der Diskursanalyse untersucht. In Kapitel 5 werden mithilfe der Ergebnisse aus der Diskursanalyse in einem ersten Schritt ein zeitliches Figurentableau und in einem zweiten Schritt ein Figurenkonfigurationstableau erstellt und ausgewertet. Abschließend werden in Kapitel 6 im Fazit die Erkenntnisse aus der sozialfigurativen Erforschung der Coronavirus-Krise zusammengetragen und überlegt, wie die ausgearbeitete Methode für die Untersuchung zukünftiger gesellschaftlicher Krisen genutzt werden kann.
2. Die Gesellschaft in der Coronakrise
Im März 2020 appellierte Angela Merkel in einer Fernsehansprache an die Bevölkerung, die Corona-Pandemie sei die größte Herausforderung, die Deutschland seit dem zweiten Weltkrieg zu bewältigen habe. Es handele sich um eine Krise, deren Überwindung „gemeinsames solidarisches Handeln“ erfordere (Bundesregierung 2020a). Gemeint sind damit die Schul- und Geschäftsschließungen, der Lockdown und weitere staatliche Maßnahmen, die zur Eindämmung der Pandemie ergriffen wurden. In der medialen Öffentlichkeit wurde von einer historischen Krise gesprochen. Nach Einschätzung des Soziologen Hartmut Rosa leitet die Coronakrise sogar einen politisch sozialen Paradigmenwechsel aus. Unbestreitbar ist jedoch, dass sie mit beträchtlichen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Folgen einhergeht.
In diesem Kapitel soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit die Coronakrise unsere gesellschaftliche Ordnung beeinflusst und verändert. Hierfür soll in einem ersten Schritt der Umgang mit der Coronakrise in einen historischen Rahmen gesetzt werden. Anschließend werden Aspekte von Reckwitz' Risikopolitik (2020) vorgestellt, in der er argumentiert, es lassen sich anhand der Corona-Maßnahmen strukturelle Merkmale moderner Politik ablesen.
2.1 Historische Einordnung
Als Anfang März 2020 vermehrt über die Ausbreitung des neuartigen COVID-19 Erregers berichtet wurde, hielt sich die Verunsicherung in der Bevölkerung zunächst in Grenzen. Rigorose Maßnahmen wie beispielsweise die Nachverfolgung von Kontakten, die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und ein wirtschaftlicher Shutdown wie in der Metropolregion Wuhan in China, schienen für das deutsche freiheitlich-demokratische System in diesem Ausmaß nicht denkbar (Zand, Dandan und Hackenbroch 2020, 15). Mitte März breitete sich das Virus dann zunehmend auch in Europa aus. In den Nachrichten wurden Bilder aus Norditalien gezeigt, auf denen Militärkonvois für den Abtransport von Coronatoten eingesetzt wurden. Die Politik nahm die Lage nun sehr ernst. Infolgedessen wurden auch in Europa strikte Maßnahmen ergriffen, wie zum Beispiel Ausgangs- und Versammlungsverbote, Quarantäne und die Abschottung einzelner Städte und Kreise. Diese Instrumente zur Eindämmung der Pandemie haben sich in der europäischen Geschichte wiederholt bewährt (Mauelshagen 2020, 38).
Wie effektiv die angesprochenen Maßnahmen sein können, zeigt sich deutlich am Beispiel der Pest. Größere Ausbrüche konnten im Europa des 18. Jahrhunderts, dem Fehlen passender Arznei zum Trotz, unterbunden werden. Im Notzustand wurde jedoch auch strikt in das Leben der Menschen eingegriffen wie beispielsweise durch ein Versammlungsverbot von Angehörigen im Rahmen einer Bestattung (ebd., 40). Auf dem Höhepunkt der Coronakrise war in Deutschland, und in den meisten anderen europäischen Ländern, das persönliche Abschiednehmen von an Corona erkrankten Sterbenden untersagt (Prange 2020). Im 18. Jahrhundert lösten die Maßnahmen Gefühle der Wut und Trauer aus, die sich schließlich gegen die Obrigkeit richteten. Die Verbreitung von Verschwörungstheorien und das Leugnen wissenschaftlicher Erkenntnisse waren Teil des gesellschaftlichen Protests gegen die strikte Umsetzung der Schutzmaßnahmen (Mauelshagen 2020, 41).
Festzuhalten ist, dass die erlassenen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona- Pandemie auf einem historischen Erbe beruhen. Teil der Geschichte unserer Gesellschaft ist ebenso, dass Krisendiskurse vom anfänglichen Leugnen wissenschaftlicher Fakten und dem Verbreiten von Verschwörungstheorien geprägt sind. Ein Vergleich der Corona-Pandemie mit anderen historischen Pandemien und Krisen, beispielsweise der Pest, erscheint dennoch nur bedingt sinnvoll. Zum einen, weil wir, anders als die Gesellschaft im Mittelalter, in einer globalisierten und medialisierten Welt leben und durch den stetigen, wissenschaftlichen Fortschritt einer Pandemie nicht schutzlos ausgeliefert sind (Satjukow 2020). Zum anderen, weil in der modernen Gesellschaft das Coronavirus nicht als Gefahr, sondern als kalkulierbares Risiko betrachtet wird. Mit dieser Anschauungsweise kann die Gesellschaft durch ihr Handeln Einfluss auf die Höhe des Risikos nehmen. Konkret bedeutet dies, dass die einzelnen Gesellschaftsmitglieder die Verbreitung des Virus teilweise selbst zu verantworten haben und ihrem Schicksal nicht ergeben sind (Reckwitz 2020, 242). Die Bundeskanzlerin vertrat ebenso diese Ansicht und formulierte es in ihrer Fernsehansprache in Bezug auf die Abstands- und Hygienemaßnahmen wie folgt: „Wir sind nicht verdammt, die Ausbreitung des Virus passiv hinzunehmen.“ (Bundesregierung 2020a).
In der medialen Auseinandersetzung mit der Coronakrise ist häufig zu lesen, dass sich die Politik in einem Ausnahmezustand befinde. Dem entgegen argumentiert Andreas Reckwitz, dass sich im Umgang mit der Coronakrise ein allgemeines Muster moderner Politik abzeichne, die als Risikopolitik zu definieren sei. Im Folgenden werden die Strukturmerkmale dieser Risikopolitik vorgestellt.
2.2 Risikopolitik
Die Schließung von Geschäften und Schulen, das Reiseverbot und weitere Maßnahmen, die im Lockdown zur Eindämmung der Pandemie ergriffen wurden, sind Mittel, die ein Staat im Modus einer Risikopolitik ergreift. Reckwitz argumentiert, dass unsere moderne Gesellschaft eine Gesellschaft eines „systematischen Risikomanagements“ sei (Reckwitz 2020, 241). Seine Perspektive auf Gesellschaft und Politik ist einer Soziologie des Risikos zuzuordnen.
Es werden im Folgenden sechs Strukturmerkmale moderner Risikopolitik nach Reckwitz (2020) vorgestellt, die durch die Coronakrise verstärkt in Erscheinung treten.
Im ersten Punkt wird die Risikopolitik als eine Politik des Negativen definiert. Ihr Ziel sei die Abmilderung oder Abwendung eines negativen Zustands. In Abgrenzung dazu gebe es noch zwei weitere Vorgehensweisen politischer Praxis: Die gesellschaftliche Behandlung negativer Zustände als Gefahr sowie die Politik des Positiven. Die Abmilderung negativer Zustände der Risikopolitik betreffe diverse Gebiete, die potentiell durch gesellschaftliches Handeln beeinflussbar seien. Hierunter fallen innergesellschaftliche Krisen wie Erwerbslosigkeit und Kriminalität, ökonomische Krisen, aber auch Krisen aus der Ding- und Naturwelt. Zu Letzterem zählten sowohl die Epidemien als auch die Corona-Pandemie. Dieser Argumentation folgend ist der Risikograd einer Krise abhängig vom Handeln der Gesellschaft. (ebd., 242f.).
Das zweite Strukturmerkmal der Risikopolitik ist das Anstreben des utopischen Ideals von Sicherheit in der Zukunft. In dieser Politik der Sicherheit liege die Herausforderung darin, abzuwägen, ob ein höheres Maß an Sicherheit nur unter Einbußen von Freiheit und Dynamik zu erreichen sei. Andererseits gelte es einzuschätzen, welcher Grad an Unberechenbarkeit für mehr Freiheit und Dynamik toleriert werden könne. Ziel der Risikopolitik ist die langfristige Eliminierung von Risiken. Im Vordergrund stehe dabei die Frage, welches Maß an Risiko einer Gesellschaft zugemutet werden könne. Speziell für die Coronakrise lautet die Frage: Wie viele schwere Verläufe und Todesfälle aufgrund einer COVID-Infektion sind für die Gesellschaft akzeptabel, und ab wann wäre der Zustand untragbar (ebd., 243f.)?
Das dritte Strukturmerkmal hebt hervor, dass moderne Risikopolitik auf wissenschaftliche, häufig naturwissenschaftliche Fachkompetenz angewiesen sei. Bei ökonomischen Krisen werde beispielsweise die Wirtschaftswissenschaft konsultiert. Im Fall der Coronakrise, eine Krise aus der Ding- und Naturwelt, stehe die Naturwissenschaft und vor allem die Virologie im Vordergrund. Kontrovers werde es, sobald sich die Politik Lösungen von einer einzelnen Wissenschaft vorgeben lasse, ohne den Lösungsvorschlag im Gesamtzusammenhang zu betrachten. Diesen Zustand beschreibt Reckwitz als eine „Expertokratie der Alternativlosigkeiten“ (Reckwitz 2020, 244).
Als nächstes wird das Zusammenspiel von kollektivem und individuellem Risikomanagement als Strukturmerkmal angeführt (Reckwitz 2020, 245). Individuen sollen so sozialisiert werden, dass sie in der Lage seien, eigenverantwortlich präventive Maßnahmen ergreifen zu können. Dies bedeutet, dass jeder ein Stück weit selbst für seine Gesundheit verantwortlich sei und sich vor Risiken zu schützen habe. Die Politik könne zur Stärkung des individuellen Risikomanagements Anreize und Hindernisse setzen (ebd.). Deren Anwendung kamen in Teilen in NordrheinWestfalens zum Tragen, als es über einen gewissen Zeitraum erlaubt war, ungeachtet einer verpflichtenden Notbremse, mit einem gültigen negativen Coronatest einkaufen zu gehen.1 Demgegenüber stehe das kollektive Risikomanagement, das die gesamte Bevölkerung durch Verbote und Sanktionen betreffe. Für die Minimierung von Risiken könnten sogar Präventionsmaßnahmen wie eine Impfpflicht rechtskräftig durchgesetzt werden (Reckwitz 2020, 245). Ein Impfzwang solle in der Coronakrise möglichst vermieden werden. Stattdessen wurde diskutiert, das bis dahin kostenlose Angebot von Schnelltests abzuschaffen, um so Hindernisse für Nicht-Geimpfte zu kreieren (Steffen 2021). Die Maßnahmen des individuellen und kollektiven Risikomanagements kommen bisher in der Coronakrise kombiniert zur Anwendung.
In der Beschreibung des fünften Strukturmerkmals wird erläutert, dass sich die Risikopolitik mit unterschiedlichen Risiken konfrontiert sehe, die parallel auftreten und untereinander konkurrieren können. Deshalb sei die Politik des Negativen dazu gezwungen, die einzelnen Risiken und Folgen gegeneinander abzuwägen. In der Coronakrise lasse sich gut die Konkurrenz einzelner Risiken beobachten. Solange die Minimierung des Risikos einer Ausbreitung der Infektionen an Geschäfts- und Schulschließungen gebunden sei, würden dadurch auch ökonomische, psychologische und soziale Risiken befeuert (ebd., 245f.).
Im letzten Punkt differenziert Reckwitz zwischen einer Risikopolitik im Dauermodus und einer solchen im Krisenmodus. Die Risikopolitik im Dauermodus zeichne sich durch die Ergreifung präventiver Maßnahmen aus. Bei ihr sollen Risiken - wie die Ausbreitung der Pandemie in Deutschland - gar nicht erst zugelassen werden. Befinde sich die Risikopolitik im Krisenmodus, reagiere sie unmittelbar auf eine Katastrophe, um bereits entstandene Negativfolgen nicht außer Kontrolle geraten zu lassen. Die Risikopolitik im Krisenmodus beanspruche einen Großteil der Kapazitäten des Regierungshandelns für die Bekämpfung eben dieser Krise (ebd., 246). Die Risikopolitik sei nicht zwingend ein Produkt der Coronakrise, wie sich an der Finanzkrise 2008/2009 zeigte. Das Besondere an der Risikopolitik der Coronakrise sei, dass viele unterschiedliche Mittel aus dem individuellen und kollektiven Risikomanagement zum Einsatz kommen (ebd.)
Des Weiteren zeichnet sich nach über einem Jahr der Corona-Pandemie ab, dass wir uns in einer Mischform der Risikopolitik befinden, die zwischen Dauer- und Krisenmodus, sprich dem harten und weichen Lockdown, hin und her wechselt. So ist nicht absehbar, welche Maßnahmen des kollektiven und individuellen Risikomanagements neu hinzukommen beziehungsweise wieder erlassen oder wegfallen werden. Dieser andauernde Wechsel stelle eine strukturelle Besonderheit dar, zumal ein Ende der Coronakrise zeitlich nicht absehbar sei.
Wie werden in einer Zeit von wechselhafter Risikopolitik gesellschaftliche Krisenerfahrungen kommuniziert? Nach Moser und Schlechtriemen werden in unsicheren Zwischenzeiten gesellschaftliche Probleme und Krisenerfahrungen unter Einbezug sogenannter Sozialfiguren zum Ausdruck gebracht (2018, 165). Im Folgenden soll das soziologische Konzept der Sozialfiguren vorgestellt und in Abgrenzung zu anderen soziologischen Konzepten betrachtet werden.
3. Das Sozialfigurenkonzept
Sozialfiguren sind ein eigenständiger Bestandteil soziologischer Forschung (Moser und Schlechtriemen 2018, 164). Welche Erkenntnisse können aus der Untersuchung von Sozialfiguren gewonnen werden?
Moser und Schlechtriemen beschreiben Sozialfiguren als ein Mittel, um den Fragen und Problemen nachzuspüren, welche die Menschen der Gegenwartsgesellschaft beschäftigen. Sie ermöglichen es, „krisenhafte Erfahrungen“ zu kommunizieren, für die die Gesellschaft bisher noch keine Lösungsansätze erarbeiten konnte. Für die Soziologie sind Sozialfiguren kein unbekanntes Instrument, sie fanden schon lange für die Beschreibung von Gegenwartsdiagnosen Verwendung. Der Begriff der Sozialfigur wurde bisher jedoch nicht mit einer einheitlichen Bedeutung versehen (ebd., 165). Vermehrt genutzt wird der Begriff der Sozialfigur schon in den 1960er Jahren von Ralf Dahrendorf, der ihn allerdings im Sinne des Konzepts der sozialen Rolle verstand. Eine Sammlung historischer Sozialfiguren findet sich in dem Band Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart (Moebius und Schroer 2018). Die Autoren beschreiben Sozialfiguren darin als „zeitgebundene historische Gestalten, anhand derer ein spezifischer Blick auf die Gegenwartsgesellschaft geworfen werden kann.“ (ebd., 8). Die Figurensammlung reiche vom Flüchtling über den Manager bis hin zum Verlierer. Den Autoren zufolge kennzeichne die Figuren ihr sphärenübergreifender Charakter. Gemeint damit sei, dass die Figuren sich nicht in einem bestimmten sozialen Feld bewegen, sondern durch die gesamte Gesellschaft „vagabundieren“ (ebd.). Weiterhin ist die Figurationssoziologie von Nobert Elias (vgl. 1997) als Inspirationsquelle des Sozialfigurenkonzepts zu nennen. In den folgenden Kapiteln wird zu Elias‘ Ausführungen noch konkreter Stellung bezogen.
Sozialfiguren sind menschliche Figurationen, in denen sich charakterliche und ästhetische Merkmale einzelner Individuen bündeln. Diese Merkmale werden komplexitätsreduzierend verdichtet in Einzelfiguren dargestellt. Vorläufer von sozialfigurativen Darstellungen finden sich in Form literarischer Portraits in Romanen, Filmen und der Musik. David Riesman beispielsweise greift für die Ausarbeitung seines , außengeleiteten Charakters'2 auf Romane und Kinderbücher zurück (vgl. Riesman 1950; vgl. Abels und König 2016). Zu konstatieren ist, dass Sozialfiguren konzeptionell Elemente aus Literatur, öffentlichem Diskurs und Soziologie bündeln (Moser und Schlechtriemen 2018, 166).
Sozialfiguren bringen „kollektive Erfahrungen der Gegenwartsgesellschaft“ zum Ausdruck. Ihre Konstitution setze eine flächendeckende gesellschaftliche Akzeptanz voraus (ebd.). Vorzugsweise werde in gesellschaftlichen Umbrüchen und Krisenzeiten unter Rückgriff auf Sozialfiguren kommuniziert. Ihr Erscheinen sei dadurch unmittelbar an unsichere Zwischenzeiten gebunden, in denen die Gesellschaft Herausforderungen nicht mit bekannten Deutungsmustern zu lösen vermag. Moser und Schlechtriemen bezeichnen Sozialfiguren aufgrund ihres flüchtigen Charakters als Emergenzphänome. Sie zählen noch nicht bzw. nicht mehr zum „Rolleninventar der Gesellschaft“, sondern deuten durch ihr Erscheinen einen Strukturbruch an (2018, 171). Seismographisch weisen sie frühzeitig auf normative Konflikte und eine Neuausrichtung der Gesellschaft hin. Eine finale Lokalisierung und Definition einer Sozialfigur sei nicht im Sinne des Konzepts, soll doch die Nähe zur sich verändernden sozialen Wirklichkeit aufrechterhalten werden (ebd., 173).
3.1 Zu den Eigenschaften und der Genese von Sozialfiguren
Als menschliche Figur kennzeichne die Sozialfigur neben Name, Alter und Geschlecht (Moser und Schlechtriemen 2020, 1) idealerweise körperliche und charakterliche Merkmale (Moser und Schlechtriemen 2018, 171). Nach dem Sozialfigurenkonzept diene die Beschreibung dieser Merkmale nicht dazu, eine individuelle Persönlichkeit zu adressieren, sondern die Geschichte der Figur erzählbar zu machen und die, durch sie verkörperten gesellschaftlichen Erfahrungen offenzulegen (Moser und Schlechtriemen 2020, 1).
Darüber hinaus vertrete die Sozialfigur einen ethisch-moralischen Standpunkt. Sie deute darauf hin, wie sich die Gesellschaft gegenüber einer gegenwärtigen Herausforderung positionieren könne und biete so eine Vorschau auf eine mögliche Zukunft (Moser und Schlechtriemen 2018, 173). Im Zentrum einer Erzählung stehend wird die Sozialfigur von „[...] anderen Begleit- und Nachbarfiguren oder auch Gegenspieler- und Kontrastfiguren“ begleitet. Diese prägen das Bild der Figur entscheidend mit (Moser und Schlechtriemen 2020, 2). Einzelne Sozialfiguren exemplifizieren unterschiedliche Handlungsoptionen und Perspektiven des gesellschaftlichen Zusammenlebens (Moser und Schlechtriemen 2018, 173). Gedacht werden solle die Sozialfigur nicht als starres Konstrukt, sondern als sozialer Prozess (ebd., 169). In diesem Prozess könne es zu einer diametralen Deutungsverschiebung der Figur kommen (Moser und Schlechtriemen 2021, 4). Eine eingangs positiv konnotierte Figur besitze folglich das Potenzial, sich zu einer negativ konnotierten Figur zu entwickeln (Moebius und Schroer 2018, 10). Sozialfiguren konstituieren sich in Krisensituationen und sind zeitlich an diese gebunden. In Zwischenzeiten stehen sie massenmedial im Zentrum der Aufmerksamkeit, da sie gesellschaftliche Erfahrungen und Probleme verdichtet darstellen. Sie weisen einen Zeitindex auf und sind nur so lange Teil des Krisendiskurses wie sie Bezüge zu Thematiken herstellen können, die die Gegenwartsgesellschaft beschäftige (Moser und Schlechtriemen 2018, 171).
Den dynamischen Prozess, den eine Sozialfigur durchlaufe, gliedern Moser und Schlechtriemen in drei Phasen. Anknüpfend an Paul Ricreur (1988) bezeichnen die Autoren den Prozess der Komposition einer neuen Sozialfigur als Konfiguration. Gewinnt eine aus der Zeit gefallene Figur in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung wieder an Relevanz, ist die Rede von der Refiguration der Figur (Moser und Schlechtriemen 2018, 172). Ricreur verwendet die Begriffe Konfiguration und Refiguration für die Analyse der zeitlichen Struktur und Symbolik von Fabelkompositionen (Ricreur 1988, 88). Ungeachtet dessen, dass Ricreur den Begriff der Konfiguration für die Komposition von Texten und nicht von Figuren nutzt, definiert er den Akt des Konfigurierens als das Zusammennehmen von Einzelhandlungen (ebd., 107). Die Konfiguration von Sozialfiguren stehe insoweit in der Tradition Ricreurs, als dass damit das Verdichten gesellschaftlicher Zeiterfahrungen gemeint sei. Sozialfiguren lösen sich aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit, sobald innerhalb des strukturellen Wandels ein passendes Set von Verhaltensnormen etabliert werden könne. Werden über die Sozialfigur keine Erfahrungen mehr kommuniziert, setze der Prozess ihres Abbaus ein, was Moser und Schlechtriemen als Defiguration bezeichnen (2018, 172). Dass sich Figuren in einer gegenwärtigen Situation ,aus dem Nichts' konfigurieren, ist die Ausnahme. In der Regel refigurieren Sozialfiguren sich aus historischen Vorläuferfiguren, sogenannten Präfigurationen (ebd.).
Als Vorläuferfigur, der aus der Coronakrise erwachsenen Figur Patient 0, nennen die Autoren Typhoid Mary. Diese Figur aus der irischen Unterschicht soll, obwohl selbst symptomfrei, wohlhabende Familien mit Typhus infiziert haben (Moser und Schlechtriemen 2020). Um zu zeigen, dass es sich bei dem Sozialfigurenkonzept um eine eigenständige Theorie handelt, werden im Rahmen einer vergleichenden Analyse die Alleinstellungsmerkmale des Konzepts herausgestellt.
3.2 Sozialfiguren im theoretischen Vergleich
In ihrem theoretischen Essay betrachten Moser und Schlechtriemen Sozialfiguren in einer vergleichenden Analyse mit weiteren theoretischen Konzepten. Ziel ist es, zu konkretisieren, welche Alleinstellungsmerkmale Sozialfiguren aufweisen und an welchen Punkten inhaltliche Überschneidungen zu anderen Theorien bestehen (2018, 166-169). Im Folgenden werden die zentralen Erkenntnisse der vergleichenden Analyse vorgestellt und ergänzt.
Idealtypen sind nach Max Weber als gedankliche Gebilde zu verstehen, in denen einzelne Sachverhalte der sozialen Wirklichkeit zusammengefasst werden. Als Instrument der Kulturwissenschaft ermögliche die Typenbildung die selektive Rekonstruktion der sozialen Wirklichkeit (vgl. Weber 1904, 66). Idealtypen und Sozialfiguren erfüllen gleichermaßen die Funktion der Komplexitätsreduktion, da auffallende Merkmale bei beiden Konzepten verdichtet und teils überspitzt dargestellt werden. Die Konzepte unterscheiden sich dahingehend, dass Sozialfiguren nicht ausschließlich als wissenschaftliche Methode gedacht werden, sondern darüber hinaus als Kommunikationsform zu verstehen sind. Als Teil des öffentlichen Diskurses können sie aus nichtwissenschaftlichen Quellen hervorgehen wie zum Beispiel aus Literatur und Filmen (Moser und Schlechtriemen 2018, 167).
Die Soziale Rolle ist ein aus der Kulturanthropologie entlehntes Konzept. Nach Popitz sind unter Sozialen Rollen „Zumutungen bestimmter Bündel von Verhaltensnormen“ zu begreifen (Popitz 1967, 21, zit. n. Moser und Schlechtriemen 2018). Die einzelnen Individuen sind gezwungen, sich an gegebene Normen anzupassen und gesellschaftliche Erwartbarkeiten zu erfüllen. Soziale Rollen sind statische Gebilde, ganz im Gegensatz zu Sozialfiguren, die als Emergenzphänome dann in Erscheinung treten, wenn es zu Normverschiebungen innerhalb der Gesellschaft komme. Außerdem werde dem Aspekt der Körperlichkeit bei der Sozialen Rolle eine nicht übermäßige Bedeutung zugemessen, wohingegen die körperlich-ästhetische Darstellung im Sozialfigurenkonzept von Relevanz sei (Moser und Schlechtriemen 2018, 168).
Weiterhin wird in der vergleichenden Analyse von Moser und Schlechtriemen auf das Konzept des Sozialcharakters rekurriert. Mit Verweis auf Fromm (1984) ist unter Sozialcharakter der Bestandteil des Charakters zu verstehen, den Menschen in vergleichbaren sozialen Positionen teilen. Das Handeln und Denken von Individuen wird durch den Sozialcharakter der Gesamtgesellschaft beeinflusst. Passen sich Individuen bei ihrer Entscheidungsfindung an andere Gesellschaftsmitglieder an, handeln sie nach der vorgegebenen Norm und erfahren bei ihrer Erfüllung eine gewisse Befriedigung. Der Sozialcharakter diene den Individuen somit als Richtschnur für ethisch-moralisches Handeln (Moser und Schlechtriemen 2018, 168). Sozialfiguren besitzen, ebenso wie der Sozialcharakter, eine affizierende Wirkung. Ihr Auftreten deute auf normative Unsicherheiten hin und normiere in der Regel nicht das Verhalten von Individuen. Im öffentlichen Diskurs lösen sie ambigue Gefühle aus (ebd., 169).
Die systematische Nähe des Habitus -Konzepts von Pierre Bourdieu (1987) zu Sozialfiguren wird von Moser und Schlechtriemen nur angerissen und soll hier weiterführend erläutert werden. Bourdieu beschreibt, dass das den Menschen zur Verfügung stehende Kapital - welches er in drei Kapitalarten unterteilt - mit ihrer Klassenzugehörigkeit variiere. Ausgehend von der Klassenzugehörigkeit ergeben sich unterschiedliche Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster, die Bourdieu als Habitusformen bezeichnet. Der Habitus hat unmittelbaren Einfluss auf die Lebensgestaltung (Wustmann und Pfadenhauer 2017, 152). Er wirke sich auf das Alltagshandeln und somit auch auf die Freizeitgestaltung der Menschen aus (zum Beispiel die Zugehörigkeit in einem Sportverein). Ähnlich wie bei den Sozialfiguren sind ästhetische und körperliche Merkmale wichtige Elemente für die Zuordnung des Habitus. Unter dem sozialen Kapital begreift Bourdieu die Ressourcen, die Menschen auf Grundlage ihrer sozialen Beziehungen besitzen (1987). Die Sozialfiguren stehen in Interdependenz zueinander und prägen das Bild der jeweils anderen entscheidend mit (Moser und Schlechtriemen 2021, 4). Im Gegensatz zu Sozialfiguren, die sich vorzugsweise in unsicheren Zwischenzeiten konfigurieren, lasse sich der Habitus auf Dauer aufrechterhalten und werde sogar über Generationen weitergetragen.
Abschließender Teil der vergleichenden Analyse ist die soziale Figuration von Norbert Elias (1997). In seinen Werken greift Elias immer wieder „soziale Figuren“ auf, anhand derer sich „eine ganz bestimmte gesellschaftliche Situation“ (1997: 119) kontrastieren lasse. Das theoretische Konzept der Figurationssoziologie ist weder kollektivistisch noch individualistisch zu verorten, sondern dem wechselseitigen Verhältnis beider Perspektiven zueinander. Wenn Moser und Schlechtriemen Sozialfiguren als soziale Prozesse denken, übertragen sie unmittelbar die Dynamik sozialer Figurationen auf Sozialfiguren. Die Dynamik von sozialen Figurationen erläutert Elias anhand von Tanzfigurationen (Elias 1997: 71). Die Struktur gesellschaftlicher Tänze vergleicht er mit der Struktur von Staaten, Städten und ganzen gesellschaftlichen Systemen (ebd., 72). Mit dem Bild gegenseitig voneinander abhängiger Menschen beim Tanz bringt Elias seine Perspektive der wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnisse zum Ausdruck.
In diesem Kapitel wurde die konzeptionelle Nähe von Sozialfiguren zu anderen soziologischen Zugängen dargelegt. Inwieweit stellen Sozialfiguren nun einen eigenständigen Forschungsbereich dar? Das markanteste Alleinstellungsmerkmal des Sozialfigurenkonzepts liegt darin, dass es sich aufgrund seiner Konstitution nicht einem wissenschaftlichen Zweig zuordnen lässt, sondern inhaltliche Nähe zu soziologischen, kulturwissenschaftlichen und literaturwissenschaftlichen Konzepten aufweist. Sozialfiguren kommen den sozialen Figurationen von Elias nahe, da es sich bei beiden Konzepten um soziale Prozesse handelt. Allerdings sind Elias' soziale Figurationen, wie seine Studie über Etablierte und Außenseiter (Elias und Scotson 1993) zeigt, mit ethnographischen Methoden beobachtbar und beschreibbar. Eine Beobachtung von Sozialfiguren in spezifischen sozialen Sphären wäre jedoch aufgrund ihres sphärenübergreifenden Charakters kaum realisierbar. Wie aber können Sozialfiguren wissenschaftlich erfasst und erforscht werden? Im folgenden Kapitel soll zu methodischen Überlegungen von Moser und Schlechtriemen kritisch Stellung bezogen und abgewägt werden, welche Methode sich für das Vorhaben dieser Arbeit eignet.
3.3 Erforschung von Sozialfiguren
Sozialfiguren konfigurieren sich innerhalb eines gesellschaftlichen Wandels. In ihrer Funktionsweise halten sie „die Nähe zur beschriebenen sozialen Wirklichkeit“ (Moser und Schlechtriemen 2018, 173) aufrecht. Im Sinne des Konzepts sollen Sozialfiguren nicht deterministisch gefasst, sondern es sollen ihre spezifischen Merkmale beschrieben werden. Sie bilden einzelne Facetten des gegenwartsgesellschaftlichen Diskurses ab. Bei ihrer Erforschung ist die Aufrechterhaltung ihrer „Plastizität und Anschaulichkeit“ vordergründig (ebd.).
Moser und Schlechtriemen schlagen eine Verknüpfung mehrerer Methoden aus verschiedenen Disziplinen vor. Als sinnvoll erachten sie eine ethnographische Forschungsmethode. Diese kann um diskurs- oder bildanalytische Verfahren ergänzt werden. Die Autoren bewerten einen ethnographischen Ansatz als positiv, der sich an einer Sozialreportage orientiert und bei dem die Beobachtung von Menschen in ihrem natürlichen Umfeld im Vordergrund steht (Moser und Schlechtriemen 2018, 173). Die Schwachstelle einer solchen Untersuchung ist, dass die Individuen und die von ihnen ausgeübten sozialen Praktiken in einer bestimmten Sphäre des Sozialen (auf der Arbeit, im Kreise der Familie, bei einer Freizeitbeschäftigung) beobachtet werden würden. Sozialfiguren allerdings besitzen einen sphärenübergreifenden Charakter, der sie für die Auseinandersetzung mit gesamtgesellschaftlichen Problemlagen relevant machen (Moebius und Schroer 2018, 8).
Überdies treten Sozialfiguren in Form massenmedialer Texte und Bilder auf. Sie können in unterschiedlichen Medientypen vorkommen. Vorstellbar sind neben wissenschaftlichen, journalistischen oder literarischen Texten auch visuelle Quellen wie Bilder, Memes, Filme und Nachrichtenbeiträge. Die jeweilige Medienform präge mit ihrer „eigenen medialen Konvention“ das Portrait der Sozialfigur (Moser und Schlechtriemen 2018, 174). Zudem setze sich das Gesamtbild einer Sozialfigur aus unterschiedlichen Medientypen zusammen. Dieses „intermediale Kompositum“ könne sich zum Beispiel aus journalistischen Texten, in Zeitungen publizierten Fotos oder Interviewsequenzen zusammensetzen. Aus welchen und wie vielen Quellen sich eine Sozialfigur konstituiert, ist von Figur zu Figur verschieden. Die Autoren sprechen sich dafür aus, eine ethnographische Beobachtung um Medien- und Diskursanalysen zu erweitern. Diese Analysen ermöglichen es, herauszuarbeiten, „welche Sozialfiguren in welchen Medien vermehrt auftauchen, wie diese ihre Darstellung prägen und in welcher Weise sie durch unterschiedliche Medien zirkulieren [...]“ (ebd.).
Wichtig zu erwähnen ist, dass die Autoren für die Untersuchung keine konkrete Vorgehensweise nennen, sondern ausschließlich Methodenvorschläge geben. Die zu wählende Methode soll der zu erforschenden Sozialfigur gerecht werden. Wie divers die Vorgehensweisen der Erforschung von Sozialfiguren sein können, zeigt eine Reihe interdisziplinärer Texte, die Moser und Schlechtriemen in Zusammenarbeit mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) zusammengetragen haben. Die BlogReihe widmet sich erstmals einzelnen Sozialfiguren der Coronakrise (KWI 2021). Figuren, die im Rahmen der Reihe analysiert wurden, sind unter anderem: Patient 0, Virologen als (Super)Heroic Scientists und der Landesvater. Ihre Sammlung von Corona-Texten verstehen die Autoren als „Experimentierraum, der zu Kommentaren anregen soll.“ (Moser und Schlechtriemen 2020, 2). Es wird betont, dass diese Texte keine vollständige oder abschließende Sammlung darstellen. Die Durchsicht der interdisziplinären Texte legt offen, was Moser und Schlechtriemen bereits in den methodischen Überlegungen in ihrem Sozialfigurenaufsatz (2018) andeuten: Der milieuspezifische Blickpunkt einer ethnographischen Untersuchung könne dem gesellschaftsübergreifenden Charakter von Sozialfiguren nur schwerlich gerecht werden.
Die Konfiguration des Patienten 0 erfolgt durch Bezugnahme auf real existierende Personen. Die Sozialfigur wird ins Verhältnis zu ihren historischen Vorläuferfiguren gesetzt, die wiederum im Zusammenspiel mit ihren Neben- und Gegenspielerfiguren betrachtet werden (Schlechtriemen 2020). Die Figur wird vordergründig als sozialer Prozess verstanden, bei dem historische Narrative ihr aktuelles Bild in der Coronakrise mitprägen.
Das Essay, das sich mit der Figur der Virologen als Super(Heroic) Scientists auseinandersetzt, konzentriert sich auf die mediale und popkulturelle Darstellung der Figur. In Art einer Bildanalyse werden Collagen, Memes und Bilder als auch ein Zeitschriftenportrait auf ihre popkulturellen Referenzen hin untersucht (Butler, et al. 2021). Dieser Forschungszugang unterstreicht, dass visuelle Quellen wie Bilder oder Filme mit ihrer eigenen Konvention das Bild der Sozialfigur prägen (Moser und Schlechtriemen 2018, 174).
Die Attribute der Figur des Landesvaters werden über eine Diskursanalyse erschlossen, bei der die Fremdbeschreibung einzelner Politiker*innen in der medialen Berichterstattung untersucht wird. Die darin festgestellten Attribute werden mit dem Bild früherer Politikertypen verglichen, die als Präfigurationen in der Untersuchung hinzugezogen werden (Griem 2020).
Dass die Forschungszugänge der Autor*innen in der Tradition diskurs-, medien- und bildanalytischer Verfahren stehen, könnte der Coronavirus-Krise selbst geschuldet sein. In Zeiten der Pandemie, in der das öffentliche Leben zeitweise stillsteht und soziale Kontakte zurückgefahren werden, konfigurieren sich Sozialfiguren vornehmlich in und über Medien.
Im Hinblick auf die Coronakrise stellen Moser und Schlechtriemen die These auf, dass sich die zeitliche Entwicklung des Pandemiegeschehens an einem Figurentableau ablesen ließe (2021, 2). Eine über einen längeren Zeitraum angelegte Sammlung zu Sozialfiguren der Coronakrise sowie ein Figurentableau, aus dem die Beziehung einzelner Sozialfiguren zueinander hervorgeht, existieren bisher jedoch nicht. Sich verändernde Positionierungen von Figuren sowie Konflikte und Erklärmodelle der Coronakrise könnten durch ein Figurentableau transparent gemacht werden.
An diese Forschungslücke knüpft diese Arbeit an. Ziel ist es, eine Sammlung von Sozialfiguren auszuarbeiten, die sich über mehrere Phasen der Coronavirus-Krise hinweg etabliert haben. Weiterhin sollen Figurentableaus erstellt werden. Ein Tableau soll den zeitlichen Verlauf mit den wichtigsten Schlüsselereignissen und den Konfigurationsphasen der Sozialfiguren abbilden (Abbildung 8). Ein weiteres Tableau soll das normative Potenzial und die soziale Positionierung der Sozialfiguren visualisieren (Tabelle 2).
4. Forschungsdesign
Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, ein kohärentes Gesamtbild der Kollektiverfahrungen der Coronakrise zu zeichnen. Einerseits sollen hierfür charakteristische Merkmale ausgewählter Sozialfiguren herausgearbeitet werden, andererseits sollen die, durch die Figuren zum Ausdruck gebrachten Gefühls- und Problemlagen im Gesamtzusammenhang als ein sich fortlaufend wandelndes Krisennarrativ untersucht werden. Moser und Schlechtriemen gehen davon aus, dass es nur schwer bis gar nicht möglich ist den Zeitpunkt vorherzusagen, zu dem sich eine Sozialfigur konfiguriert (2020, 2). Dies gilt es im Rahmen der Analyse zu prüfen. Als Besonderheit der Coronavirus-Krise hebt Reckwitz die vielfältigen Maßnahmen hervor, die ergriffen werden, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen (2020, 247). Die Phasen des Erlassens und Lockerns von Corona-Schutzverordnungen im Zusammenspiel mit weiteren Schlüsselmomenten der Pandemie - so die These dieser Arbeit - bedingen stetig die Konfiguration und die Defiguration neuer Sozialfiguren.
Die Analyse einzelner Sozialfiguren und ihre zusammenhängende Betrachtung in Figurentableaus werfen eine Reihe von Fragen auf, die teils auch von Moser und Schlechtriemen gestellt werden (2018, 176).
Folgende Fragen sind als forschungsleitend für diese Arbeit zu benennen:
F1: Welche sozialstrukturellen Veränderungen bedingen das Auftreten einer Sozialfigur?
F2: Über welchen Zeitraum kann sich eine Sozialfigur im gesellschaftlichen Diskurs halten?
F3: Welche charakteristischen und ästhetischen Merkmale kennzeichnen die einzelnen Sozialfiguren?
F4: Welches normative Potenzial besitzen die Sozialfiguren und in welchem sozialen Verhältnis stehen sie zueinander?
4.1 Kritische Diskursanalyse
Kern der Analyse bildet die Methode der kritischen Diskursanalyse nach Siegfried Jäger (2015). In ihrer Funktion arbeiten Diskursanalysen für Jäger wie „Frühwarnsysteme“. Sie weisen auf noch nicht akute Bedrohungen hin, die in der Zukunft an Relevanz gewinnen können (ebd., 8). Die kritische Diskursanalyse (KDA) bietet sich insofern für die Untersuchung von Sozialfiguren an, als dass Jäger den Analyse-Leitfaden als , Werkzeugkiste' versteht. Abhängig von Untersuchungsgegenstand und Fragestellung kann man sich aus diesem bedienen und ihn gegebenenfalls um weitere Analyseinstrumente ergänzen (ebd.). Jäger begreift Diskurse als „[...] Flüsse bzw. Abfolgen von oft auch raumübergreifenden sozialen Wissensvorräten durch die Zeit [...].“ (ebd., 78). Für die Arbeit mit Sozialfiguren bedeutet dies, dass die Prozesse der Refiguration und Defiguration im gleichen Maße wie die Konfiguration im Rahmen der KDA zu untersuchen sind.
Sozialfiguren werden in dieser Arbeit nach der jäger'schen Definition als Diskursstränge verstanden. Diskursstränge setzen sich für Jäger aus Texten zusammen, die sich einem bestimmten Thema zuordnen lassen und vermitteln, „was zu einem bestimmten gegenwärtigen oder früheren Zeitpunkt [...] sagbar ist bzw. war.“ (Jäger 2015, 81). Wie die Sozialfiguren stehen Diskursstränge selten allein, sondern sind vielmehr untereinander verschränkt und somit letztlich interdependent (ebd.). Das Verhältnis der einzelnen Sozialfiguren zueinander soll deshalb dezidiert betrachtet werden.
4.2 Ein Leitfaden zur Erforschung von Sozialfiguren
Siegfried Jäger hat für die KDA einen Leitfaden entworfen (Jäger 2015, 90f.). Die für die Untersuchung von Sozialfiguren übertragbaren Punkte, werden im Folgenden vorgestellt und um eigene Arbeitsschritte ergänzt.
Im ersten Schritt des Leitfadens sollen Zielsetzung, Forschungsgegenstand, theoretischer Hintergrund und Methodenauswahl umrissen werden. Im zweiten Schritt ist der Untersuchungsgegenstand zu benennen und zu begründen, weshalb der spezifische Zeitausschnitt und der Raum der Untersuchung gewählt werden. Mit den vorangestellten Kapiteln, die sich mit der Corona-Pandemie als gesellschaftlicher Krise und den Sozialfiguren als theoretisches Konzept auseinandergesetzt haben, sind die Punkte Eins und Zwei des Leitfadens bereits hinreichend thematisiert. Ferner bleibt es, den Untersuchungszeitraum zu bestimmen. Dieser umspannt die Zeit vom 15. Februar 2020 bis zum 15. April 2021. In diesem Zeitraum hat sich die Vorstellung von Corona als einer extremen Gefährdungslage hin zu einem vermeidlich kalkulierbaren Risiko - nicht zuletzt durch den Start flächendeckender Impfungen - entwickelt.
Die Untersuchungszeiträume der einzelnen Sozialfiguren variieren innerhalb dieses Zeitfensters. Einen Anhaltspunkt zur Bestimmung der Untersuchungszeiträume liefert ein Screening über Google Trends. Dabei handelt es sich um einen OnlineDienst von Google, der angibt, wie oft von Nutzer*innen nach einem bestimmten Begriff bei Google gesucht wurde. Die Suche kann dabei auf eine Region und ein Zeitfenster eingegrenzt werden. Zu jedem Suchbegriff wird die Suchhäufigkeit skaliert auf das maximale Suchinteresse innerhalb des Zeitraums angegeben. Diese Werte geben das Suchinteresse relativ zum höchsten Punkt im Diagramm für die ausgewählte Region im festgelegten Zeitraum an. Der Wert 100 steht für die höchste Beliebtheit des Suchbegriffs in dem vorab definierten Zeitfenster. Das Werkzeug eignet sich nicht dazu, die Suchhäufigkeit einzelner Begriffe (Sozialfiguren) vergleichend gegenüberzustellen. Jedoch liefert Google Trends Anhaltpunkte darüber, zu welchen Zeitpunkten ein Begriff, resp. eine Sozialfigur besonders populär war. Diese Zeiträume sollen danach in der Diskursanalyse dezidierter betrachtet werden.
In einem dritten Schritt gilt es, die Materialgrundlage zu bestimmen. Diese kann - so Jäger - „nicht willkürlich im Vorhinein festgelegt werden [...]“ (2015, 90). Den Hauptgegenstand der Untersuchung bilden journalistische Texte. Individuell abhängig von der zu untersuchenden Sozialfigur wird die Materialgrundlage um wissenschaftliche Texte, Beiträge in sozialen Netzwerken, Zeitschriftenportraits oder andere Medientypen erweitert.
Den vierten Schritt und den Hauptteil der Arbeit bildet die Strukturanalyse. Darin sollen die charakteristischen Merkmale der Sozialfiguren und die, über die Figuren zum Ausdruck gebrachten, gesellschaftlichen Problemstellung herausgearbeitet werden. Die Analyse einer Sozialfigur ist nach den Prozessen der Konfiguration, Defiguration und Refiguration unterteilt. Im Rahmen der Konfiguration wird in einem weiteren Analyseschritt das normative Potenzial und die soziale Stellung der Figur bestimmt sowie ihre inliegenden Merkmalsoppositionen herausgearbeitet. Diese bilden die Grundlage für die Erstellung eines Figurentableaus, welches im nächsten Kapitel genauere Erläuterung finden wird. Dass die Prozesse der Defiguration und Refiguration ebenfalls in der Strukturanalyse bedacht werden, steht in der Logik Jägers, der Diskurse als ,Flüsse des Wissens durch Zeit und Raum' beschreibt “ (Jäger 2015, 29).
Im fünften Schritt, der Feinanalyse, würde nach Jäger eine Untersuchung „eines oder (falls nötig) mehrerer typischer Artikel unter Verweis auf die Begründung durch die Strukturanalyse“ erfolgen (ebd., 91), wird methodisch jedoch durch die Erstellung der Figurentableaus ersetzt.
4.3 Figurentableaus
Als Feinanalyse werden zwei Figurentableaus erstellt und ausgewertet. In einem Tableau sollen Phasen und Schlüsselmomente der Krise wie beispielsweise der Lockdown oder der Start der Impfkampagne dargestellt werden (Abbildung 8). Die relativen Popularitätswerte der Suchbegriffe von Google Trends, die für die Sozialfiguren stehen, werden in das Tableau übertragen. So soll die anfänglich aufgestellte Hypothese überprüft werden, inwieweit Konfiguration und Defiguration von Sozialfiguren in Abhängigkeit zum Erlassen und Lockern der Corona- Schutzverordnungen und weiterer pandemischer Ereignisse stehen.
Grundlage des zweiten Figurentableaus (Tabelle 2) sind die Merkmalsoppositionen, die im Rahmen der Strukturanalyse festgestellt werden. Das Tableau basiert auf einer, von Jürgen Link zur Analyse von Figurenensembles im Bürgerlichen Trauerspiel entwickelten Matrix. Aufgegriffen wurde die Idee einer Figurenkonfigurationsmatrix von Rainer Leschke, der sie unter anderem für die Analyse von Narrationen von Filmen und Serien brauchbar machte. Mithilfe der Matrix können normative Differenzen, innerhalb einer Erzählung auftretender Figuren, gekennzeichnet werden. Außerdem wird durch die Abstände auf der Matrix die soziale Beziehung der Figuren zueinander sichtbar.
Leschke beschreibt Figuren in ihrer Funktionsweise als Merkmalsbündel. Bei den, der Figuren inhärenten Merkmalen ist zwischen normativen, sozialen und ästhetischen Merkmalen zu differenzieren. Merkmale der ästhetischen Dimension seien für die „sinnliche Differenzierung und Wiedererkennbarkeit“ (ebd., 74) der Figuren verantwortlich. Sie tragen in der Regel nicht zur Struktur der Narration bei, sondern unterstützen lediglich die normative Auf- oder Abwertung von Figuren. Bei der sozialen Dimension geht es um die gesellschaftliche Positionierung der Figuren. Die soziale Positionierung könne eine narrative Funktion übernehmen, wenn normative Konflikte durch die ungleiche soziale Stellung von Figuren ausgelöst werden (ebd.). Übernimmt die soziale Dimension eine narrative Funktion, handele es sich sowohl um einen normativen Konflikt als auch um eine Auseinandersetzung über gesellschaftliche Macht. Die bedeutendste Dimension einer Figur ist die normative Merkmalsdimension. Rufen die ästhetische und die soziale Dimension meist nur eine Opposition hervor, so stellt die normative Dimension „[...] eine ganze Serie unterschiedlichster Normen zur Verfügung“ (Leschke 2020, 76). Diese seien nicht alle gleichwertig, sondern lassen sich hierarchisieren (Leschke 2020, 73-80). Nun handelt es sich bei Coronavirus-Krise nicht um eine Medienproduktion. Allerdings können die Sozialfiguren, die sich im Zusammenhang brüchig gewordener Normen konfigurieren, als einzelne Erzählstränge eines Krisennarrativs gedeutet werden. Den in der Strukturanalyse festgestellten, Detailoppositionen werden drei vordergründige Merkmalsoppositionen übergeordnet. Die Merkmalsoppositionen werden im Figurentableau hierarchisiert. Die Abstände, die die Sozialfiguren im Tableau zueinander einnehmen, markieren ihre gesellschaftliche Stellung und ihre Beziehung zueinander. Die Position im Figurentableau gewichtet die Bedeutung der Figur in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Coronakrise.
5. Sozialfiguren der Coronavirus-Krise
Sozialfiguren der Coronavirus-Krise, die in der Arbeit untersucht werden sind: Patient 0, der Hamsterkäufer, die Systemrelevanten, der Virologe, der Krisenmanager, der Querdenker und die Geimpfte. Eingebettet werden die Sozialfiguren in ein Geflecht aus Neben- und Nachbarfiguren, die von den Autor*innen des KWI-Blogs3 entworfen wurden.
5.1 Patient 0
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Suche nach Begriff "Patient 0" (Screenshot von Google Trends/ eigene Bearbeitung)
Konfiguration
Die Konfiguration der Sozialfigur des Patienten 0 erfolgt vordergründig in dem Zeitfenster vom 16. Februar 2020 bis zum 23. Mai 2020. Zu diesem Zeitpunkt war das relative Suchinteresse in Deutschland für den Begriff „Patient 0“ am höchsten.
Der im epidemiologischen Sinne als ,Indexpatient' zu bezeichnende Patient 0 steht am Anfang einer Infektionswelle. Seine Identifizierungist für die Rekonstruktion von Infektionswegen und dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn von tragender Bedeutung (Antwerpes 2020). Über die Sozialfigur des Patienten 0 werden substanzielle Fragen und Probleme im Umgang mit der Coronakrise kommuniziert. Diese Problemlagen werden im Folgenden konturiert. Patient 0 ist eine der ersten Sozialfiguren, die sich im Zusammenhang mit der Coronavirus-Krise konfigurieren. Am Anfang der Auseinandersetzung mit Patient 0 steht die Suchenach dem Ursprung des Virus. Erschwert wird diese durch die, in vielen Fällen symptomfreie Übertragung des Coronavirus. Es sind bestimmte Städte und Gemeinden, die medial in den Vordergrund rücken, weil sich dort Indexpatient*innen lokalisieren lassen.
[...]
1 URL: https://twitter.com/arminlaschet/status/1375511247886581765 (Stand 24.11.2021)
2 1950 veröffentlicht David Riesman die Studie „The lonely Crowd“ über den amerikanischen Sozialcharakter. Der zentralen These nach, lassen sich Menschen in ihrem Denken und Handeln von anderen leiten.
3 URL: https://blog.kulturwissenschaften.de/category/sozialfiguren/ (Stand 25.11.2020)
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