Mehrsprachigkeit im Elsass in Stadt und Land. Ein Vergleich der Sprachlandschaft insbesondere des elsässischen Dialektes am Beispiel von Straßburg und Hunspach


Bachelorarbeit, 2021

164 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

2 Soziolinguistische Situation des Elsass gestern und heute
2.1 Von der Vorgeschichte bis zum 17. Jahrhundert
2.2 Vom 17. Jahrhundert bis 1870
2.3 1870 – 1918
2.4 1918 – 1940
2.5 1940 – 1945
2.6 1945 bis heute

3 Einführung in die Linguistic Landscape -Methodik

4 Vorstellung und Hintergrund der Untersuchungsorte

5 Methodisches Vorgehen

6 Qualitative und quantitative Auswertung der Fotodokumentation(en)
6.1 Im Stadtkern Straßburgs
6.1.1 Top-down-, bottom-up- und transgressive Zeichen
6.1.2 Einsprachigkeit/Mehrsprachigkeit
6.1.3 Analyse der mehrsprachigen Schriftträger
6.1.4 Materialität aller Schriftträger
6.2 Im Stadtkern Hunspachs
6.2.1 Top-down -, bottom-up - und transgressive Zeichen
6.2.2 Einsprachigkeit/Mehrsprachigkeit
6.2.3 Analyse der mehrsprachigen Schriftträger
6.2.4 Materialität aller Schriftträger

7 Vergleich der Linguistic Landscapes : Straßburg vs. Hunspach

8 Fazit

Literatur- und Quellenverzeichnis

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Die Grand-Est-Region mit ihren Départements, verändert durch Verfasserin (Quelle: Tschubby 2019)

Abbildung 2: Untersuchungsstrecke Straßburg, Markierungen durch Verfasserin (Quelle: Google 2021b)

Abbildung 3: Untersuchungsstrecke Hunspach, Markierungen durch Verfasserin (Quelle: Google 2021a)

Abbildung 4: Aufkleber auf Regenrohr, transgressiv (Straßburg)

Abbildung 5: Graffiti auf Steinsäule, transgressiv (Straßburg)

Abbildung 6: Top-down-Zeichen und ihre Sprachverteilung (Straßburg)

Abbildung 7: Bottom-up-Schilder und ihre Sprachverteilung (Straßburg)

Abbildung 8: einsprachiger Aufkleber auf Englisch, transgressiv (Straßburg)

Abbildung 9: Zweisprachiger Straßenname: Französisch/Elsässisch (Straßburg)

Abbildung 10: Dreisprachiges Gastronomieangebot: Französisch/Deutsch/Englisch (Straßburg)

Abbildung 11: mehrsprachiger Souvenirautomat: Französisch/Englisch/Italienisch/Deutsch/Spanisch/Russisch (Straßburg)

Abbildung 12: Zweisprachiges Informationsschild: Englisch/Französisch (Straßburg)

Abbildung 13: Zweisprachiges Gastronomieangebot: Mischform Französisch/Englisch (Straßburg)

Abbildung 14: Straßenname mit Französisch als Fettdruck und Großschreibung (Straßburg)

Abbildung 15: Monument mit mehr Informationen hinsichtlich der Place de la cathédrale im Französischen (Straßburg)

Abbildung 16: Informationsschild mit mehr Informationen bezüglich der Uhrvorstellung der Kathedrale auf Französisch (Straßburg)

Abbildung 17: einsprachiges Glasmonument: Französisch (Straßburg)

Abbildung 18: Graffiti an Hauswand, transgressiv (Hunspach)

Abbildung 19: Top-down-Zeichen und ihre Sprachverteilung (Hunspach)

Abbildung 20: Bottom-up-Zeichen und ihre Sprachverteilung (Hunspach)

Abbildung 21: dreisprachiges Informationsschild des Tourismuscenters (Hunspach)

Abbildung 22: Zweisprachiger Geschäftsname: Französisch/Elsässisch (Hunspach)

Abbildung 23: Dreisprachiger Wegweiser an der Kirche: Französisch/Deutsch/Englisch (Hunspach)

Abbildung 24: Elsässisch als erstgenannte Sprache mit Französisch als Zweitsprache (Hunspach)

Abbildung 25: Dreisprachiges Informationsschild mit undeutlichen Schriftgrößen (Hunspach)

Abbildung 26: Herstellerschild mit Englisch als größerer Schrift (Hunspach)

Abbildung 27: Deutliche Hervorhebung des Französischen durch Fettdruck, grüner/schwarzer Farbe und Normalschreibung (Hunspach)

Abbildung 28: Wortwörtlich übersetztes Hinweisschild (Hunspach)

Abbildung 29: Teilweise übersetztes Informationsschild über Ferienwohnungen (Hunspach)

Abbildung 30: französischer Aufkleber ,,Pas de publicité" (Hunspach)

Abbildung 31: schwer leserliches, deutsches Herstellerschild (Hunspach)

Abbildung 32: Sprachverteilung aller Schilder: Straßburg vs. Hunspach

Abbildung 33: Sprachverteilung der top-down- und bottom-up-Schilder im Vergleich: Straßburg vs. Hunspach

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Evolution de la proportion de « Vieux-Allemands » par rapport à l’ensemble de la population en Alsace, en valeur absolue et en pourcentage (Quelle: nach Huck 2015: 138)

Tabelle 2: Angegebene Sprachkenntnisse im Elsass, 1878-1910 (Quelle: nach Huck/Erhart 2019: 161)

Tabelle 3: Angegebene Sprachkenntnisse im Jahr 1926 (Quelle: nach Huck 2015: 171)

Tabelle 4: 1962 - Connaissance déclarée des langues par la population âgée de 5 ans et plus (Quelle: nach Huck/Bothorel-Witz/Geiger-Jaillet 2007: 27)

Tabelle 5: Les réponses à la question « En général, est-ce-que vous parlez plutôt alsacien ou plutôt français ? » (Quelle: nach Huck 2015: 329)

Tabelle 6: Répartition de l‘usage de l’alsacien selon la profession du chef de famille (Quelle: nach Huck 2015: 329)

Tabelle 7: Mundartkenntnisse der Elsässer/innen, 1979/1980 (Quelle: nach Huck/Erhart 2019: 166)

Tabelle 8: Deklarierte Sprachkenntnisse des elsässischen Dialektes, 2006 (Quelle: nach Huck 2015: 413)

Tabelle 9: Verteilung aller Fotografien auf die Kategorie Urheber (Straßburg)

Tabelle 10: Verteilung aller bottom-up-Schilder in die Kategorie transgressiv/nicht transgressiv (Straßburg)

Tabelle 11: Sprachen(kombinationen) von top-down- und bottom-up-Schildern, absolut und prozentual (Straßburg)

Tabelle 12: Erste/meist hervorgehobene Sprache auf mehrsprachigen Schildern, absolut und prozentual (Straßburg)

Tabelle 13: Zweite Sprache auf mehrsprachigen Schildern, absolut und prozentual (Straßburg)

Tabelle 14: Schriftgestaltung durch Schriftgröße aller mehrsprachigen Schilder, absolut und prozentual (Straßburg)

Tabelle 15: Schriftgestaltung durch Schriftart aller mehrsprachigen Schilder, absolut und prozentual (Straßburg)

Tabelle 16: Übersetzung aller dargestellten Sprachen eines jeweiligen mehrsprachigen Schildes, absolut und prozentual (Straßburg)

Tabelle 17: Menge an Informationen aller dargestellten Sprachen eines jeweiligen mehrsprachigen Schildes, absolut und prozentual (Straßburg)

Tabelle 18: Materialien aller top-down- und bottom-up-Schilder, absolut (N) und prozentual (Straßburg)

Tabelle 19: Verteilung aller Fotografien auf die Kategorie Urheber (Hunspach)

Tabelle 20: Verteilung aller bottom-up-Schilder in die Kategorie transgressiv/nicht transgressiv (Hunspach)

Tabelle 21: Sprachen(kombinationen) von top-down- und bottom-up-Schildern, absolut und prozentual (Hunspach)

Tabelle 22: Erste/meist hervorgehobene Sprache auf mehrsprachigen Schildern, absolut und prozentual (Hunspach)

Tabelle 23: Zweite Sprache auf mehrsprachigen Schildern, absolut und prozentual (Hunspach)

Tabelle 24: Schriftgestaltung durch Schriftgröße aller mehrsprachigen Schilder, absolut und prozentual (Hunspach)

Tabelle 25: Schriftgestaltung durch Schriftart aller mehrsprachigen Schilder, absolut und prozentual (Hunspach)

Tabelle 26: Übersetzung aller dargestellten Sprachen eines jeweiligen mehrsprachigen Schildes, absolut und prozentual (Hunspach)

Tabelle 27: Menge an Informationen aller dargestellten Sprachen eines jeweiligen mehrsprachigen Schildes, absolut und prozentual (Hunspach)

Tabelle 28: Materialien aller top-down- und bottom-up-Schilder, absolut (N) und prozentual (Hunspach)

1 Einleitung

Neben der offiziellen Nationalsprache Französisch wird innerhalb Frankreichs eine große Anzahl an Regionalsprachen gesprochen. Dazu zählen beispielsweise das Bretonische, das Okzitanische oder die zweitmeist gesprochene Regionalsprache Elsässisch1 (vgl. Renard 2021). Trotz der unterschiedlichen Sprecherzahlen und weiteren Unterschieden haben sie dennoch eines gemeinsam: die untergeordnete Rolle in der französischen Republik gegenüber der Nationalsprache. Die Regionalsprachen erhielten erst im Jahr 2008 in der französischen Verfassung einen offiziellen Status als Erbe Frankreichs in einem neuaufgeführten Artikel 75-1 (vgl. LOI constitutionnelle n° 2008-724 du 23 juillet 2008, article 75-1). Folglich leitet Müller (2009: 1) zu Recht ab, dass der Wunsch, die Regionalsprachen als Erbe zu schützen und zu bewahren, beobachtbar ist. Jedoch ist der Rückgang einiger Regionalsprachen in Frankreich anhand des UNESCO-Sprachatlas deutlich zu erkennen. Dieser zählt Sprachen auf, die in unterschiedliche Gefährdungsstufen eingeteilt sind und vor einem Sprachtod stehen. So sind Regionalsprachen wie das Bretonische, das Alemannische oder das Provenzalische bereits seit 2010 (stark) gefährdet (vgl. Moseley 2010).

Der Rückgang einer Sprache hängt von einem komplexen System aus historischen, politischen, sozialen und kulturellen Faktoren ab. So kann z.B. der Staat durch massive sprachpolitische Maßnahmen sowohl die Sprachwahl als auch das Sprachbewusstsein einer Bevölkerung beeinflussen. Dieses Phänomen zeigt sich besonders im Elsass. Die heutige französische Region hat insgesamt viermal innerhalb eines Dreivierteljahrhunderts die Staatsangehörigkeit gewechselt. Dabei haben sowohl die deutschen als auch die französischen Machthaber versucht durch sprachpolitische Maßnahmen in die Sprachgewohnheiten einzugreifen, um ihre Amtssprache durchzusetzen. Der tatsächliche Verlierer dieses Sprachkampfes ist jedoch nicht die jeweilige Amtssprache, sondern die Regionalsprache, der elsässische Dialekt.

Im Jahr 2012 hieß es in einer von der Office pour la Langue et les Cultures d’Alsace (OLCA) und dem Institut d’études marketing (EDinstitut) organisierten Umfrage, dass lediglich 43% der elsässischen Bevölkerung die Regionalsprache sprechen kann. Demgegenüber gaben jedoch 90% der Befragten an, dass das Elsass ihre Identität verlieren würde, sollte der elsässische Dialekt verschwinden (vgl. OLCA/EDinstitut 2012: 6 & 16).

Vor diesem Hintergrund untersuchte ich 2019 im Rahmen einer Selbststudieneinheit in der französischen Linguistik bereits die Präsenz des elsässischen Dialektes im öffentlichen Raum Straßburgs und stellte hierbei fest, dass dieser in einer sprachlichen Hierarchie unter dem Französischen liegt und schwindet. Folglich stellt sich im Jahr 2020/21 die Frage, ob die Mundart tatsächlich weiterhin schwindet und somit ein möglicher, regionaler Identitätsverlust droht.

Aus vergangenen Studien, wie denen von INSEE 1962, Seligmann 1979 und INSEE 1980, wird eine unterschiedliche Sprachpräsenz der Mundart zwischen Stadt und Dorf ersichtlich (vgl. INSEE 1962 zitiert nach2 Huck/Bothorel-Witz/Geiger-Jaillet 2007: 27, Seligmann 1979/INSEE 1980 zitiert nach Huck/Erhart 2019: 166). Somit ist es aufgrund der heutigen Globalisierung und Urbanisierung von besonderem Interesse einen Vergleich der Sprachlandschaft zwischen einer Stadt und einem Dorf durchzuführen. Infolgedessen beschäftigt sich diese Arbeit mit folgenden Fragen: ,,Wie zeichnet sich die An- oder Abwesenheit der Regionalsprache im öffentlichen Raum im Vergleich von Stadt und Land aus? Liegt durch die Historie des Elsass eine (gleichrangige) Mehrsprachigkeit vor?“

Diese Fragen werden in der vorliegenden Arbeit behandelt. Hierbei wurden die Zentren der Europastadt Straßburg und des elsässischen Dorfes Hunspach mittels einer Linguistic-Landscape -Analyse untersucht. Die Datengrundlage bilden Fotografien der beiden Untersuchungsorte, die die urbanen und ruralen Sprachlandschaften abbilden und die Mehrsprachigkeit vergleichen sollen. Der Schwerpunkt dabei lag, vor dem oben genannten Hintergrund, auf dem elsässischen Dialekt.

Um den oben genannten Sprachkampf zu verstehen und die darauffolgenden sprachpolitischen und kulturellen Konsequenzen hinsichtlich der Regionalsprache zu untersuchen, soll im ersten Teil der Arbeit zunächst ein Überblick der soziolinguistischen Situation des Elsass von der Vorgeschichte bis heute erfolgen. Hierbei beginnt das zweite Kapitel mit der geografischen Lage und einigen allgemeinen Informationen des Elsass.

Daraufhin widmet sich der zweite Teil dieser Arbeit der empirischen Methodik: der Linguistic-Landscape. Da dieses Forschungsgebiet verhältnismäßig jung ist, bedarf es im dritten Kapitel zunächst einer kurzen Einführung. Darauf aufbauend folgt eine zusammenfassende Vorstellung der Hintergründe der zwei Untersuchungsorte. Weiterhin soll im fünften Kapitel das methodische Vorgehen der Datenerhebung beschrieben und erläutert werden, um anschließend die Datenanalyse und -auswertung korrekt zu deuten bzw. nachzuvollziehen. So steht im Fokus des sechsten Kapitels die qualitative und quantitative Auswertung der Fotodokumentationen, wobei die Ergebnisse der beiden Untersuchungsorte vorerst einzeln beschrieben und interpretiert werden. Im Anschluss folgen die Gegenüberstellung und Interpretation der beiden Forschungsgebiete, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erörtern. Hierbei wird spezifisch auf die im Kapitel 4 erwähnten Hypothesen dieser Arbeit eingegangen.

Abschließend wird das Fazit präsentiert, welches Ergebnisse und Erkenntnisse zusammenfassend darstellt. Zudem werden Schwächen der Methodik aufgezeigt, woraufhin ein kurzer Ausblick auf zukünftige Forschungsalternativen und -möglichkeiten diese Arbeit beschließt.

2 Soziolinguistische Situation des Elsass gestern und heute

Das Elsass liegt im Osten Frankreichs. Der Rhein bildet die östliche Grenze zu Deutschland, die Lauter die nördliche. Das Mittelgebirge, die Vogesen im Westen grenzen es zusätzlich ein. Westlich berührt das Elsass Lothringen, wobei südlich die Schweiz liegt. Weiter südwestlich grenzt die Nachbarregion Bourgogne-Franche-Comté an das Elsass an.

Mit seinen 8.300 km[2] war das Elsass bis Ende 2015 die kleinste Region Frankreichs. Am 01. Januar 2016 änderte sich ihr Status als eigenständige Region mit der Gebietsreform. Diese führte zu einer Zusammenlegung der ehemaligen Regionen Lothringen, Champagne-Ardenne und dem Elsass. Seither sind sie Bestandteil der Großregion Grand-Est (siehe Abbildung 13 ). Die Départements4 Haut-Rhin ‘Oberelsass‘ und Bas-Rhin ‘Unterelsass‘ (siehe rote Départements in Abb. 1) zählten bis Ende 2019 zu dem Elsass, jedoch wurden diese ab dem 01. Januar 2021 in die sogenannte Collectivité européenne d’Alsace (CeA) ‘Europäische Gebietskörperschaft Elsass‘ umbenannt und neu gegliedert (vgl. LOI n° 2019-816 du 2 août 2019, article 1).

Das Elsass macht laut INSEE 2021 1,5 Prozent des französischen Gesamtgebietes aus und zählt ca. 1,9 Millionen Einwohner/innen. Dies entspricht ca. 2,9 Prozent der Gesamtbevölkerung Frankreichs (ca. 66 Millionen).

Um den aktuellen sprachlichen und kulturellen Charakter des Elsass zu verstehen, ist es notwendig, abgesehen von der geografischen Lage, ihre sprachpolitische Geschichte darzustellen. Durch den stetigen Wechsel der politischen Verhältnisse lassen sich die Auswirkungen besonders in der Sprache bzw. in der Sprachpolitik beobachten. Aus diesem Grund wird im Folgenden ein Überblick der soziolinguistischen Situation des Elsass von der Vorgeschichte bis heute gegeben.

2.1 Von der Vorgeschichte bis zum 17. Jahrhundert

Der Beginn der wechselhaften historischen Entwicklung ist im 1. Jahrhundert vor Christus (kurz: v. Chr.) mit dem Eindringen zunächst germanischer Stämme, dann römischer Legionen ins keltische Elsass (600 bis 58/52 v. Chr) gekennzeichnet. Nach dem Sieg von Julius Caesar über die Germanen unter Ariovist im Jahre 58 v. Chr., eroberte Caesar das zeitgemäß genannte Römische Reich (Gallien) bis 52 vor Christus. Dieses wird allerdings im 4. und 5. Jahrhundert durch die Völkerwanderung zerschlagen (vgl. Maurer 2002: 6).

Infolgedessen wurde das Elsass alemannisch. Die Alemannen und Franken setzten ihre Mundarten5 zeitnah durch, sodass das Elsass sprachlich vom Keltischen und Galloromanischen ins Germanische überging (vgl. Huck/Erhart 2019: 158). Die Orte, in denen sie lebten, wurden (um)benannt als sie diverse Dörfer gründeten. Die Anzahl von toponymen6 Suffixen wie -heim, -ingen, -hausen, -hofen, -brunn oder -dorf spiegelt dies wider. Sie zeigen das hohe Ausmaß an Niederlassungen auf verfügbaren Flächen (Huck 2015: 23).

Nach der Niederlage der Schlacht von Tolbiac (auch Schlacht von Zülpich genannt) 496 nach Christus (kurz: n. Chr.) wurde das Elsass anschließend fränkisch (vgl. Maurer 2002: 6). Somit gehörte das Elsass, politisch gesehen, dem Frankenreich an. Anfangs stand dieses unter der Herrschaft der Merowinger (5.-8. Jahrhundert), etwas später jedoch änderte sich dies mit der Herrschaft der Karolinger (8.-9. Jahrhundert).

Anschließend nach der Zerteilung des Reichs durch die Enkelkinder Karls des Großen ging das Elsass an Ludwig den Deutschen im 9. Jahrhundert über (vgl. Huck/Erhart 2019: 158). Als jedoch im Jahr 962 n. Chr. das ,,Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ von Otto I. gegründet wurde, gehörte das Elsass von dort an zu dessen konstituierenden Territorien (vgl. Maurer 2002: 6).

2.2 Vom 17. Jahrhundert bis 1870

Die Zugehörigkeit des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation hielt 700 Jahre an, bis im 17. Jahrhundert, am Ende des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) bzw. dem Westfälischen Frieden im Jahr 1648, das Elsass zum ersten Mal seinen geopolitischen Raum rekonstruierte. Schrittweise wurde das Elsass in das von Ludwig XIV. regierte Königreich Frankreich mit dem Friedensabkommen von Rijswijk 1697 eingegliedert (vgl. Huck/Bothorel-Witz/Geiger-Jaillet 2007: 18). Die übrigen Teile des Elsasses wurden erst im Laufe der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an Frankreich angeschlossen (besonders Straßburg, 1681) (vgl. Huck/Erhart 2019: 158).

Die französische Sprache nahm im Elsass folglich die Rolle der Amtssprache, d.h. der Sprache der höheren Mächte (Verwaltung, Justiz, Polizei etc.), ein. Allerdings war sie auf diese Funktion beschränkt, denn Schriftstücke, die sich an die Bevölkerung richteten, waren mindestens zweisprachig (französisch und deutsch) oder vollständig deutsch. Die übliche Sprache der Bevölkerung änderte sich nicht, denn die germanophonen Dialekte blieben das häufigste Kommunikationsmittel. Die Unterrichtssprachen bildeten nach wie vor überwiegend die lateinische und deutsche Sprache. Französisch hatte in den bestehenden institutionellen Strukturen keinen Platz. Die populäre Literatur, vor allem sogenannte ,,Almanache“7, erhielt sich ausschließlich in deutscher Sprache (vgl. Huck 2015: 56-57).

Das französische Königreich betrieb keine absolute Sprachpolitik, dennoch drang die französische Sprache sukzessiv in gewisse Schichten ein, da ab 1686 alle Beamten/Beamtinnen katholisch sein und Französisch verstehen mussten. Schließlich nötigte dies eine gewisse Anzahl von Muttersprachlern und Einheimischen dazu, die von Privatlehrern gegebenen Französischkurse zu belegen. Französisch wurde dementsprechend zur Notwendigkeit für alle, die im öffentlichen Amt tätig sein wollten und/oder einen sozialen Aufstieg erzielten (vgl. Huck/Erhart 2019: 158, Huck 2015: 57).

In Straßburg hingegen les commerçants mêmes et les savants restèrent passablement réfractaires à l’influence française. […] Il faut dire que cette réserve fut non seulement tolérée, mais pour ainsi dire favorisée par l’attitude des immigrés qui ne se mêlaient guère à la bourgeoisie locale. […] La différence linguistique favorisait la cohésion intérieure et les éléments conservateurs de cette bourgeoisie sentaient fort bien le danger d’une assimilation linguistique (Lévy 1929: 331).

Die Amtssprache der Stadtverwaltungen blieb mehrheitlich Deutsch, auch wenn in einigen öffentlichen Schreiben der Stadtverwaltung Französisch vorkam. Hinzu kommt, dass alle administrativen Beratungen in deutscher Sprache geführt wurden. Ebenso erfolgte die Grundschulausbildung hauptsächlich auf Deutsch. In der Sekundarstufe wurde das nun seltener gelehrtes Latein im Allgemeinen durch Deutsch ersetzt. Lediglich vereinzelt wurde Französisch im Laufe des Jahrhunderts in den verschiedenen weiterführenden Schulen der Provinz oder in katholischen Universitäten eingeführt (vgl. Huck/Erhart 2019: 159). Infolgedessen nahm die deutsche Sprache im vorrevolutionären Elsass auf allen Bildungsebenen denselben Platz wie im Heiligen Römischen Reich ein, nämlich als fast ausschließliche Unterrichtssprache (vgl. Lévy 1929: 371).

Auf diese Weise spielte das Elsass die Rolle einer Brücke zwischen Frankreich und dem Alten Reich und bildete ,,un lieu d’échanges, de rapprochement entre les deux civilisations“ (Sittler 1973: 206).

Im Laufe der Zeit wurden die elsässischen Sprecher/innen mit unterschiedlichen Arten von Vorwürfen, bezüglich der Qualität der Sprache (oder Sprachen), die sie sprachen oder schrieben, konfrontiert. Elsässische Dialekte wurden von deutschsprachigen Ausländern oft als ,,allergröbst[en]“, ,,widerlich[sten]“ oder ,,abscheulich[sten]“ (Laukhard 1989: 67, Anpassung durch Verfasserin) beschrieben. Hinzu kommt, dass die Kodifizierung des Französischen sich stetig zur Perfektion korrigierte und die Vorstellung einer perfekten französischen Sprache einen erheblichen Druck auf die elsässischen Sprecher/innen und Schriftsteller/innen auslöste. Folglich entschuldigten sich diese im Voraus für ihre Ungeschicklichkeit, Fehler oder andere Verstöße gegen das Ideal, dass die französische Sprache darstellte. Das Gefühl der Unvollkommenheit und Unterlegenheit bzw. die Form der Unterwerfung, unter sprachliche und stilistische Normen, prägte alle Lernenden der französischen Sprache im Elsass nachhaltig. So rief die Zweisprachigkeit negative Kommentare wie die Unfähigkeit weder Deutsch noch Französisch korrekt sprechen zu können hervor, die die Bewohner/innen des Elsass selbst heute nicht zu vergessen vermögen (vgl. Huck 2015: 69-70).

Einen weiteren sprachpolitischen Wendepunkt bildete die Französische Revolution im Jahr 1789. Das Elsass erlebte mit allen anderen französischen Provinzen die Bildung der nation ‘Nation‘, d.h. die Entstehung eines Staates, in welchem nicht die formale Zugehörigkeit wichtig war, sondern die ideologischen und politischen Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Jede/r Einwohner/in, der/die zum/zur Bürger/in ernannt wurde, hatte sich zu diesen Prinzipien zu bekennen. Als Träger dieses Konzeptes wurde Französisch die einzige und allein gültige Sprache. Mundarten und andere Sprachvarietäten wurden als mögliche Streitverursacher und Hindernisse, die dem Erlernen des Französischen im Wege standen, bekämpft und ausgelöscht. Schließlich wurde Französisch zur sinnbildlichen Sprache der politischen Loyalität und zur Verkörperung des Patriotismus. Durch die Sprachkompetenz des Französischen sollten die Bürger/innen symbolisch ihren politischen Standpunkt bekunden (vgl. Huck/Erhart 2019: 158-159).

Am 15. März 1794 beschloss der Stadtrat von Straßburg, dass in den Schulen das Lesen und das Schreiben ausschließlich in französischer Sprache gelehrt wird (vgl. Huck 2015: 90). Durch den Unterricht kommt die Mehrheit der Bevölkerung mit dem Französischen in Kontakt, selbst wenn sich der mündliche Gebrauch im Alltag nach der Grundschule nicht durchsetzt (vgl. Huck 2015: 105). Zudem änderten Straßburg und andere Städte im selben Jahr Straßennamen und übernahmen französische Ladenschilder (vgl. Denis 2015: 131).

Die Menschen im Elsass fingen im Verlauf des 19. Jahrhunderts an, sich erstmals als Französinnen und Franzosen zu fühlen. Auch wirtschaftlich wurde das Elsass in der Revolutionszeit eingegliedert, sodass sowohl die politische als auch die wirtschaftliche Grenze verschmolz und die letzte formale Verbindung zum (1806 aufgelösten) deutschen Kaiserreich aufgehoben wurde (vgl. Huck/Erhart 2019: 159).

Im Jahr 1825 schätzte der préfet du Bas-Rhin ‘ Präfekt des Unterelsass‘, dass neun Zehntel der Bevölkerung in Straßburg kein Französisch verstehen, die Menschen in den Städten es nur sehr wenig und auf dem Land gar nicht sprechen können (vgl. Huck 2015: 106). Im Stadtbezirk Altkirch sprachen 97% der Wehrpflichtigen des Jahres 1829 nur Deutsch. Im Jahr 1832 wurde die Zahl der Kinder in Straßburg, die mehr oder weniger die Landessprache beherrschten, auf 10 bis 14% geschätzt, jedoch sank dieser Anteil von 5 bis 7% in den Städten auf weniger als 1% auf dem Lande (vgl. Vogler 1994: 289-290). Letztlich blieb die Volkssprache weiterhin die Mundart, wobei für einen großen Teil der Bevölkerung Deutsch die Sprache der Kirche und der Religion (sowohl für die Protestanten als auch für die Katholiken) sowie die meistgelesene Schriftsprache blieb (vgl. Huck/Erhart 2019: 160).

Wirtschaftlich gesehen ist das Elsass in den 1850er Jahren die meistindustrialisierte Region Frankreichs. Nach der Volkszählung von 1866 waren 22,5% der Bevölkerung im Unterelsass und 29,8% der Bevölkerung im Oberelsass in der Industrie tätig. Dieses sozioökonomische Profil der Gesellschaft legt die Vermutung nahe, dass die Verbreitung der französischen Sprache in den unteren Schichten, die den Großteil der Bevölkerung ausmachten, bis dahin problematisch war (vgl. Huck 2015: 122-123).

Nichtsdestotrotz gelang es dem Französischen als Schriftsprache besonders im Bereich der Wissenschaften durchzudringen, was in der Belletristik hingegen nur sehr bedingt der Fall war. Französisch erfuhr kontinuierlich Fortschritte und war auf gutem Wege, neben den gesprochenen Mundarten und dem geschriebenen Deutsch, einen relevanteren Platz einzunehmen (vgl. Huck/Erhart 2019: 160).

2.3 1870 – 1918

Durch den Krieg zwischen Frankreich und Preußen 1870/71 erfolgte ein weiterer Umkehrpunkt der Rollen der Sprachen: die ehemalige Amtssprache Französisch wurde allmählich zur Fremdsprache und Deutsch zur Amtssprache erklärt. Im Jahr 1872 war die Sprache des Kaiserreichs die offizielle Sprache der Verwaltung, mit Ausnahme der französischsprachigen Gemeinden, die durch die neue Grenze mit einbezogen waren, denn ihnen gewährte man eine Übergangsfrist. Der Unterricht fand spätestens ab 1874 ausschließlich auf Deutsch statt (vgl. Huck/Erhart 2019: 160, Denis 2015: 132).

1875 wurde ,,l’état civil en allemand“ (Denis 2015: 132) durch ein Gesetz eingeführt und die Vornamen wurden übersetzt. Ferner setzte sich die deutsche Sprache in allen Bereichen des öffentlichen Lebens durch: Ortsnamen, Straßennamen, Schilder, die Presse, das Verlagswesen etc. erfolgten ausdrücklich in deutscher Sprache. In Straßburg zum Beispiel hieß die Straße, die vor dem 18. Jahrhundert den Namen ,, Biergasse “ (1302) trug und 1858 korrekt ins Französische übertragen wurde (,,rue de la Bière“), im Jahr 1872 ,,Bahrgässchen“ (Moszberger/Rieger/Daul 2002: 49, Hervorhebung im Original).

Die Verdeutschung schritt aufgrund der sprachlichen Nähe des Dialektes und Hochdeutsch schnell voran. Die Entwicklung zugunsten des Französischen, die zwischen 1830 und 1860 zu beobachten war, bildete sich zurück (vgl. Denis 2015: 133). Außerdem zählte das Elsass im selben Jahr (1875) 39.000 deutsche Einwanderer/Einwanderinnen, d.h. etwa 4% der Bevölkerung (vgl. Wahl 1973: 205). Diese Zunahme der Bevölkerung verstärkte die Präsenz des Deutschen, zumindest bei den Zuwanderern höheren Status‘ wie Beamte/Beamtinnen, Offiziere/Offizierinnen, Lehrer/innen etc. (vgl. Huck 2015: 137). Infolgedessen wird das gesprochene Standarddeutsch im öffentlichen Leben verwendet, jedoch von den Einheimischen in informellen Situationen nicht benutzt. Ihre gesprochene Variante ist weiterhin der elsässische Dialekt (vgl. Huck/Bothorel-Witz/Geiger-Jaillet 2007: 23).

Die folgende Tabelle zeigt die bereits genannte Zunahme der deutschen Einwanderer/Einwanderinnen in einem Zeitraum von 1875 bis 1905. Die somit starke deutsche Präsenz spiegelt sich in der linguistischen Entwicklung wider. Zudem lässt sich durch die Daten erkennen, dass die Zuwanderung deutscher Bürger/innen im Unterelsass generell höher ist als im Oberelsass. Im Laufe der 30 Jahre stieg die Bevölkerungsanzahl der ,,Alt-Deutschen“ insgesamt von 3,77 Prozent (1875) bis zu 10,65 Prozent (1905).

Tabelle 1: Evolution de la proportion de « Vieux-Allemands » par rapport à l’ensemble de la population en Alsace, en valeur absolue et en pourcentage (Quelle: nach Huck 2015: 138)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Um die Jahrhundertwende entwickelte sich im Elsass eine kulturelle Bewegung, die der Wesensart der herkömmlichen Bräuche und Trachten etc., aber ebenfalls der Sprache mehr Wirkung zu verleihen suchte (vgl. Huck/Erhart 2019: 160). Einer der wesentlichen Effekte der hohen Bedeutsamkeit der Mundarten bestand darin, dass ihnen schrittweise eine politisch-kulturelle Rolle zukam: „[Der Dialekt] wurde das Ausdrucksmittel des nicht zur französisierten Oberschicht gehörigen, aber auch dem Hochdeutschen nicht zugewandten Elsässers, der damit seine Eigenart und kulturelle Selbständigkeit betonte“ (Rimmele 1996: 21, Anpassung durch Verfasserin). Dadurch wurden die Mundarten in einem allmählichen Prozess von der Schriftsprache abgekoppelt (vgl. Huck/Erhart 2019: 160). Mit der Zeit wurde Elsässisch als Bezeichnung für die deutschen Dialektsprachen im Elsass verwendet und selbst in der Zwischenkriegszeit von den Sprechern/Sprecherinnen zur Bezeichnung ihrer eigenen Sprache genutzt (vgl. Huck/Bothorel-Witz/Geiger-Jaillet 2007: 24).

Aufgrund des Prestiges wahrten die höhergestellten gesellschaftlichen Schichten die französische Sprache immerfort und ließen ihre Kinder auf Französisch unterrichten. Denselben Weg wählte ein Teil der höheren und mittleren Bourgeoisie sowohl aus Prestigegründen als auch als Kennzeichnung ihrer politischen Verneinung gegenüber dem Deutschen Kaiserreich und als Symbol ihrer Treue zur nation. Aufgrund dessen, wurden sogenannte ,,Sprachzählungen“ (Huck/Erhart 2019: 161) vorgenommen. In diesen fragte man die Bürger/innen nach der Muttersprache, die in der folgenden Tabelle schließlich diese Ergebnisse erbrachten: kurz nach der Wiederkehr an die deutsche Macht um 1870 befand sich sowohl Deutsch als auch Französisch in Verwendung. Dieses Ereignis nahm jedoch im Verlauf der weiteren Jahre um 7,65% ab, was sich durch die Sprachpolitik zugunsten des Deutschen erklären lässt. Nichtsdestotrotz sprachen die Bürger/innen zwischen 3,92% (1878) und 4,77% (1910) aufgrund des Willens sich abzugrenzen bzw. aus Protest Französisch, und zwar einschließlich der romanischen Mundarten.

Tabelle 2: Angegebene Sprachkenntnisse im Elsass, 1878-1910 (Quelle: nach Huck/Erhart 2019: 161)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In der Zeit zwischen 1900 und 1914 erlebte die Prestigesprache eine Entfaltung, die die Deutschen nur widerwillig anerkannten. Um die Illusion einer höheren Kultur zu vermitteln, sprach man in Kreisen ohne höhere Bildung Französisch in der Öffentlichkeit. Somit wurde das Französische mit einer vielfältigen symbolischen Rolle versehen. Es wurde, wie bereits erwähnt, zur Sprache des Protests und/oder zur Sprache der Abgrenzung (Distinktion) (vgl. Huck 2015: 158).

Schließlich erklärt das Deutsche Kaiserreich Frankreich am 3. August 1914 den Krieg, womit eine neue Entwicklungsphase beginnt, denn im Jahr 1915 fingen die Behörden an, den Gebrauch des Deutschen als Amtssprache in den noch ausgenommenen Gemeinden auszuweiten, und führten ihn anschließend 1917 für alle ein. Gleichzeitig wurden Kirchen verpflichtet, bedingungslos Deutsch zu verwenden. Ferner wurden französischklingende Ortsnamen, Straßennamen und Schilder geändert bzw. umbenannt (vgl. Huck 2015: 168).

2.4 1918 – 1940

Nachdem Frankreich und seine Verbündeten über das Deutsche Reich bzw. die Weimarer Republik gesiegt hatten und die Unterzeichnung des Waffenstillstands am 11. November 1918 zwischen den Kriegsparteien ratifiziert wurde, zogen sich die deutschen Soldaten schrittweise zurück (vgl. Huck 2015: 169). Darauffolgend wurden von Oktober 1918 bis April 1919 30.000 Deutsche aus dem Elsass ausgewiesen. Zusätzlich verließen etwa 70.000 Deutsche und eine unbekannte Zahl von Elsässern/Elsässerinnen das Elsass freiwillig. In einem Jahr (von 1918 bis 1919) verließen 30.000 Deutsche die Stadt Straßburg (vgl. Wahl/Richez 1993: 118). Demgegenüber blieben ca. 33.000 Herkunftsdeutsche (hauptsächlich Frauen) im Elsass und beantragten ihre Einbürgerung (vgl. Oualid 1932: 577). Außerdem stieg die Zahl der Französischsprecher/innen nach 1918 mit der Ankunft von Beamten/Beamtinnen aus anderen Regionen Frankreichs und der Anwesenheit von französischen Soldaten (vgl. Rossé/Stürmel/Bleicher/Deiber/Keppi 1938: 37 & 43).

Mit dem Vertrag von Versailles vom 24. Juni 1919 wird das Elsass (und Lothringen) wiederkehrend Frankreich zugesprochen (vgl. Maurer 2002: 7). So liefen die sprachlichen Regelungen erneut in die umgekehrte Richtung: Französisch wurde ein weiteres Mal Amtssprache. Obwohl politisch gesehen der Anspruch zur sofortigen sprachlichen Anpassung vorherrschte, musste in der Praxis eingelenkt werden, denn selbst wenn die offizielle Verwaltungssprache Französisch war, gingen beispielsweise die meisten administrativen Dokumente zweisprachig an die Bürger/innen. Im Justizwesen hingegen war diese Praxis weniger flexibel: in vielen Fällen musste der/die nicht französischsprechende Angeklagte und/oder Kläger/in einen Dolmetscher konsultieren (vgl. Huck/Erhart 2019: 161). Bezüglich der verbalen Praktiken der Bürger/innen kommunizierte der Großteil der Bevölkerung – wie schon immer- im Dialekt, unabhängig von der Staatszugehörigkeit. Demgemäß blieb der tatsächliche Platz des Französischen in der sprachlichen Konstellation schwach, da sein Status problematisch war, insofern es für eine Mehrheit der Bevölkerung eine lokale Fremdsprache darstellte (vgl. Huck 2015: 170-171). Nichtsdestotrotz ging die Rückkehr nach Frankreich mit einer strengen Sprachenpolitik einher, die das Deutsche möglichst weitgehend zu unterbinden versuchte (vgl. Kremnitz 2015: 69).

Zwischen 1919 und 1924 entwickelte ein unbemerkter und stiller Aufstand, dessen tiefster Ursprung der Zusammenstoß zwischen dem Partikularismus, den das Elsass bewahren wollte, und der französischen Uniformität war, ein ,,malaise alsacien“ (Allemann 1962: 15 zitiert nach Ladin 1982: 47). Dieses elsässische Unbehagen entstand mit einer Dissonanz über die Art und Weise, wie das Elsass verwaltet wurde, über die exklusive Wahl des Französischen als Amtssprache und über die Einführung von laizistischen Gesetzen. Diese Tatsachen wurden von den Elsässern/Elsässerinnen als stark diskriminierend empfunden, da diese von alldem ausgeschlossen waren (vgl. Huck 2015: 174-175).

Neben dem elsässischen Unbehagen, welches sich intensivierte, zeigte eine Umfrage im Jahr 1926 einen der ersten quantitativen Hinweise auf den Sprachgebrauch im Elsass und auf den Rang des Französischen in den Interaktionen. Die Ergebnisse dieser verdeutlichen, dass Französisch entweder allein (9,86%) oder in Kombination mit Dialekt und/oder Deutsch genannt ist. Hinzukommend stellt es die gebräuchliche oder eine der gebräuchlichen Sprachen dar, die von 19,65% der elsässischen Bürger/innen dokumentiert wird, sofern man die Rubriken ,,autres langues“ und ,,langue non indiquée“ außer Acht lässt. Demgegenüber stellt die französische Sprache für die Mehrheit der Bevölkerung (insgesamt 71,80%), trotz der nun französischen Angehörigkeit, eine lokale Fremdsprache dar.

Tabelle 3: Angegebene Sprachkenntnisse im Jahr 1926 (Quelle: nach Huck 2015: 171)

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Letztendlich gelang es der französischen Politik lediglich ansatzweise die wiedergewonnenen Departements sprachenpolitisch mit dem übrigen Frankreich zu assimilieren, jedoch sorgte sie für das Entstehen eines starken elsässischen Autonomismus. Dieser fokussierte ebenfalls die Sprachenfrage und ließ einen Großteil der elsässischen Abgeordneten in der Pariser Nationalversammlung engagieren (vgl. Kremnitz 2015: 69).

Im Jahr 1927 wurden zwar aufgrund der Vereinbarung des Poincaré-Pfister-Dekrets drei Stunden Deutsch und vier Stunden Religionsunterricht auf Deutsch zugelassen, was einen ersten Schritt in Richtung schulischer Zweisprachigkeit kennzeichnete (vgl. Huck 2015: 186). Allerdings blieb Deutsch - wie in allen übrigen französischen Schulen und Universitäten - nur als Fremdsprache erhalten, denn nach einer kurzen Übergangszeit wurde in der Sekundarstufe und an der Universität Straßburg ausschließlich Französisch als Unterrichtssprache verwendet. Aufgrund dessen stieg die Zahl derjenigen, die Französisch verstanden und teilweise Französisch aktiv beherrschten, wie noch nie zuvor erheblich an (vgl. Huck/Erhart 2019: 162).

Angesichts der elsässischen Sprachkonstellation scheint die von den Behörden verfolgte Sprachpolitik zur Verankerung des Französischen partiell erfolgreiche Auswirkungen gehabt zu haben. Die Volkszählungen von 1931 und 1936 liefern die Kenntnis der jeweiligen Varietät 1936 wie folgt: der Dialekt liegt mit akkumuliert 82,11% der Befragten voran, Deutsch folgt mit 76,07% und an dritter Stelle kommt Französisch mit schließlich 55,63%, was das Fortschreiten der Französischkenntnisse hervorhebt. Trotz allem blieb die Kenntnis der Mundart und der deutschen Schrift- und Standardsprache immer noch stark vorherrschend (vgl. Huck/Erhart 2019: 162).

Schließlich überfiel am 1. September 1939 Adolf Hitler Polen und wandte sich nach seinem Erfolg der Annexion Frankreichs zu, was eine erneute Sprachentwicklung mit sich brachte.

2.5 1940 – 1945

Zwischen 1940 und 1945 war das Elsass -wie ebenfalls ein Teil Lothringens- von deutschen Soldaten annektiert. Das Ziel der Naziherrschaft war es, das Elsass restlos zu entwelschen8 (vgl. Huck/Erhart 2019: 162). Die Gesetze des Dritten Reiches wurden wiederholt ausgeübt: Deutsch wurde am 16. August 1940 zur Amtssprache, Französisch war verboten, und Dialekte wurden von den Nazis mit Abscheu betrachtet. Die Annexionsmacht verlangte, dass die Elsässer/innen Hochdeutsch als gesprochene Sprache nicht nur in formellen, sondern auch in informellen Situationen verwenden. Die nationalsozialistische Maxime ,, Elsässer, sprecht Eure deutsche Muttersprache! “ (Philipps 1975: 229, Hervorhebung im Original) wurde zu einer mehr oder weniger eindringlichen Aufforderung, statt des Dialekts gesprochenes Hochdeutsch zu verwenden. Auch die anderen Bereiche des öffentlichen Lebens wurden sprachlich entwelscht: Ortsnamen, Ortstafeln, Straßen-, Platz- und Gebäudebezeichnungen, Geschäftsaufschriften etc. Sogar in die Privatsphäre der Bürger/innen intervenierte man z. B. durch Entwelschung von Vor- und Familiennamen (vgl. Huck/Erhart 2019: 163). Zudem wurden die Mundarten, die doch zum deutschen Dialektsprachraum gehörten, nicht begnadigt. Alle Wörter und Ausdrücke, die sich aus dem Sprachkontakt zwischen Französisch und den Mundarten eingebürgert hatten, sollten als Erstes ausgelöscht werden: Entlehnungen aus dem Französischen wurden durch „deutsche“ Wörter ersetzt werden (vgl. Kettenacker 1973: 163-173). Verstöße gegen diese sprachlichen Maßnahmen wurden, insofern sie bekannt wurden, bestraft (vgl. Huck/Erhart 2019: 163).

Am Ende der Annexionsjahre befand sich die Reputation des Deutschen im Elsass auf einem paradoxalen Höhepunkt, da seine Position zwar objektiv gestärkt wurde, insofern als es die einzige Standardsprache war, die regelmäßig verwendet und zumindest oberflächlich von Kindern gelernt wurde. Jedoch erreichte gleichzeitig der subjektive Status des Deutschen als Sprache der Nazis, des Krieges und all des Unglücks seinen Tiefpunkt, denn ein Teil der Elsässer/innen distanzierte sich ausschlaggebend von der deutschen Sprache, indem sie zunehmend in ihre Dialektsprachen flüchteten und damit die schützende und distanzierende Rolle ihrer Dialekte hervorhoben (vgl. Huck 2015: 208).

Schlussendlich sorgte die brutale Entwelschungs- und Unterdrückungspolitik dafür, dass der wiederkehrenden ,,Franzisierungspolitik“ (Kremnitz 2015: 69) nach 1945 kein offener Widerstand entgegengesetzt wurde, da man die erneute und diesmal endgültige Rückkehr an Frankreich als eine große Erlösung und Befreiung betrachtete.

2.6 1945 bis heute

In der Nachkriegszeit begann in Frankreich ein unaufhaltsamer Entwicklungsprozess, der die gesellschaftliche Struktur entscheidend veränderte. Dieser Prozess hing stark mit Modernisierungstrends und -phänomenen zusammen, die sich in allen Lebensbereichen erkennen ließen. Überdies fand auch ein rascher Generationenwechsel statt, da der Krieg neue Bedingungen herbeigeführt hatte.

Durch die Zunahme der Industrialisierung sank die Anzahl der Landwirte von 40 Prozent (1962) auf 14,4 Prozent (1975). Die Standortunabhängigkeit der Menschen bezog sich dadurch sowohl auf den Beruf als auch auf die soziale Gruppenzugehörigkeit und beeinflusste stark ihre Sprachpraktiken. Dies führte ebenfalls zu einer Umstrukturierung in der Gesellschaft, wovon besonders die soziale Stellung der Frauen, ihre gesellschaftliche Funktion und ihr Recht auf Anerkennung und Selbständigkeit betroffen waren (vgl. Huck/Erhart 2019: 163-164). Hausfrauen begannen, sich um die Schulbildung ihrer Kinder zu kümmern und stellten fest, wie wichtig Französischkenntnisse für die soziale und berufliche Zukunft ihrer Kinder waren (vgl. Huck 2015: 324).

Auf der sprachpolitischen Ebene griffen ab 1945 die französischen Behörden zugunsten der Verbreitung der französischen Sprache in zwei Bereichen ein: in den Schulen, indem sie vorübergehend jeglichen Deutschunterricht in den Grundschulen ausschlossen und in der Presse, indem sie alle einsprachigen deutschsprachigen Tageszeitungen verboten und einen obligatorischen Platz für Französisch einführten (vgl. Huck/Bothorel-Witz/Geiger-Jaillet 2007: 26-27). Somit wurde zum ersten Mal in der Schulgeschichte des Elsass kein Deutsch unterrichtet (vgl. Huck/Erhart 2019: 165), was durch den nun minderwertigen Status des Dialektes und Deutschen bestärkt wurde. Die Annexion und der Krieg veränderten den subjektiven Status der Sprachen insofern, dass über den Status als endogene Schriftsprache hinaus das Deutsche vor allem auch den Status der ,,Sprache der Nazis bzw. des Feindes“ erhielt. Französisch hingegen genoss das Prestige der französischen Befreier oder Erlöser. Es wurde ,,[…] chic de parler français “ (Huck/Erhart 2019: 117, Hervorhebung im Original). Ferner erschienen besonders Sprachen ,,comme un symbol essentiel du patriotisme“ (Huck 2015: 218). Folglich gaben ein Jahr nach dem Kriegsende (1946) 85,80% der Bevölkerung an, Dialekt zu sprechen, wobei 79,84% Deutsch darlegten und bereits 62,70% der Bevölkerung Französisch deklarierten (vgl. Huck 2015: 210).

Angesichts der Sprachpolitik erfuhren die elsässischen Dialektsprecher/innen 1951 wieder einmal ein Minderwertigkeitsgefühl, da das Deixonne-Gesetz vom 11. Januar lediglich Bretonisch, Baskisch, Katalanisch und Okzitanisch als lokale Sprachen und Dialekte definierte und diese als Unterrichtsfächer für Schulen anbot. Diejenigen, die eine Verbindung zu einer fremden Standardsprache haben konnten, wie z.B. Korsisch, flämische Dialekte, Dialekte im Elsass und an der Mosel sowie Überseesprachen, wurden nicht berücksichtigt (vgl. Gardner-Chloros 1991: 14).

Ein Jahr nach dem Beschluss des Deixonne-Gesetzes 1951 erfolgte im Décret André Marie 1952 eine Zustimmung, Deutsch neuerdings als Wahlfach zwei Stunden pro Woche unterrichten zu dürfen, sofern die Eltern dies wünschten und der Lehrer sich bereit erklärte, die Sprache zu unterrichten. Die Bedingungen des Unterrichts blieben allerdings mit vielen Konflikten behaftet, so dass ein nachhaltiger Spracherwerb des Deutschen nicht wirklich gewährleistet war (vgl. Huck 2005: 223 & 225, Ladin 1982: 51). In den Daten von 1962 (siehe Tabelle 4) stärkte der Generationswechsel die Zuneigung zu Französisch und schwächte somit die für Deutsch. Sie spiegeln indirekt die in den Grundschulen verfolgte Sprachpolitik wider: im Gegensatz zu den Sprachkenntnissen bezüglich des Deutschen von insgesamt 65,19% steht Französisch mit einer Prozentzahl von insgesamt 82,52% weit darüber. Außerdem ist aus den Daten zu entnehmen, dass die Kinder des Elsass zwischen fünf und neun Jahren lediglich zu 3,52% Deutschkenntnisse besaßen, während es im Fall der Französischkenntnisse nahezu 82% sind. Dies ist mit der frankreichorientierten Umgebung zu erklären, da die Kinder nun eine französische Angehörigkeit besaßen. Hinsichtlich des Dialektes hingegen, so ist dieser in allen Altersgruppen mehr oder weniger präsent und dominiert mit 85,71% die deklarierten Sprachkenntnisse.

Tabelle 4: 1962 - Connaissance déclarée des langues par la population âgée de 5 ans et plus (Quelle: nach Huck/Bothorel-Witz/Geiger-Jaillet 2007: 27)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Außerdem ließ sich im selben Jahr (1962) erkennen, dass der Dialekt auf dem Land verbreiteter war als in den Städten: 88% der Einwohner/innen ländlicher Gemeinden sprachen ihn, gegenüber 62% im Raum Straßburg, 61% in Colmar und 67% in Mulhouse. Zudem wurde der Dialekt im Bas-Rhin (77%) häufiger gesprochen als im Haut-Rhin (73%). Er wurde vor allem von älteren Menschen als von jüngeren gesprochen: 88% der über 75-Jährigen sprachen den Dialekt, gegenüber 66% der 16- bis 24-Jährigen. Es wird deutlich, dass Kinder weniger Dialekt als ihre Eltern sprechen: 77% der Haushaltsvorstände sprachen Dialekt, 76% der Ehepartner und nur 63% der Kinder. Zudem wurde Elsässisch häufiger zu Hause als außer Haus und seltener in der Verwaltung als an anderen öffentlichen Orten gesprochen (60% zu Hause; 52% beim Einkaufen; 37% in der Verwaltung) (vgl. Denis 2015: Anhang).

Die Dialekte erschienen aufgrund ihrer Funktion als fast ausschließliche orale Kommunikationssprache und aufgrund ihrer Nähe zum Deutschen stets als ein ernsthaftes Hindernis für das Erlernen des Französischen zu sein (vgl. Huck/Bothorel-Witz/Geiger-Jaillet 2007: 29). Somit wurden die Präsenz der französischen Sprache und ihr Erwerb durch die Änderung des Bildungssystems weiter verstärkt. 1967 wurde hinzukommend die Schulpflicht bis zum Alter 16 verlängert, sodass die Schüler/innen länger in einer französischorientierten Umgebung verblieben (vgl. Huck 2015: 297).

Die schulische Entwicklung führte unter anderem dazu, dass Anfang 1968 der Cercle René Schickele (heute: René-Schickele-Gesellschaft) gegründet wurde. Dieser setzte sich am nachhaltigsten für die Bewahrung der Zweisprachigkeit im Elsass ein, was den ersten Schritt in Richtung Bewusstwerdung eines Protests gegen die Entmachtung des Volkes und der Völker kennzeichnete (vgl. Kremnitz 2015: 69). Der Verein engagierte sich ebenfalls insbesondere im Schulbereich, indem er für mehr Klassen in den bilingualen Zügen9 eintrat (vgl. Huck/Erhart 2019: 171).

Ferner waren die beiden bereits genannten kombinierten Aspekte, Französisch und Modernität, ebenfalls symbolisch in die Toponymie eingeschrieben. So behielt ein ab 1968 entstandener Stadtteil Straßburgs nicht den traditionellen Namen des Ortes, an dem er gegründet wurde (,,Hohen Stein“), sondern wurde mit dem Namen ,,Hautepierre“ (Moszberger/Rieger/Daul 2002: 225) übersetzt. So schien das Elsass dabei zu sein, französisiert zu werden (vgl. Huck 2015: 303).

Zusätzlich fing eine sprachliche Wende in den siebziger Jahren an, da die Kinder der Nachkriegszeit in einer absolut französischgeprägten und frankreichorientierten Welt aufwuchsen. Sozialer Aufstieg konnte ausschließlich mittels der französischen Sprache erfolgen. Die Schriftsprache, die sie in der Schule lernten, war Französisch, wobei ihre Alltags- und Umgangssprachen Französisch und der Dialekt waren. Die deutsche Sprache wurde zu einer (vertrauten) Fremdsprache (vgl. Huck/Erhart 2019: 166).

Die erste quantifizierte Manifestation eines erklärten Sprachgebrauchs, bei dem der Dialekt nicht mehr die Mehrheit darstellte, kennzeichnete eine weitere Umfrage 1971. Demzufolge gaben die Befragten unter 34 Jahren (Führungskräfte, Angestellte etc.) an, die französische Sprache zu 42% in ihren Familien zu bevorzugen (siehe Tabelle 5). Somit ist in gewisser Weise dies der erste bedeutende Bruch seit den Volkszählungsdaten von 1962. Außerdem ist den Daten in Tabelle 6 zu entnehmen, dass z.B. Führungskräfte aus mittleren Schichten den elsässischen Dialekt mit 36% deutlich weniger verwenden als z.B. Landwirte mit 86%, was den bereits genannten Unterschied zwischen Stadt und Land erneut abbildet.

Tabelle 5: Les réponses à la question « En général, est-ce-que vous parlez plutôt alsacien ou plutôt français ? » (Quelle: nach Huck 2015: 329)

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Tabelle 6: Répartition de l‘usage de l’alsacien selon la profession du chef de famille (Quelle: nach Huck 2015: 329)

Im Jahr 1975 wurde durch das Haby-Gesetz (Artikel 12) der Unterricht von regionalen Sprachen und Kulturen eingeführt, der im Elsass durch ein Rektoratsrundschreiben von 1982 umgesetzt wurde. Rektor Deyon erklärte hierzu folgendes: ,,L’alsacien, que parle la majorité des habitants de cette région, a pour expression écrite une langue de culture et de diffusion internationales, l’allemand“ (Denis 2015: 134). Ungeachtet dessen gehörte Deutsch für die jüngeren Generationen (Elsässer/innen etwa unter 30 Jahren) nichtsdestotrotz der Vergangenheit an, da ihr schriftliches Leben auf Französisch ablief, auch wenn sie über gute passive Deutschkenntnisse verfügten. Die vergangene Sprachpolitik begünstigte nachhaltig das Französische und benachteiligte die Mundarten und das Deutsche dagegen langfristig. Infolgedessen begann zum ersten Mal ein langsamer jedoch unaufhörlicher Rückgang der Mundart und deren Gebrauchs, da auch er nun mit Vergangenem und Tradition verbunden wurde. Im Gegensatz dazu stand Französisch, welches die Modernität darstellte (vgl. Huck/Erhart 2019: 165-166). Die Abnahme des Mundartgebrauchs wird durch eine 1979 (Seligmann) und 1980 (INSEE) veröffentlichte staatliche Erhebung belegt (vgl. Seligmann 1979/INSEE 1980 zitiert nach Huck/Erhart 2019: 166): im Gegensatz zu der Datenerhebung von 1962, sanken die Mundartkenntnisse um circa 11,01%, insofern man davon ausgeht, dass in den Aussagen vom Jahr 1962 die Sprachkenntnisse mit der Fähigkeit, den Dialekt sprechen zu können, gemeint war. Hinzu kommt, dass 17,1% der Befragten angaben, kein Elsässisch verstehen zu können, was den Rückgang der Mundart bestätigt, da es 1962 lediglich 14,29% waren.

Tabelle 7: Mundartkenntnisse der Elsässer/innen, 1979/1980 (Quelle: nach Huck/Erhart 2019: 166)

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Der allmähliche Verlust des Dialektes und dessen Ursprung erwähnte ebenfalls der Journalist und Autor Guy Heitz, als er sich wie folgt äußert:

Quatre-vingt-dix pour cent des citadins ne parlent plus qu‘un patois d‘une intolérable indigence. De toute façon, authentique ou dénaturé, le dialecte se meurt, le dialecte est mort. La raison en est la montée d‘une culture et d‘une mythologie à l‘échelle mondiale. Les petites sociétés traditionnelles comme l‘Alsace s‘effondrent. Et cela est souhaitable: la survivance d‘une langue d‘une portée restreinte empêche la société qui la pratique d‘acquérir, et surtout de maîtriser, un langage de portée universelle et que le français, seul moyen de pouvoir discerner dans cette culture et cette mythologie mondiales le bon et le mauvais. Or, l‘Alsacien, dans sa majorité, ne maîtrise aucune langue, ni l‘allemand, ni le français, ni le dialecte. Il doit en prendre conscience […] et accélérer le mouvement déjà amorcé vers la disparition du dialecte (Huck 2015: 300).

Dies kennzeichnet nicht nur die Abneigung gegenüber dem Dialekt, sondern ebenfalls den Wunsch das Elsässische auszulöschen und einzig die wertvolle Prestigesprache zu verwenden. Des Weiteren warf Heitz den Elsässern/Elsässerinnen vor, keine Sprache vollständig zu beherrschen, was die Bewohner/innen des Elsass bereits im 18. Jahrhundert hörten und selbst im 21. Jahrhundert zu hören bekommen (vgl. Huck 2015: 69-70).

Im Jahr (1990) gaben in einer Umfrage vom IFOP ( Institut français d’opinion publique) lediglich 40% der Befragten auf die Frage ,,Sprechen oder verstehen Sie den elsässischen Dialekt?“ an, dass sie ihn oft sprechen. 21% von ihnen gaben an, ihn ziemlich oft und 10% ihn fast nie zu sprechen. Ferner nimmt die Nützlichkeit des Dialekts bei den 25-34-Jährigen stärker als bei den 18-25-Jährigen ab. Zu beobachten ist auch, dass der Anteil der bejahenden Antworten im Unterelsass höher ist als im Oberelsass. Außerdem bleibt der Status des Dialektes in ländlichen Gebieten höher als in Städten (vgl. Kleinschmager 1990: Seite unbekannt zitiert nach Huck 2015: 375).

Neun Jahre später (1999) wurde im Elsass eine weitere Umfrage von INSEE mit einer Stichprobe von 30.000 Personen ab 18 Jahren durchgeführt. Sie umfasste drei Gruppen von sprachlichen Fragen, die sich auf die Generation der Eltern konzentrierten und bestätigt diese Ergebnisse. 51% der Personen über 18 Jahre, die im Elsass geboren sind, sprechen Elsässisch, 60% der vor 1945 Geborenen und 40% der nach 1970 Geborenen. Die Praxis des Dialekts bleibt weiterhin stärker im Norden des Bas-Rhin. Ferner wurde die Übertragung von den Eltern auf die Kinder immer seltener: fast alle im Elsass geborenen Kinder sprechen mit ihren Eltern Französisch und nur jedes vierte Kind spricht den Dialekt. Außerdem lernten nur 10% der im Elsass geborenen Kinder Dialekt, während es in den 1940er Jahren noch 80% waren (vgl. Denis 2015: 138).

Nach diesen Ergebnissen kommentierte ein Journalist die oben genannte Umfrage wie folgt:

l’alsacien dans sa dimension de langue parlée couramment, est sur la voie d’un inexorable déclin. L’état des lieux de l’usage de la langue régionale montre qu’une majorité absolue d’Alsaciens la pratique encore couramment. Mais les réponses par tranches d’âge ne laissent aucun doute sur son devenir : à ce rythme, dans quelques générations, ce sera une langue morte (Huck 2015: 410).

In demselben Jahr (1999) wurde, nachdem viele Aktivisten 1992 für die Ratifizierung der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen10 kämpften, diese unter dem damaligen sozialistischen Premierminister Lionel Jospin unterschrieben, wobei eine endgültige Ratifizierung noch nicht erfolgte. Mehrfach hatten sich schon in den 1990er-Jahren der Staats- und der Verfassungsrat, meist mit dem Argument, dass die Charta mit der Verfassung nicht vereinbar sei, dagegen ausgesprochen. Im Januar 2014 verabschiedete die Nationalversammlung mit großer Mehrheit eine Verfassungsänderung, die auch die Ratifizierung des Vertrags in Frankreich ermöglichte (vgl. Reck 2014). Somit erhielten die Regionalsprachen einen offiziellen Status zum Schutz und zur Förderung in der französischen Verfassung.

Im Jahre 2006 spiegelt sich die stetige Abnahme der Dialektsprecher/innen besonders im Schulwesen wider. In einer Umfrage unter Grundschülern vom Rectorat de l’Académie de Strasbourg werden diese folgenden Ergebnisse geliefert:

Tabelle 8: Deklarierte Sprachkenntnisse des elsässischen Dialektes, 2006 (Quelle: nach Huck 2015: 413)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Huck (2015: 414) weist darauf hin, dass die Ergebnisse tendenziell nicht die Zunahme der Nicht-Dialektsprecher/innen kennzeichnen (auch wenn 66,60% der Kinder den Dialekt nicht verstehen), sondern dass die Zahl der Schüler/innen, die den Dialekt sprechen können, auf 2,75 Prozent gesunken ist. Folglich kennzeichnen diese Daten nicht nur die Abnahme der Mundart, sondern ebenfalls die fehlende Weitergabe und mangelnde Praxis der elsässischen Sprachkenntnisse an die nachfolgenden Generationen bzw. der jungen Generation.

Sprachpolitisch wurde der Status der Regionalsprachen 16 Jahre nach der Verankerung der französischen Sprache in Artikel 2 der französischen Verfassung 2008 der Artikel 75-1 entscheidend wie folgt geändert: ,,Les langues régionales appartiennent au patrimoine de la France“ (LOI constitutionnelle n° 2008-724 du 23 juillet 2008, article 75-1). Demzufolge sind nun auch die Regionalsprachen, die im Deixonne-Gesetz nicht inbegriffen waren, in der französischen Verfassung anerkannt und bilden einen Teil des französischen Erbes.

Trotz alledem bremste dies nicht den Schwund des elsässischen Dialektes, was eine vom Office pour la langue et la Culture Alsaciennes (OLCA) und dem Institut d’études marketing (EDinstitut) durchgeführte Umfrage im Jahr 2012 bestätigte. Sie zeigt unter einer Stichprobe von 801 Personen über 18 Jahren, dass 43% der Einwohner/innen angaben, Elsässisch gut sprechen zu können, während 10% der Einwohner/innen angaben, Elsässisch einigermaßen sprechen zu können und gut zu verstehen. Lediglich 5% der Elsässer/innen deklarierten, es einigermaßen zu sprechen und gut zu verstehen, und 17%, es einigermaßen zu verstehen, aber nicht zu sprechen. Letztlich gaben 25% an, Elsässisch nicht zu verstehen (vgl. OLCA/EDinstitut 2012: 6). Dies ist durch die immer seltenere Weitergabe an die künftigen Generationen zu erklären, denn besonders die Kenntnis der Mundart bei den 18-bis 24-jährigen lag im Gegensatz zu 1998 ( Sondage DNA/CSA opinion) noch bei 37 Prozent, während sie im Jahr 2012 auf 12% sank (vgl. Huck/Erhart 2019: 177). Zudem wird erneut deutlich, dass der Dialekt im Bas-Rhin (46%) häufiger gebraucht wird als im Haut-Rhin (38%), wobei ebenfalls deklariert wurde, dass er in sehr kleinen Kommunen zu 54% Verwendung findet, während es in sehr großen Gemeinden nur noch 21% sind. Bei der Aussage ,,Si le dialecte alsacien disparaissait, l‘Alsace perdrait de son identité.“ stimmten insgesamt 90% dieser zu, wovon 88% zwischen 18 und 29 Jahren alt waren. Hiermit wird der Wille, den elsässischen Dialekt zur kulturellen Identität weiterhin zu bewahren und zu schützen, betont (vgl. OLCA/EDinstitut 2012: 9 & 16).

Am Ende der 2010er Jahre, ist das Französische die meisteingesetzte Sprache in den verbalen Interaktionen. Dies bedeutet nicht, dass das Elsässische nicht mehr verwendet wird, allerdings nicht mehr in den meisten Sprechsituationen und nicht mit allen Gesprächspartnern.

[...]


1 Der Begriff ,,Elsässisch“, ,,elsässischer Dialekt“ und ,,Mundart“ beschreibt in dieser Arbeit aufgrund von Übersichtlichkeit die Gesamtheit der alemannischen und fränkischen Dialekte und wird ohne Absichten der Abwertung verwendet (siehe Kapitel 2, S. 4).

2 Da das Original nicht zugänglich war, wurde die Sekundärquelle herangezogen. Dies gilt ebenfalls für die folgenden Zitatverweise mit der Bemerkung ,,zitiert nach“.

3 Trotz der Zitierunwürdigkeit der Website ,,Wikipedia“, wurde die Grafik von dem Ersteller Tschubby (2019) aus Wikipedia entnommen, da diese anderweitig nicht vorzufinden war.

4 Dt. Departement; Verwaltungsbezirk in Frankreich (vgl. Dudenredaktion 2011: 407).

5 Dialekt (vgl. Löffler 2003: 2). Das Elsässische gibt es laut Harnisch (1996: 420) unter systemlinguistischer Sicht nicht und wird in dieser Arbeit als geografisch, politisch und kulturell bestimmter Sammelbegriff für die über die gesamte Region des Elsass verteilten lokalen Mundarten verwendet (siehe auch Abalain 2007: 234).

6 Toponym = Ortsname (vgl. Abraham 1988: 885).

7 [mit einem Kalender verbundene] bebilderte Sammlung von Texten aus verschiedenen Sachgebieten (vgl. Dudenredaktion 2011: 128).

8 Das Entfernen aller Fremdwörter (hier: das Französische) (vgl. Grabarek 2013: 109).

9,,Der ,bilinguale Zug‘ beginnt in der Vorschule (mit Kindern von 3 bis 4 Jahren) und wird allmählich Jahr um Jahr weiter ausgebaut. Der Unterricht erfolgt während der einen Hälfte des Wochenstundenplans auf Französisch und während der anderen Hälfte auf Deutsch“ (Huck/Erhart 2019: 168).

10 Die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (ECRML) ist ein europäischer Vertrag, der 1992 zum Schutz und zur Förderung der Regionalsprachen in Europa verabschiedet wurde. Nach ihrer Unterzeichnung muss die Charta von jedem einzelnen Land ratifiziert werden, bevor sie in Kraft tritt (vgl. Europarat o.J.).

Ende der Leseprobe aus 164 Seiten

Details

Titel
Mehrsprachigkeit im Elsass in Stadt und Land. Ein Vergleich der Sprachlandschaft insbesondere des elsässischen Dialektes am Beispiel von Straßburg und Hunspach
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Note
1,7
Autor
Jahr
2021
Seiten
164
Katalognummer
V1172389
ISBN (eBook)
9783346591517
ISBN (Buch)
9783346591524
Sprache
Deutsch
Schlagworte
mehrsprachigkeit, elsass, stadt, land, vergleich, sprachlandschaft, dialektes, beispiel, straßburg, hunspach
Arbeit zitieren
Valentina Elzer (Autor:in), 2021, Mehrsprachigkeit im Elsass in Stadt und Land. Ein Vergleich der Sprachlandschaft insbesondere des elsässischen Dialektes am Beispiel von Straßburg und Hunspach, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1172389

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