Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Erzählsituation
2.1 Definition
2.2 Ausgangsproblematik
3. Wahrheitsbeeinträchtigung
3.1 Wahrnehmung
3.2 Erinnerung
3.3 Überlagerung
4. Umgang mit der Wahrheit
4.1 Anspruch der Erzählung
4.2 Textanalyse
4.2.1 Zweifel und Unsicherheit
4.2.2 Ironisierung
4.2.3 Konstruktion
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
Anhang
1. Einleitung
Die Frage nach der Wahrheit ist spätestens seit Goethes Dichtung und Wahrheit ein bekanntes Problem der Autobiographie, mit dem sich verschiedenste Literaturwissenschaftler und Philosophen bereits auseinandergesetzt und unterschiedliche Meinungen dazu entwickelt haben. Die Grundproblematik der Autobiographie: Der Autor verpflichtet sich seinem Leser gegenüber in gewisser Weise dazu, die Wahrheit über seine Person und sein Leben zu offenbaren.1 Jedoch weiß man um die „Unmöglichkeit einer treuen Wiedergabe von Natur [und] Geschichte“2. Die Autobiographie steht somit vor der Schwierigkeit den hohen Wahrheitsanspruch, der an sie genrebedingt gestellt wird, mit der Unmöglichkeit einer treuen Wiedergabe der Wahrheit, in Einklang zu bringen.
Diese Arbeit setzt sich mit der Wahrheit in der Vie de Henry Brulard auseinander. Interessant ist dieses Werk im Hinblick auf die Wahrheitsthematik insbesondere deshalb, weil das Thema sehr häufig zur Sprache kommt und somit selbst Gegenstand der Geschichte wird. Vor diesem Hintergrund lässt sich analysieren, welchen Weg der Erzähler gefunden hat, um mit der Unvereinbarkeit von Wahrheitsanspruch und Unzuverlässigkeit bzw. Subjektivität des Erzählens umzugehen. Dieser weiß um die Unmöglichkeit von Wahrheit, hat aber dennoch den Anspruch eben diese an seine Leser zu vermitteln. Er spielt mit der Wahrheit, was zum Teil in einer enormen Ironisierung mündet.
Im Folgenden soll vorerst die genaue Erzählsituation in der Vie de Henry Brulard bestimmt werden. In diesem Zusammenhang werden bereits erste Schwierigkeiten thematisiert, die sich im Hinblick auf die Wahrheit auftun. Im Anschluss daran kann ein genauerer Blick auf den Inhalt geworfen werden. Um die Ausgangsproblematik besser nachvollziehen zu können, werden mittels einer Analyse die Hauptfaktoren festgestellt, die dazu beitragen, die Wahrheit abzuschwächen. Schließlich kann konkret auf den Umgang mit der Wahrheitsthematik durch die Erzählinstanz eingegangen werden. Dazu wird vorerst die Intention des Erzählers genauer betrachtet und anschließend beispielhaft analysiert, wie im Text konkret mit der Wahrheit umgegangen wird.
2. Erzählsituation
2.1 Definition
Der Begriff Autobiographie ist schwer zu fassen, was sich auch an der Fülle, an voneinander abweichenden Definitionen zeigt. Diese Arbeit orientiert sich an der von Philippe Lejeune aufgestellten Definition, die die Autobiographie insbesondere in Abgrenzung zu anderen, mit ihr verwandten Textsorten definiert. Lejeune zufolge handelt es sich bei der Autobiographie um eine „[r]ückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt.“3 Es besteht demnach insofern ein Wahrheitsanspruch, als dass auf das tatsächliche Leben einer real existierenden Person oder Begebenheit referiert wird. Da diese Texte sich zudem auf eine historische Realität beziehen, haben Autobiographien einen faktualen Anspruch, dem der Autor bestmöglich gerecht werden sollte. Lejeune zufolge muss in der Autobiographie sowohl „Identität zwischen dem Autor [...] und dem Erzähler“4 als auch zwischen Erzähler und Hauptfigur herrschen.5 Nur wenn das der Fall ist, kann es sich schließlich um eine reale Person, die über ihr tatsächliches Leben schreibt, handeln.
2.2 Ausgangsproblematik
Der Erzähler schreibt zu Beginn seines Werkes: « [.] je me suis dit: Je devrais écrire ma vie [.]. » [VHB, S. 53]6. Somit kann davon ausgegangen werden, dass eine Einheit zwischen dem Verfasser, der dargestellten sowie der darstellenden Person besteht. Trotzdem ergeben sich diesbezüglich einige Probleme, welche dazu führen, dass die Vie de Henry Brulard zumindest Lejeunes Definition nach nur schwer dem Genre der Autobiographie zuzuordnen ist. Da wäre zum einen, das Problem der Namensungleichheit zwischen Autor und dargestelltem Ich. Zwar stimmen die Initialen H.B. miteinander überein, allerdings heißt der Autor mit vollem Namen Henri Beyle, während der im Werk dargestellte Protagonist unter dem Namen Henri Brulard auftritt. Das ist auch insofern problematisch, als dass sich die Frage stellt, aus welchem Grund diese Differenzierung vorgenommen wurde. Man kann davon ausgehen, dass der Autor auf diese Weise bewusst Abstand vom dargestellten Ich nehmen möchte und sich nicht - wie es eigentlich in Autobiographien der Fall ist, mit diesem gleichsetzen lassen möchte. Diese Annahme lässt sich zudem durch die Tatsache unterstützen, dass es sich bei der Vie de Henry Brulard zwar um ein autobiographisches Werk handelt, dieses jedoch vom Erzähler im Text selbst, zu keinem Zeitpunkt als ein solches betitelt wird. [vgl. VHB, S. 267] Weiterhin trägt das Pseudonym „Stendhal“, unter welchem der Autor sein Werk publiziert, dazu bei sich vom autobiographischen Aspekt seines Werkes zu distanzieren, indem er dadurch Abstand zu seinem eigentlichen Namen und somit zum Bezugspunkt zwischen ihm selbst und der Figur in seinem Werk schafft.7
3. Wahrheitsbeeinträchtigung
Neben diesen Schwierigkeiten, die sich bereits genrebedingt beziehungsweise auf außertextlicher Ebene ergeben, weist das Werk auch inhaltlich einige Faktoren auf, welche dazu beitragen, die Wahrheit zu beeinträchtigen, und so den Wahrheitsgrad des Geschriebenen in Frage zu stellen. Im Folgenden wird nun anhand einer Auswahl dreier zentraler Faktoren aufgezeigt, wodurch die Wahrheit explizit beeinträchtigt wird.
3.1 Die Wahrnehmung
« J'ai vu tout cela d'en bas comme un enfant [...]. » [VHB, S. 182]
Die Wahrnehmung ist einer der Hauptfaktoren, durch die die Wahrheit in der Vie de Henry Brulard beeinträchtigt wird. Das ist insbesondere deshalb der Fall, da die Position, aus der wahrgenommen wird, eine zu Hinterfragende ist. Wahrnehmungen im Kindesalter sind schwer einzuordnen, da in diesem Alter generell kein Anspruch auf eine umfassende oder gar reflektierte Wahrnehmung gestellt werden kann. Ein Großteil der Geschichte behandelt aber eben diesen Lebensabschnitt. Dem zuvor angebrachten Zitat ist zu entnehmen, dass der Erzähler sich dieser Tatsache selbst bewusst ist. Ich nahm all das aus der Sicht eines Kindes war, heißt es von ihm. Passagen wie die der Journée de Tuiles, in denen vordergründig die Freude an der Gewalt, der Tragik, oder gar der Lächerlichkeit [vgl. VHB, S. 115] wiedergegeben wird, zeigen recht deutlich, wie wenig umfangreich die Wahrnehmung des kindlichen Henris ist. Auch der Begriff Naivität beschreibt seine Sichtweise zu diesem Zeitpunkt sicherlich recht treffend.
[...]
1 Vgl. Didier, Béatrice: Stendhal autobiographe, Paris: Presses universitaires de France 1983, S.6.
2 Kimmich, Dorothee: Wirklichkeit als Konstruktion: Studien zu Geschichte und Geschichtlichkeit bei Heine, Büchner, Immermann, Stendhal, Keller und Flaubert, München: Wilhelm Fink Verlag 2002, S. 191.
3 Phillipe Lejeune: Der autobiographische Pakt (aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig), Suhrkamp 1994, S. 14.
4 Ebd.
5 Vgl. Ebd.
6 Stendhal : Vie de Henry Brulard, Le livre de poche 2013. (Das Primärwerk wird im Folgenden mit VHB abgekürzt und in eckigen Klammern angegeben)
7 Didier, Béatrice: Stendhal autobiographe, Paris: Presses universitaires de France 1983, S.6f.
- Arbeit zitieren
- Selina Becker (Autor:in), 2021, Die Wahrheit in "Vie de Henry Brulard" von Stendhal, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1172535
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