Am 29. Juni des Jahres 1755 entdeckt der Lindauer Arzt Jakob Hermann Obereit in der Bibliothek des Grafen von Hohenems die später mit Sigle C versehene Handschrift des Nibelungenliedes. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde das Nibelungenlied über zweieinhalb Jahrhunderte hinweg nur gelegentlich von einem Gelehrten als historische Quelle benutzt; seine letzte handfeste Überlieferung findet sich in den ersten Jahren des sechzehnten Jahrhunderts mit dem Eintrag in das Ambrasser Heldenbuch des Kaiser Maximilians. Seinen bedeutenden Fund teilt Obereit dem Schriftsteller und Literaturkritiker Johann Jakob Bodmer in einem eilends geschriebenen Brief mit und kündigt ihm diesen als „zwei alte eingebundene pergamentene Codices von altschwäbischen Gedichten“ an, „darvon der einte sehr schön deutlich geschrieben, einen mittelmäßig dicken Quartband ausmacht, und ein aneinanderhangend weitläufig Heldengedichte zu enthalten scheint, von der burgondischen Königin oder Princessin Chriemhild, der Titel aber ist Adventure von den Gibelungen.“ Nach intensivem Studium der Lektüre ordnet Bodmer das Nibelungenlied der Gattung des Heldenepos zu und bemerkt, dass es „eine Art von Ilias, und wenigstens etwas, so die Grundlage einer Ilias in sich enthält.“ Dieser Vergleich mit dem Nationalepos der Griechen eröffnet nicht nur eine kontroverse Debatte um den Status des Nibelungenliedes als deutsches Nationalepos, sondern damit beginnt auch die „moderne Erfolgsgeschichte [des Epos], die zugleich eine Unheilsgeschichte ist.“
Die vorliegende Arbeit zeichnet sowohl die 'Erfolgsgeschichte', als auch die 'Unheilsgeschichte' des Nibelungenliedes nach. Von dem Hintergrund dieses Spannungsverhältnisses aus betrachtet, ist folgende leitende Fragestellung Gegenstand der Untersuchung: Warum kann das Nibelungenlied nicht als das deutsche Nationalepos bezeichnet werden?
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung:
- 2. Nation, Patriotismus, Nationalepos: theoretische Grundgedanken.
- 3. Die Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes:
- 3.1. Das Zeitalter der Aufklärung: ästhetisch motivierte Rezeptionsansätze:
- 3.2. Die Romantik: die zunehmende Politisierung des Nibelungenliedes:
- 3.3. Der Weg ins zwanzigste Jahrhundert: propagandistischer Missbrauch:
- 3.4. Fazit:
- 4. Die Leerstelle der deutschen Kultur: das Scheitern des Nibelungenliedes auf Textebene:
- 4.1. 'uns ist in alten mæren...' - Der Aufbau eines kollektiven Gedächtnis:
- 4.2. Zwischen Ambiguität und Widersprüchlichkeit: das Problem der nibelungischen Figuren:
- 5. Schlussbetrachtung:
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit untersucht, warum das Nibelungenlied nicht als das deutsche Nationalepos bezeichnet werden kann. Sie verfolgt die Rezeptionsgeschichte des Epos und analysiert Aspekte, die für respektive gegen das Nibelungenlied als Nationalepos sprechen, auf der Textebene. Ziel ist es, zu verdeutlichen, dass das Nibelungenlied sowohl von der Rezeptionsgeschichte als auch von der Textebene her betrachtet, nicht den Titel des Nationalepos zu tragen vermag.
- Die Rolle des Nibelungenliedes in der Entwicklung des deutschen Nationalbewusstseins
- Die Politisierung des Epos im 19. Jahrhundert
- Die Ambivalenz der Figuren und Handlungsstränge im Nibelungenlied
- Die Frage, ob das Nibelungenlied die Voraussetzungen für ein Nationalepos erfüllt
- Das Scheitern des Nibelungenliedes als Spiegelbild der deutschen Kultur
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt den Fund des Nibelungenliedes durch Jakob Hermann Obereit im Jahr 1755 vor und führt in die Fragestellung der Arbeit ein: Warum kann das Nibelungenlied nicht als das deutsche Nationalepos bezeichnet werden? Das zweite Kapitel beleuchtet die Begriffe Nation, Patriotismus und Nationalepos und verdeutlicht deren Relevanz für die Analyse des Nibelungenliedes.
Das dritte Kapitel widmet sich der Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes, beginnend mit dem Zeitalter der Aufklärung, gefolgt von der Romantik und schließlich dem zwanzigsten Jahrhundert. Es zeigt die unterschiedlichen Rezeptionen und Interpretationen des Epos in den verschiedenen Epochen auf.
Das vierte Kapitel untersucht das Nibelungenlied auf der Textebene und beleuchtet die Frage, ob es die Voraussetzungen für ein Nationalepos erfüllt. Dabei werden der Aufbau des Epos, die Gestaltung der Figuren sowie die Ambivalenz der Handlungsstränge analysiert.
Schlüsselwörter
Nibelungenlied, Nationalepos, Nation, Patriotismus, Nationalismus, Rezeptionsgeschichte, Aufklärung, Romantik, Ambivalenz, Figuren, Textebene, deutsche Kultur, Scheitern
- Arbeit zitieren
- Sebastian Zilles (Autor:in), 2008, Das deutsche Debakel oder die Leerstelle in der deutschen Kultur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/117518