Das Tritonus-Intervall. Bedeutung, Besonderheiten und Alternativen


Wissenschaftlicher Aufsatz, 1999

18 Seiten


Leseprobe


Inhalt

Da es sich beim Tritonus um ein Intervall mit ausgesprochen fragendem Charakter handelt, werden auch die einzelnen Kapitel - mit Ausnahme des Schlusskapitels - als Fragen formuliert.

1. Was für ein Intervall ist der Tritonus und welche besondere Bewandtnis hat es mit ihm ?

2. Was stellt der Tritonus in Frage ?

3. Auf welche Weise betreibt der Tritonus seine Obstruktion ? Was richtet er damit an ?

4. Was kommt als Alternative für eine vom Tritonus freie oder erlöste Musik in Frage ?

5. Welchen Gewinn tragen die Kräfte, die man dem «zivilisierten Teufel» so geschickt «abzuluchsen» versteht, ein und welche Gefahren bergen sie mit sich ?

6. Wie funktioniert ein intakter «Tritonusofen» ?

7. Was geschieht, wenn trotz der auch konstruktiven Erscheinungs- weise des Tritonus sein Feuer außer Rand und Band zu geraten droht ?

8. Der Tritonus als integraler Bestandteil des selben Systems, dem auch Quinten und Quarten angehören.

Quellennachweise:

Sämtliche verwendete Fremdquellen werden in den Fußnoten aufgeführt.

Die Notenbeispiele befinden sich im Anhang.

Das Notenbeispiel aus der Schlussszene des Freischütz (eigener Computersatz) wurde anhand des Klavierauszugs der Edition Peters, Leipzig erstellt. Die übrigen Notenbeispiele und Graphiken stammen vom Autor.

Der Tritonus

Diabolus in musica

oder

ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will, und stets das Gute schafft ?

Kein Intervall stand jemals in so üblem Ruf wie der Tritonus: Diabolus in musica hat man ihn gescholten und alles unternommen, ihn von der musikalischen Praxis fern zu halten. Der anonyme Autor der Musica enchiriadis aus dem 9. Jahrhundert gibt spezielle Anweisungen, wie er im Organalgesang zu vermeiden sei. Guido von Arezzo (11. Jhd.) verbietet den Gebrauch des Tritonus auch als melodisches Intervall. Zu einem milderen Urteil gelangt im 16. Jhd. Johannes Gallicus: er hält den Gebrauch des Tritonus nicht mehr für eine Todsünde sondern nur noch für einen Irrtum.[1] Reingewaschen ist dieses offensichtlich ominöse Intervall damit aber noch lange nicht, und noch in unserem Jahrhundert nennt es der Komponist und Musiktheoretiker Paul Hindemith ein «scheinheiliges Intervall, das zugleich undeutlich und aufdringlich ist».[2]

1. Was für ein Intervall ist nun dieser Tritonus und welche besondere Bewandtnis hat es mit ihm?

Wortwörtlich heißt Tritonus «Dreiton», womit drei Ganztonschritte gemeint sind. Machen wir selbst den Versuch und spielen auf einem Musikinstrument, am besten auf einem Klavier, eine aus drei Ganztonschritten bestehende Tonfolge, z. B. c - d - e - fis oder c - b - as - ges. Unser erster spontaner Höreindruck: hier wird etwas angestoßen aber nicht zu Ende geführt - oder: hier fehlt noch was, hier müsste noch etwas kommen. Als nächstes schlagen wir die beiden Rahmentöne c - fis oder c- ges an und unser Gefühl bestätigt nicht nur prompt unseren vorherigen Höreindruck sondern geht noch darüber hinaus, indem es Empfindungen registriert wie solche: hier bleibt eine bohrende, «aufdringliche» Frage im Raum stehen, und diese Frage klingt unheimlich. Mehr noch: es wird etwas angezweifelt und in Frage gestellt, worauf man sich eigentlich verlassen möchte.

2. Um welches Verlässliche, das angezweifelt werden soll, handelt es sich, und auf welche Weise wird es in Frage gestellt?

Wenden wir uns zuerst wieder den Klaviertasten zu und schlagen eine beliebige Oktave an, z. B. c' - c''. Sofern unser Klavier richtig gestimmt ist, vernehmen wir mit dieser Oktave jetzt die denkbar vollkommenste Konsonanz. Diese besteht zwar aus zwei verschiedenen Tönen. Aber wir nennen diese Töne mit dem gleichen Namen, denn sie stimmen für unsere Ohren musikalisch überein, d. h. sie treten uns als identische Tonwerte entgegen.[3] Ohne die Oktavgleichheit bzw. Oktavenäquivalenz, wie man dieses Wahrnehmungsphänomen nennt, erschiene uns der Tonraum als ungegliedertes Kontinuum ohne jegliche Orientierungsmarken. Der Zugang zur Musik bliebe uns verschlossen.

Schon vor gut zweieinhalbtausend Jahren hatte Pythagoras von Samos entdeckt, dass man die Länge einer Saite im Verhältnis 1:2 bzw. 2:1 verändern muss, um den Ton in der Unter- bzw. in der Oberoktave zu bekommen. (Die Frequenzen zweier Oktavtöne verhalten sich umgekehrt proportional zu ihren Saitenlängen.) Dieses einfache Zahlenverhältnis erklärt zwar nicht die Oktavenäquivalenz, weist aber immerhin die Oktave als prägnante musikalische Grundgestalt aus, die müheloser als sämtliche andere erinnert, wiedererkannt und identifiziert werden kann.

Wenn wir nun annehmen, das Intervall, das auf dem Zahlenverhältnis 2:3 bzw. 3:2 - der nächst einfachen Proportion also - beruht, müsse gleichfalls konsonant klingen, wenngleich nicht mehr ganz so «übereinstimmend» wie die Oktave, liegen wir vollkommen richtig. Schlagen wir die reine Quinte c' - g'[4] an, vernehmen wir zwar deutlich zwei verschiedene Tonwerte. Aber diese zwei Tonwerte stoßen sich nicht gegenseitig ab sondern ziehen sich regelrecht gegenseitig an. In der Quinte vollzieht sich gleichsam das principium individuationis des Tonreichs. Das Verhältnis der beiden Tonindividuen zueinander (in unserem Falle der beiden eigenständigen Tonwerte c und g) ist ein paariges und produktives, auf die Zeugung weiterer Tonwerte gerichtetes. Aus «pythagoräischer» Sicht könnte man von einer ebenso glücklichen wie fruchtbaren Ehe von Primzahl 2 und Primzahl 3 spchen.

Die Quarte, mit dem Zahlenverhältnis 3:4 die «jüngere Schwester» der Quinte, schließt die Lücke, welche die Quinte im Oktavraum zurück lässt. Wir vervollständigen auf dem Klavier den Quintsprung c' - g' um den Quartsprung g' - c''. Unser musikalischer Eindruck: etwas sinnvoll Begonnenes wurde sinnvoll zu Ende geführt. Natürlich handelt es sich hier noch nicht um eine richtige Melodie geschweige denn um ein fertiges Musikstück, aber doch um ein tragfähiges Grundgerüst für eine Melodie, ja sogar für ein ganzes Musikstück. Die Mathematiker würden nachrechnen und kämen zu dem Ergebnis: die Statik des zu errichtenden Gebäudes stimmt, denn (2:3) x (3:4) = 1:2 (Oktave)!

Bei aller Liebe zur Mathematik verlassen wir uns doch lieber zuerst auf unser Gehör und greifen wieder in die Tasten. Diesmal geht es um abwärtsgerichtete Tonfolgen, z. B. um eine fallende C-Dur-Tonleiter (c' - h - a - g - f - e - d - c). Wir spielen diese Tonleiter zweimal hintereinander: das erste Mal vollständig und ohne Zwischenstopp, vor dem zweiten Abspielen aber überlegen wir, auf welchem Ton eine Zwischenrast zweckmäßig wäre, wenn wir die Tonleiter in zwei Etappen abspielen wollten. Mit großer Wahrscheinlichkeit geht es uns jetzt gleich wie den alten Griechen, für die der Ton auf der Unterquarte (also das g) die Endstation der ersten Etappe und der Ton auf der Unterquinte (also das f) der Ausgangspunkt für die zweite Etappe des Tonleiterabstiegs war: wir gliedern die Tonleiter in zwei Tetrachorde (Viertongruppen). Das Rahmenintervall für jedes Tetrachord ist die Quarte, das Intervall, welches die beiden Tetrachorde von den Oktavtönen aus ineinander verklammert, die Quinte und das Intervall, welches schließlich wie eine schützende Schale das ganze Skalengefüge umschließt, die Oktave - harmonische Intervalle - wie man aus guten Gründen diese konstitutiven, die Statik einer Skala gewährleistenden Intervalle nennt.

Beim Ausfüllen der Quarte mit Ton stufen gingen die Griechen[5] folgerichtig von der Proportionsdifferenz zwischen Quinte und Quarte (2:3) : (4:3) = 8:9, also dem großen Ganztonschritt, als maßgeblicher Größe aus. Er ist das primäre Bauelement des Melodischen, «das tägliche Brot der Melodie».[6] Da nun aber zwei große Ganztonschritte nicht ganz ausreichen, eine Quarte auszufüllen, muss noch ein kleinerer Tonschritt hinzu treten, das Leimma. Rechnerisch gesehen bildet dieses Leimma, der Halbtonschritt, die Proportionsdifferenz zwischen Quarte und zwei großen Ganztonschritten, also (3:4) : [(8:9) x (8:9)] = 243:256. Eine aus zwei Tetrachorden zusammengesetzte Tonleiter (Skala) besitzt somit insgesamt acht Tonstufen. Die Abfolge von Ganz- und Halbtonschritten innerhalb der beiden Tetrachorde weicht von Skala zu Skala ab und ist verantwortlich für deren unterschiedlichen Ausdruckswert («Ethos») als Tongeschlecht («Modus»).

Im Dur-Moll-Zeitalter werden Tonleitern von unten nach oben gedacht. Damit wird die Mitte der Tonleiter nicht mehr von Unterquarte und Unterquinte sondern nur noch von der Oberquinte gebildet.[7] Und in noch einer Hinsicht muss die Quarte gegenüber der Quinte Federn lassen: die neu hinzu getretenen Dreiklangskonsonanzen - es sind die Naturterzen 4:5 (große Terz) und 5:6 (kleine Terz oder Rufterz) - werden von der Quinte und nicht von der Quarte umschlossen. Dass die Quarte damit aber nicht ins Abseits gedrängt wird sondern nur ein Prioritätentausch zwischen Quarte und Quinte stattfindet, zeigt sich daran, dass in Dreiklangsumkehrungen die Quarte als Stellvertreterin für die Quinte einspringt. Kurzum: auch im neuzeitlichen Dur-Moll-Zeitalter bleiben sämtliche drei Urkonsonanzen das, was sie schon immer waren: Grundkoordinaten für die Orientierung im Tonraum und verlässliche Garanten für die Stabilität der Statik von Skalen, welche wiederum fähig sind, ein schier unerschöpfliches Rohstoffreservoir nicht nur für Liedmelodien sondern auch für größere Gebilde wie Sinfonien und Opern abzugeben.

Soweit zu dem Verlässlich-Konstitutiven, welches der Tritonus in Frage stellt.

[...]


[1] Pfrogner, Hermann: Lebendige Tonwelt, München / Wien 1976, S. 265

[2] Hindemith, Paul: Unterweisung im Tonsatz, Mainz 1940, S. 106

[3] Der Begriff Tonwert im hier genannten Sinne geht auf Hermann Pfrogner zurück (in: Lebendige Tonwelt, S. 183ff.)

[4] Da auf einem gut gestimmten Klavier keine vollkommen reinen sondern nur «temperierte» Quinten gespielt werden können, empfiehlt sich der Rückgriff auf ein in naturreinen Quinten gestimmtes Saiteninstrument.

[5] und vor ihnen bereits die Babylonier im 2. Jahrtausend v. Chr., s. Kümmel, Hans-Martin: Zur Stimmung der babylonischen Harfe. In: Orientalia Bd. 39, 1970. Hinweis entnommen aus: Anwar Rashid, Subhi: Die Musik der Keilschriftkulturen. In: Neues Handbuch der Musikwissenschaft Band I (Hg.: Riethmüller, Albrecht und Zaminer, Frieder), Laaber 1996, S. 18

[6] Handschin, Jacques: Der Toncharakter, Zürich 1948, S. 230

[7] Die harmonische Teilung der Oktave in Unterquinte und Oberquarte ergibt sich wie folgt: Der Mittelwert von 8 und 4 (8:4 = Oktave) = 6. 4:6 = Quinte, 6:8 = Quarte.

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Details

Titel
Das Tritonus-Intervall. Bedeutung, Besonderheiten und Alternativen
Autor
Jahr
1999
Seiten
18
Katalognummer
V117522
ISBN (eBook)
9783640208562
ISBN (Buch)
9783656529859
Dateigröße
3676 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Festvortrag zur Verabschiedung von OStD Jürgen Spielkamp, Heidenheim, in den Ruhestand
Schlagworte
Tritonus
Arbeit zitieren
Dr. phil. Veit Gruner (Autor:in), 1999, Das Tritonus-Intervall. Bedeutung, Besonderheiten und Alternativen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/117522

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