Barebacking - "Eine neue Art des Lebens"?

Qualitative Untersuchung zum sexuellen Risikoverhalten homosexuell lebender Männer und dessen Bedeutung für ihre Identitätsbildung


Diplomarbeit, 2007

154 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einführung
1.1 Barebacking - Folge einer Normalisierung von HIV und AIDS?
1.2 Bareback – der Versuch einer Definition
1.3 Gegenwärtiger Stand der Forschung
1.4 Aktualität und Brisanz des Themas
1.4.1 Medienpräsenz
1.4.2 Persönliche Motivation und auslösendes Moment
1.5 Das Konzept Identität
1.5.1 Herangehensweisen an das Konstrukt in verschiedenen Ansätzen
1.5.2 Die konstruktivistische Sichtweise nach Heiner Keupp

2 Methodik
2.1 Die Netzwerkanalyse
2.1.1 Das egozentrierte Netzwerk
2.1.2 Methodisches Vorgehen
2.2 Das qualitative Interview
2.3 Auswahl der Interviewpartner
2.4 Die Auswertung
2.4.1 Die Grounded Theory als Ausgangsbasis
2.4.2 Einfluss der Netzwerkanalyse
2.4.3 Die Motivation der Interviewpartner als besonderer Auswertungsaspekt

3 Vorstellung der Interviewpartner
3.1 Stefan (40 Jahre, HIV-positiv): „Jeder hat für sich die Verantwortung zu übernehmen“
3.1.1 Kontaktaufnahme
3.1.2 Sein Netzwerk
3.1.3 Zusammenfassung des Gesprächs
3.2 Idefix (44 Jahre, HIV-negativ): „Barebacker – Selbstmörder auf Raten“
3.2.1 Kontaktaufnahme
3.2.2 Sein Netzwerk
3.2.3 Zusammenfassung des Gesprächs
3.3 Zenon (37 Jahre, HIV-positiv): „Ich denke, es gibt Einige (), die mich beneiden“
3.3.1 Kontaktaufnahme
3.3.2 Sein Netzwerk
3.3.3 Zusammenfassung des Gesprächs
3.4 Peter (30 Jahre, HIV-positiv): „HIV macht mir eigentlich nichts aus“
3.4.1 Kontaktaufnahme
3.4.2 Sein Netzwerk
3.4.3 Zusammenfassung des Gesprächs
3.5 Johannes (37 Jahre, HIV-positiv): „Ich bin ein einsamer Wolf“
3.5.1 Kontaktaufnahme
3.5.2 Sein Netzwerk
3.5.3 Zusammenfassung des Gesprächs
3.6 Michael (36 Jahre, HIV-positiv): „Sex der besonderen Art“
3.6.1 Kontaktaufnahme
3.6.2 Sein Netzwerk
3.6.3 Zusammenfassung des Gesprächs
3.7 Theo (64 Jahre, HIV-negativ): „Ich bin schwul und das ist gut so“
3.7.1 Kontaktaufnahme
3.7.2 Sein Netzwerk
3.7.3 Zusammenfassung des Gesprächs

4 Gefundene Kategorien der jeweiligen Interviewpartner zu ihrer Identitätskonstruktion
4.1 Verantwortungszuschreibung als entscheidendes Moment
4.1.1 Umgang mit HIV bei Stefan
4.1.1.1 Psychologischer Faktor der Angst
4.1.1.2 Verantwortungsbewusstsein
4.1.1.3 HIV-Wahrnehmung
4.1.2 Organisation von Sexualität
4.1.2.1 Bedeutung seiner Sexualität
4.1.2.2 Selektion von Sexualpartnern
4.1.3 Lebenskontexte
4.1.3.1 Selbstbeschreibung
4.1.3.2 Außenwahrnehmung
4.1.3.3 Zeitlichkeit
4.2 Risikomanagement durch Selektion der Sexualpartner nach Abfrage ihres Sexuallebens
4.2.1 Umgang mit HIV bei Idefix
4.2.2 Organisation von Sexualität
4.2.2.1 Bedeutung seiner Sexualität
4.2.2.2 Selektion von Sexualpartnern
4.2.3 Lebenskontexte
4.2.3.1 Selbstbeschreibung
4.2.3.2 Außenwahrnehmung
4.2.3.3 Zeitlichkeit
4.3 Bewusste Entscheidung für „besseren“ Sex mit all seinen Konsequenzen
4.3.1 Umgang mit HIV bei Zenon
4.3.1.1 Indirekt thematisierte Angst
4.3.1.2 Verantwortung
4.3.1.3 HIV-Wahrnehmung
4.3.2 Organisation von Sexualität
4.3.2.1 Bedeutung von Sex
4.3.2.2 Selektion von Sexualpartnern
4.3.3 Lebenskontexte
4.3.3.1 Selbstbeschreibung
4.3.3.2 Wahrgenommene gesellschaftliche Normen
4.3.3.3 Perspektiven als „Barebacker“
4.4 Sehnsucht nach „Leben“
4.4.1 Umgang mit HIV bei Johannes
4.4.1.1 Verantwortungsbewusstsein
4.4.1.2 HIV-Wahrnehmung
4.4.2 Organisation von Sexualität
4.4.2.1 Bedeutung von Sex
4.4.2.2 Wahl der Sexualpartner nach ausgestrahlter „Vitalität“
4.4.3 Lebenskontexte
4.4.3.1 Selbstbeschreibung
4.4.3.2 Außenwahrnehmung
4.4.3.3 Zeitlichkeit
4.5 Gemeinsame Absprache als Risikomanagement-Strategie
4.5.1 Umgang mit HIV bei Michael
4.5.1.1 Gemeinsame Verantwortung
4.5.1.2 Fehlende Todesangst
4.5.1.3 HIV-Wahrnehmung
4.5.2 Organisation von Sexualität
4.5.2.1 Bedeutung von Sex
4.5.2.2 Selektion von Sexualpartnern
4.5.3 Lebenskontexte
4.5.3.1 Selbstbeschreibung
4.5.3.2 Außenwahrnehmung
4.5.3.3 Zeitlichkeit
4.6 Selektion der Sexualpartner aufgrund eines HIV-Mythos
4.6.1 Umgang mit HIV bei Theo
4.6.2 Organisation von Sexualität
4.6.2.1 Bedeutung von Sex
4.6.2.2 Selektion von Sexualpartnern
4.6.3 Lebenskontexte
4.6.3.2 Außenwahrnehmung
4.6.3.3 Zeitlichkeit

5 Mögliche Determinanten einer „Barebacker“-Identität
5.1 „Labeling“-Effekt und daraus resultierende Gruppenbildung
5.2 Sexualität als wichtiger Bestandteil des Alltags
5.3 Subjektive Bedeutung der Sexualität
5.4 Risikomanagementstrategien
5.4.1 HIV-Coping
5.4.2 Illusionäre Kontrollwahrnehmung durch HIV-Mythen

6. Barebacking als „neue“ Lebensform

Literatur

Zeitungsartikel

Internetquellen

Fernsehbeitrag

Abbildung

Anhang

I. Netzwerkkarte

II. Interviewleitfaden

III. Gefundene Kategorien und Kodes

1 Einführung

1.1 Barebacking - Folge einer Normalisierung von HIV und AIDS?

„Gesetzt dem Fall, das Testergebnis stimmt, so werden Sie nach den vorliegenden, sozialepidemiologisch durchweg kaum aussagefähigen Studien und nach den bisherigen Erfahrungen in einem Zeitraum zwischen einem halben Jahr und unbekannt vielen, vielleicht zehn oder mehr Jahren, nach der/den Infektionen (nicht etwa nach dem Test) mit einer unbekannten Wahrscheinlichkeit Symptome (LAS/ARC) entwickeln und/oder am Vollbild AIDS erkranken. Die auf der Basis methodologisch vertretbarer Studien vorgenommenen seriösen Schätzungen für diese Wahrscheinlichkeit liegen zwischen 20 und 50 % für eine AIDS-Erkrankung nach 10 Jahren. Diese Quoten können sich durch eine längere Beobachtung der Krankheit sowohl nach unten als auch nach oben hin verändern. Wann die Krankheit ausbricht, wenn sie ausbricht, ist schwer zu sagen und hängt von weitgehend unerforschten Faktoren ab. Warum bei Ihnen, im Gegensatz zu einer unbekannten Anzahl anderer Menschen mit Viruskontakt, das Virus eingedrungen ist, weiß niemand. Die Existenz von Antikörpern in Ihrem Blut kann zweierlei bedeuten, entweder ist Ihr Immunsystem mit der (möglicherweise geringen) Anzahl eingedrungener Viren fertig geworden, oder, das ist wahrscheinlicher, in Ihrem Körper findet derzeit ein Auseinandersetzungsprozeß mit offenem Ausgang statt. Wie Sie den Prozeß in Ihrem Körper, wenn es ihn überhaupt gibt, beeinflussen können, weiß auch niemand. Lassen Sie sich da von den wie bei jeder medizinisch unbeherrschbaren Krankheit aus dem Boden schießenden Quacksalbern nichts vormachen. Wahrscheinlich ist es das beste, einfach gesund zu leben. Am wichtigsten sind vielleicht eine positive Lebenseinstellung und eine gesicherte soziale Existenz. Auch scheint die Angst vor der Krankheit die Krankheit befördern zu können, während emotionale Wahrnehmungs- und Ausdruckskraft, das Akzeptieren Ihrer Selbst und Ihrer Sexualität sowie insgesamt ein aktiver Umgang mit dem eigenen Leben und Krankheit bremsend oder verhindernd wirken können. Das ist allerdings leider nicht sehr spezifisch, denn dies gilt eigentlich als Lebensregel für jede Person und verbessert allgemein die Gesundheits- und Lebenschancen. Hinsichtlich der spezifischen AIDS-Prävention gelten die gleichen Regeln, die auch besser vorher für Sie gegolten hätten: Safer Sex und Einmalspritzen.

Wenn Sie irgendwann eine Symptomatik unterhalb‘ von AIDS entwickeln (LAS, ARC), so kann dies in einem unbekannten Zeitraum und mit einer nicht bestimmten Wahrscheinlichkeit später in AIDS übergehen. Sollten Sie zu der unbekannt großen Gruppe derer gehören, die irgendwann am Vollbild AIDS erkranken werden, werden Sie nach dem heutigen Stand des Wissens über palliative, symptomatische und kurativer Interventionsmöglichkeiten der Medizin mit einer Wahrscheinlichkeit von über 80 % an diesem Syndrom sterben.“ (Rosenbrock 1988, in: Kindler 1995, S.2)[1]

Noch Ende der 80er Jahre sollte nach Ansicht des Mediziners Rosenbrock ein Patient diese Auskunft von seinem Arzt erhalten, nachdem dieser ihm ein positives HIV-Antikörper-Testergebnis konstatiert hat. Diese Aneinanderreihung von Ungewissheiten und die unsichere Prognose schildern anschaulich die damalige Lage der HIV-Infizierten, die hauptsächlich durch Unschlüssigkeiten, Todesangst und Zweifel geprägt war. Der Patient war relativ hilflos und ohnmächtig seiner Diagnose ausgeliefert.

Mittlerweile aber hat sich die Situation HIV-Infizierter deutlich verändert. Die Perspektivlosigkeit der 80er und 90er Jahre weicht nach Sheon und Crosby (2004) einem zunehmenden „treatment optimism“ (ebd., S.2105). Anfang des 21. Jahrhunderts hat „AIDS (…) seinen Schrecken verloren“, wie das Magazin „Die Zeit“ am 25.11.2004 feststellt (ebd., S.15). Grund hierfür ist maßgeblich der bedeutende medizinische Fortschritt: 1996 wurden die ersten erfolgreichen Kombinationstherapien[2] neuer Medikamente durchgeführt, die bis heute angewendet und laufend durch verminderte Nebenwirkungen und verzögerte Resistenzentwicklungen verbessert werden. Dank dieser antiretroviralen Therapie steigen Lebenserwartung und Lebensqualität erheblich, da sie die Vermehrung von HI-Viren im Körper eindämmen. Diese sinkende Viruslast der HIV-Infizierten führt laut Robert Koch-Institut (RKI)[3] zu einem „Rückgang der Infektiosität und senkt damit die Übertragungsrate von HIV“ (RKI 2006, S.417). Aufgrund dessen und dem enorm verzögerten Ausbruch der Erkrankung erscheint vielen, wie man in „Die Zeit“ lesen kann, AIDS als eine „chronische, aber behandelbare Krankheit“ (ebd., Ausgabe vom 25.11.2004, S.16). Es findet sozusagen ein Wandel in der Einstellung gegenüber HIV statt, weg von der tödlichen Bedrohung, die von dem Virus ausgeht und in den 80er Jahren stark betont wurde, hin zu der Meinung, es sei eine chronische, aber behandelbare Krankheit.

Von einer Heilung der Immunschwächekrankheit und dem Syndrom AIDS kann man allerdings noch lange nicht spchen, in letzter Konsequenz droht nach wie vor der Tod. Zu der heute zu beobachtenden Unterschätzung der Erkrankung trägt auch bei, dass

„die Jugendlichen von heute – heterosexuelle wie schwule – den AIDS-Schock der achtziger Jahre nicht miterlebt haben. Sie kennen nicht mehr die ausgemergelten, dahinsiechenden Sterbenden aus den frühen Jahren der Epidemie.“ (Die Zeit, 25.11.2004., S.15)

HIV und AIDS werden infolgedessen als eine „Krankheit der Älteren“ (ebd., S.15) wahrgenommen, die für die Jugendlichen keine größere Bedrohung darstellt und ihren Alltag nicht oder nur kaum tangiert. Wolfgang Joop beschreibt dieses Desinteresse der heutigen Adoleszenz anschaulich in seinem Dossier „Sex auf Leben und Tod“, ebenfalls in „Die Zeit“ erschienen:

„Aids ist unmodern, war es von Anfang an. Schon als derSpiegel‘ das Thema vor 20 Jahren zum ersten Mal auf den Titel setzte, zeigte er einen Sensemann im Holzschnitt: pures Mittelalter. Und so wirkt die Seuche bis heute. Sie passt unserer Gesellschaft nicht in den Kram. Also denken die jungen Leute: Lasst uns in Ruhe mit eurer blöden Krankheit aus den Achtzigern!“ (ebd., 25.11.2004., S.15)

Diese sich wandelnde Einstellung gegenüber HIV und seinen Auswirkungen spiegelt sich auch in der homosexuellen Szene wider. Waren in den 80er Jahren HIV und AIDS noch ein Problem, welches die gesamte „Community“[4] betraf und allgemeines Thema war, so ist es heute eine individuelle Angelegenheit, die jeder einzelne Mann, der Sex mit Männern hat (MSM) - unabhängig davon, ob er sich selbst als Homosexuellen bezeichnen würde - mit sich selbst ausmachen und für sich allein lösen muss (vgl. Sheon 2004, S. 2106).

Als „Symptom“ (Wolitski 2005, S.11) dessen wird beobachtet, dass die Häufigkeit risikobehafteten Sexualverhaltens unter MSM immens angestiegen ist, wie verschiedene Studien berichten (vgl. Mansergh et al. 2002, Sheon et al. 2004, Halkitis et al. 2003). Michael Bochow nennt hierfür sogar genaue Zahlen: Er belegt, dass sich gerade der Prozentsatz der Männer, die sich auf Risikokontakte mit unbekannten Partnern einlassen, seit 1996 verdreifacht hat, wohingegen die Zahl der Männer, die Risikokontakte ausschließlich mit ihrem festen Partner eingehen, gesunken ist (vgl. Bochow 2004, S.40 ff.).

Auch das Robert Koch Institut konstatiert wie Bochow eine Verhaltensänderung in Deutschland: Mitte der 80er Jahre gingen die Zahlen der HIV-Neuinfektionen bei MSM deutlich zurück, was auf sinkende Partnerzahlen, eingeschränkte penetrierende Sexualpraktiken, Ausweichen auf Oralverkehr, Onanieren allein und in Gesellschaft sowie zunehmenden Kondomgebrauch zurückzuführen sei. Anfang der 90er Jahre hielt sich dann die Zahl der Neuinfektionen auf einem stabilen und im europäischen Vergleich niedrigen Niveau. Die Einführung der Kombinationstherapie HAART im Jahr 1996 hingegen zieht statistisch gesehen steigende Partnerzahlen nach sich, da nach Spekulationen des RKI die Sterblichkeitsrate HIV-Infizierter signifikant sinke und sich die Lebensqualität Infizierter immens verbessere, so dass auch das Verlangen nach sexueller Aktivität wieder ansteige. So wird bei vermeintlich serokonkordanten[5] Sexualpartnern immer öfter bewusst auf ein Kondom verzichtet (vgl. RKI 2006, S. 417).

Übersehen wird dabei, dass man sich trotz einer serokonkordanten Beziehung andere sexuell übertragbare Infektionen zuziehen kann. Gerade bei HIV-Positiven ist die Inzidenz solcher Krankheiten immens höher als bei HIV-Negativen. Das RKI führt im Jahr 2006 als eine Ursache hierfür, neben der Anfälligkeit für Krankheiten aufgrund des geschwächten Immunsystems, den „Kerngruppen“-Effekt an:

„Gemeint sind damit zahlenmäßig (…) begrenzte Gruppen von sexuell ausgesprochen aktiven Männern mit überdurchschnittlich vielen Sexualpartnern und einem hohen Anteil ungeschützter Sexualkontakte. Sexuell übertragbare Erreger zirkulieren hier intensiv.“ (ebd., S.418)

Die Konsequenzen in der Wende der Therapieverabreichung von HAART sind ebenfalls noch nicht zu erkennen. Wurde im Jahr 1996 noch nach der „Hit hard and early“- Strategie (RKI 2006, S.417) die medikamentöse Behandlung von HIV so schnell wie möglich begonnen, verlagert sich der Therapiebeginn zur Jahrtausendwende deutlich nach hinten, um die teils schwerwiegenden Nebenwirkungen dieser Medikamente, zum Beispiel eine mögliche Fettumverteilung, die so genannte Lipodystrophie, sowie massive Magen-Darm-Beschwerden und die einnahmebedingte Einschränkung des Alltags, zu reduzieren. Auffällig ist nur, dass Personen, die keine HAART erhalten, signifikant höhere Inzidenzen sexuell übertragbarer Krankheiten aufweisen, im Vergleich zu Personen, die diese Therapie erhalten (vgl., ebd. S.418).

Darüber hinaus setzen sich HIV-positive Männer in einer serokonkordanten Beziehung der Gefahr einer „Superinfektion“ aus. Dieser Begriff umschreibt die Entstehung immer resistenterer HIV-Stämme und deren Verbreitung, sowie dem Verlust von CD4-Zellen und damit der Möglichkeit, dass bei den Betroffenen opportunistische Infektionen eher einsetzen und damit das Vollbild AIDS schneller entwickelt wird (vgl. Halkitis et al. 2005a, S.28).

Von den zahlreichen Facetten des sexuellen Risikoverhaltens, die trotz der aufgezählten Risiken in der heutigen Zeit vermehrt auftreten, wie Bochow und das RKI konstatieren, rückt ab Mitte beziehungsweise Ende der 90er Jahre vor allem ein Phänomen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, das so genannte „Barebacking“. Ursprünglich ist mit diesem englischen Begriff, der aus dem Rodeo-Jargon stammt, das „Reiten ohne Sattel“ gemeint, im übertragenen Sinne „Sex ohne Kondom“. Eine andere Lesart jedoch könnte sein, dass man es als Bewegung zurück (= „back“) zu dem Nackten, Bloßen (= „bare“), beziehungsweise zu dem ursprünglichen Zustand interptiert, vor 1980, als es noch kein HI-Virus gab und Safer Sex kaum Thema war.

Diese sexuelle Praktik, die hauptsächlich die risikoreichste Form des Geschlechtsverkehrs in Bezug auf die Übertragung von HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten (STD)[6] darstellt, nämlich den beabsichtigten ungeschützten Analverkehr zwischen meist Homosexuellen[7] sowie dessen denkbarer Einfluss auf die Identitätsbildung des Praktizierenden, beziehungsweise die Möglichkeit einer „Bareback“-Identität, soll nun eingehender behandelt werden.

Ausgangsbasis für diese Arbeit soll die wissenschaftliche Definition nach Mansergh et al. (2002) sein, nach der „Bareback“ als unter Männern praktizierter, intentionaler, ungeschützter Analverkehr mit einer anderen Person als dem Primärpartner, also dem festen Lebenspartner, verstanden wird (vgl. ebd., S. 654). Der Schwerpunkt dieser Definition liegt dabei auf der sexuellen Praktik, die mit verschiedenen Sexualpartnern ausgelebt wird, unabhängig vom Beziehungsstatus des Agierenden.

Da wissenschaftliche Erkenntnisse jederzeit falsifizierbar sind, wird diese Definition gegebenenfalls im Verlauf der Untersuchung verändert, beziehungsweise revidiert, denn auch unter den Forschern ist man sich bis dato über eine exakte Eingrenzung beziehungsweise Bestimmung dieses Begriffs uneinig, wie aus dem Folgenden ersichtlich wird.

1.2 Bareback – der Versuch einer Definition

Aus den USA schwappte das Phänomen „Barebacking“ Ende des letzten Jahrtausends nach Deutschland über, welches nun immer mehr in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses rückt. Erstmalig wurde dieser Trend 1997 in einer Veröffentlichung über HIV-Positive explizit benannt (vgl. Gendin 1997 in: Parsons und Bimbi 2006, S.278). „Barebacking“ beinhaltet demnach den beabsichtigten, unsafen Sex mit wechselnden Partnern, nicht einen oder mehrere mögliche „Ausrutscher“, bei dem ein Kondom vergessen wurde, nicht unfreiwilligen Sex und nicht die „negotiated safety“ in einer Partnerschaft, bei der sich beide Partner darauf einigen, innerhalb der Beziehung ohne Verhütung miteinander zu schlafen, wohingegen bei anderen Personen außerhalb der Partnerschaft ein Kondom beim Geschlechtverkehr Pflicht ist (vgl. Parsons und Bimbi 2006, S.278). Die Forschung fokussiert dabei den ungeschützten Analverkehr, da Oralverkehr oder gegenseitige Masturbation in Bezug auf HIV und andere STDs als risikoarme beziehungsweise risikolose Praktiken bezeichnet werden können (vgl. RKI 2006, S.417). Die Zeitschrift „Our Munich“ (2007) gibt sogar an, das Infektionsrisiko bei Oralsex läge bei 0.56 Prozent. Dennoch wird von ungeschütztem oralem Verkehr eher abgeraten (vgl. S.9).

Darüber hinaus sollte jenes Verhalten unabhängig vom Serostatus der agierenden Person zu betrachten sein. Jemand, der „Bareback“ betreibt, kann also HIV-negativ, HIV-positiv oder von unbekanntem Serostatus sein (vgl. Mansergh, Marks, Colfax, Guzman, Rader und Buchbinder 2002, S. 653). Der Rückschluss, zwei MSM, die „Bareback“ betreiben, seien automatisch HIV-positiv, ist auch nach Meinung der Verfasserin nicht haltbar. Die Gefahr einer Ansteckung kann man(n) schließlich durch gewisse Strategien verringern, beispielsweise den „Rückzieher“ vor der Ejakulation. Allerdings ist die Möglichkeit einer „Barebacker“-Identität unter HIV-Negativen nach Parsons und Bimbi (2006) ein noch unerforschtes Feld (vgl. ebd. S.278).

In der Forschungsliteratur gibt es allerdings gewisse Unterschiede in der Definition von „Bareback“: Bei manchen Erklärungen wird der Aspekt der Absicht, ungeschützten Verkehr zu haben, zwar erwähnt, spielt aber für die Definition keine Rolle (vgl. Wolitski 2005, S.11) oder der unsafe Sex innerhalb einer Partnerschaft wird mit einbezogen (vgl. Halkitis, Parsons und Wilton 2003, S.352). Allerdings ist man sich auch in der „Gay Community“ sowie in der Alltagspsychologie der Laien uneinig über die exakte Definition des „Bareback“ (vgl. Parsons und Bimbi 2006, S.278). Die freie Internetenzyklopädie „Wikipedia“ zum Beispiel definiert jenen Begriff als bewussten, ungeschützten Analverkehr zwischen MSM, wobei der unsafe Geschlechtsverkehr innerhalb einer festen Beziehung mit eingeschlossen ist[8]. Halkitis (2005) führt eigens zu dieser Frage eine Studie durch, um sich einer einheitlichen Definition anzunähern, wobei diese Ergebnisse ebenfalls inkonsistent sind. Für manche ist beispielsweise „Barebacking“ jegliche Form ungeschützten Verkehrs, andere verstehen darunter ausschließlich ungeschützten Analverkehr unabhängig von der Intention (vgl. ebd., S. 43). Offensichtlich ist die Frage nach der Definition von „Bareback“ nicht einfach damit abzutun, dass es „bloß“ ungeschützter Geschlechtsverkehr unter Männern sei, sondern ist ein bei weitem diffizileres und tiefgründigeres Problem. Schließlich würde nicht jeder schwule Mann, der ungeschützten Verkehr betreibt, sich auch als „Barebacker“ bezeichnen.

1.3 Gegenwärtiger Stand der Forschung

Mansergh et al. (2002) und Halkitis et al. (2003) versuchen zunächst, das Phänomen „Barebacking“ in seiner demographischen Ausbreitung und seinem Bekanntheitsgrad zu erfassen, wobei sie zwar einerseits mögliche Erklärungen, wie eine tiefere Verbundenheit zwischen den Partnern, Drogenkonsum oder eine Ermüdung gegenüber Safer Sex -Kampagnen, für dieses Verhalten anhand eines quantitativen Fragebogens mit erheben, andererseits aber die Möglichkeit einer Identität noch nicht erfassen. Halkitis betont allerdings, dass „Barebacking“ und daraus folgende Dynamiken in einer partnerschaftlichen Beziehung komplex sind (vgl. Halkitis et al. 2003, S.352).

Um ein tieferes Verständnis für „Barebacker“ zu entwickeln, führen Holmes und Warner (2005) daraufhin eine qualitative Untersuchung durch, in der erstmalig der Symbolcharakter des Samenaustausches und psychische Dimensionen des „Bareback“sexes auch philosophisch erfasst werden sollen (vgl. ebd., S.11). Wichtigstes Ergebnis dabei ist, dass für jene Autoren „Bareback“ eine Dialektik von Sehnsucht und Gefahr darstellt (vgl. ebd., S.19). Die Vollendung des Sexes findet im Samenaustausch statt. Samen ist also mehr als nur ein Nebenprodukt und kann dabei auch den versteckten Wunsch nach einer Familie bedeuten (vgl. ebd., S.13). Allein die Idee der absoluten, ungehinderten Natürlichkeit des Sexes kann dem „Barebacker“ Lust verschaffen (vgl. ebd., S.14). Insgesamt stellen Holmes und Warner fest, dass „Barebacker“ genau wissen, was sie tun und was sie wollen (vgl. ebd., S.18).

Im gleichen Jahr versuchen Halkitis, Wilton, Wolitski, Parsons, Hoff, und Bimbi (2005a) die Identität eines „Barebackers“ quantitativ mit ihren demographischen und psychologischen Korrelaten zu erfassen. Bei dieser Studie, im Unterschied zu Halkitis` Untersuchung zwei Jahre zuvor, wurde allein anhand der Frage „Do you think of yourself as a barebacker?“ (ebd., S.28) den Versuchspersonen eine „Bareback“-Identität zugeschrieben oder nicht, abhängig davon, ob sie diese Frage mit ja oder nein beantworteten. Darüber hinaus erhebt er dazu keine eigene Stichprobe, sondern wertet die Daten der groß angelegten SUMIT-Studie von New York City und San Francisco neu aus (vgl. ebd., S.18). Dieses Vorgehen erscheint der Verfasserin als unzureichend, denn letztendlich ist es nicht nachvollziehbar, wie die Autoren aufgrund der Zustimmung zu einer einzigen Frage zu dem Sexualverhalten eines MSM auf so etwas komplexes wie eine Identität schließen. Die Konstrukte Identität und Sexualverhalten werden folglich nicht sauber getrennt.

Parsons und Bimbi (2006) widmen sich genau diesem Problem, denn nicht nur Halkitis, sondern auch andere Autoren gehen ihrer Meinung nach inhaltlich unsauber vor (vgl. ebd., S.278). Für eine genaue Erfassung einer möglichen „Barebacker“-Identität ziehen sie allerdings Ergebnisse vorangegangener Studien heran, die vor allem die „typischen“ Verhaltenskorrelate eines „Barebackers“ betreffen. Aufgrund dessen stellten sie die Hypothesen auf, dass sich eher HIV-positive Männer als „Barebacker“ identifizieren würden, sowie zu dem Konsum der Droge Crystal Methamphetamin, zu „compulsive sexual behaviors“ (ebd., S.277), zu Gruppennormen, die zu ungeschütztem Sex anhalten, und zu „sexual expectations“ (ebd., S.277), gerade unter Drogen- oder Alkoholeinfluss, neigen. Diese quantitative Studie untersucht Prävalenz und Prädiktoren einer „Barebacker“-Identität. Ein Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass die Autoren sich von ihrer Hypothese, HIV-positive Männer würden sich eher als „Barebacker“ identifizieren, distanzieren, denn die Verteilung der festgestellten „Barebacker“-Identitäten ist in ihrer Stichprobe sowohl bei den HIV-Negativen als auch bei den HIV-Positiven ungefähr gleich. Darüber hinaus scheinen der Drogenkonsum des Betroffenen, sein sexueller Drang und erstaunlicherweise sein romantisches Begehren stärkere identitätsstiftende Faktoren zu sein als bisher angenommen (vgl. ebd., S.280ff.). Parsons und Bimbi diskutieren ferner, ob die soziale Integration des MSM in seine bevorzugte homosexuelle Szene ein weiterer Einflussfaktor auf die Ausbildung einer „Bareback“-Identität ist. Somit wäre das Safer Sex -Verhalten des Einzelnen Ergebnis eines sozialen Prozesses. Je schwächer sich jemand mit der „Gay Community“ identifiziere, umso eher neige er dazu, sich auf sexuelle Risiken einzulassen. Generell können Parsons und Bimbi (2006) aber, sowie andere Autoren, beobachten, dass der Gruppendruck innerhalb der MSM weg von dem Appell zum Kondomgebrauch hin zu dem Gebot zum Bareback-Sex geht (vgl. ebd., S.284). Dawson, Ross, Henry und Freeman (2005) gehen bei ihrer Beschreibung einer möglichen „Bareback“-Identität in eine ähnliche Richtung wie Parsons und Bimbi. Dabei stützen sie ihre Meinung vor allem auf die Untersuchungen von Yep et al. (2002 in: Dawson 2005, S.77), die der Meinung sind, dass gerade sexuell beziehungsweise generell risikobereite MSM - so genannte „sensation seeker“ - und „sexuelle Abenteurer“ gerne das Tabu des ungeschützten Sexes in der schwulen Szene brechen würden, um so unsafen Sex zur Norm zu erheben. Das Phänomen der „Barebacker“ kennzeichne sozusagen einen Wandel in der Gemeinschaft der MSM, welcher die Grenzen des Safer Sex -Verhaltens und die Möglichkeit, sich neue Identitäten anzueignen, ausweite (vgl. Dawsons 2005, S.77).

Shidlo, Huso und Boaz (2005) hingegen erwähnen in ihrer quantitativen Untersuchung zur Einstellung HIV-negativer MSM gegenüber ungeschütztem Analverkehr die Möglichkeit eben erwähnter, veränderter Gruppennormen nur marginal. Nach Auswertung ihrer Ergebnisse kommen sie zu dem Schluss, die notwendigen und wichtigsten Komponenten, eine mögliche „neue“ Identitätsform wie die des „Barebackers“ auszubilden, seien die klare Absicht der jeweiligen Person, ungeschützten Analverkehr zu betreiben sowie ein fehlendes Reuegefühl gegenüber dieser Praktik des Geschlechtsverkehrs (vgl. ebd., S.121).

Folgende Tabelle fasst die wichtigsten Ergebnisse dieser vorangegangenen Studien zusammen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab.1: Zusammenfassung bisheriger Studien

Alle jene gesammelten Erkenntnisse sind für die Konzeption des Interviewleitfadens mit verwendet worden, der für vorliegende Untersuchung erstellt und angewendet wurde. So soll gewährleistet sein, dass eine mögliche „Barebacker“-Identität in all ihren Facetten möglichst umfangreich erfasst wird.

1.4 Aktualität und Brisanz des Themas

Auslöser für das gestiegene Interesse an der Sexualpraktik des „Bareback“ ist mit Sicherheit die Tatsache, dass das Robert Koch-Institut in seinem epidemiologischen Bulletin seit 2001 eine steigende Anzahl an Neuinfektionen mit HIV meldet, welche sich gerade letztes Jahr immens erhöhte und fast ausschließlich die Gruppe der MSM betrifft (vgl. RKI 2004/2006). Im ersten Halbjahr des Jahres 2006 liegt die Zahl der gemeldeten HIV-Neudiagnosen um circa 50% höher als noch zwischen 1999 und 2001, wobei die Gruppe der MSM den höchsten Wert seit 1993 erzielt. Besorgniserregenderweise stellen die MSM mit 62% der Neuinfizierten den größten und am kontinuierlichsten wachsenden Anteil dar, der sich nicht nur auf Großstädte beschränkt, sondern sich über alle Regionen Deutschlands hinweg ausweitet. Hervorstechend ist auch der Umstand, dass die Inzidenz der HIV-Neudiagnosen in der Altersgruppe der 30-39jährigen MSM seit 2003 absinkt, wohingegen die Inzidenz der 25-29jährigen drastisch ansteigt (vgl. RKI 2006b, S.1 f.). Darüber hinaus lässt sich verzeichnen, dass der Verkauf von Kondomen in Deutschland seit 2000 rückläufig ist, bis 2003 sank er von 207 Millionen auf 189 Millionen Stück. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass nicht nur Homo- sondern auch Heterosexuelle immer öfter das Risiko einer möglichen Ansteckung mit einer sexuell übertragbaren Krankheit eingehen (vgl. Die Zeit, 25.11.2004, S.15).

Diese erschreckenden Zahlen werfen natürlich die Frage auf, was Männer dazu verleitet, sich dem nicht geringen Risiko der Übertragung einer infektiösen Krankheit auszusetzen und „Bareback“ zu betreiben. Auffällig ist, dass dieser Trend mittlerweile kommerzielle Auswirkungen hat, das heißt, teilweise werden „Bareback“partys in homosexuellen Saunen, Clubs oder Bars veranstaltet, was auch politische Diskussionen anheizt, worauf später noch genauer eingegangen wird.

Mittlerweile haben vermeintliche „Barebacker“ allerdings differenzierte Verhaltensstrategien entwickelt, um einer möglichen HIV-Infektion scheinbar zu entgehen und so ihre Vorlieben auf Partys oder Privatveranstaltungen auszuleben. Zum einen zählt dazu das bereits angesprochene „Serosorting“, nachdem sich nur Sexualpartner mit dem gleichen - dem vermeintlich tatsächlichen oder so wahrgenommenen beziehungsweise gewünschten - Serostatus zu ungeschütztem Geschlechtsverkehr treffen. Erleichtert wird das Finden des entspchenden Partners durch die seit 2000 zahlreich entstehenden Internetportale und Kontaktforen, wie beispielsweise www.barebackcity.de oder www.gayromeo.com (vgl. RKI 2006, S.418). Als weitere angebliche Risikominimierungstaktik ist das „strategic positioning“ (Wolitiski 2005, S.20) anzuführen. Dabei wird bewusst auf eine Verhütung verzichtet, wenn der HIV-Positive den rezeptiven und der HIV-Negative den insertiven Part des Aktes übernimmt. Bei geschütztem Sex könne man jenes Muster dagegen nicht erkennen (vgl. Wolitiski 2005, S.20). Dieses Verhalten beruht nach Angaben des Robert Koch-Instituts 2006 allerdings auf einer markanten „Fehleinschätzung des HIV-Übertragungsrisikos auf den insertiven Partner beim Analverkehr“ (ebd., S.420). Hierbei wird fatalerweise übersehen, dass nicht nur Sperma und Vaginalsekret Überträger des HI-Virus sind, sondern auch die Flüssigkeiten der Darmschleimhaut (vgl. ebd., S.420).

Somit müssen nach Einschätzung der Verfasserin weiter reichende Faktoren zu diesem Sexualverhalten führen, als eine mögliche Normalisierung von HIV und AIDS. „Barebacking“ als Konsequenz von Leichtsinnigkeit, Lustlosigkeit, ein Kondom zu verwenden oder zügelloser Erregung zu betrachten, erscheint der Verfasserin als nicht treffend. So herrscht nach Ansicht vieler Menschen das Stereotyp vor, dass gerade promiskuitiv lebende MSM aus überschäumendem sexuellen Trieb auf ein Kondom verzichten und so das Verantwortungsbewusstsein, das sie sich und dem Partner gegenüber haben sollten, vergessen und nur nach dem ultimativen „Kick“ suchen (vgl. Die Zeit, 25.11.2004, S.16). Aber sind das wirklich die Gründe, die einen schwulen Mann augenscheinlich dazu verleiten, außerhalb seiner Partnerschaft kondomlosen Sex zu betreiben? Sind MSM wirklich so „triebgesteuert“?

Nach Zimbardo und Gerrig (1996) handle jeder Mensch nach einem „sexuellen Skript“, einem sozial erlernten „Programm“ sexuellen Verhaltens, welches man sich in lebenslanger Zeitspanne durch soziale Interaktion aneigne. Es enthalte implizite „Anweisungen“, wie mit dem jeweiligen Geschlechtspartner zu verfahren sei. Ferner heißt es,

„[d]ie Einstellungen und Werte, die in das sexuelle Skript eingebunden sind, stellen eine externe Quelle sexueller Motivation dar; sie geben mögliche bzw. akzeptierte Verhaltensweisen vor.“ (ebd., S.330)

Zusammenfassend sagen sie,

„Skripts sind Kombinationen von aus sozialen Normen abgeleiteten Vorschriften (was gehört sich und wird akzeptiert?), individuellen Erwartungen, und aufgrund von Erfahrungen bevorzugten Verhaltenssequenzen. Ein sexuelles Skript enthält nicht nur Szenarien dessen, was man für sich selbst als angemessen erachtet, sondern auch der eigenen Erwartungen an den Sexualpartner.“ (ebd., S.330)

Demnach wäre es ein voreiliger Schluss, „Bareback“-Verhalten allein auf unbedachtes sexuelles Verlangen zurückzuführen. Es beinhaltet eine externe Motivation, bestehend aus übergeordneten Lebenseinstellungen. Dieses Verhalten gehört damit zur jeweiligen Identität der agierenden Person und entsteht dieser Definition nach außerdem aus sozialen Normen, nicht allein aus „Hormonausschüttungen“.

Darüber hinaus werden die persönliche Bedeutung, die der Sex für MSM hat (vgl. Martin 2006, S.9 f.) und der Faktor, dass gerade die Sexualität des Homosexuellen eine starke und wichtige Komponente seiner Identität ausmachen kann, da er sich diese in einer heterosexuellen Gesellschaft meist hart und lebenslang erkämpfen muss (vgl. Edinger 2006, S.15 ff.), bei einer solchen vorurteilsbehafteten Betrachtungsweise eher übergangen.

1.4.1 Medienpräsenz

Das Thema „Bareback“ ist nicht nur in der wissenschaftlichen Forschung immer stärker vertreten, sondern auch Gegenstand aktueller Diskussionen in Politik und Presse. Eher unbekannte Politiker machten im Sommer 2004 dadurch auf sich aufmerksam, indem sie von den gesetzlichen wie privaten Krankenkassen insofern Leistungseinschränkungen fordern, dass MSM, die „Bareback“ betreiben, Therapie und Behandlung selbst bezahlen sollen. Diese Debatte beschäftigte letztendlich Bundestag und Bundesregierung, welche dann aber schließlich an dem Argument erlosch,

„dass auch Extremsituationen, die zu einer Erkrankung führen, Teil einer Solidar- und Versicherungsgemeinschaft sind und sogar sein müssen, weil Krankenkassen schlichtweg das Gesundheitsrisiko einer Gesellschaft in ihrer Gesamtheit abdecken“ (Boes 2005, S.5).

Zudem strahlte die ARD-Sendung „Report aus Mainz“ den Beitrag „Sexfalle Sauna-Club – Das AIDS-Virus breitet sich wieder aus“ am 28. November 2005 aus, in welchem die Frage aufgeworfen wurde, ob „Bareback“partys, die oft in Darkrooms oder Saunen stattfinden, für öffentliche Räume in Deutschland verboten werden sollten, wie es bereits in Österreich und in der Schweiz der Fall ist. Manch ein Politiker ließ sich aufgrund dieses Beitrages zu einer vorschnellen Deutung der steigenden Zahlen der HIV-Neuinfektionen hinreißen, indem „Bareback“-betreibende MSM hierfür verantwortlich gemacht wurden. So meinte die CDU-Bundestagsabgeordnete Kristina Köhler, dass es dem „Barebacker“ weniger an Aufklärung, sondern mehr an Einsicht fehle und infolgedessen gesetzliche Schritte angemessen seien (vgl. Bless 2006, S.8). Was solche Politiker übersehen, ist die Tatsache, dass „Barebacking“ beziehungsweise „Bareback“partys als Ursache für eine Neuinfektion bei Umfragen mit Infizierten nicht angegeben wird (vgl. RKI 2006a, S.2). Gemäß dem RKI 2006a scheint „[b]ewusstes Eingehen von offensichtlichen Infektionsrisiken (…) dabei [bei steigenden HIV-Neuinfektionszahlen, Anm. der Verf.] keine überragende Rolle zu spielen“ (ebd., 2006a, S.2). Anscheinend gibt es wohl kaum jemanden, der sich absichtlich ansteckt, beziehungsweise wissen Personen, die „Bareback“partys aufsuchen, um die Ansteckungsgefahr und verhalten sich dementspchend – entweder sie sind bereits HIV-positiv oder sie haben die Möglichkeit, ihre eigenen Schutzmaßnahmen, beispielsweise „Serosorting“ oder „strategic positioning“ zu ergreifen.

Am 2. Dezember 2006 berichtet die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ über einen von beiden Regierungsfraktionen beschlossenen Antrag zur Bekämpfung von HIV und AIDS, nach dem die Betreiber von Kontaktagenturen im Internet oder Organisationen kommerzieller Sex-Partys unter Strafe gestellt werden sollen, um in Deutschland eine fahrlässige Verbreitung der todbringenden Krankheit einzudämmen. Auch soll das Bewerben sowie die Unterstützung ungeschützten Geschlechtsverkehrs verhindert werden. Eine Umsetzung dieses Plans ist für das erste Halbjahr 2007 vorgesehen.

Ferner wird in den einschlägigen Magazinen der homosexuellen Szene das Thema „Barebacking“ regelmäßig und intensiv diskutiert. Im Mai 2006 startet die Zeitschrift Sergej zusammen mit der Münchner AIDS-Hilfe, dem Schwulenberatungszentrum SUB und dem HIV-Medikamentenhersteller Pfizer die Kampagne „Bleib negativ – es lohnt sich“ (vgl. ebd., S.11/S.32), die auf das Verharmlosen von HIV-Positiv-Sein reagiert. In einer A4 großen Anzeige werden zunächst mögliche Vorteile, drei an der Zahl, HIV-positiv zu sein aufgelistet, woraufhin die Nachteile angeführt werden, wobei es sich um 24 handelt (vgl. ebd., S.11). Diese Anzeige soll abschrecken, aber auch zum Nachdenken anregen (vgl. ebd., S.32). Die Kampagne geht sogar so weit, dass Workshops unter diesem Motto angeboten werden, die Informationen und Strategien vermitteln, negativ zu bleiben. Dazu bietet das Schwulenberatungszentrum SUB nun vierteljährlich kostenlose HIV-Tests, für Homo- wie Heterosexuelle, an, die auch Information und Beratung beinhalten (vgl. Sergej Oktober 2006, S.33).

Während die Pressemitteilungen der Zeitschriften, die sich an den homosexuellen Leser wenden, zum Thema „Barebacking“ versuchen, einen konstruktiven Zugang zu dieser heiklen Angelegenheit zu finden, aufzuklären und Vorurteile gegenüber Homosexuellen generell abzubauen, könnte man manchmal denken, die heterosexuelle Tagespsse würde Gegenteiliges erreichen wollen. So liest man in der Berliner Morgenpost vom 18.2.2007 den Artikel „Ich liebe dich zu Tode“, Autorin Britta Stuff, von MSM, die bewusst und vorsätzlich andere anstecken, sowie von solchen, die aktiv infizierte Personen suchen, um sich mit der tödlichen Krankheit anzustecken, so genannte Pozzer. Bedauerlicherweise lässt dieser Artikel durch die Aneinanderreihung extrem seltener Einzelfälle den Eindruck entstehen, dass ein solches fremd- und selbstgefährdendes Verhalten vermehrt zwischen Homosexuellen auftrete. Damit wird nach Ansicht der Verfasserin diese Gesellschaftsgruppe diskriminiert.

Man kann der aktuellen Diskussion entnehmen, wie verschieden emotional besetzt und brisant das Thema „Barebacking“ in den Medien ist. So wird es wie oben erwähnt in der Tagespsse als Bedrohung, nicht nur der homosexuellen Gruppe, sondern auch des Gesundheitssystems, dargestellt, wobei sich die Berichterstattung eher anklagend und vorwurfsvoll äußert. Szenemagazine hingegen enthalten sich dieser Wertung und wollen sich anscheinend aktiv der Problematik stellen, indem sie die Leserschaft mobilisieren, Aufklärungsarbeit leisten und zum „Hinschauen“ bewegen ohne den praktizierenden „Barebacker“ zu verurteilen.

1.4.2 Persönliche Motivation und auslösendes Moment

Von persönlichem Interesse ist das Thema „Barebacking“ und seine möglichen Auswirkungen auf die Identitätsbildung für mich, da viele meiner engsten und wichtigsten Freunde, männlich wie weiblich, homosexuell sind. Aufgefallen ist mir dabei, mit welchen vorschnellen, oftmals auch erniedrigenden Vorurteilen und Stereotypen gerade MSM zu kämpfen haben, und das, obwohl wir in den Zeiten einer zunehmenden „Wowereitisierung“ (Edinger 2006, S.9) leben, in der Homosexualität eigentlich kein Problem mehr sein sollte und auch Politiker offen schwul sein können. Eine ansteigende Akzeptanz beziehungsweise ein tieferes Verständnis der unterschiedlichsten Lebensweisen und der jeweiligen Beweggründe, darunter auch die eines „Barebackers“, halte ich daher für erstrebens- und wünschenswert. Ebenso meine ich, dass Sexualität ein spannendes Thema ist, welches man allerdings kontextbezogen betrachten sollte und nicht nur auf „niedere“ Triebe zurückführen sollte. Sex findet ebenso im Kopf statt. In ihrer Vielfalt hat Sexualität die unterschiedlichsten Bedeutungen, was den MSM oft nicht zugestanden wird, wenn man ihr Sexualleben auf bloßes Triebausagieren reduziert. Die noch zu erörternden Fragen, inwiefern das Thema HIV das Erleben, Verhalten und die Sexualität eines „Barebackers“ beeinflusst, ob diese Sexualitätsform Auswirkungen auf ihre Identität haben, und wenn ja, welche, macht „Barebacking“ nicht nur zu einer medizinischen und gesellschaftlichen, sondern auch zu einer psychologischen Angelegenheit.

Zwei Jahre, nachdem der Begriff „Bareback“ das erste Mal in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung aufkam, erschien der Artikel „They shoot barebackers, don`t they?“ (Gendin 1999), in welchem die These aufgestellt wurde, dass „Barebacking“ eine Persönlichkeitseigenschaft sei und damit auch so etwas wie eine Identität schaffe. Es wird also klar zwischen Verhalten und möglicher Identität differenziert, jemand der sich als „Barebacker“ bezeichnet, muss deswegen nicht das psychische Profil von jemandem mit einer ausgeprägten „Barebacker“-Identität haben (vgl. Halkitis et al. 2005b, S.4). Diese Ansicht wurde in der wissenschaftlichen Forschung bisher eher marginal untersucht und es erscheint lohnenswert, aus gegebenen genannten Umständen die Möglichkeit einer „Bareback“-Identität intensiver zu diskutieren. Da noch nicht feststeht, ob eine solche Identitätsform überhaupt existent ist, ist ein qualitatives Untersuchungsdesign, mit welchem man die individuellen Ansichten des Einzelnen flexibel und empathisch erfassen kann, dem quantitativen vorzuziehen.

Vorliegende Arbeit möchte die These Gendins eingehender beleuchten und anhand von sieben qualitativen Interviews mit „Bareback“-Praktizierenden erforschen, ob es so etwas wie eine „Bareback“-Identität überhaupt gibt, was diese gegebenenfalls genau ausmacht und wie sie sich auf das Leben des Einzelnen auswirkt. Interessant sind auch die Fragen, wie eine Person mit einer solchen Identitätsform, sofern sie vorhanden ist, in seinem sozialen Umfeld agiert, wie sich ihr soziales Netzwerk zusammensetzt, wie sie seine Sexualität wahrnimmt und bewertet und in welchen Punkten sie sich von einem „Durchschnitts“-Homosexuellen unterscheidet. Auch der Aspekt, inwiefern HIV bei jenen Gesprächspartnern eine Rolle spielt und inwiefern die Angst – oder vielleicht auch die fehlende Angst – vor dem Virus eine treibende Kraft darstellt, ist gerade in einem reflexiv-sozialpsychologischen Zugang zu diesem Thema von Interesse. Nicht nur die Sorgen und Nöte des jeweiligen Individuums stehen im Vordergrund, sondern auch die Wechselbeziehung zwischen der einzelnen Person und ihrer Einschätzung, wie „die Anderen“ sie wahrnehmen und auf sie reagieren, spielt dabei eine wichtige Rolle. All jenes versucht diese Arbeit mit Hilfe der Netzwerkanalyse und eines eigens hierfür zusammengestellten Interviewleitfadens näher zu ergründen.

1.5 Das Konzept Identität

„Wer bin ich, was macht mich aus?“ ist eine oft gestellte und vielfältig beantwortete Frage, die ursprünglich der Philosophie entstammt. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts setzt sich auch die noch junge Wissenschaft der Psychologie mit dieser alten Fragestellung auseinander, wie sich ein Individuum vom anderen unterscheidet und was es einzigartig macht. Identität versucht demnach die einmalige Persönlichkeitsstruktur, verbunden mit der Wahrnehmung, die andere von jener Struktur haben, zu erfassen. Allerdings konnte diese wissenschaftliche Disziplin bis heute noch keine empirisch überprüfbare Theorie zu diesem Konstrukt bilden, geschweige denn eine einheitliche Definition davon (vgl. Straus und Höfer 1997, S.270). Generell kann man allerdings sagen, dass sich unterschiedliche Herangehensweisen in der Psychologie herauskristallisiert haben, wie man das Konzept der Identität erfassen könnte (vgl. Höfer 2000, S. 175).

1.5.1 Herangehensweisen an das Konstrukt in verschiedenen Ansätzen

Die verschiedenen psychologischen Theorien zum Konstrukt Identität lassen sich unter drei Weltanschauungen zusammenfassen: Als erste Betrachtungsweise ist der Standpunkt des Vitalismus zu nennen. Er geht davon aus, dass Menschen über eine natürlich vorbestimmte Lebensenergie verfügen, die ihren Leben Sinn verleihe. Sie tragen also eine wahre Identität in sich und zu ihrer Lebensaufgaben zähle es, eben diese zu entdecken und ihr aktiv und willentlich zu folgen.

Die mechanistische Weltsicht wiederum vertritt ebenfalls die Meinung, alles Beobachtbare sei durch natürliche Gegebenheiten verursacht, andererseits aber reagiere der Mensch passiv auf jegliche Umstände. Aufgrund dessen sei Identität allein von äußeren Einflüssen abhängig, der Mensch werde das, was seine Umwelt ihm vorschreibt.

Konstruktivistische Annahmen schließlich haben die Ansicht, die Einheit Identität bestünde aus mehreren Teilen, wobei es eben auf die – individuelle und gesellschaftliche - Konstruktion genau dieser Teile ankäme. Wird die Struktur verändert, so verändere sich auch die Bedeutung der einzelnen Elemente. Der Mensch könne aktiv seine Identität entwickeln und dabei frei entscheiden, wer er werden will (vgl. Höfer 2000, S.175 f.).

Auf der Basis dieser Auffassungen entwickelten sich verschiedenste psychologische Erklärungsversuche. In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts stellt Erik Erikson seine Annahmen zu diesem Thema in seinem Stufenmodell psychosozialer Entwicklung vor. Identität ist bei Erikson ein Thema in der Phase der Adoleszenz. Am Ende dieser Phase müsse der Mensch ein Gefühl innerer Gleichheit und Kontinuität ausgebildet haben, wobei diese Gleichheit und Kontinuität für sein soziales Umfeld genauso wahrnehmbar sein soll, um für die Aufgaben der nächst höheren Stufe, dem Erwachsen-Sein, gewappnet zu sein. Entnommen werde dieses Gefühl aus der Integration bereits erlebter Kindheitserfahrungen der vorherigen Entwicklungsstadien und den aktuellen Anforderungen der Adoleszenz. Die Erfahrung von Selbstkonsistenz und die Erfüllung des Gefühls von „sozial anerkannter Eigenwirklichkeit“ (Schulz 1995, S.12) machen nach Erikson eine ganzheitliche Identität aus (vgl. Schulz 1995, S.11 ff.).

Frey und Haußer (1987) hingegen vertreten die Meinung, Identität entstünde aus situativen Erfahrungen, welche übersituativ verarbeitet und generalisiert werden würden. Es sei also ein selbstreflexiver Prozess der jeweiligen Person. Des Weiteren bestünde Identität aus einer kognitiven, einer emotionalen und einer motivationalen Komponente, welche demnach die situativ gebundene Selbstwahrnehmung, Selbstbewertung und personale Kontrolle seien. Diese würden dann vom jeweiligen Individuum verallgemeinert werden zu seinem Selbstkonzept beziehungsweise Selbstbild, Selbstwertgefühl und Kontrollüberzeugung, welche in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen (vgl. ebd. S.21).

Das gemeinsame Element all dieser Definitionen ist mit Sicherheit die Auffassung, Identität als subjektive Konstruktion eines Menschen über sein eigenes Wesen zu betrachten. Dieses Konstrukt ist immer sozial eingebettet, der Mensch ist dazu aufgefordert, seine Erlebnisse kohärent zu organisieren, um so seinem Lebenslauf Kontinuität und Besonderheit zu verleihen (vgl. Drewes, S. 7 ff.). Keupp (1997) nimmt dieses gemeinsame Element in seiner Definition auf (vgl. ebd., S.34 f.) und arbeitet es weiter in Bezug auf die Gegenwart aus, wie im Folgenden ersichtlich wird.

In Zeiten der Postmoderne sei das Ideal einer ganzheitlichen Persönlichkeit, welches oben erwähnte psychologische Ansätze indirekt postulieren, obsolet. Der Mensch sei durch die Möglichkeit, sich eine „Wahlbiografie“ (Keupp 2006) zu erschaffen, entwurzelt. Der Verlust traditioneller Stabilitäten im Zuge der Proteste von 1968 forderte einen Wandel tradierter Werte heraus. Selbstbestimmung, Mobilität, freie Wahl der Ausbildung, Hedonismus sowie Unabhängigkeit sind Werte der Postmoderne. Dieser Zugewinn neuer Lebensmöglichkeiten und die sich verändernden Anforderungen im Zuge von Modernisierungsprozessen hätten zu einem qualitativen Wandel in Stärke und Ausprägung der Identität geführt (vgl. Keupp 2002). Keupp vertritt eine Begriffsbestimmung von Identität, die die durch die Postmoderne ausgelösten Veränderungen in Werten und in der Gesellschaft berücksichtigt, sowie den Menschen als aktiv handelndes und selbstreflexives Individuum betrachtet. Diese Auffassung erscheint der Verfasserin aufgrund ihrer Aktualität, Flexibilität und ihrer sozialen Einbettung als angemessene Ausgangsbasis, um eine mögliche Identitätsform eines „Barebackers“ in der Gegenwart zu erfassen.

1.5.2 Die konstruktivistische Sichtweise nach Heiner Keupp

„Identität ist ein Projekt, das zum Ziel hat, ein individuell gewünschtes oder notwendiges Gefühl von Identität‘ (…) zu erzeugen. Basale Voraussetzungen für dieses Gefühl sind soziale Anerkennung und Zugehörigkeit. Auf diesem Hintergrund von Pluralisierungs-, Individualisierungs- und Entstandardisierungsprozessen ist das Inventar übernehmbarer Identitätsmuster ausgezehrt. Alltägliche Identitätsarbeit hat die Aufgabe, die Passungen (…) und die Verknüpfungen unterschiedlicher Teilidentitäten vorzunehmen. Qualität und Ergebnis dieser Arbeit findet in einem machtbestimmten Raum statt, der schon immer aus dem Potential möglicher Identitätsentwürfe bestimmte behindert beziehungsweise andere favorisiert, nahelegt oder gar aufzwingt. Qualität und Ergebnis der Identitätsarbeit hängen von den Ressourcen (…) einer Person ab, von individuell-biographisch fundierten Kompetenzen über die kommunikativ vermittelten Netzwerkressourcen bis hin zu gesellschaftlich-institutionell vermittelten Ideologien und Strukturvorgaben. Das Identitätsprojekt muss nicht von einem Wunsch nach einem kohärenten Sinnganzen bestimmt sein, wird aber von Bedürfnissen geleitet, die aus der persönlichen und gesellschaftlichen Lebenssituation gespeist sind. Insofern konstruieren sich Subjekte ihre Identität nicht in beliebiger und jederzeit revidierbarer Weise, sondern versuchen sich in (…) ein imaginäres Verhältnis zu ihren wirklichen Lebensbedingungen‘ zu setzen (…).“ (Keupp 1997, S.34 f.)

Identitätsbildung ist infolgedessen ein fortschreitender, lebenslanger und sich wandelnder Prozess, nicht wie zum Beispiel bei Erikson auf einen bestimmten Zeitabschnitt beschränkt. Es erfordere vom Individuum permanente Passungsarbeit zwischen seinem aktiven Handeln und den Reaktionen seines sozialen Umfeldes darauf, besonderes in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche, ausgelöst beispielsweise durch die Globalisierung. Um jener Anforderung gerecht zu werden, bedarf es wiederum der Fähigkeit zur Selbstorganisation und zum „Selbsttätigwerden“. Eine Ausbildung von Teilidentitäten, einer „Patchwork-Identität“, erleichtere eine gelingende Identitätsarbeit, bemessen an dem Gefühl der Authentizität und Sinnhaftigkeit im Inneren des Menschen sowie seiner Wahrnehmung der Anerkennung von außen. Demnach erfordere es aktives „Identitätsmanagement“, diese Teilidentitäten zu einer Metaidentität zu vereinen, in der trotz geforderten Wandels und Flexibilität der Person eine biografische Kontinuität erkennbar sein soll. Denn obgleich für eine aus mehreren Teilen bestehende Persönlichkeit, dem „Multioptions-Ich“, die Anpassungsfähigkeit an Trends und sich verändernde Verhältnisse selbstverständlich und hilfreich sei, herrsche doch das Ideal eines stimmigen und eigenen Ganzen. Eine „populäre Orientierung“ sei hierfür, sein Leben als „Projekt“ oder gegebenenfalls als „Gesamtkunstwerk“ zu betrachten. Diese Selbstbestimmungsmöglichkeiten, die vom Individuum Kompetenzen wie Ressourcen verlangen, beinhalten aber sowohl Chancen als auch Risiken. Der Mensch sei eigenverantwortlich auf sich gestellt (vgl. gesamte entlehnte Stellen, wo nicht anders vermerkt, Keupp 2002).

Ausgehend von der Keupp`schen Sichtweise soll in dieser Analyse die mögliche Existenz einer „Bareback“-Identität erforscht werden, die sowohl Risiken in sich bergen kann, nämlich die in der Mediendiskussion dargestellte soziale Unerwünschtheit dieses Phänomens, als auch die Chance, ein kohärent erzeugtes Identitätsgefühl zu produzieren beziehungsweise durch geleistete Identitätsarbeit eine in sich stimmige Identität auszubilden, bei der man im Einklang mit sich leben kann - trotz möglicher Erfahrung von Verurteilungen von außen. Die Frage, die sich hierbei stellt, ist, ob es sich dabei um eine Teilidentität handelt, einen Aspekt der „Patchwork-Identität“ des einzelnen Befragten, ob es eine aktiv ausgebildete, höher gestellte Metaidentität darstellt oder ob „Barebacking“ eine Anpassungsleistung auf sich verändernde gesellschaftliche Verhältnisse anzeigt. Hierfür werden in dieser Analyse den Teilnehmern Fragen nach ihrer wahrgenommenen sozialen Anerkennung, ihrem Zugehörigkeitsgefühl, ihrem Vorhandensein von sozialen Ressourcen, ihrer eventuell biografischen Entwicklung im „Bareback“-Verhalten, dessen Integration in den Alltag und mögliche daraus folgende soziale wie gesundheitliche Konsequenzen, sowie nach ihrer subjektiv empfundenen Lebenszufriedenheit gestellt. Interessant wird dabei auch der Aspekt sein, ob sich die Befragten für ihr Leben und ihr „Bareback“-Verhalten eigenverantwortlich fühlen – nach der Definition von Keupp müssten sie dies.

2 Methodik

Um zu eruieren, ob und inwiefern ein MSM, der „Bareback“-Sex vollzieht, eine Identität ausbildet, erscheint die Herangehensweise aus der Kombination eines qualitativen, halbstrukturierten Interviews und der Methode einer Netzwerkanalyse als das Vorgehen der Wahl sowie der Methoden-Triangulation qualitativer Forschung entspchend. Identität ist, unabhängig davon, von welcher erwähnten Theorie man ausgeht, immer eine subjektive Konstruktion der jeweiligen Person. Da man ein solches individuell verschiedenes Selbstkonzept schlecht verallgemeinern und quantitativ erfassen kann, ist eine Erforschung dessen im persönlichen Gespräch wohl am adäquatesten. So haben die Interviewteilnehmer die größtmögliche Freiheit, eigene Erfahrungen und Einstellungen mitzuteilen, wobei durch die halbstrukturierte Form gewährleistet ist, dass das Schwerpunktthema „Bareback“ in all seinen Facetten abgefragt und innerhalb der Stichprobe verglichen werden kann.

2.1 Die Netzwerkanalyse

Die subjektive Organisation der eigenen Erlebnisse und Werte hat großen Einfluss auf die Bewertung neuer Ereignisse sowie das Handeln darauf. Identität kann man demnach nicht losgelöst vom sozialen Umfeld betrachten, Handeln findet immer im Kontext sozialer Bezüge statt. Identitätsbildung ist demnach Teil eines sozialen Prozesses, wie Keupp bereits ausgeführt hat. Durch diesen Prozess wird Identität geformt und nicht nur allein subjektiv konstruiert, auch wenn die subjektive Theorie, die ein Mensch über seine eigene Person gebildet hat, eine Hauptkomponente von Identität ist (vgl. Drewes 1993, S.7 ff.). Berger fasst dies treffend zusammen:

„So unmöglich es dem Menschen ist, sich in völliger Vereinzelung zum Menschen zu entwickeln, so unmöglich ist es im auch, in der Vereinzelung eine menschliche Umwelt zu produzieren. Vereinzeltes Menschsein wäre Sein auf animalischem Niveau, das der Mensch selbstverständlich mit anderen Lebewesen gemein hat. Sobald man spezifisch menschliche Phänomene untersucht, begibt man sich in den Bereich gesellschaftlichen Seins. Das spezifisch Menschliche des Menschen und sein gesellschaftliches Sein sind untrennbar verschränkt. Homo sapiens ist immer und im gleichen Maßstab auch Homo socius.“ (Straus 2002, S.111)

Eine Netzwerkanalyse bietet eine sinnvolle Möglichkeit, diese sozialen Bezüge eines Individuums sowie sein gesellschaftliches Umfeld zu erfassen und gleichzeitig deren Bedeutung für den einzelnen abzufragen. Netzwerke können dem Menschen Vertrauen, sowie Anerkennung und das Gefühl von Zugehörigkeit entgegenbringen. Da anhand der Analyse so eine wichtige Komponente von Identität, beziehungsweise worauf der Interviewte sein Identitätsgefühl aufbaut, dargestellt werden kann, wird zu Beginn des Interviews eine Netzwerkanalyse mit dem mutmaßlichen „Barebacker“ durchgeführt. Weitere Vorteile, dieses psychologische Hilfsmittel kombiniert mit einem Interview durchzuführen, bestehen darin, dass diese Untersuchung mögliche Defizite des Interviewleitfadens ausgleichen kann, Ressourcen des Interviewten aufzeigt und an den Anfang gestellt einen für den Gesprächspartner angenehmen Einstieg in das spätere Interview verschafft (vgl. Scheibelhofer 2006, S.313 f.). Darüber hinaus bietet die Netzwerkanalyse als standardisiertes Verfahren gute Auswertungsmöglichkeiten.

2.1.1 Das egozentrierte Netzwerk

Für diese Untersuchung wurde die Form des egozentrierten Netzwerkes gewählt, da sie das soziale Netzwerk des Betroffenen, also all seine aktuellen positiven wie negativen Beziehungen, umfassend darstellt, hilfreich für den Dialog zwischen Interviewer und Interviewten ist, einfach sowie flexibel anzuwenden ist, den Interviewten zu Selbstreflexion anregt und eine hohe Vergleichbarkeit zwischen den Versuchspersonen besitzt. Darüber hinaus ist es für den Interviewer eine hilfreiche visuelle Stütze, komplexe Beziehungsmuster zu verstehen und richtig einzuordnen, da man jederzeit die Möglichkeit hat, nachzufragen (vgl. Straus 2002, S. 215 f.).

2.1.2 Methodisches Vorgehen

Jeder Interviewteilnehmer erhält eine Grundkarte im A3-Format, auf der sechs konzentrische Kreise um das umkreiste ICH in der Mitte angeordnet sind[10]. Der erste Schritt besteht darin, dieses Netzwerk in seine eigenen Lebensbereiche, die je nach subjektiver Bedeutung unterschiedlich groß ausfallen, zu unterteilen. Dazu erhält jeder folgende Anweisung:

„Im Folgenden geht es um dein Netzwerk, das heißt, all die Personen, mit denen du derzeit in Beziehung stehst, egal, ob in positiver oder negativer Art. Wir haben dazu eine Karte, in der um das ICH mehrere Kreise gezogen sind. Das ICH in der Mitte stellt dich dar. Wir können mit der Familie beginnen, den Freunden, Kollegen oder was dir sonst für Leute einfallen. Stell dir vor, dieses dein Netzwerk sei eine Torte und soll nun in mehrere Tortenstücke aufgeteilt werden. Wie groß soll beispielsweise das Stück ,Familie´, ,Freunde´ und so weiter werden? Wie viele Tortenstücke/Netzwerkbereiche soll es geben? Wir werden die Größe der Bereiche erst einmal mit beweglichen Markierungen stecken, welche du zu jeder Zeit verändern kannst.“ (vgl. Straus 2002, S.216 f.; leicht abgeändert von der Verf.)

Bevor der Proband sein Netzwerk mit Hilfe von Papierstreifen, die zuletzt festgeklebt wurden, in Bereiche unterteilt, wird er dazu ermuntert, vorher auf einem Blatt Papier seine wichtigsten Bezugspersonen aufzuschreiben, jene dann den einzelnen Segmenten zuzuordnen und diese dann auf die Netzwerkkarte zu übertragen. Danach sollen die Personen den einzelnen Bereichen auf der Karte zugeteilt werden, wobei die Interviewten diese auf Haftnotizzettel schreiben können, um deren Position auf der Netzwerkkarte ebenfalls jederzeit verändern zu können. Dafür wird nachstehende Aufforderung verwendet:

„Nun zeichne bitte all jene Personen mit Namen oder Kürzel ein, die dir in dem jeweiligen Netzwerkbereich wichtig sind. Wenn jemand sehr wichtig für dich ist, kommt er näher an das ICH, wenn er weniger wichtiger ist, weiter nach außen. Wenn dieselben Personen in zwei Bereichen auftauchen, kannst du sie auch gern doppelt einzeichnen.“ (vgl. Straus 2002, S.217; leicht abgeändert von der Verf.)

Abschließend werden zu den einzelnen Personen auf der Netzwerkkarte Fragen gestellt, um ein tieferes Verständnis für die einzelnen Beziehungen zu gewinnen. Dazu gehörten unter anderem die Fragen nach dem Alter und der Sexualität der aufgeführten Personen, wie die Beziehung zwischen ihnen und dem Interviewten beschrieben werden kann, seit wann Kontakt zu diesen Personen besteht und wie regelmäßig beziehungsweise in welcher Art dieser stattfindet. Zum Schluss wird der Interviewpartner noch gefragt, in welchem Sektor er die größte Unterstützung erfährt und ob es einem Bereich gibt, in welchem ihm Anerkennung besonders wichtig ist. Hinter dieser Frage steckt die Annahme, die aus den vorangegangen Studien geschlussfolgert wurde, dass ein „Barebacker“ die meiste Anerkennung im Bereich seiner sexuellen Kontakte suche und es ihm dort auch am bedeutsamsten sei, beliebt zu sein.

2.2 Das qualitative Interview

Bei dem Untersuchungsgegenstand, nämlich der Frage, ob und inwiefern eine „Barebacker“-Identität existent ist, handelt es sich um eine explorative Fragestellung, da hierzu wie bereits erwähnt kaum beziehungsweise nur lückenhaft Forschungsmaterial vorhanden ist. Aufgrund dessen und weil Narrationen allein es ermöglichen, persönliches Identitätsgefühl auszuführen (vgl. Höfer 2000, S.201), erscheint es der Verfasserin am sinnvollsten, die Netzwerkanalyse mit einem qualitativen Design, in diesem Fall mit einem halbstrukturierten, fokussierten Interview anhand einem hierfür kreierten Leitfaden, zu verknüpfen.

Das Ziel qualitativer Forschung liegt im „ methodisch kontrollierten Fremdverstehen “ (Hollstein 2006, S.17), welches die für den Probanden sinnhafte Struktur seiner sozialen Realität, seine Identität sowie den Kontext seiner Handlungen, dem ungeschützten Sex, nachvollziehen soll. Die Form des Interviews ist hierfür besonders geeignet, da es sich flexibel an die Bedürfnisse des Befragten anpassen lässt, subjektive Bedeutungsebenen mithilfe des Nachfragens transparent werden können und es durch den verbalen Zugang leichter ist, die persönliche Konstruktion der Identität des Einzelnen nachzuvollziehen. Man kann einfühlsamer auf den Befragten eingehen, ohne ihn im Erzählfluss zu stören (vgl. Drewes 1993, S.86f.). Zudem erleichtert aktives Zuhören von der Befragerseite aus, dass der Befragte sich angenommen fühlt, obgleich er vielleicht vermeintlich „sozial unerwünschte“ Themen und Erfahrungen anspricht, und es hilft, wesentliche Inhalte zu erfassen und zu generieren. Will man die persönliche Einzigartigkeit eines Menschen erfassen, der wichtigste Aspekt des Konzeptes „Identität“, ist eine Verwendung dieses qualitativen Designs nahezu Pflicht.

Der verwendete Leitfaden[11], der anhand der bereits erwähnten Studien, der Definition von Identität nach Keupp, dem noch laufendem Projekt „Positives Begehren“ von Phil Langer und Überlegungen der Verfasserin zusammengestellt wurde, beinhaltet dabei hauptsächlich offene Fragen zu Erlebnissen, sozialen Ressourcen, Einstellungen, Bedeutungsinhalten und Werten des Interviewteilnehmers. Er dient als ungefähre Richtlinie des Gesprächs und wird dem jeweiligen Erzählstrom angeglichen. Schwerpunkte sind dabei das jeweilige Sexualverhalten des Teilnehmers, seine Meinung und seine Erfahrungen zum Thema „Bareback“, sowie sein Wissen und sein Umgehen mit dem HI-Virus. Von besonderem Interesse wird die Beantwortung der Frage sein, ob der Gesprächspartner je Reuegefühle nach ungeschütztem Analverkehr hatte, da nach Shidlo et al. 2006 eine Verneinung dieser Frage ich-synton[12] mit einer „Barebacker“-Identität wäre (vgl. ebd., S.121 f.). Demographische Angaben werden ebenfalls erhoben.

Die zuvor angefertigte Netzwerkkarte bleibt während des Interviews zugegen, damit der Befragte in seinen Beschreibungen auch Bezug zu dort angeführten Personen nehmen kann und die Interviewerin vor Augen hat, von wem gegebenenfalls gerade berichtet wird.

Bei der Transkription der Interviews wurde beides – die Netzwerkanalyse sowie das Interview – wörtlich transkribiert. Nichtsprachliche Äußerungen wie Lachen, Unterbrechungen, Veränderungen im Tonfall und dergleichen gingen in die Verschriftlichung mit ein, nur zustimmende Äußerungen („mhm“) seitens der Verfasserin wurden weggelassen, da sie nur dem Erhalt des Redeflusses dienten. Auf sämtliche „Äh“s wurde ebenfalls aus Gründen der Lesbarkeit verzichtet.

2.3 Auswahl der Interviewpartner

Akquiriert wurden die Untersuchungsteilnehmer über das Internetforum www.gayromeo.com. Dieses Forum wurde www.barebackcity.de vorgezogen, da es der Autorin als geeigneter erschien, um eine möglichst repräsentative Stichprobe zu erlangen. Dort wurde in Absprache mit den Administratoren dieser Seite ein Profil („DieLMUsucht“) eingerichtet, dem die Internetuser entnehmen konnten, dass die Verfasserin Interviewpartner zum Thema „Bareback“ suche. Im Profiltext konnte man folgendes lesen:

„Liebe Community! Ich bin Student an der LMU, Department Psychologie, und suche für die Diplomarbeit einer guten Freundin (Cindy) Männer, die ungeschützten Verkehr mit anderen Männern haben, bzw. Leute, für die der Begriff "Bareback" kein Fremdwort ist.

In einem vertraulichen und ABSOLUT ANONYMEN Gespräch werdet ihr zu Euren Einstellungen in allen Lebensbereichen befragt. Ziel ist es, ein wissenschaftliches Bild über die Verbindung von Identität und Sexualität zu schaffen. Selbstverständlich erhaltet ihr auch eine Aufwandsentschädigung.

Eure Hilfe ist gefragt! Für Näheres schreibt mich einfach an. Ich und vor allem Cindy freuen uns drauf, euch kennen zu lernen! Euer Sebastian.“

Da diese Plattform ausschließlich für Männer gedacht ist und die Autorin dies respektiert, übernahm ein enger Freund unter dem Pseudonym „Sebastian“ die erste Kontaktaufnahme zu interessierten Männern.

Diejenigen Internetnutzer, die an dieser Untersuchung teilnehmen wollten, meldeten sich auf dieses Profil hin freiwillig, und nachdem abgeklärt wurde, ob sie tatsächlich Erfahrung mit ungeschütztem Verkehr hatten und sämtliche Fragen zum Ablauf und Wahrung ihrer Anonymität per Email-Kontakt beantwortet waren, wurde ein Termin zur Interviewdurchführung ausgemacht. Das Interesse an diesem Thema war enorm, viele User nahmen mit „Sebastian“ Kontakt auf, einerseits, um an der Untersuchung teilzunehmen, andererseits um im Chat mit ihm Erfahrungen und Meinungen zum „Barebacking“ zu berichten.

Von den sieben geführten Interviews fand eines in den Räumlichkeiten des Departments Psychologie statt, fünf in den Privaträumen der teilnehmenden Männer, und eines bei der Verfasserin zuhause. Die Interviewpartner waren zwischen 30 und 64 Jahre alt, fünf waren HIV-positiv, zwei HIV-negativ. Zwei Teilnehmer waren aufgrund ihrer HIV-Erkrankung nicht mehr berufstätig. Die Gespräche dauerten zwischen zweieinhalb und fünf Stunden. Alle Teilnehmer wurden dabei wiederholt vor der Durchführung um ihr Einverständnis gebeten, das Gespräch aufzuzeichnen, woraufhin jeder zustimmte, und nochmals über die Schweigepflicht der Verfasserin aufgeklärt. Abschließend erhielt jeder Untersuchungspartner eine Aufwandsentschädigung in Höhe von 50 Euro bar ausgezahlt, nur ein Interviewpartner verzichtete darauf. Leider liegen aufgrund technischer Schwierigkeiten nur sechs Transkripte der Dialoge vor, von einem musste ein Gedächtnisprotokoll über das gesamte Gespräch angefertigt werden; bei einem der sechs anderen fehlt aus den gleichen Gründen die Netzwerkanalyse, welche ebenfalls durch ein Gedächtnisprotokoll ersetzt werden musste.

2.4 Die Auswertung

Um die Sichtweisen der Befragten besser kennen zu lernen, wird versucht, sich asymptotisch an das Wissen des Feldes anzunähern, um das „grundsätzliche(…) Wissensgefälle“ (Heeg 1996, S.43) zwischen Befragten und Interviewer auszugleichen. Der Forscher soll reflektiert die wichtigsten Sichtweisen und relevante Inhalte aufarbeiten. Dabei dürfen die Interaktion zwischen beiden und mögliche daraus entstehende Dynamiken nicht außer Acht gelassen werden (vgl. Heeg 1996, S. 41 ff.). Generell sei es aber gerade in der qualitativen Forschung wichtig, sich von dem empirischen Phänomen leiten zu lassen, was diese Arbeit auch versucht (vgl. Breuer 1996, S.15).

2.4.1 Die Grounded Theory als Ausgangsbasis

Fundament der Auswertung wird für diese Arbeit die Grounded Theory[13], da sie als methodisches Regelwerk und strategische Vorgabe am geeignetsten erscheint, um die vorliegenden Transkripte auf die Frage hin zu analysieren, ob es eine Identitätsform des „Barebackers“ gibt und aus welchen Komponenten diese bestünde. Die Grounded Theory versucht, mit Hilfe genauester Untersuchung – durch induktives Entdecken, Kontrastieren und Schlussfolgern - sowie Interptation herausstechender sozialer Phänomene zu elaborierten Theorieentwürfen beziehungsweise neuen Erkenntnissen zu gelangen. Aspekte der Interaktion und der Dynamik zwischen Interviewer und Befragten fließen ebenfalls mit ein. Reaktivität ist hier also keine Störvariable, sondern eine Möglichkeit und kann Quelle neuer Einsichten sein. Darüber hinaus ist ein freizügiger, flexibler Umgang mit dieser Methode möglich (vgl. Breuer 1996 S.16 f.).

Die übliche Vorgehensweise besteht darin, das Interviewtranskript zunächst offen zu kodieren, das heißt, es wird in interptativer Detailanalyse auf seinen konzeptuellen Gehalt hin kodiert. So werden die gewonnen Daten auf die nächste Abstraktionsebene gehoben. Die sich daraus ergebenden empirischen Phänomene werden nach ihrer Wichtigkeit für das zu untersuchende Konstrukt ausgewählt. Daraufhin wird neues Material, weitere Interviews, im Hinblick auf die ausgewählten Kategorien selektiv kodiert, um so das Konstrukt weiterhin zu stabilisieren beziehungsweise zu elaborieren (vgl. Breuer 1996, S. 23 f.).

Da in vorliegender Untersuchung der Interviewleitfaden bereits nach Kategorien geordnet zusammengestellt wurde, erscheint diese bottom-up Vorgehensweise als unpraktikabel. Deswegen geschieht die Auswertung zunächst top-down. Um eine Informationsverdichtung herbeizuführen, wird also die Datenmenge im ersten Schritt auf die Kategorien reduziert, die als am bedeutsamsten erscheinen und durch den Leitfaden größtenteils bereits vorgegeben sind. Im Anschluss daran werden diese Kategorien mit Hilfe wichtiger Textpassagen aus den verschiedenen Interviews, den Kodes, deduktiv belegt. So entsteht ein „Auswertungsleitfaden“[14] für alle Interviews. Abschließend sollen diese Kategorien wieder induktiv zu Schlüsselkategorien des Konstruktes einer möglichen „Barebacker“-Identität zusammengefügt werden.

Dieser Analyse ist die Darstellung der einzelnen Interviewteilnehmer vorangestellt, bei der der Inhalt der einzelnen Gespräche gekürzt und zusammengefasst sowie ein Motto für den jeweiligen Mann formuliert wird.

2.4.2 Einfluss der Netzwerkanalyse

Wie bereits festgestellt, spielt das soziale Netzwerk eine entscheidende Rolle für das Entwickeln einer Identitätsform. Deswegen soll im Folgenden das gesamte Netzwerk jedes Interviewpartners analysiert werden, um zu sehen, inwiefern sich eine mögliche „Barebacker“-Identität darin widerspiegelt, wie mögliche Ressourcen der jeweiligen Person dargestellt werden, ob es Segmente gibt, die es vielleicht nur bei „Barebackern“ gibt, welchen Lebensbereichen besonderer Stellenwert eingeräumt wird und ob sowie inwiefern eine Grenzziehung zwischen den unterschiedlichen Lebenswelten stattfindet oder nicht (vgl. Höfer, Keupp und Straus 2006, S. 277 ff.).

Dies geschieht ausführlich im zweiten und dritten Teil der Auswertung, nach der Vorstellung der Gesprächspartner.

[...]


[1] Diese Mitteilung soll in einem medizinischen Aufklärungsgespräch einem symptomlosen Patienten seinen aktuellen Zustand nach einer Infektion mit HIV erklären. So soll ihm die Bedeutung des positiven Testergebnisses transparent gemacht werden, gemäß dem aktuellen medizinischen Stand der damaligen Zeit.

[2] „highly active anti-retroviral therapy“ (HAART); siehe www.hiv.net

[3] Robert Koch-Institut: Im Folgenden RKI

[4] „Community“ meint hier die Gemeinschaft der Homosexuellen

[5] Der Serostatus gibt an, ob gewisse Antikörper als Reaktion auf ein Antigen im Blut nachweisbar sind. Hier bedeutet der seropositive Zustand, dass der Betroffene HIV-positiv ist beziehungsweise seronegativ, dass er HIV-negativ ist. Serokonkordant meint, beide Männer in einer Partnerschaft haben den gleichen Serostatus. Das Gegenteil davon ist serodiskordant, demnach ist einer der beiden Partner HIV-positiv wohingegen der andere HIV-negativ ist.

[6] Sexually Transmitted Desease: Im Folgenden STD

[7] Unter Heterosexuellen wird dieser Begriff ebenfalls immer verbreiteter, als Bezeichnung für ungeschützten Sex mit einem anderen als dem Primärpartner (siehe www.poppen.de; Forumsbeiträge zum Thema „Barebacking“). Ob dieser Begriff allerdings die gleiche identitätsstiftende und in Bezug auf HIVdynamische Bedeutung hat wie bei Homosexuellen, gilt es noch zu erforschen.

[8] vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Barebacking

[9] Höhere Werte bei einzelnen Komponenten beziehen sich auf einen Vergleich mit Personen, die sich nicht als „Barebacker“ identifizieren.

[10] siehe Anhang, Punkt I

[11] siehe Anhang, Punkt II

[12] „Ich-syntonie beschreibt ein Phänomen aus der Psychopathologie. Das Verhalten und Erleben einer Person wird als ich-synton bezeichnet, wenn sie sich damit identifizieren kann, sie also ihr Verhalten als „zu sich gehörig“ empfindet.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Ich-Syntonie)

[13] übersetzt nach Breuer 1996 als „gegenstandsbegründete Theoriebildung“, S.16

[14] Auf jene gefundenen Oberkategorien und ihre jeweiligen Unterkategorien hin werden alle Interviews analysiert. Der so entstandene „Kodierbaum“ befindet sich im Anhang unter Punkt III.

Ende der Leseprobe aus 154 Seiten

Details

Titel
Barebacking - "Eine neue Art des Lebens"?
Untertitel
Qualitative Untersuchung zum sexuellen Risikoverhalten homosexuell lebender Männer und dessen Bedeutung für ihre Identitätsbildung
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Reflexive Sozialpsychologie)
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
154
Katalognummer
V117539
ISBN (eBook)
9783640199983
ISBN (Buch)
9783640205769
Dateigröße
1110 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Barebacking, Homosexuell, HIV-negativ, HIV-positiv, Identität
Arbeit zitieren
Dipl.-Psych. (Univ.) Cindy Bönhardt (Autor:in), 2007, Barebacking - "Eine neue Art des Lebens"?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/117539

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