Die Rohingya-Krise. Die Reaktion der UN auf die Unterdrückung einer ethnischen Minderheit in Myanmar


Bachelorarbeit, 2021

37 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis:

1. Einführung

2. Theoretische Einordnung: Der Transnationale Konstruktivismus
2.1. Grundannahmen des Transnationalen Konstruktivismus
2.2. Das Spiralmodell der Menschenrechte
2.3. Hypothesenformulierung
2.4. Methodisches Vorgehen und Operationalisierung

3. Deskription: Der Rohingya-Konflikt
3.1. Überblick des Konfliktes
3.2. Die Reaktion der UN-Hauptorgane

4. Analyse: Die Menschenrechtsverletzungen an den Rohingya
4.1. Scheitern des Aufbaus von advocacy coalitions in Myanmar
4.2. Das Spiralmodell in Bezug auf die Rohingya-Krise
4.3. Überprüfung der Hypothesen

5. Resümee

6. Kritische Reflexion

Literaturverzeichnis

Anhang

1. Einführung

„Eine der am stärksten verfolgten Minderheiten der Welt“ - so werden die Rohingya- Muslime von vielen Zeitungen betitelt. (The Economist 2015) Die Rohingya sind eine ethnisch-sprachliche und religiöse Minderheit, die ursprünglich aus dem nordwestlich gelegenen Bundesstaat Rakhine in Myanmar stammen. Die meisten Rohingya leben seit Generationen in dieser Region und betrachten sich als Staatsangehörige Myanmars. (IGFM 2020) Jedoch werden sie vom myanmarischen Staat nicht im Sinne des Staatsbürgerschaftsgesetzes von 1982 als einheimische Bevölkerungsgruppe anerkannt. Der Grund dafür ist, dass sie für „illegale Einwanderer aus Bengalen“ gehalten werden, die eine „Gefahr für den Buddhismus“ darstellen und dementsprechend keine Minderheitenrechte geltend machen können. Sie werden insofern als staatenlos angesehen. (Deutscher Bundestag 2017)

Myanmar ist seit 1948 Mitgliedstaat der Vereinten Nationen (englisch United Nations, kurz UN). (UNRIC 2020) Die UN hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Menschenrechte in ihren Mitgliedsstaaten zu schützen und ihre Einhaltung zu sichern.1 Als eines der wichtigsten Dokumente dafür gilt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR), die 1948 von den Mitgliedstaaten der UN in Paris unterzeichnet wurde. In Artikel 3 garantiert sie allen Menschen das „Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“. (Generalver­sammlung der Vereinten Nationen 1948)

Dies scheint jedoch nicht für die Rohingya-Muslime in Myanmar zu gelten. Beispielsweise sind viele Rohingya Verbrechen wie Massenvergewaltigungen und Mord, meist durch das Militär begangen, ausgesetzt. (Breitegger 2019) Die Vergehen sind so gravierend, dass man erwarten müsste, dass die UN alle möglichen Maßnahmen ergreift, um die Vertreibung und die Verbrechen an den Rohingya zu stoppen. Beispielsweise wäre eine Friedensmission, wie die United Nations Mission in Liberia (UNMIL), zu erwarten, um humanitäre Hilfe zu leisten. In Liberia war vor dem Einsatz der UN sowohl die Politik als auch der Alltag der Menschen durch ethnische Konflikte und Gewalt geprägt. (DGVN 2018) Wie im Laufe dieser Arbeit aufgezeigt wird, fällt im Vergleich dazu die Reaktion der UN auf die Unterdrückung der Rohingya, trotz der schweren Menschenrechtsverletzungen, relativ schwach aus. Vor diesem Hintergrund stellt sich folgende Forschungsfrage: „ Wie kann die verhaltene Reaktion der UN bezüglich der Menschenrechtsverletzungen an den Rohingya-Muslimen seit 2017 erklärt werden?“

In der Analyse werden hierfür die einzelnen Sekretariate der UN, welche nach Thomas G. Weiss die sogenannte „second UN“ bilden, im Zentrum stehen. Diese Sekretariate können nicht nur in Abgrenzung der einzelnen Mitgliedstaaten der UN gesehen werden - der sogenannten „first UN“ - sondern auch im Sinne von Weiss' Theorie als selbstständige Akteure. (Weiss et al. 2017: 2-5) So werden in dieser Arbeit die Hauptorgane der UN im Einklang mit der Theorie als Akteure betrachtet. Dabei wird insbesondere auf die Reaktion der Generalversammlung und des Sicherheitsrates eingegangen. Der Fokus liegt hierbei auf den ratifizierten Beschlüssen, wie beispielsweise auf den verabschiedeten Resolutionen. Weiterhin wird auch die Reaktion des Generalsekretärs und des Internationalen Gerichtshof auf die Rohingya-Krise betrachtet. Die Entscheidungen des Wirtschafts- und Sozialrats als Hauptorgan der UN werden wegen der mäßigen Relevanz in dieser Thematik ausgeklammert. Aufgrund des geringen Umfangs dieser Arbeit kann auch nicht auf die Reaktion der Nebenorgane wie des Menschenrechtsrats eingegangen werden, obwohl dieser das proaktivste Gremium im UN-System bezogen auf die Rohingya-Krise war. (Kourt 2020)

Mithilfe theoretischer Annahmen des Transnationalen Konstruktivismus nach der Forschungsgruppe Menschenrechte um Thomas Risse von 1998 soll die Reaktion der UN hinsichtlich der Rohingya-Krise erklärt werden. Im Rahmen dieser Arbeit werden zunächst die Grundzüge der Theorie dargestellt, wobei zunächst auf die Ausgangsbedingungen zur Internalisierung von Menschenrechtsnormen in einem Staat eingegangen wird. Weiterhin wird die Rolle internationaler Akteure wie der UN in diesem Prozess betrachtet. Danach wird das von der Forschungsgruppe entworfene Spiralmodell der Menschenrechte untersucht und die Bildung von Hypothesen anhand der Theorie vorgenommen. Diese Hypothesen werden bezüglich der Reaktion der UN auf die Rohingya-Krise seit 2017 getestet. Schließlich werden die Ergebnisse zusammengefasst, wobei untersucht wird, welche Defizite der theoretische Ansatz aufweist.

2. Theoretische Einordnung: Der Transnationale Konstruktivismus

2.1. Grundannahmen des Transnationalen Konstruktivismus

Der Transnationale Konstruktivismus wurde von der Forschungsgruppe Menschenrechte um Thomas Risse entwickelt und entstand aus einem Forschungsprojekt in Anlehnung an die AEMR von 1948. Das Forschungsprojekt untersuchte allgemein, inwiefern die Menschenrechtsnormen der AEMR in den Zielländern etabliert wurden und wie sie sich „auf das konkrete Verhalten von nationalen Regierungen gegenüber ihren BürgerInnen“ auswirkt. (Forschungsgruppe Menschenrechte 1998: 5) Der daraus abgeleitete Transnationale Konstruktivismus befasst sich mit den Bedingungen, unter denen bereits etablierte internationale Normen innenpolitisch umgesetzt werden. (ebd: 7)

Der Theorie des Transnationalen Konstruktivismus liegt die Logik der Angemessenheit zugrunde. Diese besagt, dass Akteure ihre Handlungen an Normen orientieren, die sich auf die internationale Ebene übertragen lassen. (Risse 2003: 10) Angelehnt an Jepperson et al. (1996) und Finnemore (1996) werden Normen dabei als „kollektiv geteilte Standards angemessenen Verhaltens auf der Grundlage gegebener Identitäten einer Gemeinschaft von Akteuren“ verstanden. (Jepperson et al. 1996: 54; Finnemore 1996: 23)

Die Kernannahme der Theorie besagt,

„daß die Diffusion und Durchsetzung internationaler Menschenrechtsnormen entscheidend davon abhängt, ob es transnational operierenden Menschenrechtsnetzwerken gelingt, zum einen westliche Staaten und deren öffentliche Meinung sowie internationale Organisationen zu mobilisieren [...].“ (Forschungsgruppe Menschenrechte 1998: 6)

Die Forschungsgruppe Menschenrechte fokusierte sich bei ihren Untersuchungen vorallem auf Normen, die „die Freiheit von staatlicher Repression“ behandeln. Insbesondere ist damit die „Freiheit von Folter, extra-legalen Hinrichtungen, Verschwindenlassen und Verhaftungen ohne Anklage oder Gerichtsverfahren“ (ebd.: 6) gemeint.

Die Sozialisation des Zielstaates gilt als entscheidende Bedingung für die Durch- und Umsetzung von Menschenrechtsnormen. Damit ist die Anwendung und Verortung von internationalen Normen innerhalb einer Gesellschaft gemeint. Allgemein setzt Sozialisation voraus, dass bereits eine internationale Gesellschaft existiert, die gewisse Standards setzt und in die Staaten als Akteure hinein sozialisiert werden. Im Verlauf dieses Prozesses kann geprüft werden, inwieweit Staaten institutionalisierte Normen aus ihrer sozialen Umwelt internalisieren. Dabei wird die Durchsetzung umso wahrscheinlicher, desto „anschlussfähiger“ eine Norm an bereits etablierte Denk- und Verhaltensmuster der innenpolitischen Praxis des Zielstaates ist. (vgl. ebd.: 7)

Die Theorie des Transnationalen Konstruktivismus geht davon aus, dass die Implementierung internationaler Normen wie Menschenrechte durch transnational operierende Netzwerke erfolgt. Die Netzwerke bestehen aus verschiedenen transnationalen Akteuren, die durch gemeinsame Werte und Überzeugungen zusammengehalten werden. (ebd.: 10) Sie kreieren eine Öffentlichkeit, die einen Diskurs in Bezug auf die Etablierung bestimmter Normen betreibt. Zu den transnationalen Akteuren können neben internationalen Nicht-Regierungsorganisationen (INGOs) und menschenrechtsfördernden Stiftungen auch Individuen, die für internationale Organisationen oder nationale Regierungen arbeiten, hinzugezählt werden. Auch den Medien wird im Transnationalen Konstruktivismus eine bedeutende Rolle zugeschrieben. (ebd.: 13) Durch den Zusammenschluss von mehreren Akteuren bilden sich schließlich die transnationalen Akteursnetzwerke. (ebd.: 10) Ein beständiger politischer Wandel kann nach Keck und Sikkink (1998) vor allem gewährleistet werden, wenn sich die Netzwerke in sogenannten advocacy coalitions formieren. Diese „sind als Netzwerke von individuellen und kollektiven Akteuren definiert, die verbunden sind durch gemeinsame Werte, einen gemeinsamen Diskurs und einen engen Austausch von Informationen und Dienstleistungen.“ (Keck/Sikkink 1998: 10)

Die Forschungsgruppe Menschenrechte legte bestimmte Erfolgsfaktoren fest, die den Zusammenschluss von advocacy coalitions beeinflussen. Die institutionelle innenpolitische Struktur („domestic structure“) eines Staates spielt eine große Rolle bei Prozessen politischen Wandels und dem Einfluss des transnationalen Netzwerks darauf. Sie gilt als eine Art „Opportunitätsstruktur“ (Kitschelt 1986: 58), die die Durchsetzung von Normen anreizt oder Hindernisse schafft. Weiterhin bestimmt die „domestic structure“ die Zugangspunkte („access points“) zum politischen System und trifft Aussagen darüber, inwiefern erfolgreiche Koalitionen („winning coalitions“) mit innerstaatlichen Akteuren gebildet werden. (Risse-Kappen 1995: 3-36) Diese haben die Funktion, politische Prozesse voranzutreiben. Die „domestic structure“ kann politischen Wandel aber auch verhindern.

Die Forschungsgruppe Menschenrechte geht davon aus, dass die Internalisierung von Menschenrechten nicht nur durch transnationale Akteure beeinflusst wird, sondern dass eine Verhaltensänderung (zum Beispiel Demokratisierung) auch mit einem grundlegenden Wandel der „domestic structure“ selbst einhergehen kann.

Weiterhin legt die Forschungsgruppe Menschenrechte die „materielle und soziale Verwundbarkeit der Zielstaaten“ als Erfolgsbedingung für advocacy coalitions fest. (Forschungsgruppe Menschenrechte 1998: 11) Dazu stellen Keck und Sikkink die These auf, dass der Erfolg der Internalisierung von Normen von der Stärke des Wunsches nach sozialer Anerkennung des Zielstaates von der internationalen Gemeinschaft abhängt. (Keck/Sikkink 1998)

Auf Seiten der transnationalen Netzwerke kann deren Dichte beziehungsweise Stärke als primäre Erfolgsbedingung für advocacy coalitions angesehen werden. Die Netzwerkdichte bezeichnet gewissermaßen die Kooperation zwischen den transnationalen Akteuren, sowie die Möglichkeit im transnationalen System in Interaktion mit der repressiven Regierung zu treten. Es wird vermutet, dass eine höhere Verbundenheit eines Netzwerks gleichermaßen die Chancen auf Erfolg hinsichtlich der Durchsetzung von Normen steigert. (vgl. ebd.) Jedoch ist kritisch anzumerken, dass empirische Untersuchungen, die eine Korrelation zwischen Netzwerkdichte und -stärke mit dem Einfluss belegen, bisher noch nicht existieren. (vgl. Forschungsgruppe Menschenrechte: 11)

Die Forschungsgruppe trifft zudem noch Aussagen über die sachbereichspezifischen Einflussfaktoren. Empirische Studien haben ergeben, dass sich „universalistische Themen wie körperliche Unversehrtheit oder soziale Gleichheit besser zur Mobilisierung von (internationalem) Protest eignen als kulturell gebundene Forderungen“ (ebd.; vgl. auch Keck/Sikkink 1998: 100; vgl. Brysk 1993: 265). Dabei wird vermutet, dass je stärker eine bestimmte Norm im internationalen Regelsystem integriert ist, desto größer ist der politische und moralische Handlungsbedarf des normverletzenden Staates bezüglich dieser internationalen Norm. (Forschungsgruppe Menschenrechte 1998: 11)

Bei schweren Menschenrechtsverletzungen fordern die transnationalen Akteursnetzwerke zunächst westliche Staaten und internationale Organisationen zum Handeln auf. Weiterhin ist es notwendig, dass transnationale Menschenrechtsnetzwerke eine konstante und intensive Verbindung zu der gesellschaftlichen Opposition im Zielstaat aufbauen. (vgl. ebd.: 7) Bei Erfolg gerät die Regierung in dem menschenrechtsverletzenden Staat „von oben“ und „von unten“ unter Druck. Im Zuge dessen werden die Denk- und Verhaltensweisen, die in der internationalen Gemeinschaft festgelegt sind, vom normverletzenden Staat adaptiert und internalisiert. Es soll erreicht werden, dass externer Druck zur Einhaltung der Menschenrechtsnormen nicht mehr notwendig ist. Somit wird im Rahmen der Theorie auch die Rolle internationaler Organisationen wie der UN untersucht, die sich an dem Sozialisationsprozess beteiligen. (vgl. ebd.: 6-8).

Die Theorie sieht einige Punkte vor, wie sich eine internationale Organisation wie die UN idealerweise verhält. Die Vereinten Nationen sind gemäß des Transnationalen Konstruktivismus verpflichtet, kollektive Ziele zu erarbeiten und angemessene Mittel zu deren Umsetzung anzuwenden. Somit kann auf internationaler Ebene ein Wandel alter Normen oder die Entstehung neuer Normen eingeleitet werden. Zudem kommt der UN bei der Vermittlung internationaler Normen eine zentrale Rolle zu, die sie durch Einbindung von transnationalen advocacy coalitions erfüllen kann. Demnach gilt die UN als „norm entrepreneur“ in der internationalen Gemeinschaft. (vgl. Rittberger et al. 1999: 17) Zudem hat sich das konstruktivistische Verständnis bezüglich Interventionen bei Menschenrechtsverletzungen stark gewandelt. Martha Finnemore betont, dass seit dem Kalten Krieg Staaten und internationale Organisationen wie die UN sich nicht nur im Recht, sondern auch in der Pflicht sehen müssen, bei Menschenrechtsverletzungen zu intervenieren. (Finnemore 2003: 2)

2.2. Das Spiralmodell der Menschenrechte

Um den Prozess der Institutionalisierung und Internalisierung von transnationalen Menschenrechtsnormen modellhaft darzustellen, entwickelte die Forschungsgruppe Menschenrechte ein „Spiralmodell innenpolitischen Wandels“. Das Modell, dem der norm life cycle als Basis dient, beschreibt reziproke Mechanismen zwischen gesellschaftlichen, transnationalen und internationalen Akteuren auf vier unterschiedlichen Organisations­ebenen. Um die Reaktion der UN auf die Rohingya-Krise zu analysieren, ist es sinnvoll, vor allem Untersuchungen auf der dritten Ebene anzustellen:

„1. Interaktionen zwischen normverletzenden Regierungen und der innenpolitischen Opposition;
2. nteraktionen zwischen der innenpolitischen Opposition und transnational operierenden Menschenrechtsnetzwerken;
3. Interaktionen zwischen den transnationalen Netzwerken und internationalen Organisationen sowie westlichen Staaten;
4. Interaktionen zwischen Akteuren in der internationalen Umwelt und den normverletzenden Regierungen.“ (vgl. Forschungsgruppe Menschenrechte 1998: 6)

Das Spiralmodell knüpft an den sogenannten „Bumerang-Effekt“ an. Dieser ist vergleichbar mit dem Wurf eines Bumerangs, der immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Er entsteht, wenn es zur Kontaktaufnahme zwischen den transnationalen Netzwerken mit den innerstaatlichen Oppositionsgruppen des repressiven Staates, sowie Menschenrechts­regimen kommt. Deren Ziel ist es wiederum, Druck auf die Regierung des repressiven Staates auszuüben. (vgl. ebd.: 12) Als Ausgangspunkt des Spiralmodells gilt das internationale Menschenrechtsregime. Dies besteht aus Institutionen, die Menschen­rechtsnormen befürworten und als verhaltensleitend ansehen. Zugleich existieren transnationale Menschenrechtsnetzwerke, die als normenfördernde Akteure gelten. Das Spiralmodell beschreibt den Sozialisationsprozess, der abgeschlossen wird, sobald die internationalen Menschenrechtsnormen im Zielstaat internalisiert sind. (ebd.: 13)

In der ersten Phase des Spiralmodells, der „Repression“, agiert eine repressive Regierung, die systematisch Menschenrechte verletzt. Die schwache innergesellschaftliche Opposition ist nicht in der Lage, einen politischen Wandel selbstständig einzuleiten. Das Ausmaß an Unterdrückung entscheidet darüber, ob die internationale Gemeinschaft von der Dringlichkeit des Konflikts erfährt. Gelingt es der Opposition, Informationen an transnationale Menschenrechtsnetzwerke weiterzugeben, findet eine Transition in die zweite Phase des Spiralmodells statt. (vgl. ebd.: 13)

In der Phase des „Leugnens“, setzt das transnationale Netzwerk den menschenrechts­verletzenden Staat auf seine Agenda. Vorraussetzung für diese zweite Phase des Spiralmodells ist ein zumindest minimaler Kontakt zwischen internationalen Organistaionen und lokalen Menschenrechtsgruppen. (ebd.: 13) Nur so kann eine Informationsverbreitung und Lobbyarbeit vor Ort vonstatten gehen. Das Ziel ist, dass „internationale Organisationen und westliche Staaten - beginnend bei der öffentlichen Meinung bis hin zu Entscheidungsträgern und nationalen Regierungen (ebd.: 12) mobilisiert werden. Um das zu erreichen, erfolgt der Hinweis auf die Pflicht zur Wahrung von Menschenrechten, die vor allem zur Identität der westlichen Öffentlichkeit gehört. Im Zuge dessen fangen transnationale Akteure an, die Menschenrechtsverletzungen zu politisieren, wodurch Druck auf die repressive Regierung ausgeübt wird. Diese reagiert meist damit, die Gültigkeit der Normen zu bestreiten. Die Kritik der Menschenrechtslage wird als Einmischung in die inneren Angelegenheiten verstanden und demnach zurückgewiesen. Wenn die Netzwerkmobilisierung zunimmt und der Druck auf den Staat wächst, ist der Übergang in die dritte Phase möglich. (vgl. ebd.: 15)

Auf die Anfangsphasen folgt die Phase „Taktische Konzessionen“, die sich durch einen langsamen Kontrollverlust der repressiven Regierung über die Diskurshoheit kennzeichnet. Aufgrund des zunehmenden Drucks „von oben“ (von den internationalen Akteuren) und „von unten“ (aus der innerstaatlichen Opposition), ist sie gezwungen, erste Zugeständnisse an ihre Kritiker zu machen. (ebd.: 15) Das wichtigste Ergebnis der dritten Phase ist die Verdichtung des transnationalen Netzwerks durch eine weitere Stärkung der innergesellschaftlichen Opposition. Daraus kann es in einigen Staaten zu einem Prozess der kontrollierten gesellschaftlichen Liberalisierung kommen, in dessen Verlauf sich die Elite spaltet und sich uneinig über das Ausmaß der Menschenrechtsreformen im Land ist. (O'Donnell/Schmitter 1986: 15-21) Wenn es das transnationale Netzwerk schafft, den Menschenrechtsdiskurs zur Basis der innerstaatlichen Opposition gegen die repressive Regierung zu machen, ist die Transition in die vierte Phase möglich. (Forschungsgruppe Menschenrechte 1998: 16)

Die vierte Phase, der „präskriptive Status“, wird durch einen realen Wandel gekennzeichnet. Die normverletzende Regierung wird von einer mobilisierten nationalen Opposition unter Druck gesetzt, die mit transnationalen Netzwerken verbunden ist. Es kommt daher entweder zu einem Verhaltenswandel der Regierung oder zu einem Machtwandel, der durch einen Regierungswechsel eingeleitet wird. Die Menschenrechte im normverletzenden Staat nehmen einen präskriptiven Status an, „wenn Akteure sich regelmäßig auf die Norm beziehen, um ihr eigenes Verhalten und das der anderen zu beschreiben und zu kommentieren, sind die Geltungsansprüche dieser Norm nicht länger kontrovers, selbst wenn das tatsächliche Verhalten weiterhin die Regeln verletzt.“ (ebd.: 16) Somit akzeptiert die Regierung die allmählich die Gültigkeit der Menschenrechtsnormen. Es kommt zu einer Verankerung im nationalen Recht und der nationalen Praxis.

Die letzte Phase „normgeleitetes Verhalten“ wird nur erreicht, wenn die Norm sehr lange eingehalten wird, ohne weitere Menschenrechtsverletzungen zu begehen. Bei Verbesserung der Menschenrechtssituation kommt es zu einer Abnahme der Netzwerkmobilisierung, da sich Ziele in die Realität umsetzen lassen. Der Staat wird zum „norm entrepreneur“, indem er die Norm internalisiert hat und sich für deren Einhaltung einsetzt. Jedoch gilt auch in der letzten Phase, dass ein dauerhafter Wandel der Menschenrechtssituation weiterhin Druck „von oben“ und „von unten“ erfordert. (ebd.: 17)

Das Spiralmodell der Menschenrechte gibt einen idealtypischen Verlauf für die Internalisierung von Normen an. Der „Bumerang-Effekt“ ist zu beobachten, wenn es den innergesellschaftlichen Oppositionsgruppen gelingt, sich mit den Akteuren, die das globale Menschenrechtsregime aufrechterhalten, in Verbindung zu setzen. Dies sind vor allem die transnationalen Netzwerke, sowie die internationalen Menschenrechtsorganisationen. Diese beginnen, die repressive Regierung „von außen“ unter Druck zu setzen, beispielsweise im Fall der UN durch eine Resolution zugunsten der Achtung von Menschenrechten. Währenddessen verbünden sich nationale Oppositionsgruppen mit internationalen Akteuren zu transnationalen advocacy coalitions, die den normverletzenden Staat zu einem Verhaltens- und Politikwandel bewegen wollen. Weiterhin soll die innerstaatliche Opposition von diesen internationalen Gruppen unterstützt werden. Somit entsteht ein Druck-Wirkungsmechanismus auf die repressive Regierung. (vgl. ebd.: 11)

2.3. Hypothesenformulierung

Aus der Theorie des Transnationalen Konstruktivismus lassen sich Hypothesen bezüglich der Reaktion der UN auf die Rohingya-Krise ableiten:

Die Unterdrückung der Rohingya zeigt, dass in Myanmar noch kein funktionierendes Menschenrechtsregime existiert. Laut der Theorie des Transnationalen Konstruktivismus trägt die Bildung von advocacy coalitions maßgeblich zur Internalisierung von Menschenrechtsnormen bei, da somit innerstaatliche mit außerstaatlichen Akteuren verbunden werden. (Keck/Sikkink 1998) Die erste Hypothese verknüpft die Bildung von advocacy coalitions mit der Beteiligung der Vereinten Nationen im Rohingya-Konflikt: „ Die UN greift im Rohingya-Konflikt nicht ein, da in Myanmar keine advocacy coalitions gebildet werden“. Mit „Eingreifen“ ist hier eine militärische Intervention zur Sicherstellung der Einhaltung von Menschenrechten gemeint.

Die innerstaatliche Sozialisation wird als entscheidende Voraussetzung für die Bildung von advocacy coalitions und damit für die Durchsetzung internationaler Menschen­rechtsnormen gesehen. Im Zuge des Sozialisationsprozesses sollen sich die Zielstaaten institutionalisierte Verhaltensweisen aus ihrer sozialen Umwelt aneignen. (Forschungsgruppe Menschenrechte 1998: 10) Somit lautet die zweite Hypothese: „ Die Bildung von advocacy coalitions kommt nicht zustande, da es in Myanmar keine innerstaatliche Sozialisation entsprechend der Menschenrechtsnormen gibt.“

Vertreter der Theorie sehen die UN als Teil eines Transnationalen Netzwerks an, deren Aufgabe es ist, normenfördernd zu handeln. Somit wäre es nach der Theorie erwartbar, dass die UN und insbesondere der UN-Sicherheitsrat sich für die Durchsetzung der Menschenrechtsnormen einsetzen. (vgl. Rittberger et al. 1999: 17) Da es in Myanmar aber seit Jahren zu einer Unterdrückung der Rohingya kommt, liegt die Vermutung nahe, dass sich die UN nicht an Menschenrechtsnormen hält. Seither ist Myanmar in der zweiten Phase des Spiralmodells verortbar. Somit lautet die dritte Hypothese: „ Die UN kommt ihrer Rolle als norm entrepreneur nicht nach, weshalb es Myanmar nicht gelingt, auf die dritte Stufe des Spiralmodells („Taktische Konzessionen“) vorzurücken.“

Diese Hypothesen werden im Folgenden im Hinblick auf die Reaktion der Vereinten Nationen auf die Unterdrückung der Rohingya überprüft.

[...]


1 Vgl. dazu Charta der Vereinten Nationen Art. 1, 13 verfügbar unter https://www.un.org/en/about-us/un- charter/full-text

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Die Rohingya-Krise. Die Reaktion der UN auf die Unterdrückung einer ethnischen Minderheit in Myanmar
Hochschule
Universität Passau
Note
1,3
Autor
Jahr
2021
Seiten
37
Katalognummer
V1175544
ISBN (Buch)
9783346596109
Sprache
Deutsch
Schlagworte
United Nations, Myanmar, Aung San Suu Kyi, Transnationaler Konstruktivismus
Arbeit zitieren
Eva Hörmann (Autor:in), 2021, Die Rohingya-Krise. Die Reaktion der UN auf die Unterdrückung einer ethnischen Minderheit in Myanmar, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1175544

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