Deutsche Erinnerungen an den Streik im sowjetischen Sonderlager WorkutLag im Sommer 1953. Lieber tot als Sklave


Hausarbeit (Hauptseminar), 2021

31 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretischer Hintergrund

3. Historische Kontextualisierung

4. Quellenkritik

5. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Das Jahr 1953 symbolisiert einen Moment des Schocks und der Neuorientierung innerhalb der Sowjetunion: Der Tod Stalins versetzte nicht nur das Politbüro und die sowjetische Bevölkerung in Erschütterung, sondern auch in den weit abgelegenen sowjetischen Straf- und Arbeitslagern gärte Aufruhr. In Norilsk und Karaganda kam es beispielsweise schon im Frühling 1953 zu organisiertem Protest und Auseinandersetzungen zwischen Gefangenen und Wachpersonal. Wenige Wochen später legten auch Häftlinge in Workuta die Arbeit nieder, der Streik wurde allerdings in kürzester Zeit von sowjetischen Truppen niedergeschlagen. Doch das Wort Streik wurde für die Zwangsarbeiter im WorkutLag zum selbstbewussten Kampfbegriff.

Im Rahmen des Seminars trägt die vorliegende Forschungsarbeit dazu bei, Widerstandsgeschichte und Arbeitergeschichte im Kontext des sowjetischen Straflagersystems der 1950er Jahre zu verbinden und eine kritische Forschungsperspektive auf Erinnerungen deutscher Gefangener an den Häftlingsstreik im Sommer 1953 im WorkutLag vorzustellen. Der GULag in Workuta fungiert dabei als historisch bedeutsamer Ort, an dem mehrdimensionale Themengebiete zusammenfließen: Die Unterbringung von Gefangenen unterschiedlicher Nation, eine vom Nationalsozialismus abgekoppelte Geschichte der Zwangsarbeit, staatliche Repression in Form von isolierter Gefängnisstrafe sowie die soziologische Komponente der aktiven Handlungsfähigkeit von unterdrückten Gesellschaftsgruppen. Der Fokus auf das spezifische Sonderlager in Workuta und auf die Erinnerungen deutscher Insassen an den Streik als historisches Ereignis verhilft zu einer analytischen Zusammenführung deutscher und sowjetischer Geschichte.

Außerdem reiht sich die vorliegende Forschungsperspektive auf widerständiges Verhalten in die Geschichte von politischen Häftlingsaufständen in Gefängnissen (Attica, New York State, 1971) und in Arbeits- sowie Vernichtungslagern (Treblinka und Sobibór, Polen, 1943) ein. In dieser Arbeit erinnern sich zwar individuelle Protagonisten an den Häftlingsstreik in Workuta, doch bewegen sich ihre Erlebnisse auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene. Das System GULag muss als eigenständiges historisches Phänomen gefasst werden, welches gleichzeitig an eine übergeordnete Kritik an Straf- und Gefängnissystemen anschließen kann, die auf Zwangsarbeit und Gewalt fußen. Zudem soll an dieser Stelle auf eine differenzierte Erinnerungspolitik aufmerksam gemacht werden, welche organisierte Arbeitskämpfe unter Haftbedingungen in den Vordergrund rückt. Die historische Aufarbeitung von Häftlingserhebungen solcher Art muss darüber hinaus den Begriff der (Zwangs-)Arbeit ins Zentrum stellen: Die Arbeit im Bergwerk oder in Fabriken war zentraler Lebensbestandteil der GULag-Häftlinge, daher fungiert der Arbeitsstreik als logische Reaktion auf unmenschliche Lebens- und Arbeitsbedingungen und als einziges Mittel der politischen Betätigung, um eine Veränderung ihrer Verhältnisse zu erreichen. Der politische Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital wurde in den sowjetischen Arbeitslagern nämlich nicht aufgehoben − wie es sozialistische Politik anstrebt − sondern in sein Extrem verkehrt. Das System GULag verkörperte die Verzahnung politischer Verfolgung ausgewählter sozialer Gruppen und ihrer ökonomischen Ausbeutung als kostengünstige Arbeitskräfte für die nationale Wirtschaft.

Zugleich muss darauf hingewiesen werden, dass in der vorliegenden Arbeit Widerstandbewegungen in der Sowjetunion nicht romantisiert oder verherrlicht werden. Dennoch soll das Augenmerk daraufgelegt werden, dass es unterschiedliche Formen von Widerstand in der Sowjetunion gab und diese besonders in den Straf- und Arbeitslagern nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Hiermit soll politische Sichtbarkeit und eine kritische sowie sensible Einordnung dieser Widerstandsformen geleistet werden.

Folgende Forschungsfrage wird in der vorliegenden Untersuchung behandelt: In wie fern spiegelt sich widerständiges Verhalten innerhalb des sowjetischen GULag-Systems in den Erinnerungen deutscher Häftlinge an den Streik im WorkutLag im Sommer 1953?

Im ersten Schritt werden zentrale Begriffe definiert und relevante Forschungskonzepte erläutert: (2.1) Was bedeutet Erinnerung innerhalb der Geschichtswissenschaft? (2.2) Wie lässt sich der Begriff der Zwangsarbeit politisch begreifen? (2.3) In wie fern helfen die Konzepte agency und structure dabei, politische Handlungsmacht zu fassen? (2.4) Wie lassen sich Formen von Widerstand im Kontext GULag sortieren? Darauf folgt die historische Einordnung der vorliegenden Quelle, indem die Geschichte des sowjetischen Straflagersystems angerissen wird (3.1). Außerdem wird beschrieben, welche Konsequenzen der Tod Stalins für das System GULag hatte (3.2) und wie das spezielle Sonderlager WorkutLag aufgebaut war (3.3). Das vorliegende Datenmaterial wird vorgestellt (4.1) und kritisch analysiert (4.2). Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst (5).

2. Theoretischer Hintergrund

In den folgenden vier Unterkapiteln werden theoretische Grundlagen vorgestellt und forschungsrelevante Begriffskonzeptionen definiert. Zunächst wird die Erinnerung als historische Quelle kritisch in die Gedächtnisforschung eingeordnet (2.1). Daraufhin wird der Begriff der Zwangsarbeit erläutert und in einen Zusammenhang mit den ökonomischen Interessen eines Staates gebracht (2.2). Das darauffolgende Kapitel befasst sich mit den soziologischen Konzepten der agency und structure (2.3), welche wiederum mit dem Begriff des Widerstandes verbunden werden (2.4).

2.1 Erinnerung in der historischen Forschung

Bei dem vorliegenden Untersuchungsgegenstand handelt es sich um Erinnerungen von deutschen Häftlingen im sowjetischen Sonderlager WorkutLag an den Streik im Sommer 1953. Da die verwendete Quelle die Rolle einer Retrospektive einnimmt, muss zunächst ausgeführt werden, was Erinnerung in der historischen Gedächtnisforschung bedeutet.

Die Gedächtnisforschung bezieht sich nach Erll auf ein interdisziplinäres Forschungsfeld: Geschichts-, Sozial-, Kultur- und sogar Naturwissenschaften beschäftigen sich mit den Bedingungen und Folgen von Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen (vgl. Erll 2017: 6). Erinnern wird von ihr als ein kontextabhängiger Prozess definiert, Erinnerungen treten als dessen Ergebnis auf und das Gedächtnis wird als organische Fähigkeit oder materielle Struktur dafür beschrieben (vgl. ebd.). Erll erläutert weiter:

„Bei aller Heterogenität der Begriffsbestimmungen lassen sich zwei zentrale Merkmale des Erinnerns anführen, über die weitgehend Einigkeit herrscht: sein Gegenwartsbezug und konstruktiver Charakter . Erinnerungen sind keine objektiven Abbilder vergangener Wahrnehmungen, geschweige denn einer vergangenen Realität. Es sind subjektive, hochgradig selektive und von der Abrufsituation abhängige Rekonstruktionen. Erinnern ist eine sich in der Gegenwart vollziehende Operation des Zusammenstellens ( re-member ) verfügbarer Daten. Vergangenheitsversionen ändern sich mit jedem Abruf, gemäß den veränderten Gegenwarten. […] Individuelle und kollektive Erinnerung ist damit zwar nie ein Spiegel der Vergangenheit, wohl aber ein aussagekräftiges Indiz für die Bedürfnisse und Belange der Erinnernden in der Gegenwart“ (Erll 2017: 6f.)1.

Der aus der Gegenwart unternommene Rückbezug auf die erlebte Vergangenheit kann einerseits „identitätsschaffend“ (Matthes/Groppe 2014: 37) wirken, andererseits ist die Vergangenheit selbst ein Teil der aktuellen Gegenwart. Doch erst das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart erlaubt das „Nachdenken über sich selbst“ (ebd.), welches individuell oder kollektiv stattfinden kann. Daraus ergibt sich ein „selbstreflexives Bewusstsein“ (ebd.), das Verständnis und Einsicht in den historischen Erfahrungsmoment fördert. Mithilfe der Analyse von Vergangenheit kann dann eine politische Relevanz des erinnerten Themas herausgearbeitet und Wissen um Staat und Gesellschaft gesammelt werden. So können beispielsweise Interviews als historische Quellen „lebendige[r] Erinnerung an kollektiv relevante Ereignisse“ (Erll 2017: 46) genutzt werden, um Verhaltensmuster und Wahrnehmungsweisen nachzuvollziehen2. Die interpretative Gewichtung von ausgewählten Themen kann durch die Momentaufnahme, die Interviews ausmachen, variieren (Csáky 2004: 12).

Ebenso darf die Instrumentalisierung und Inszenierung nationaler Erinnerungskulturen nicht unerwähnt bleiben: Die Bedeutung von historischen Orten, Dokumenten oder Erlebnissen fungiert ihrer nationalstaatlichen Darstellung nach als sozio-politische Orientierung, in Form von staatsbürgerlicher Autonomie und selbstbestimmten Narrativen mit nationaler Färbung für die jeweilige soziale Gruppe (vgl. ebd.: 10). Das bedeutet, dass vergangenen Ereignissen eine für die Gegenwart „gültige Relevanz“ (ebd.) zugewiesen wird und so die (Re)Präsentation eines nationalen Gefüges konstruiert wird. Aufgrund solch eines funktionalen Verständnisses von Erinnerung muss der identitätsstiftende Charakter der Erinnerungsinszenierung kritisiert werden: Indem jede Erinnerung durch eine nationale Linse betrachtet wird, verändert sich die wissenschaftliche Interpretation sowie die geschichtliche Einordnung des jeweiligen Ereignisses; sie können beispielsweise von politischem Führungspersonal oder institutionellen Bildungseinrichtungen als historisch eindeutig deklariert werden (vgl. ebd.). Diesen Umstand gilt es mithilfe einer interdisziplinären Perspektive aufzubrechen und Erinnerung in einem transnationalen Kontext zu deuten (vgl. ebd.: 11). Dies gelingt besonders, wenn historische Ereignisse oder Orte analysiert werden, die sich durch soziale Heterogenität und kulturelle Differenz auszeichnen (vgl. ebd.).

Erinnerung bedeutet demnach Dynamik und Prozesshaftigkeit. Sie besitzt einerseits den Zugang zur Vergangenheit, andererseits eine Verbindung zu gegenwärtigen Entwicklungsprozessen – unabhängig davon, ob diese auf individueller oder kollektiver Ebene erfahren werden.

2.2 Zum Begriff der Zwangsarbeit

Das System des GULag basierte auf der Einführung, Organisierung und Durchsetzung von Zwangsarbeit und verfolgte damit nicht nur politische Ziele der Inhaftierung und Disziplinierung von als systemfeindlich erklärten „Konterrevolutionären“ (Hedeler 2007: 361), sondern ebenso ökonomische Ziele, um natürliche Ressourcen mit sehr geringen Lohnkosten abzubauen. Eine Definition des Begriffs der Zwangsarbeit scheint deshalb wissenschaftlich relevant, da es sich bei der alltäglichen Arbeit um das einzige Mittel der sonst mittellosen Häftlinge handelte, um bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen für sich einzufordern. Um die Begrifflichkeit zu schärfen, muss der ökonomische Arbeitszwang untersucht und in einen politischen Zusammenhang mit staatlichen Interessen gebracht werden.

Das Archiv Zwangsarbeit der Freien Universität Berlin, welches sich mit Zwangsarbeit während des Nationalsozialismus beschäftigt, definiert diese wie folgt:

„Arbeit, die mit nicht-wirtschaftlichem Zwang und unter Androhung von Strafe verlangt wird. Unter Zwangsarbeit im Nationalsozialismus versteht man insbesondere die Verschleppung und Ausbeutung von […] Arbeitskräften“3

Der Aspekt des Zwangs wird hierbei in zwei Teilen deutlich: Einerseits unterläge die Arbeit keinem ökonomischen Sachzwang – der Arbeiter bzw. die Arbeiterin muss also nicht für das unmittelbare Überleben Geld erwirtschaften, über welches er bzw. sie bei Entlohnung frei verfügen kann. Andererseits unterliegt dieser Form der Arbeit dennoch ein Zwang, denn sie wird unter Androhung von Bestrafung, Gewalt oder Folter zu ihrer Durchführung gebracht, nicht mithilfe intrinsischer Motivation. Die Strafe muss von ihrem Inhalt her also so abschreckend und traumatisch wirken, sodass die Arbeit durch die bedrohte Person erledigt wird. Außerdem soll dieses Verhältnis zwischen Arbeit und Strafe auf Dauer ausgelegt sein. Sobald die arbeitende Person mit ihrer Arbeitskraft ausgebeutet wird, sie aber noch zusätzlich Freiheitsansprüche verliert und die Arbeit nicht freiwillig ausführt, handelt es sich demnach um Zwangsarbeit (vgl. ILO K. 29, Art. 1).

Der Staat – im vorliegenden Fall die UdSSR Anfang der 1950er Jahre – tritt dabei als politischer Akteur auf, indem er Zwangsarbeit ins Recht setzt und entgegen der herkömmlichen Annahme staatlicher Willkür mithilfe seiner eigenen Legitimität agiert:

„Forced labour imposed by the state covers all forms of work exacted by public authorities, military or paramilitary, compulsory participation in public works and forced prison labour” (ILO Konventionen Nr. 29 und Nr. 105).

Als politische Gewalt ist er in der Lage, Rechtverhältnisse so zu gestalten, dass Zwangsarbeit in Kombination mit Gefängnissen als legitim und durchsetzungswürdig erklärt werden. Mithilfe einer Institutionalisierung und Militarisierung der industriellen Produktion (vgl. Bunyan 1967: 89ff.) förderte das sowjetische Regime die Einrichtung und Instandhaltung eines Straflagersystems, welches durch die zwanghafte Ausbeutung von Arbeitskraft erhalten wurde. Dies führte zu einer repressiven Kontrolle von Arbeit im nationalstaatlichen Kontext (vgl. Nagel/Nocella 2013: 11). Außerdem muss angemerkt werden, dass sich die Häftlinge in einem Widerspruch zurechtfinden mussten, den die UdSSR ihnen auferlegte: Einerseits stand die Bewahrung ihrer Arbeitsfähigkeit im Mittelpunkt, um als produktive Arbeitskraft nationalen Reichtum zu erwirtschaften, andererseits wurde der Tod von Häftlingen in der Planung ihrer Ausbeutung in Kauf genommen (vgl. Ertz 2007: 296).

Die Zwangsarbeit bildet demnach ein zentrales Strukturmerkmal in der Analyse des Häftlingsalltags im System GULag. Das bedeutet, dass die Arbeit einerseits als Zwangsverhältnis auftritt, andererseits aber einen Abwehrcharakter in sich trägt, welcher sich mithilfe des Streiks veräußern kann.

[...]


1 Die Hervorhebungen sind aus dem Originaltext der Autorin übernommen.

2 Die geschichtswissenschaftliche Methode der Oral History erweitert nutzbares Quellenmaterial (neben schriftlichen und bildlichen Quellen) um Audio- und Videoformate. Es werden Interviews mit Zeitzeug:innen geführt, die ihre lebensgeschichtlichen Erfahrungen autobiographisch teilen. So lassen sich persönliche Erinnerungen und polit-historische Ereignisse in ein wissenschaftliches Verhältnis setzen.

3 Zwangsarbeit Archiv: Wichtige Begriffe zur nationalsozialistischen Zwangsarbeit. Aufzurufen unter: https://www.zwangsarbeit-archiv.de/zwangsarbeit/zwangsarbeit/zwangsarbeit-begriffe/index.html (Letzter Zugriff: 28.09.2021).

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Deutsche Erinnerungen an den Streik im sowjetischen Sonderlager WorkutLag im Sommer 1953. Lieber tot als Sklave
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Osteuropainstitut)
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
31
Katalognummer
V1176197
ISBN (eBook)
9783346595836
ISBN (Buch)
9783346595843
Sprache
Deutsch
Schlagworte
deutsche, erinnerungen, streik, sonderlager, workutlag, sommer, lieber, sklave
Arbeit zitieren
Antonia Skiba (Autor:in), 2021, Deutsche Erinnerungen an den Streik im sowjetischen Sonderlager WorkutLag im Sommer 1953. Lieber tot als Sklave, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1176197

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Deutsche Erinnerungen an den Streik im sowjetischen Sonderlager WorkutLag im Sommer 1953. Lieber tot als Sklave



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden