Aktuelle Menschenbilder in der Heilpädagogik


Diplomarbeit, 2008

131 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG

2. EINE BESTANDSAUFNAHME IM RAHMEN DES MENSCHENBILDES IN DER HEILPÄDAGOGIK
2.1 Phänomene der Postmoderne – Eine kritische Bestandsaufnahme
2.1.1 Endstation Posthumane Gesellschaft?
2.2 Heilpädagogik im Spannungsfeld globaler, kultureller und
gesellschaftlicher Veränderungen der Postmoderne
2.2.1 Die Heilpädagogik tangierende Weltprobleme nach Haeberlin (2005)
2.2.2 Kritische Herausforderungen nach Speck (2001)
2.3 Verschiedene Dimensionen des Menschenbildes
2.3.1 Etymologie Menschenbild
2.3.2 Anthropologie
2.3.3 Beschaffenheit und Funktion
2.3.4 Deskriptivität und Normativität der Menschenbilder
2.3.5 Implizite und explizite Menschenbilder
2.4 Eine kurzeGeschichte der Menschenbilder von Menschen mit Behinderung
2.4.1 Prähistorie (ca. 2,5 Millionen bis ca. 2000 v. Christus)
2.4.2 Altertum und Antike (ca. 2000 v. Chr. bis ca. 500 n. Chr.)
2.4.3 Mittelalter (ca. 500 n. Chr. Bis ca. 1600 n. Chr.)
2.4.4 Neuzeit ( ca. 16. Jh. Bis heute)
2.4.5 19. und 20. Jahrhundert
2.4.6 Postmoderne ( ca. ab 1950 bis heute)
2.5 Heilpädagogik und Menschenbild
2.5.1 Was ist Heilpädagogik?
2.5.2 Heilpädagogik als wertgeleitete Wissenschaft
2.5.3 Grundlagen eines heilpädagogischen Menschenbildes
3. INTERDISZIPLINÄRER DISKURS
2.1 Zur Bedeutung der Interdisziplinarität in der Heilpädagogik
2. 2 Philosophischer Blick
2.2.1 Die Geschichte der Philosophischen Anthropologie und das Problem der Doppeldeutigkeit
2.2.2 Erkenntnistheoretische Ansätze und wichtige Denkströmungen
2.2.3 Aktuell relevante Themen der Philosophie für die Heilpädagogik
2.2.3.1 Die Philosophische Anthropologie nach Plessner, Gehlen und Arnold..
2.2.3.2 Die Analytische Philosophie des Geistes nach Thomas Metzinger
2.2.3 Fazit des philosophischen Blickwinkels
2.3 Theologischer Blick
2.3.1 Die Geschichte der Theologischen Anthropologie
2.3.2 Wichtige Aussagen über den Menschen
2.3.3 Aktuelle relevante Themen für die Heilpädagogik
2.3.3.1 Der Mensch ist als Person von Gott zu Gottes Ebenbild erschaffen
2.3.4 Fazit des theologischen Blicks
2.4 Psychologischer Blick
2.4.1 Die Geschichte der Psychologie als eine Geschichte der Psychologischen Anthropologie
2.4.2 Theoretischen Ansätze und Basismodelle der Psychologie
2.4.3 Aktuell relevante Themen für die Heilpädagogik
2.4.3.1 Modellintegration: Das biopsychosoziale Entwicklungsmodell
2.4.3.2 Die neurobiologische Perspektive.
2.4.4 Fazit des Psychologischen Blicks
2.5 Soziologischer Blick
2.5.1 Die Geschichte der Soziologie und ihrer Anthropologie
2.5.2 Allgemeine Aussagen
2.5.3 Aktuell relevante Themen
2.5.3.1 Die politische Bewegung des Kommunitarismus als Gegenentwurf zum liberalen Individualismus
2.5.4 Fazit des soziologischen Blicks
2.6. Medizinischer Blick
2.6.1 Die Geschichte der Medizin und ihrer Anthropologie
2.6.2 Allgemeine Aussagen: Das Menschenbild in der modernen Medizin
2.6.3 Aktuell relevante Themen
2.6.3.1 Ergebnisse der Hirnforschung und ihre Aussagen..
2.6.4 Fazit des medizinischen Blicks
2.7 Pädagogischer Blick
2.7.1 Die Geschichte der pädagogischen Anthropologie
2.7.2 Allgemeine Aussagen
2.7.3 Aktuelle Themen
2.7.3.1 Kindheit heute ist Kindheit in Bedrängnis
2.7.4 Fazit des Pädagogischen Blicks
2.8 Diskursives Fazit im heilpädagogischen Blick

3. HEILPÄDAGOGISCHES HANDELN
3.1 Professionelles Handeln in der Heilpädagogik
3.1.1 Beziehung gestalten
3.1.2 Heilpädagogische Methoden
3.2 Prinzipien heilpädagogischen Handelns
3.2.1 Ethische Prinzipien und Tugenden in der Heilpädagogik
3.2.2 Der pädagogische Bezug nach H. Nohl
3.3 Konzeptionen heilpädagogischen Handelns als Konglomerat ethisch – pragmatischer Dimensionen

4. FAZIT DER ARBEIT

5. LITERATURVERZEICHNIS

Prolog

Auszüge aus: Max Frisch „Du sollst dir kein Bildnis machen“

Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat. [...] Irgendeine fixe Meinung unsrer Freunde, unsrer Eltern, unsrer Erzieher, auch sie lastet auf manchem wie ein altes Orakel. Ein halbes Leben steht unter der heimlichen Frage: Erfüllt es sich oder erfüllt es sich nicht. Mindestens die Frage ist uns auf die Stirne gebrannt, und man wird ein Orakel nicht los, bis man es zur Erfüllung bringt. Dabei muss es sich durchaus nicht im geraden Sinn erfüllen; auch im Widerspruch zeigt sich der Einfluss, darin, dass man so nicht sein will, wie der andere uns einschätzt. Man wird das Gegenteil, aber man wird es durch den andern. In gewissem Grad sind wir wirklich das Wesen, das die andern in uns hineinsehen, Freunde wie Feinde. Und umgekehrt! Auch wir sind die Verfasser der andern; wir sind auf eine heimliche und unentrinnbare Weise verantwortlich für das Gesicht, das sie uns zeigen, verantwortlich nicht für ihre Anlage, aber für die Ausschöpfung dieser Anlage. Wir sind es, die dem Freunde, dessen Erstarrtsein uns bemüht, im Wege stehen, und zwar dadurch, dass unsere Meinung, er sei erstarrt, ein weiteres Glied in jener Kette ist, die ihn fesselt und langsam erwürgt. Wir wünschen ihm, dass er sich wandle, oja, wir wünschen es ganzen Völkern! Aber darum sind wir noch lange nicht bereit, unsere Vorstellung von ihnen aufzugeben. Wir selber sind die Letzten, die sie verwandeln. Wir halten uns für den Spiegel und ahnen nur selten, wie sehr der andere seinerseits eben der Spiegel unsres erstarrten Menschenbildes ist, unser Erzeugnis, unser Opfer. (Frisch 1981)

1. Einleitung

Das Menschenbild als anthropologische Grundannahme ist für die Heilpädagogik insbesondere die heilpädagogische Praxis von handlungleitender Bedeutung.

Praschak (2006) betont den Wandel in der Gesellschaft, der fast alle Schichten der Bevölkerung erreicht hat. Ökonomische Veränderungen bedrohen den Menschen und sein Selbstverständnis. Die Suche nach Orientierung und Sicherheit ist zum Alltagsgeschehen geworden und hat mittlerweile auch die heilpädagogischen Arbeitsfelder erreicht. Unter neuen Qualitätsansprüchen stehen gewohnte Ansprüche zur Disposition, die mehr und mehr auf den wirtschaftlichen Nutzen ausgerichtet sind. Das Verlangen nach einem handlunsleitenden Menschenbild, das die Kontinuität der heilpädagogischen Orientierung und die Weiterentwicklung des Erreichten auch weiterhin grundlegen kann, wird laut (vgl.: Praschak 2006, 15). Diese Arbeit beschäftigt sich mit den aktuellen Menschenbildern, die für die Heilpädagogik von Bedeutung sind. Im Rahmen des Studiums der Heilpädagogik hat mich die Frage nach den theoretischen Aspekten und Annahmen die heilpädagogisches Handeln schließlich legitimieren und begründen beschäftigt, daher hier die Motivation der Wahl dieses Themas.

In der vorliegenden Arbeit möchte ich die Auseinandersetzung mit den Menschenbildern der verschiedenen Fachwissenschaften suchen und die Heilpädagogik dazu in Beziehung setzen. Wie Heilpädagogik heute interdisziplinären begründet werden kann ist in dieser Arbeit meine Zielfrage. Weiterhin sie versucht die ethischen Aspekte interdisziplinär zu begründen und mit der pragmatischen Dimension des heilpädagogischen Handelns zu verbinden. Diese Arbeit soll sich daher als eine ethisch-pragmatische Grundlegung im interdisziplinären Austausch verstehen.

So versteht sich das erste Kapitel als eine allgemeine Bestandsaufnahme im Rahmen des Menschenbildes in der Heilpädagogik. Hier werden die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit diesem Thema, die Begriffserklärung und die in meinen Augen notwendigen Bestandteile des heilpädagogischen Menschenbildes dargelegt.

Im Interdisziplinären Diskurs, im zweiten Kapitel, geht es um die humanwissenschaftliche Auseinandersetzung der jeweiligen Menschenbilder. Aus heilpädagogischer Sicht wird versucht, grundlegende Aspekte und Aussagen für das heilpädagogische Menschenbild herauszuarbeiten. Dieses Kapitel versteht sich auch als die ethisch-anthropologische Dimension des heilpädagogischen Handelns. Daher sieht auch das dritte Kapitel Heilpädagogische Praxis und Handeln als praktische Verortung der ethisch-anthropologischen Aspekte. Hier werden die Grundsätze des heilpädagogischen Handelns erklärt und auch Bezug auf die Prinzipien und Tugenden eingegangen. Der Schluss der Arbeit gestaltet sich sowohl durch die kurze Erläuterung heilpädagogischer Konzepte, wie auch durch ein Fazit im vierten Kapitel.

Ich werde in der vorliegenden Arbeit ausschließlich den abgekürzten Begriff Menschen mit Behinderung verwenden. Es ist mir leider nicht möglich, diese zu nennen, ohne sie unter besagtem Synonym kenntlich zu machen und meine Aussagen auf sie zu beziehen. Ich würde Menschen mit Behinderung gerne (was ja eigentlich auch das Anliegen dieser Arbeit unterstreicht) überhaupt nicht speziell herausheben und betonen wollen. Dennoch ist es mir leider nicht anders möglich, als auf diesen Begriff zurückzugreifen.

Weiterhin spreche ich in der Arbeit der Einfachheit halber nur von Heilpädagogen, ich beziehe mich aber damit ausdrücklich natürlich ebenfalls auf die weiblichen Vertreter unseres Berufsstandes.

1. Eine Bestandsaufnahme im Rahmen des Menschenbildes in der Heilpädagogik

Das Menschenbild in der Heilpädagogik unterliegt nicht zuletzt auch den Einflüss – en und Lebensbedingungen der aktuellen Zeit. Die Wechselwirkungen von Wissenschaft und gesellschaftlicher Institutionen sind ebenfalls einem ständigen Wandel untergeordnet. Um die komplexen Zusammenhänge und Begriff näher zu erläutern, empfiehlt sich eine erste Klärung und Bestandsaufnahme der Thematik im Rahmen des ersten Kapitels.

1.1 Phänomene der Postmoderne – Eine kritische Bestandsaufnahme

Der Begriff der Postmoderne lässt sich aus mehreren Perspektiven deuten, nämlich aus Sicht der Literatur, Architektur, Kunst und Philosophie. Ich habe hier nur die Aspekte der Kunsttheorie und Philosophie berücksichtigt, da ich an der ersten Definition zeigen möchte, woher der Begriff ursprünglich stammt. Die zweite Definition ist für diese Arbeit von Bedeutung, da sich meine Auseinandersetzung mit der Postmoderne in erster Linie als philosophische Vergegenwärtigung des aktuellen Kulturstandes versteht.

Der Begriff Postmoderne entstand Ende der fünfziger Jahre und wurde als zugehöriger Begriff der Kultur- und Kunsttheorie verwendet. Er beschreibt die Distanzierung zeitgenössischer Künstler von den ästhetischen Verfahren der Moderne (vgl.: Köster 2007 ).

,,Die Postmoderne lehnt das Innovationsstreben der Moderne ab und diffarmiert dieses selbst als automatisiert und etabliert. (…) Charakteristisches Element der Postmoderne ist ein extremer Stilpluralismus, der – etwa in der Architektur - oftmals in einer Anhäufung von Zitaten verschiedenster Kunstperioden kulminiert.“ (ebd.)

Die Strömungen des Alles – schon – einmal - dagewesenen in Literatur, Film, Architektur und bildender Kunst, führt scheinbar zu einer neuen Umgangsweise mit Verfahrensweisen der Geschichte und Tradition. Es ,, werden Grenzen zwischen Kitsch und Kunst, Massenkultur und elitärer Kunstauffassung bewusst verwischt (…). (…) Ihr pluralistisches Selbstverständnis hat der Postmoderne des öfteren den Vorwurf der Beliebigkeit eingebracht.“ (ebd.)

Die philosophische Auslegung des Begriffes Postmoderne bezeichnet die Reflexion über den gegenwärtigen Kulturstand. Die hohe Informationsdichte und die sich abzeichnende Informationsgesellschaft, die den Zugriff auf beliebiges (anonymes) Wissen ermöglicht, sieht u. a. der französische Philosoph Jean -

Francois Lyotard (1979) als Merkmal der postmodernen Kultur. Lyotard postulierte in seinem Buch „ Das postmoderne Wissen“ seine Auffassung der Zeit, die durch die Fragmentierungen der Autoritäten der großen Erzählungen (auch Meta-Erzählungen) gekennzeichnet sei und deren Entwicklung zu multifunktionalisierten Daten die Kombinierbarkeit dieser ermöglicht ohne Rückschluss auf den universellen Ursprung des Sinnganzen zu verweisen (vgl.: Köster 2007). Auch Speck (2003) verweist auf den Philosophen Lyotard, der die drei Leitideen der Modernisierung im Zuge der Aufklärung und Neuzeit beschreibt, die mit dem Beginn der Postmoderne ihre Glaubwürdigkeit verloren haben und auch als „Ende der großen Meta–Erzählungen“ gehandelt werden. Diese drei sind: Die Emanzipation der Menschheit (in der Aufklärung), die Teleologie des Geistes (im Idealismus) und die Hermeneutik des Sinns (im Historismus) Die gegenwärtige Situation dieser Zeit beschreibt eine Auflösung der Einheitsgültigkeiten (vgl.: Speck 2003, 122), was als eindeutiges Kennzeichen der postmodernen Gesellschaft genannt werden kann.

Paul Virilio (2002) hat sich ebenfalls mit den Aspekten der postmodernen Kultur auseinandergesetzt. Er gilt als ein angesehener Theoretiker der postmodernen Kulturauffassung. Die Auseinandersetzung Virilios mit der elektrischen Telekommunikation und ihrem eindringlichen, suggestiven Imperativ simultan teilzuhaben, hat die Auflösung aller festen raumzeitlichen Kategorien zur Konsequenz. Die damit einhergehende Gefährdung der hochtechnologisierten Gesellschaft, bezeichnet er provokativ als „ Rasender Stillstand“ (vgl.: Virilio 2002). Meinem Erachten nach analysiert er den Zustand der menschlichen Existenz im Hinblick auf das Vorhandensein verschiedenster moderner Techniken und deren Einfluss auf das Leben sowie die Kategorien von Zeit und Raum. Er beschreibt die Aufhebung der Geschwindigkeit in einer Gesellschaft, die keine Ruhepausen kennt und unter Einfluss einer veränderten Zeitökonomie steht.

Bauman (2007) beschreibt angelehnt an Habermas, dass das „Projekt der Moderne“ darauf abzielt, die kollektive Heteronomie durch eine kollektive und individuelle Autonomie zu ersetzen. Er bezeichnet den postmodernen Menschen auch gerne als jenen, der sich zur Ware reduzieren lässt, um auf dem Markt der Möglichkeiten seine Nachfrage zu steigern. Er sieht den modernen Menschen u. a. auf die Realisierung seines Individualitätsfetischismus fixiert. Auch er führt die anfänglichen Strömungen und Werte der Aufklärung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit durch einen Umbruch jener in die neuen Formeln des Strebens nach Glück, die da heißen: Sicherheit, Chancengleichheit und Vernetzung (vgl .: Bauman 2007, 109 – 143).

Um die grundlegenden Elemente der postmodernen Gesellschaft genauer zu skizzieren, beziehe ich mich im Folgenden schwerpunktmäßig auf die Gedankengänge in Norbert Bolz „Sinngesellschaft“ (1997). Er setzt sich aus philosophischer Sicht mit der postmodernen Gesellschaft auseinander. Die Suche nach dem Sinn bestimmt nach seiner Meinung das Leben in dieser Zeit, die durch die immer größer werdende Komplexität des Lebens hervorgerufen wird. Dabei wird der Begriff Komplexität multidimensional verwendet. Er setzt nicht das Gegenteil von Einfachheit um, sondern befindet sich auf einer anderen Begriffsebene. Bei dem Begriff handelt es sich auch um einen autologischen Begriff, also einen Begriff, der auf sich selbst anwendbar ist (vgl.: Bolz 1997, 11; 27 – 32).

Bolz beschreibt eine immer komplexer werdende Gesellschaft und die daraus resultierende Frage nach dem großen Ganzen. Sie wird zur Signifikanz der Postmoderne herausgearbeitet. Die daraus hervorgerufene Unplanbarkeit und Vorhersehbarkeit des Lebens ziehen Gestaltungsprobleme der Politik und die Orientierungslosigkeit jeden Bürgers nach sich. Die übergeordneten Werte aus der Aufklärung sind durch den Zerfall der Institutionen obdachlos geworden, da die Verbindlichkeiten dem Pluralismus weichen mussten. Es gibt keine Repräsentanten von Staat und Politik, da jene selbst komplexe Systeme beschreiben, die kaum zu durchschauen sind. Sie teilen sich immer weiter auf und differenzieren sich (vgl.: ebd.). Die Aufspaltung eines Ganzen in einzelne Teile bezeichnet Luhmann als (2005) Differenzierung. Dabei zielt die Bildung von Teilen auf übergeordnete Einheit, auf die Integration von jenen einzelnen Teilen zu einem Ganzen (vgl.: Krause 2005, 136). Als Beispiele dafür wären die Arbeitsteilung oder die Spaltung der Institutionen zu nennen. Der Mensch füllt einen Teil davon aus, stellt aber in diesem Zusammenhang nie etwas Ganzes dar. Im Zuge der Modernisierung wurden durch wirtschaftliche Rationalisierung immer spezifischeres Wissen notwendig, da sich beispielsweise Produktionsprozesse immer weiter aufgespalten haben. Die Rationalisierung meint die allgemeine Verwertung der erworbenen technischen Errungenschaften und eine Optimierung der Arbeitsorganisation zu einer Steigerung der Effizienz und Produktivität. Die mit der Industrialisierung einsetzende Rationalisierung schritt mit dem Einsatz von Maschinen und dem zunehmenden Ersatz der menschlichen Arbeitskraft von technischen Produktionsabläufen immer weiter voran. Dabei wurden Produktionsabläufe zu Gunsten der Effizienz und Produktivität weiter aufgeteilt und mechanisiert (vgl.: Microsoft 2008). Die Lebenswelt der Menschen wurde ausgehend von den industriellen und wirtschaftlichen Rationalisierungsmaßnahmen im hohen Maße beeinflusst. Dies führte bis heute zur strukturierten Planung aller Lebensbereiche und zur Beherrschbarkeit und Verwertbarkeit jeglicher Daten für das Leben der Menschen. Das Paradigma der Zweckrationalitäten prägt die Gesellschaft. Bei aller Beherrschbarkeit scheint der Mensch an sich zu einem verkürzten Bild seiner selbst geworden zu sein, das sich durch Leistungsfähigkeit und Kontrolle über das eigene Leben auszeichnet. Umso mehr nimmt das Gefühl der Ohnmacht in dieser Zeit zu, scheint der Mensch hinter jener Verwertbarkeit und Berechenbarkeit zu verschwinden.

Dies gilt ebenso für die Wissenschaft und die Politik. Alle Bereiche sind unüberschaubarer geworden. Bolz spricht auch von sog. Black Boxes. Er meint damit komplizierte Systeme, die nicht verstanden werden, aber beherrschbar sind, wie z.B. der CD-Spieler. Im Zuge der Differenzierung wird der Mensch auf Anteile beschränkt, die für sein Überleben notwendig sind, wie die Leistungsfähigkeit und die Arbeitskraft. Dazu gehört auch spezifisches Fachwissen für den jeweiligen Arbeitsbereich. In Anlehnung an Marx Kapitalismuskritik beschreibt auch Haeberlin (1998) den Autonomie – und Freiheitsverlust des Menschen im Zuge der Abhängigkeit von ökonomischen Gesetzmäßigkeiten. Das Ausgeliefertsein wird im Marxismus Entfremdung genannt (vgl.: Haeberlin 1998, 47):

,,Der entfremdete Mensch hat eine extreme Form sozialbestimmter Identität entwickelt, da alle sozialen Prozesse durch ökonomische Gesetze determiniert sind.“ (Haeberlin 1998, 47)

Weiterhin werden die Merkmale der Entfremdung zusammengefasst: Der Mensch entfremdet sich von seinem hergestellten Produkt durch den Verkauf seiner Arbeitskraft. Seine Arbeitskraft wird nicht zur Befriedigung seiner existenziellen Bedürfnisse eingesetzt, sondern um Lohn für seine Arbeit zu erhalten, der einen Symbolwert für die Arbeitskraft darstellt (vgl.: Haeberlin 1998, 50). So verliert der Mensch immer mehr den Überblick über seine eigene Selbstwirksamkeit, die er nicht sinnlich vergegenwärtigen kann. Die Entfremdung von sich und seiner Welt schreitet weiter voran. Wie im Text schon einmal erwähnt, kann man hier auch das Phänomen der Entsinnlichung anknüpfen, das im Endeffekt in den Massenkommunikationsmitteln seine praktische Vollendung findet. Es geht dabei auch gleichermaßen um eine Art Weltverlust, denn da wo der Mensch sich von sich selbst entfremdet, wird ihm auch seine Welt fremd. Meiner Meinung nach sind für den Menschen an die Stelle der sinnlichen Primärerfahrungen Phänomene wie Konsum, Extremsport oder Zerstreuung durch die Medien getreten. Der Mensch lebt zum größten Teil von Realitäten aus zweiter Hand und leidet an einem sinnlichen Verlust seiner selbst. Die Selbsterfahrung und Vergegenwärtigung der eigenen Existenz, die das ,,In-der- Welt-sein“ (Heidegger 1927) des Menschen in seiner qualitativen Beschaffenheit zum großen Teil ausmacht sind zunehmend erschwert.

Die Domestizierung des Menschen, seiner inneren und äußeren Natur prägen das moderne Leben. So kritisieren Adorno und Horkheimer eine autoritäre Form der Sozialisation die auf natürliche Anlagen keine Rücksicht nimmt. Sie kritisieren zudem ein abendländisches Erziehungsideal in dem die Entwicklung der personalen Identität mit der Beherrschung der inneren Natur des Menschen gleichgesetzt wird (vgl.: Dubiel 2001, 89) Hier wird meiner Meinung nach auf die Unterdrückung der inneren Anlagen und Bestimmungen des Menschen angespielt, der sich zudem noch einem weit verbreiteten technokratischen Bildungsideal in der Postmoderne ausgesetzt sieht. Der Mensch muss sich über die Maße anpassen, dabei schreitet jene Abspaltung des Menschen und seiner inneren Anlagen weiter voran, die auch Adorno und Horkheimer bemängeln. Die Gefährdung des menschlichen Lebensraumes nimmt unter dem Diktat der Weltwirtschaft weiter zu. Natürliche Ressourcen und die Gesundheit der Menschen stehen auf dem Spiel.

Das in meinen Augen auffälligste Element der Postmoderne scheint die Individualisierung zu sein . Hier wird in erster Linie die Ablösung aus konventionellen Rollenmustern, vor dem Hintergrund der bestehenden sich wandelnden Bindungen aus Familie, Gruppe oder wirtschaftlicher Abhängigkeiten gemeint. Es geht um die Herauslösung der eigenen Individualität aus den traditionellen Beziehungsmustern, wie beispielsweise Großfamilie usw. (vgl.: Spiegel Wissen Online, 2007). Das Ich tritt dabei in entscheidendem Maße aus den vorher kollektiven Bündnissen heraus, es steht im Mittelpunkt des eigenen Lebens. Dabei scheint es zum Objekt der eigenen Gestaltung und damit zur Last geworden zu sein. Bringt dies auf der einen Seite die Möglichkeit zur Authentizität mit sich, verbirgt sich hier die Gefahr der Suche nach narzisstischen Spiegelungen zur eigenen Vergegenwärtigung. Der Begriff “Selbstverwirklichung“ scheint dabei in inflationärer Weise dafür verwendet zu werden. Bolz geht davon aus, dass die Suche nach Orientierung und Sinn die

,,metaphysische Marktlücke für Selbstverwirklichung“ (Bolz 1997, 68) nach sich zieht. Das Wort Selbstverwirklichung scheine hier eine Art „wertvollen Selbst- Kern“ (ebd.) jedes Menschen zu suggerieren, der nur noch auf seine freie Entfaltung wartet und dazu noch keine Gelegenheit gehabt hat. Probleme die

sich im eigentlichen Sinne mit der Frage nach Orientierung und Sinn befassen, werden auf neuer Ebene zu einem Problem des „Ich-Seins“ (ebd.). Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass die Suche nach Orientierung und Einfachheit in dieser Zeit die Fixierung auf die eigenen Bedürfnisse des Menschen begünstigt. Die Formen der individualistischen Lebensstile nehmen anscheinend sehr schnell Kurs in Richtung egoistischer und selbstsüchtiger Welt- und Lebensanschauungen auf. Auch Peter Hahne weist darauf hin, dass der Individualisierungszwang und die Suche und Profilierung der eigenen Identität immer groteskere Züge annimmt:

,,Die bürgerliche Freiheit der Selbstbestimmung (…) ist rasend schnell zur hedonistischen Schwundstufe der Selbstverwirklichung pervertiert.“ (Hahne 2005, 40)

Die Selbstverwirklichung der eigenen hedonistischen Bedürfnisse scheint dann in große Geschäftigkeit auszuarten, da schließlich die Frage nach den grundlegenden Bedürfnissen den indoktrinierten Bedürfnissen, u.a. hervorgerufen durch Medien und Wirtschaft, weichen muss. Eine Form der exzessiven Selbstverwirklichung scheint beispielsweise der Konsum zu sein.

Erich Fromm formuliert als unerbittlicher Kritiker der Industriegesellschaft die Paradoxien des modernen Menschen. Für ihn sind der Kapitalismus (also auch der Konsum) und die Säkularisation eine der Hauptgründe für die Entfremdung des Menschen von sich selbst und seiner Welt. Er fokussiert gleichsam komplex das Thema des Konsums oder mehr gesagt das Thema des Habens, das eine Form des modernen Sich-gewahr-werdens bedeutet, also die Identifizierung mit verschiedenen materiellen Gütern. Der Mensch scheint hier an einen „ewigen Säugling“ (Fromm 2006, 42, b) zu erinnern, der charakteristisch für die Orale Phase, sich ständig die Welt in Form von Gütern einverleiben muss (vgl.: ebd.). In Ergänzung dazu spricht er auch von der Selbstsucht des Menschen, die nicht mit Selbstliebe gleichgesetzt werden darf.

,,Das “Selbst“, in dessen Interesse der moderne Mensch handelt, ist das gesellschaftliche Selbst, ein Selbst, das sich wesentlich mit der Rolle deckt, die der Betreffende nach dem, was die anderen von ihm erwarten, zu spielen hat und die in Wirklichkeit nur eine subjektive Tarnung seiner objektiven Funktion in der Gesellschaft ist. Die moderne Selbstsucht ist die Gier, die auf der Frustration des wahren Selbst beruht und deren Objekt das gesellschaftliche Selbst ist. “ (Fromm 2006, 90, a)

Der Mensch wird von sich und seinem eigentlichen Wesen abgelenkt. Diese Überlegungen lassen sich mit Bolzscher Begrifflichkeit in der Paradoxie des

Individualisierungszwangs weiterführen. Es geht eben darum, seine Identität aus verschiedenen Stilen und spirituellen Ansichten zu konstruieren. Dies führt in meinen Augen zu einer Art Patchwork-Identität, die nach Belieben umgebaut werden kann. Bolz nennt hier den amerikanischen Begriff des self-fashioning, der die Ästhetik der Existenz meint. Das Leben ist eine Selbstinszenierung mit immer neuen Identitäten, da Herkunft und Gegenwart auseinanderklaffen. Nur ästhetisch lassen sich persönliche Unterschiede verdeutlichen. Diesen Motiven kommen Unterhaltungsbranche sowie Event- und Kultmarketing entgegen: ,,Die Ästhetik der Eigenformel wird vor allem von den Medien bereitgestellt.“ (Bolz 1997, 70) Es wird eine Art Funktionalisierung verschiedener Stile herbeigeführt, die im Sinne utilitaristischer Manier, nach ihrer demonstrativen Nützlichkeit – also ihrer gesellschaftlichen Maskenfunktion – ausgesucht werden. Es geht nicht mehr darum wer jemand ist, sondern wie er sich kleidet, was er schon alles getan hat, wen er kennt, was er alles weiß usw. Sogar Bildung kommt nach Bolz nicht mehr dem gleichen humanistischen Charakter zu, auch „ Lernen versteht sich heute als Self-Design.“ (Bolz 1997, 70). Dies führt angelehnt an Ernst Bloch dazu, dass der moderne Individualismus jenen Fehlschlag der Selbstbegegnung darstellt, der sich nur an sich selbst berauschen kann. Individualität ist und bleibt im Sinne seiner begrifflichen autologischen Beschaffenheit Sache des jeweiligen Individuums selbst (vgl.: Bolz 1997, 136).

Das Problem der beschriebenen Aspekte ist die Konsequenz für unsere Gesellschaft, über jene Werte hinweg zu steigen, die durch die Aufklärung postuliert worden sind. Humanistische Ideale wie z.B. Bildung und Mitleidsfähigkeit sind anscheinend den egozentrischen Bewegungen unserer Gesellschaft gewichen.

Vielleicht ist unter anderem das ein Grund für die eigentlich immer größer werdende Isolation zwischen den Menschen. Wenn Gewaltverbrechen die Titelseiten zieren, werden die Fragen nach Zivilcourage und verantwortungsvollem Handeln laut. Doch wie soll man sich im Hinblick auf die gerade angedeuteten Aspekte verantwortlich füreinander fühlen, wenn doch jeder seines eigenen (Un)- Glückes Schmied sein soll und muss und dabei jene Annahmen über die Abhängigkeiten von Beziehungen und sozialer Anerkennung für jeden Menschen negiert werden?

1.1.1 Endstation Posthumane Gesellschaft?

Bei all den Überlegungen entsteht schnell der Eindruck eines tiefgreifenden Kulturpessimismus, der das Leben in der modernen oder postmodernen Gesellschaft als Bedrohung für die menschliche Natur darstellt. Mir ist bewusst, dass die Postmoderne in ihrer Komplexität gleichwohl nicht nur negative Seiten mit sich bringt, sondern ebenfalls die Möglichkeiten des modernen menschlichen Seins in ihrer Vielfalt hervorgebracht hat. Meine Sichtweise und Auseinandersetzung umfasst nicht das komplette Phänomen der Postmoderne, sondern stützt sich nur einseitig auf jene Phänomene, die in ihren praktischen Ausläufern im gesellschaftlichen Leben negative Konsequenzen oder Gefahren für Menschen mit Behinderung darstellen. Die Strömungen und Umbrüche der letzten Jahrzehnte haben viele humanitäre Werte auf den Prüfstand gestellt, die letztendlich eine Auseinandersetzung mit dem Thema auch im Hinblick auf die Heilpädagogik nötig macht. Aufgrund all jener schon vorher beschriebenen Elemente, beziehe ich mich nochmals auf Bolz, der im Sinne meiner einseitigen Argumentation die Postmoderne Gesellschaft auch gerne als posthuman bezeichnet: ,,Das klassische Maß des Menschen, an dem sich unsere humanistische Kultur formiert hat, paßt (sic!) nicht mehr auf die neuen Kommunikationsverhältnisse der postmodernen Gesellschaft.“ (Bolz 1997, 106) Bolz betont die Wandlung der Verhältnisse und der Begriffe des Humanismus und meint ,,eine Umwandlung der humanistischen Werte sei unvermeidlich“ (ebd.). Suggeriert durch das Wort posthuman, möchte Bolz den Anschein widerlegt wissen, sich von den Werten des Humanismus` verabschieden zu müssen. Er schlägt demnach eine andere Lesart des Begriffes vor: Den Bann des humanistischen Menschenbildes zu sprengen, bedeutet erst dann die Möglichkeiten zur freien Entfaltung des Menschen zu haben (vgl.: Bol 1997, 106). Es geht also eben nicht darum, die humanistischen Werte über Bord zu werfen, sondern sie einer Umformung im gesellschaftlichen Kontext zu unterziehen. Bolz beschreibt dieses könne nicht ohne die Koexistenz der Medien und Lebensstile geschehen, da dies schließlich die Postulate der Postmoderne seien (vgl.: ebd.).

Hier angekommen richtet sich mein Blick nun auf den unausweichlichen Grund, sich mit dem Menschenbild der Heilpädagogik zu befassen. Ich möchte die Postmoderne nicht in ihrer Erscheinung verdammen und negieren, sondern die Möglichkeit aufzeigen, sich auf quasi „neue alte“ Begriffe zu besinnen und ihnen im Bolzschen Sinne eine neue Gewichtung und Ausrichtung zu geben. Scheint doch das einer der Aufgaben der Heilpädagogen zu sein, Begrifflichkeiten für eine neue Wirklichkeit zu entwerfen. Neue Begrifflichkeiten sieht Bolz ebenfalls als Hilfskonstruktion für den Übergang in neue Realitäten an. Die Möglichkeit, über die Sprache unsere Wirklichkeit entscheidend neu zu konstruieren, macht ein neues Nachdenken über alte Begrifflichkeiten im Hinblick auf den Menschen möglich und nötig. Um die Welt nicht auf das zu reduzieren, was sie im praktischen bedeutet, nämlich die Beschränkung der Sachzwänge und Desillusionen, ist es wichtig, sich auch theoretisch auseinander zu setzen und weiter zu fragen (vgl. Bolz 1997, 21). Die theoretische Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Menschen im Hinblick auf die Heilpädagogik, soll daher hier Thema sein.

1.2 Heilpädagogik im Spannungsfeld globaler, kultureller und gesellschaftlicher Veränderungen der Postmoderne

Im Hinblick auf ein heilpädagogisches Menschenbild, möchte ich nun weitere fachspezifische Argumente für eine Auseinandersetzung mit diesem Thema beibringen.

Die allgemeine Orientierungslosigkeit aufgrund des Pluralismus der Lebensformen, der Individualisierung und der Aufhebung der großen tradierten Einheitsvorstellungen von der Aufklärung geprägten Vorstellungen über eine gut funktionierende Massenindustriegesellschaft, die auch die Pädagogik umfasste, hat nicht zuletzt auch die Erziehungswissenschaften und damit die heilpädagogischen Arbeitsfelder erreicht (vgl.: Speck 2003, 121 – 127). Es sind auf der einen Seite die sich immer fortlaufend verändernden Bedingungen der Gesellschaft – die eben schon erläutert wurden -, die einerseits eben Bedingung und Ausgangspunkt für die Umbrüche in Pädagogik und Heilpädagogik der Epoche als solche (vgl.: ebd. 25 ff.) stehen und diese beeinflussen. Speck beschreibt die neuen Herausforderungen für die Heilpädagogik, die sich im Zuge ökonomischer, informationstechnologischer und biogenetischer Entwicklungen abzeichnen. Sie alle bewirken einen Wandel gesellschaftlicher Werte und Mentalitäten und bedeuten eine Zunahme der Bedrohung für die Schwachen der Gesellschaft. Die Heilpädagogik als Theorie- und Praxissystem könnte nun wiederum an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden (vgl.: ebd. 2001, 30). Aus den folgenden Punkten soll hergeleitet werden, dass die Auseinandersetzung mit dem Menschenbild in der Heilpädagogik wieder einmal aktuell und notwendig ist. Die folgenden Punkte beschreiben die Auswirkungen der Postmoderne auf die Heilpädagogik als Wissenschaft und Praxis sowie ihre Gefahren für den Menschen im Allgemeinen, inklusive seiner schwachen und benachteiligten Daseinsformen.

Speck und Haeberlin widmen sich beide in unterschiedlichen Weisen den Herausforderungen der Postmoderne für die Heilpädagogik. Während Haeberlin in meinen Augen eher auf globale und kulturelle Veränderungen eingeht, die die Heilpädagogik als Wissenschaft beeinflussen, bringt Speck eindeutig die Herausforderungen unserer Zeit für die Wissenschaft und Praxis auf den Punkt. Ich nehme beide Autoren mit hinein, um einen komplexen Überblick über das Thema zu ermöglichen.

1.2.1 Die Heilpädagogik tangierende Weltprobleme nach Haeberlin (2005)

Haeberlin beschreibt aktuelle globale Entwicklungen, die die Heilpädagogik als solche beeinflussen. Er nimmt zuerst Stellung zum Weltbevölkerungswachstum, das ökologische Probleme nach sich zieht und weltweit Ängste im Bezug auf Ressourcenknappheit der Erde lostritt. Das Bevölkerungswachstum ist nach Haeberlin in den letzten 70 Jahren von zwei auf fünf Milliarden Menschen angestiegen. Demnach werden Fragen nach den Verteilungen der Reserven der Erde laut (vgl.: Haeberlin 2005, 52). Die Industrienationen sind im weltweiten Vergleich die Spitzenreiter und Vorbilder der offenen Märkte und Grenzen. Weltwirtschaftskrise und ökologische Katastrophen sind im Zuge dessen weiter aufzuzählen, wurde die Natur so weit domestiziert, dass sie sich mit Klimawandel und Naturkatastrophen zu rächen scheint. Die Welt wird ausgebeutet und natürliche Lebensräume müssen zu Gunsten der Wirtschaft weichen. Haeberlin weist darauf hin, dass die Heilpädagogik im Hinblick auf die allgemeine Ressourcenverknappung den Einsatz und Aufwand für hilfsbedürftige Menschen erklären muss. Er zitiert hier Dederich, der ebenfalls die Diskussion um die Verteilung der Reserven prophezeit, die die Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen nach sich ziehen könnte (vgl.: Haeberlin 2005, 52 / 53). Die ungleiche Verteilung von Gütern auf der ganzen Welt, die ebenfalls Konsequenz der Globalisierung ist, stellt auch die Weltordnung in Frage und transportiert durch die Medien eine beunruhigende Zukunftsperspektive für die Menschen. Die berühmte „Schere“ zwischen arm und reich reißt weiter auf.

Heaberlin hebt den Demographiewandel hervor, der u.a. als Konsequenz der neuen Möglichkeiten der Medizin (,,Anti–Aging–Medizin“) aktuell ist. Dieser Wandel stellt eine weitere aktuelle Herausforderung für die Heilpädagogik dar. Die neue Medizin verspricht eine Lebenserwartung von bis zu 120 Jahren und eröffnet dem Menschen im Lebensabend ungeahnte Möglichkeiten. Was sich auf der einen Seite attraktiv anhört, entpuppt sich beim weiteren Differenzieren als großer Nachteil: Arbeitsstrukturen und Versicherungssysteme sind nunmehr kaum auf die immer älter werdenden Arbeitnehmer eingestellt und stellen im Alter von 40 oder 50 Jahren ein Risiko für die Wirtschaft dar. Konjunkturelle Krisen usw. haben meistens zur Konsequenz, dass der älteren Belegschaft gekündigt, bzw. sie ins Rentnerdasein geschickt wird (Vgl. ebd. 55 / 56). Die „Generation Alt“ hat wenige Möglichkeiten. So wird diese Generation als Risikogeschäft von Krankenkasse und Staat im Stich gelassen und von der Gesellschaft in dafür vorgesehen Wohnheime gesteckt. Auch die Qualität der Betreuung älterer Menschen lässt im Zuge der Rationalisierung und Ökonomisierung zu wünschen übrig. Der Mensch droht zur Kostenfalle von Staat und Wirtschaft – und somit zur Ballastexistenz degradiert zu werden.

Speck (2003) und Haeberlin (2005) thematisieren beide in unterschiedlicher Weise die Entwicklung zu einer multikulturellen und damit auch multikonfessionellen Gesellschaft. Es bestehen große Ängste in der Bevölkerung im Hinblick auf kulturelle Andersartigkeit und religiösen Fundamentalismus (Vgl. Speck 2003, 127; Haeberlin 2005, 57). Gerade vor dem Hintergrund der schockierenden Ereignisse aus jüngster Vergangenheit wie beispielsweise Terroranschläge und fundamentalistische Glaubenskriege im Nahen Osten, die auf die ganze westliche Welt überzuspringen drohen, werden Vorbehalte gegen fremde Kulturen größer bzw. bieten Nährböden für z.B. nationalistische Einstellungen. Heaberlin nimmt Bezug auf Huntington, der auch vom „Kampf der Kulturen“ (The Clash of Civilisation) sprach und seine Thesen mit demographischen Daten wie beispielsweise einem in Deutschland lebenden großen Anteil von Muslimen gegenüber anderen europäischen Ländern untermauerte. Haeberlin stellt einen Zusammenhang zwischen Huntingtons Veröffentlichungen und den hier vorhandenen Ängsten, von anderen Kulturen unterwandert und angegriffen zu werden, dar.

Die dadurch entstandenen Vorurteile und Ängste treffen Menschen mit Migrationshintergrund und / oder sozial benachteiligte Menschen in der deutschen Bevölkerung. Diese komplexen Prozesse betreffen auch heilpädagogische Arbeitsfelder, da es in Zukunft wichtig ist, Unterstützung und pädagogische Hilfe für Familien mit Migrationshintergrund zu leisten, um sich mit ihnen im Sinne einer wertgeleiteten Heilpädagogik auf den Weg in ein vorurteilsfreieres Leben aufzumachen. Die Haltung der Heilpädagogik sei gerade hier herausgefordert, Akzente im Sinne gemeinschaftlichen und sozialen Lebens zu setzen (vgl.: ebd. 57 / 58). Grundlegende Annahmen über den Menschen und entsprechende Bilder sind in der heilpädagogischen Profession also auch unter diesem Aspekt bedeutend.

„Die Zeit“ thematisierte in einem Artikel die neuen Möglichkeiten der Genwissenschaften als Entfesselung bizarrer Fantasien über die neue Machbarkeit des Menschen, der sich selbst erschafft. Er gibt einen Überblick über den Diskussionsstand einiger Naturwissenschaftler und Philosophen, die alle ein gemeinsamer Traum verbindet: Der Traum von einem leidlosen und glückserfüllten Leben in der Hypermoderne. Dies soll durch die Gentechnik in naher Zukunft möglich gemacht werden. Die in Kalifornien um Max More versammelten Utopiker und Anbeter der neuen Möglichkeiten – auch Extropianer genannt - postulieren das Zeitalter der Freiheit und die Selbststeigerung des Individuums ohne Grenzen (vgl.: Assheuer 2001). Aus dieser Richtung werden seit einigen Jahren vermehrt Stimmen lauter, die die Abschaffung des defizitären Menschen predigen und eine neue Welt mittels der Wissenschaft anstreben. Dies sind eine der aktuellen Tendenzen, die das Selbstverständnis des Menschen zu erschüttern drohen. Weiterhin kommt hinzu, dass unser Abendland seit der kopernikanischen Wende mit immer neuen Erkenntnissen bezüglich des Menschen und seiner Welt konfrontiert wurde. Die Gewissheiten über den Menschen als Krönung der Schöpfung oder Triumph am Ende der Nahrungskette wurde durch die darwinistischen Theorien widerlegt. Sie holt den Menschen aus der Überhöhung seiner selbst herazs, indem sie belegt, dass der Mensch mit seinen nächsten Verwandten im Tierreich bis zu 95 % identisches Genmaterial besitzt Nach Haeberlin besteht eine der Herausforderungen der Heilpädagogik in der Akzeptanz der relativierten Sicht des Tier-Mensch- Problems. (vgl.: Haeberlin 2005, 58 / 59).

1.2.2 Kritische Herausforderungen nach Speck (2001)

- Abkoppelung in wissenschaftlicher Hinsicht

Die Emanzipation der wissenschaftlichen Heilpädagogik vor allem gegenüber der Medizin bestimmte noch in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts die Entwicklungen. Durch die ständig gewachsene Komplexität des Fachwissens besteht heute die Gefahr der Isolierung und Abkoppelung von anderen Wissenschaften. Die immer weitere Differenzierung des Wissens und der ständig neuen Befunde und Erkenntnisse in den Nachbarwissenschaften, macht eine Integration in die eigene Disziplin der Fächer und des Wissens immer schwieriger. Die Fachrichtungsspezialisierung bedingt eine Distanz zur allgemeinen Pädagogik. Die Bruchstellen zwischen dem was langläufig unter

Heilpädagogik verstanden wird und dem was von wissenschaftlich- heilpädagogischer Bedeutung ist, bröckeln vor sich hin und hinterlassen immer mehr eine Kluft von offenen Fragen und Widersprüchen (vgl.: Speck 2001, 31). Auch im Hinblick auf die heilpädagogischen Grundannahmen scheint es mir somit auch schwieriger zu werden, eine wissenschaftliche Gewichtung zu leisten.

- Theorieverluste der Praxis

In der Praxis werden die Theorieverluste der Wissenschaft immer deutlicher. Wissenschaftliche Unterfütterung dient anscheinend vermehrt der Nährung eigener (ideologischer) Positionen. Daneben gehen konzeptionelle Vielfalt und die Geltung subjektiver Theorien Hand in Hand. Dies begünstigt unreflektierte Arbeitsweisen aufgrund der größer werdenden Komplexität, welche im Theorienpluralismus ihre fachspezifische Vollendung findet. Subjektive Theorien vermischen sich mit einem Potpourri aus normativen Strömungen, wie z.B. mythische oder esoterische Heilslehren, die u.a. zu Befürwortern eines blanken Therapismus oder einer Förderideologie modelliert werden.

Die Überprüfung der Praxis durch wissenschaftliche Methoden muss gewährleistet werden und steht einem pragmatischen Übereifer und der Beschränkung auf die bloße Praxis gegenüber. Unter jener Betrachtung droht die Heilpädagogik den Anschluss an andere wissenschaftliche Fächer und Disziplinen zu verlieren (vgl.: Speck 2001, 31).

- Ökonomisierungstendenzen

Die schon im letzten Jahrzehnt sich anbahnende Priorisierung wirtschaftlicher Werte verbirgt die allgemeine Finanzierungsschwäche des Staates. Was sich auf der einen Seite wie die Verbesserung der Qualität des Sozialwesens anhört, entpuppt sich auf der anderen Seite als Unterwerfung aller sozialen Dienste eines dominanten Prüfanspruchs wirtschaftlicher Wertesysteme. Was nach außen als Qualitätssicherung in Form eines Siegels glänzt, verbirgt innen meist neo-sozialdarwinistische und utilitaristische Tendenzen. Diese scannen das heilpädagogische Handeln auf Produktivität und Rentabilität ab und stellen allen Aufwand für Nicht-Produktives in Frage, an dessen Ende sich letztendlich auch der Lebenswert von Menschen messen und sich als Kostenfaktor rechtfertigen lassen muss. Unter den Einflüssen der Ökonomisierung transformieren sich mitmenschliche Beziehungen und Hilfeleistungen zur Ware. Das Sozialwesen scheint ein großer Warenmarkt zu werden, der gleichzeitig die Schaffung von Benachteiligungen nach sich zieht, funktioniert er doch abhängig von Angebot, Nachfrage, Marktwettbewerb und den finanziellen Möglichkeiten der Klientel.

Weiterhin gerät auch das gesamte Erziehungsfeld in den Bann der Kommerzialisierung. Eltern und Lehrer sehen sich dem Problem der Entmachtung durch die von der Wirtschaft inszenierten Moden ausgesetzt:

Der stern thematisierte kürzlich die gezielte Förderung der Kinder auf frühe Markenhörigkeit:

,,Der Luxus hält Einzug in den Kinderschrank: So früh wie möglich züchten sich die Konzerne die kaufkräftige Klientel von übermorgen heran.“ (Weiguny 2008,

120) Und auch Speck führt dazu weiter aus:

,,Die erzieherische Autorität (Gültigkeit) wird durch eine gezielte Kundenwerbung systematisch ausgehöhlt.“ (Speck 2001, 32)

- Ethische Verunsicherung

Mit der Zunahme sozial-ökoniomischer Veränderungen gewinnen moralische Fragen an Auftrieb. Wenn utilitaristische und ökonomische Normen den Wert behinderten Lebens in Frage stellen, ist eine (fachspezifische) Ethik gefragt, die sich einem ausbreitenden asozialen Individualismus in den Weg stellt. Die Überforderung des Menschen und seiner Erziehung steigt durch den Zerfall sozialethischer Allgemeinverbindlichkeiten, seine erhöhte Inanspruchnahme, und Stress in der Risikogesellschaft. Heil- und Sozialpädagogik scheinen kaum an einer ethischen Standortbestimmung vorbeizukommen, möchten sie sich weiterhin für die Rechte von benachteiligten Menschen einsetzen. Die Ethik scheint in vielen Wissenschaften nur ein Gastdasein zu führen, ersetzt die bloße Wiederholung moralischer Entrüstung doch noch keine wirkliche Auseinandersetzung mit der normativen Pluralität. In Anlehnung an Gröschke (1993) schreibt Speck, dass die ethische Frage eine grundlegend menschliche ist und damit pädagogische Bedeutung hat. Das normative Chaos erschwert eine moralische Orientierung. Im Brennpunkt dominierenden Individualismus droht die Wahrung der Menschenwürde jedes Einzelnen zu einer virtuellen Größe zu werden und einer verstärkten Gleichgültigkeit den Boden zu bereiten (vgl.: Speck 2001, 34)

- Verlust des Erzieherischen

Die gesellschaftliche Fixierung und Orientierung auf das eigene Selbst bringt einen Verlust der Erziehungspotenz im Allgemeinen mit sich. Allgemeine Verbindlichkeiten im Hinblick auf Erziehungsnormen haben abgenommen. Michael Winterhoff, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, beklagt in seinem aktuellen Buch den Autoritätsverlust moderner Eltern. Er spricht von der Ebenbürtigkeit der Kinder im erzieherischen Verhältnis, da die Eltern ihre Kinder zu vermeintlichen selbstständigen Individuen erziehen möchten. Sie verzichten

gänzlich auf Regeln, Struktur und Grenzen in der kindlichen Erziehung. So werden die Kinder als „kleine Erwachsene“ behandelt, die von klein auf ihren lustbetonten Bedürfnissen nachgehen und im Endeffekt zu beziehungslosen und arbeitsunfähigen Persönlichkeiten werden (vgl.: Winterhoff 2008). Erziehungsprobleme oder soziale Probleme in der heutigen Zeit zu definieren und heilpädagogisch auf die allgemeine Orientierungslosigkeit zu reagieren scheint “erschwert“ zu sein. Die Basis einer allgemein angelegten Erziehung ist brüchig geworden (vgl.: Speck 2001, 34). Darauf folgt, dass die Basis der speziell angelegten Erziehung ebenfalls ins Schwanken gerät, werden nun eindeutige Indikationen heilpädagogischer Arbeit immer weniger genau bestimmt werden können. So könnte man doch zum größten Teil den Eindruck gewinnen, dass die allgemein pädagogisch Tätigkeiten ihre Adressaten an die heilpädagogischen abtreten müssen, da die spezielle, individuelle Begleitung und Ausrichtung des Konzeptes gegenüber heilpädagogischer Klientel an Notwendigkeit zunimmt.

- Gefährdung durch die Gentechnologie

Wie auch schon bei Haeberlin beschrieben wurde, bescheren die gentechnologischen Entwicklungen der Heilpädagogik weitere bedrohliche Herausforderungen. Speck nimmt noch differenzierter zu diesem Punkt Stellung, daher führe ich ihn hier mit an. Organismen sollen in Richtung Perfektion verändert werden, genauso wie die angestrebte Lebenseffizienz. Wissenschaft, Gentechnikfirmen und Kommerz erweisen sich dabei als Verbündete. Der Trend geht eindeutig in Richtung einer „eugenischen Zivilisation“, bei der jeder an seinem eigenen Genpool herummanipulieren kann (seiner Kinder eingeschlossen). Im Sinne einer neuen kommerziellen Eugenik gewinnen ökonomische Effizienz, Optimierung von Leistungsstandards und Verbesserung von Lebensqualität hinsichtlich neuer gentechnologischer Möglichkeiten an Gewicht. Elterliche Wünsche werden durch die Möglichkeiten der Pränaltaldiagnostik und der Machbarkeit der Märkte herausgefordert, werden sie hier zunehmend einem Dilemma ausgesetzt, ihre Kinder im Vorhinein

„umzustylen“ und ihren Genpool zu Gunsten eines besseren, schöneren Lebens umzuprogrammieren. Es tun sich schon heute groteske juristische Dimensionen auf: Eltern werden im Nachhinein für ihre nicht wahrgenommene „genetische Verantwortung“ verklagt da ihnen vorgeworfen wird, Gendefekte bei ihrem Kind nicht schon dort korrigiert zu haben, wo die Möglichkeit dafür bestanden hätte. Der soziale und moralische Druck auf Seiten der Gesellschaft wächst immer weiter ins unermessliche, gilt es in nächster Zukunft „Behinderungen“ als

Codierungsfehler zu vermeiden und zu überwinden. Das neue Bild vom Menschen formiert sich immer mehr in die Richtung eines makellosen, fehlerlosen und perfekten Wesens. Der Mensch wird zur Summe seiner Gene (vgl.: Speck 2001, 34/ 35).

Die neuen Bedrohungen von Menschen mit Behinderungen machen schließlich das Nachdenken über die Menschenbilder in der Heilpädagogik aktuell nötig. Wie schon beschrieben, sieht sich die Heilpädagogik verschiedenen Herausforderungen ausgesetzt die eine klare Stellungnahme fordern, um Partei zu ergreifen und auch im gesellschaftspolitischen Sinne für die Rechte von benachteiligten Menschen einzutreten. Wie eben erläutert, beschreibt Hearberlin die Entwicklung aktueller gefährdender Menschenbilder, die eine Bedrohung der Würde und des Lebensrechts behinderter und normativ auffälliger Menschen bedeuten. Darunter zählen beispielsweise medizinische Fortschritte die die Machbarkeit des Menschen an sich wieder neu formulieren, wie auch die Verlautbarungen der Präferenz-Utilitaristen um Peter Singer. So bescherte er unserem Berufsstand Fassungslosigkeit und Verunsicherung, als er den Tod eines geschädigten Säuglings zur Geburt eines anderen Kindes forderte, sofern dies zu besseren Aussichten auf ein glückliches Leben führt, da seiner Meinung nach die Gesamtsumme des Glücks größer ist, wenn der behinderte Säugling getötet werden würde (vgl.: Haeberlin 2005, 26 – 31). Solche Tendenzen klassifizieren Menschen nach Kriterien wie „gesund“ – „krank“, „intakt“ – „defekt“, „normal“ –

„anormal“, „mehr Mensch“ – „weniger Mensch“, „erwünschter Mensch“ –

„unerwünschter Mensch“. Sie bilden den Bodensatz für gefährliche Annahmen und Bilder, die zu einer Aussonderung von Menschen mit Behinderung führen. Die Gefährdungen und Bedrohungen in Zusammenhang mit wertideologischen Menschenbildern von Menschen mit Behinderung werden auch durch folgende Aussage auf den Punkt gebracht:

,,Wenn wir uns am Postulat orientieren, dass es ,,normal ist, dass menschliches Lebens in extremster Form verschieden sein darf und soll“, ist die Entwertung und Entwürdigung von behinderten Menschen in beiden Fällen allein dadurch gegeben, dass zwischen qualitativ und wertvollerem und wertloserem menschlichen Leben unterschieden wird.“ (Haeberlin 2005, 29) Demnach muss das heilpädagogische Menschenbild eine Anthropologie beinhalten, die Verschiedenheiten als menschliche Daseinsform nicht nur mit einschließt, sondern als Grundlage beinhaltet und universalen Charakter hat also für jeden Menschen gleichermaßen gilt.

1.3 Verschiedene Dimensionen des Menschenbildes

Die gegenseitige Achtung und auch Relativierung des eigenen Standpunktes, nicht die Suche nach dem „wahren“ Menschenbild, sondern die Pluralität der Menschenbilder sieht Capurro (2002) als positive Ausgangslage der gegenwärtigen philosophischen Reflexion. Diese Veränderung der Einstellung, nicht nach einer „einheitlichen Idee von Mensch“ zu suchen, so wie dies zu den Mythen der europäischen Moderne gehört (s.a. Max Scheler), kann nur geschehen, wenn die Frage nach dem Menschen selbst und auch der Verschiedenheit der Menschenbilder angesichts dessen relativiert wird, was uns als Mensch übersteigt. Capurro meint damit vor allem die Weltkrise, d.h. das globale Ausmaß aller sich täglich vollziehender (Umwelt -) Katastrophen, die bis hin zur möglichen Selbstvernichtung der Menschen reichen (vgl.: Capurro 2002, 84). Es ist also unerlässlich, nach einem Menschenbild zu suchen, das im Kontext anderer Menschenbilder existieren kann, ausgeschlossen natürlich von Menschenbildern, die eine Gefährdung des Menschen in seinen existentiellen Bezügen in der Welt bedeuten, aber darauf wird im Weiteren noch einzugehen sein. Das Menschenbild als solches scheint in seiner Beschreibung und gedanklichen Erfassung immer zu entschwinden. Es entzieht sich jeder Festlegung und die Suche nach dem eigentlichen Wesen oder Kern des Menschenbildes verhält sich wie die Jagd nach dem eigenen Schatten. Was der Begriff meint und was er bedeutet, soll in diesem Kapitel umrissen werden. Dabei habe ich die verschiedenen Punkte als Dimensionen eingeteilt, da es mir so leichter erscheint, das Phänomen an sich näher zu betrachten.

1.3.1 Etymologie Menschenbild

Eine einheitliche Definition des Begriffes „Menschenbild“ ist eigentlich kaum zu finden. In der einschlägigen Literatur gibt es kaum eine konkrete Herleitung des Begriffes und seiner Bedeutung. Daher zähle ich nun drei Definitionen auf, die meiner Meinung nach am besten bezeichnen, um was es sich handelt:

-In einem Online - Wörterbuch traf ich auf folgende Definition:

,,Die Vorstellung, die jemand oder eine Gruppe von den Menschen hat; das humanistische Menschenbild; das Menschenbild im Barock.“ (Microsoft 2008)

- Eine weitere Begriffserklärung fand ich in dem „Online–Lexikon zur Erwachsenenbildung“:

,,Vorstellungen über das Menschenbild bzw. über das, was den Menschen ausmacht. Es handelt sich nicht um absolute oder allgemein gültige, sondern um geschichtlich, gesellschaftlich, politisch, kulturell etc. bedingte Auffassungen.“ (Ackermann 1999)

- Die schlüssigste und für unsere Fälle am besten geeignete Definition hingegen stammt von Jakobs (1997). Er definiert ein Menschenbild wie folgt:

,,Das Menschenbild einer Person oder Gruppe bezeichnet das Gesamt all ihrer expliziten oder impliziten Auffassungen über das, was den Menschen ausmacht bzw. ausmachen soll.“ (Jakobs 1997, 21)

Der Begriff Mensch stammt aus dem lateinischen homo. In der Literatur ist auch immer wieder vom einschlägig bekannten Vernünftigen Menschen, der mit Werkzeugen umzugehen vermag, auch homo sapiens, die Rede. Dieses Begriffspaar geht auf die anthropologischen Grundannahmen des Menschen als

„Krone der Schöpfung“ oder „Gottesebenbild“ zurück, der den Menschen als Herrscher über die Umwelt und Tiere und weiterhin als Vernunftbegabtes Wesen beschreibt (vgl.: Microsoft 2008 / Jilg 2008)

Weiterhin wird das Wort Bild oder Abbild ins lateinische mit dem Wort imago

oder simulacrum übersetzt. Eine einheitliche Übersetzung des Begriffes

„Menschenbild“, liegt nicht vor.

1.3.2 Anthropologie

Menschenbilder können nach verschiedenen Kriterien klassifiziert und zugeordnet werden beispielsweise nach historischen Epochen, Kulturkreisen oder Religionen (z.B. christlich-abendländisches Menschenbild) sowie nach Wissenschafts- oder Philosophieverständnis oder gar nach einzelnen Fachdisziplinen (z.B. biologi[sti]sches, kybernetisches Menschenbild usw.). Unter systematischen Gesichtspunkten spricht Jakobs auch von anthropologischen Grundannahmen oder einfach von (impliziter) Anthropologie. Anthropologie ist die ,,Wissenschaft vom Menschen“. Hier ist auch von expliziter Anthropologie die Rede. Die Frage nach dem Wesen des Menschen und der Leib – Seele – Problematik ist so alt wie die abendländische Philosophie selbst. Die Anthropologie reicht bis in die Antike zurück, wurde aber bis ins 19. Jahrhundert nie als gesonderte philosophische Fachdisziplin, sondern innerhalb der metaphysischen Gesamtdeutung des Seins (Ontologie) behandelt. Die Menge der von allen großen Philosophen bisher hervorgebrachten

Menschenbilder ist so zahlreich wie die Philosophen selbst. Oft genug gipfelte die Formulierung und Überlegung über den Menschen in einer Dogmatisierung. Anthropologisches Denken wurde seit den 50er Jahren größtenteils für das Fundament der allgemeinen Pädagogik konstatiert und avancierte somit zur “pädagogischen Anthropologie“ bis hin zur Entstehung der “Integrationswissenschaften“ (vgl.: Jakobs 1997, 21 / 22).

Für jede Humanwissenschaft hat sich mittlerweile ein eigener Anthropologiebereich herauskristallisiert. Es gibt nicht die eine alles umfassende Anthropologie, sondern sie ist meist als eine Art ,,Anhängsel“ der Humanwissenschaften vertreten.

Der Begriff Anthropologie stammt aus dem griechischen anthropos, Mensch. Er hat sich als Oberbegriff für alle Formen und Fragerichtungen der Selbstthematisierung und Selbstdeutung des Menschen entwickelt. Die in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts ausgewiesene Philosophische Anthropologie von Max Scheler, Helmut Plessner und Arnold Gehlen greift als systematische Wissenschaft alle differenzierten Ergebnisse der Humanwissenschaften auf und führt diese unter der Reflexion des Menschen zusammen. Angelehnt an die Kant`schen Erziehungsgedanken beschreibt Gröschke (2007) den Gegenstand einer pädagogischen Anthropologie, die sich mit der Entsprechung des Menschen unter dem Erziehungsaspekt beschäftigt. So ist sie Bestandteil der heilpädagogischen Wissenschaft und Praxis, und gleichzeitig ethisches Leitprinzip für ein universelles Menschenbild, welches Erziehung und Bildung als allgemein menschliches Bedürfnis für alle Menschen gleichermaßen postulieren und legitimieren soll. Wie schon erwähnt, ist das zentrale Thema der Anthropologie auch die Frage nach den verschiedenen impliziten oder expliziten Menschenbildern, wie sie in den Humanwissenschaften (z.B. Psychologie usw.) vorzufinden sind. Gröschke betont die Erforderlichkeit einer kritischen Anthropologie in den Humanwissenschaften, ,,da Menschenbilder neben ihrem kognitiven Inhalt immer auch ethische und praktische Konnotation besitzen, eine praxisanleitende, performative Macht entfalten“ (Gröschke 2007, 26). Da Menschenbilder heilpädagogische Praxis immer auch reflexiv anleiten, ist eine Kritik, Klärung und Reflexion der Menschenbildannahmen in der Heilpädagogik nötig (vgl.: Gröschke 2007, 25 / 26).

1.3.3 Beschaffenheit und Funktion

Sich ein Bild zu machen bedeutet den Versuch, sich einen Überblick zu verschaffen. Ein Bild gibt nur eine Art selektiver Oberflächenwahrnehmung

wieder, es zeichnet sich also nicht durch seine Plastizität aus, sondern viel mehr durch seine Oberfläche, seine Fassade. Sich ein Bild machen bedeutet weiterhin, sich zu distanzieren und eine Art Figur-Hintergrundwahrnehmung auszuüben, zu selektieren. Dies geschieht vor einem bestimmten Hintergrund oder Horizont, den zu wählen unsere eigene Aufgabe ist. Es gilt zu unterscheiden was im Vordergrund steht und was im Hintergrund steht, es kommt zu einer Relation der Sicht. Wir achten dabei weniger auf Details als auf die Relationen und Zusammenhänge des Bildes. Sich ein Bild vom Menschen zu machen bedeutet, einen bestimmten Typus zu fokussieren (vgl.: Wiegerling 2002, 16). Wie bereits schon erwähnt, zeichnet sich das Bild durch seine Oberfläche aus und nicht durch seine Tiefe. Ein Typus entspricht genau diesem Schema. Er bleibt mit seiner bildhaften Fassade an der Oberfläche und irritiert uns nicht mit Tiefgang und Individualität. Wie die Figur im Märchen auch immer nur auf eindeutige tugendhafte Eigenschaften beschränkt ist, wie gut und schön und böse und hässlich, verhält es sich mit dem Menschenbild fast genau so. Dabei meine ich nicht die eindeutige Eindimensionalität der Eigenschaften wie gerade beschrieben, sondern die Signifikanz und Signalbedeutung. Denken wir an den Menschen, fallen uns schnell einzelne Schlagworte ein, die in ihrer Eindeutigkeit fürs erste felsenfest sind: Frei, autonom, entscheidungsfähig, moralisch, vernünftig usw. sind einige Bespiele. Man kann das Menschenbild auch sehr gut mit einem Verkehrsschild vergleichen. Es gibt schnelle Orientierung, Überblick und Sicherheit im Straßenverkehr. Dabei kommen den verschiedenen Schildern natürlich verschiedene Bedeutungen zu, sie sind immer Ab–Bild einer bestimmten Situation, die sich abstrahiert in der Bedeutung des Schildes wieder findet. Man kann auch sagen, dass diese dabei in ihrer Signalfunktion und Oberflächenbeschaffenheit, immer genau die Orientierung geben, die gerade notwendig ist. Das Schild wirft uns mitsamt seiner Bedeutung eine Antwort entgegen. So ähnlich verhält es sich auch mit dem Menschenbild. Es hat eine mediale Beschaffenheit. Es handelt sich um eine Vereinfachung des Menschen, um ein Verständnis von ihm zu bekommen und um sich zu verständigen. Wenn wir uns in einer fremden Kultur befinden und nicht wissen, wie dort gelebt wird, orientieren wir uns an unserem Bild, dass wir von dem Menschen haben, wir greifen auf eine Art Hinweisschild zurück, was uns sagt, was in diesem Moment von Bedeutung ist und wie wir uns verhalten sollen. Wir sind in der Lage uns dort anzupassen, da wir uns nach gewissen Standards verhalten. Das alles sagt uns unser jeweiliges Menschenbild.

Demnach leben Menschenbilder von Stereotypien und Verallgemeinerungen. Dabei sind sie sehr ungenau und unscharf, nur schemenhaft (vgl.: Wigerling 2002, 16). Wir können den Kern nicht erreichen, sondern nur im Schein erahnen. Hierbei entsteht schnell der Eindruck, dass dies der Individualität jedes Einzelnen nicht gerecht wird. Es bleibt ein schaler Beigeschmack, droht sie unter Kategorisierung und Vereinfachung zu schwinden (vgl.: Rippe 1999, 10). Zur notwendigen Beschaffenheit des Menschenbildes habe ich folgendes Zitat gefunden:

,,Ist eine unscharfe Photographie überhaupt ein Bild eines Menschen?, ja kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen? Ist das unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen?“ (Wittgenstein 1990,141; Orig. 1922 aus: Grimm / Capurro 2002, 7)

Zu resümieren ist also: Es gibt keine Orientierung ohne Verallgemeinerung und Typisierung und ohne mediale Transzendierung. Auch wie schon oben beschrieben bedeutet der Begriff Bildung - der ja etymologisch mit dem Begriff des Bildes verwandt ist - nichts anderes als sich die Fähigkeit anzueignen sich ein Bild zu machen, sich in einer komplexen und unübersichtlichen Gesellschaft orientieren zu können. Ein Menschenbild ist nicht das Ergebnis eines bewussten Entwurfes, sondern eines unbewussten Prozesses der Kulturprägung und Geschichte des Menschen. Menschenbilder sind ganz nah an der Medialität des Menschen angesiedelt, da sie nicht zuletzt mit den Medien zu tun haben, die der Mensch verwendet, um sich in der Welt zu orientieren. Sie entstehen in Medien wie Schriften, Bildern, Filmen usw. Das Menschenbild ist also ein mediales Phänomen, wie es sich im Wort Bild eigentlich schon ausdrückt (vgl.: Wiegerling 2002, 16).

1.3.4 Deskriptivität und Normativität der Menschenbilder

Menschenbilder haben von Natur aus eine deskriptive und eine normative Funktion. Die deskriptive Funktion meint die Beschreibung dessen, was uns das Menschenbild sagt. Die normative Funktion impliziert, dass sich aus dieser eine gewisse Handlungsnorm oder gewisse Handlungsaspekte und Motive hinsichtlich des Menschen ergeben. Ein Bespiel dafür wäre, dass uns eine Menschenbildannahme durch seine normative richtungsweisende Funktion angibt, in welche Richtung der Mensch zu erziehen ist, wie er sich entwickeln soll, ob er lernfähig ist usw. Es geht also ganz vereinfacht darum, was der Mensch ist und was er soll, was es für den Menschen insgesamt heißt, ein gutes Leben zu führen (Vgl.: Rippe 1999, 10 / 11). Die Beschreibung des Menschen

hängt ganz dicht mit den Wertvorstellungen des Menschen und den daraus resultierenden Handlungsmaximen zusammen. Die Anthropologie bedient sich regelmäßig der Ergebnisse aus verschiedenen Humanwissenschaften, um durch empirische Studien verlässliche Aussagen über den Menschen machen zu können. Diese Aussagen münden direkt in die Beschreibung also die Deskriptivität. Daraus lassen sich dann gleichzeitig auch normative Schlussfolgerungen ziehen, die für den Menschen handlungsleitend sind. Einige Beispiele sollen dies verdeutlichen:

Die Beschreibung, dass der Mensch ein Individuum ist, kann wissenschaftlich nachgewiesen werden, es gibt also ein Beweismoment. Also könnte daraus geschlossen werden, dass im Umgang mit anderen Menschen ihre Individualität geachtet werden soll. Der Mensch soll in seiner eigenen Persönlichkeit wahrgenommen werden, da er einmalig und einzigartig ist. Daraus resultiert, dass die freie Entscheidungsfindung des Menschen geachtet werden muss. Was eine normative Funktion für den Umgang mit anderen ist, gilt auch für mich selbst. Der Schutz, den verschiedene normative Aussagen dem Menschen entgegenbringen, muss auch auf mich zutreffen. Dies schulden wir uns, weil wir alle Menschen sind. Die ganze Argumentation funktioniert aber nur, wenn in dem Menschsein als solches ein bestimmter Wert liegt. Eine appellative Verlautbarung an das Handeln und den Umgang miteinander kann nur dadurch entstehen, dass der wesensmäßigen Beschreibung des Menschen etwas innewohnt, das normativ aufgeladen ist. Ist die Beschreibung des Seins des Menschen mit einer normativen Haltung verbunden, folgt daraus etwas für den moralischen Umgang mit den Menschen. Warum sollte die Willensfreiheit oder Autonomie des Menschen geachtet werden, wenn sie nichts Wertvolles wären, wenn darin nicht eine gewisse Würde läge?

Es gibt aber ebenfalls eine Verbindung zwischen dem normativen und deskriptiven Aspekt von Menschenbildern, wenn die Beschreibung des Seins des Menschen nicht schon im Vorhinein wertgeladen ist. Sollen moralische Normen in der Welt verankert werden, ist darauf Rücksicht zu nehmen, wie wir Menschen sind, da wir diejenigen sind, die mit diesen Normen zu leben haben.

Hier könnte eingewandt werden, dass der menschlichen Anpassungsfähigkeit keine Grenze gesetzt ist, Menschen sich also an alle moralischen und kulturellen Sitten anpassen können. Auf die eigentlichen natürlichen Bedürfnisse des Menschen oder auf das Wesen des Menschen haben Sitten und Gebräuche selten Rücksicht genommen. Natürlich besteht eine Diversität und Pluralität in den Moralvorstellungen, dennoch führt dieses Argument nicht zum Schlusspunkt

des Gedankens, dass moralische Normen, die angestrebt werden, auf den Menschen Rücksicht nehmen sollten. Tradition und Weltanschauung sind mächtige Institutionen, die entscheidend dazu beitragen, verschiedene moralische Vorstellungen beizubehalten und den dadurch entstehenden Druck auf Betreffende (z.B. Frauen im viktorianischen Zeitalter usw.) zu forcieren. Danach wird die Frage nach dem Sinn einer Tradition und Weltanschauung laut, die grundlegende Bedürfnisse des Menschen (z.B. Sexualität, Wissen usw.) unterdrückt. Es geht bei der Frage, ob Moral die Natur des Menschen berücksichtigen muss nicht darum, ob eine solche Moral überhaupt empirisch dauerhaft etabliert werden kann, sondern vielmehr ob eine solche Moral institutionalisiert werden und ob sie lange Bestand haben soll. Eine Moral wie beispielsweise die viktorianische ist anzuzweifeln und sollte deshalb nicht Bestand haben, weil große Teile der Bevölkerung von wichtigen Bereichen menschlicher Tätigkeiten und Teilhabe ausgeschlossen sind. Als Beispiel sollten Frauen Zugang zur öffentlichen und politischen Sphäre haben und sie sollten sich frei entfalten können. Hiermit wird deutlich, wofür überhaupt ein Menschenbild notwendig ist: Um die Ablehnung verschiedener Moralvorstellungen und Weltanschauungen zu begründen und argumentativ gegen menschenverachtende Bedingungen vorzugehen (vgl.: Rippe 1999, 9 – 14).

Daraus können revolutionäre neue Vorstellungen entstehen, die in der Geschichte und Wissenschaft auch einem Paradigmenwechsel gleichkommen. Sie ermöglichen einen Diskurs darüber, was der Mensch ist und was ihn ausmacht. Dies geschieht immer in einem kulturhistorischen gesellschaftswissenschaftlichen Kontext, Menschenbilder unterliegen einem Wandel der Zeit. Der Diskurs über das Menschenbild hat sowohl ethische (Reflexion moralischen Handelns) als auch praktische (handlungsleitende Aspekte) Konsequenzen.

1.3.5 Implizite und explizite Menschenbilder

Die pädagogische Anthropologie befasst sich von ihrem pädagogisch- anthro – pologischen Selbstverständnis her von Beginn an mit der Menschenbildanalyse pädagogischer Theorien. Es lassen sich zwei Grundformen des Fragens nach dem Menschenbild unterscheiden:

- Eine rekonstruktive Absicht versucht ein zugrundeliegendes meist verborgenes “präreflexiv-implizites“ Menschenbild herauszupräparieren. Über diese Rekonstruktion gelangt sie z.B. zum Menschenbildverständnis

eines historisch geprägten wissenschaftstheoretischen Ideals, das sich auf die jeweiligen Theorien prägend auswirkte usw..

- Der “reflexiv-explizite“ Aspekt des Menschenbildes ist mit der konstruktiven Frage nach dem Wesen des Menschen verbunden, dessen Beantwortung der pädagogischen Orientierung im Sinne von Leitideen, Visionen und Idealen dient (vgl.: Mattner / Gerspach 1997, 30 / 31).

Es lassen sich demnach implizite Aussagen über den Menschen von expliziten Aussagen unterscheiden. Eine eigens angelegte pädagogische Anthropologie formuliert daher explizite Menschenbilder, da sie beispielsweise der pädagogischen Orientierung dienen soll. Implizite Menschenbilder enthalten alle humanwissenschaftlichen Theorien standesgemäß, da sie sich alle um den Menschen drehen und auf ihn beziehen.

Die kritische Aufdeckung der jeweiligen verborgenen Menschenbilder, die damit verbundene anthropologische Postulate nach sich ziehen, die den jeweiligen psychologischen, medizinischen, bzw. (heil-)pädagogischen Theoriesystemen zugrundeliegen, ist gerade für die Heilpädagogik von besonderer Bedeutung. Unreflektierte Paradigmen mit ihren jeweiligen divergierenden Menschenbildern und Annahmen über die Wirklichkeit bedingen nicht nur konkurrierende pädagogische Interventionen sondern können unter Umständen die Tendenzen bergen, die vorab gegen eine heilpädagogische Intervention gerichtet sein können. Betriebene Heilpädagogik bedeutet demnach, auch im jeweiligen (pädagogischen) System und Konzept enthaltene implizite Menschenbilder zu explizieren. Es scheint gerade für die heilpädagogische Theorie und Praxis unerlässlich, implizite Anthropologien bewusst zu machen, um nicht “hinderlichen Menschenbildern“ und den damit verbundenen Ideologien aufzusitzen (vgl.: ebd. 29 7 30). Im Zuge dessen zitieren Mattner / Gerspach Haeberlin, der ebenfalls auf die Gefahren nicht bewusster Menschenbilder hinweist:

,,Wir wären in der heilpädagogischen Praxis handlungsunfähig, wenn unser Tun nicht spontan durch den Filter eines bestimmten Menschenbildes vorsortiert würde. Aufgrund dieser Notwendigkeit stehen wir als reine Praktiker andauernd in der Gefahr, dass wir und wegen Arbeitsüberlastung und Zeitmangels keine Rechenschaft über das Menschenbild ablegen, welches unser Tun leitet. So können wir jederzeit Opfer von Vorurteilen, von Ideologien, von Modeströmungen werden. Diese Gefahr droht uns, wenn wir aufhören, über die Grundlage des Handelns nachzudenken, weil uns der Kleinkram der Praxis völlig in Beschlag nimmt.“ (Mattner / Gerspach 1997, 30)

Es geht in dieser Arbeit um die Untersuchung ebensolcher verborgenen Menschenbilder, die in den Theorien der Humanwissenschaften enthalten sind.

1.4 Eine kurze Geschichte der Menschenbilder von Menschen mit Behinderung

Im Kontext dieser Arbeit macht es Sinn, die Geschichte der Menschenbilder gerade im Hinblick auf Menschen mit Behinderung zu beschreiben. Um die aktuellen Menschenbilder in ihrer Entwicklung nachvollziehen zu können, ist eine Orientierung in der Geschichte der Menschheit, die durch ihre Veränderungen und gesellschaftlichen Umbrüche in ihren jeweiligen Epochen geprägt worden sind, erforderlich. Ganz eng mit diesem Thema hängt auch die Geschichte der Heilpädagogik als Praxis und Wissenschaft zusammen. Ich werde sie am Rande erwähnen aber nicht schwerpunktmäßig darauf eingehen. Die folgenden Erläuterungen sollen nur in Kürze darstellen, wie sich die Annahmen über Menschen mit Behinderung entwickelt haben. Es handelt sich aus Zeit- und Platzgründen also nur um eine fragmentarische und exemplarische Darstellung. Greving und Ondracek (2005) haben die Geschichte der Heilpädagogik eingebettet in epochale und gesellschaftliche Entwicklungen der Menschheit skizziert. Sie gehen dabei auch auf die Menschenbilder der jeweiligen Zeit ein. Ich werde mich im Weiteren auf die o.g. Autoren beziehen.

1.4.1 Prähistorie (ca. 2,5 Millionen bis ca. 2000 v. Christus)

Die Geschichte der Menschheit geht auf über 2,5 Millionen Jahre zurück. Aus der sog. Vorgeschichte der Menschheit gibt es keine schriftlichen Aufzeichnungen. Die Erkenntnisse auf diesem Gebiet stammen aus Interpretationen von archäologischen Funden wie z.B. Waffen, Kleider, Grabbeigaben und sogar manchmal mumifizierten Leichnamen aus Mooren wie auch der Paläontologie. Die Besiedlung Europas durch den schon modernen Homo sapiens begann vor ca. 40.000 Jahren. Die Annahmen über die naturgegebene Verletzbarkeit und Endlichkeit des Menschen sagen uns, dass Krankheit, Gebrechen und Tod schon immer existentielle Themen der Menschen gewesen sein müss. Menschen mit Behinderung hat es demzufolge immer gegeben. So muss sich das Leben in der frühen Phase der Menschheit ebenfalls geprägt durch diese Bedingungen organisiert haben. Die damaligen Lebensbedingungen waren allerdings so schlecht, dass Krankheit, Verletzung oder Behinderung zu einer drastischen Verkürzung der Lebensdauer geführt haben. Die Überlebenschancen waren nicht sehr gut. Es gibt dennoch einige Hinweise, die darauf schließen lassen, dass kranke oder behinderte Menschen

von ihren nächsten Verwandten nicht verstoßen worden sind, sondern gepflegt wurden. In Ähnlichkeit zur natürlichen Versorgung von Kindern stand also die Sorge für schwache und beeinträchtigte Menschen schon am Anfang der Existenz des Homo sapiens (vgl.: Greving / Ondracek 2005, 12 – 15). Es lässt sich demnach ebenfalls vorsichtig schlussfolgern, dass das Menschenbild von Menschen mit Behinderung in einer Ambivalenz aus Ablehnung und Fürsorge für sie bestand, da nämlich diese in den beiden Äquivalenzen von Autonomie und Abhängigkeit als anthropologische Konstante begründet sind und demnach das Leben – so wie heute - entscheidend beeinflussten.

1.4.2 Altertum und Antike (ca. 2000 v. Chr. bis ca. 500 n. Chr.)

Greving / Ondracek verweisen auf die Definition von Microsoft (2004) nach der die Bezeichnung ,,Antike“ vom lateinischen Wort ,,antiquus“ für alt abstammt.

Die griechische Mythologie der Homerschen Gesänge sowie Sagen und Lehren prägten in dieser Zeit das Welt- und Menschenbild. Es handelte sich dabei um eine Symbolisierung der menschlichen Erlebnisse und Praktiken vieler Generationen. Hieraus lassen sich eindeutige Schlussfolgerungen auf die damaligen Werte der Gesellschaft und die damaligen Handlungsweisen auch im Umgang mit Minoritäten wie beispielsweise Menschen mit Behinderung ziehen. Auch die Völker der vorhellenischen Zeit (Slaven, Isländer, Finnen, Babylonier, Ägypter) hatten ihre Weisen und Gelehrten, die als Orientierungsrahmen der Menschen dienten. Aus jeweiligen Quellen gibt es Hinweise auf den Umgang mit den Phänomenen des ,,Abnormen“, die gleichzeitig auch Rückschlüsse auf das Menschenbild zulassen:

- Weisheit und dämonisches galten als das Sinnbild des Abweichenden
- Behinderung galt als Folge falscher Erziehung
- Die Art der Reaktion auf Behinderung wurde als Möglichkeit gesehen, um vor dem Gottesgericht zu bestehen
- Personennamen spiegeln Abweichungen wider
- Behinderung galt als ,,Gabe“ der Götter

Im Umgang mit hilfsbedürftigen Menschen in der vorhellenischen Zeit galt es barmherzig zu sein. Die positiv- religiöse Bewertung sicherte den hilfsbedürftigen Menschen z.B. in Ägypten eine Chance auf Hilfe von der Gesellschaft. Ihnen wurden Aufgaben zugeteilt, mit denen sie ihr Einkommen sicherten wie z.B. Sänger, Musiker aber auch Hofnarren (vgl.: Greving / Ondracek 2005, 17 – 20). Im Alltag der antiken Griechen hatten Menschen mit Behinderung eine isolierte, ausgegrenzte Stellung. Eine Behinderung war ein negatives Stigma und galt als

Strafe der Götter, welche eine Bedrohung für die Gemeinschaft bedeutete. Hässliche, Lahme, Verkrüppelte und anfallsleidende Kranke wurden aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, um die religiös–rituelle Reinigung der Gemeinschaft vom ,,Bösen“ vorzunehmen. Bezeichnend für die hellenische Kultur waren utilitaristische Ideale wie vollkommener Körper und Geist, dem insbesondere Kinder ausgesetzt waren. Nicht selten wurden diese als Folge diverser Missbildungen ausgesetzt oder getötet, da sie der Gemeinschaft keinen Nutzen entgegen bringen konnten (vgl.: ebd. 21). So spricht sich Platon (427 –

347 v. Chr.) für das Aussetzen und Verhungernlassen von behinderten Neugeborenen aus (vgl.: Strasser 2006, 4). Auch die damaligen Gesetze spiegeln das Menschenbild und die Philosophie des Staates zu dieser Zeit wider. Streng nach den Regeln der Nützlichkeit wurden alle Bürger ausgegrenzt oder getötet, entsprachen sie nicht dem damaligen Ideal des Kalokagathis (,,was schön ist, ist gut“) (vgl.: Greving / Ondracek 2005, 22 / 24).

1.4.3 Mittelalter (ca. 500 n. Chr. Bis ca. 1600 n. Chr.)

Die europäische Geschichte bezeichnet die Epoche zwischen Antike und Neuzeit als ,,Mittelalter“. Die darauf folgende Epoche der Renaissance (französisch: ,,Wiedergeburt“) markiert ebenfalls die Epoche der Neuzeit (vgl.: ebd. 25).

Die Bibel war durch ihre Darstellungen, Aussagen, Symbole und Regeln für den gläubigen Menschen eine allumfassende Orientierungshilfe im Leben. Sie diente als Leitlinie, Gutes zu erreichen und zu tun. Es ging darum, gute Gedanken zu haben, gute Worte zu sprechen und gute Taten zu vollbringen. diese rudimentäre Wohltätigkeit leitete einen langen Prozess ein, um Hilfsbedürftigen Gutes zu leisten. Ein gesamtgesellschaftliches Hilfesystem wurde dennoch nicht entwickelt. Humanitäre und fürsorgliche Ideale wurden von Vorbildern wie die der Heiligen–Legenden in die Bevölkerung transportiert. Dennoch blieb tugendhaftes Verhalten gegenüber Menschen mit Behinderung eher die Ausnahme, da „Normalsterbliche“ der konsequenten Selbstlosigkeit der Heiligen nicht gerecht werden konnten (vgl.: ebd. 29 / 30).

[...]

Ende der Leseprobe aus 131 Seiten

Details

Titel
Aktuelle Menschenbilder in der Heilpädagogik
Hochschule
Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen - Abteilung Münster  (Katholische Hochschule NRW)
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
131
Katalognummer
V117621
ISBN (eBook)
9783640198610
Dateigröße
1111 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Studienfach: HeilpädagogikStudienfach: Heilpädagogik
Schlagworte
Aktuelle, Menschenbilder, Heilpädagogik
Arbeit zitieren
Diplom Heilpädagogin Sarah Gollan (Autor:in), 2008, Aktuelle Menschenbilder in der Heilpädagogik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/117621

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