Peter Handkes "Die linkshändige Frau" - Über filmisches Erzählen und die Erfindung einer Weltanschauung


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

24 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Im Lauf der Zeit – von den Anfängen bis 1976

II. Das filmisch antiliterarische Strukturprinzip
II.1 Filmisches Erzählen
II.2 Literarische Verweigerung

III. Die Filmliteratur als integrativer Übersetzungsprozess –

IV. Metaebenen gegen die Verdummung
IV.1 Motivanalyse – Sehen
IV.2 Motivanalyse – Übersetzen

V. Schlussbetrachtungen

Bibliographie
I. Primärliteratur Peter Handkes
II. Sekundärliteratur

Ich erwarte von Literatur ein Zerbrechen aller endgültig scheinenden Weltbilder. Und weil ich erkannt habe, daß ich selbst mich durch die Literatur ändern konnte, bin ich auch überzeugt, durch meine Literatur andere ändern zu können.

Peter Handke[1]

I. Im Lauf der Zeit – von den Anfängen bis 1976

Seit seiner Jugend war Peter Handke Cineast, besuchte bis zu zweimal täglich Filmvorstellungen. Vielleicht ist es ausgehend davon gar nicht so ungewöhnlich, dass Handke nicht als Dramatiker und Schriftsteller erstmals Aufmerksamkeit erregte, sondern durch einen filmreifen Auftritt: 1966 wurde Handke in Princeton als 23-jähriger, unbekannter Autor zum öffentlichen „Ankläger“ bei einem Treffen der Gruppe 47 und warf den dort versammelten, ranghöchsten Repräsentanten der deutschen Nachkriegsliteratur von Angesicht zu Angesicht „Beschreibungsimpotenz“[2] vor. Doch Handke machte sich in diesem Jahr nicht nur als Enfant terrible (un)beliebt, ihm gelang zuglich sein Durchbruch mit einem bahnbrechenden Stück: Publikumsbeschimpfung (1966). Als Dramatiker war er seither etabliert und es sollte kaum ein paar Jahre dauern, dann hatte sich Handke durch seine ungewöhnlichen Herangehensweise an die Literatur, wie etwa im Roman Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970), ebenfalls als Prosaautor einen Namen gemacht. Dem Film blieb Handke in den folgenden Jahren nicht nur als Zuschauer treu, er entpuppte sich zugleich als Drehbuchautor, wobei er mit dem ihm freundschaftlich und beruflich eng verbundenen Wim Wenders – mit dem er sowohl ästhetische wie kulturelle Ansichten teilte – zusammenarbeitete. Beispielsweise entstand in gemeinsamer Arbeit das Drehbuch zu Falsche Bewegung (1975). Ein Jahr nach diesem erreichte der Neue deutsche Film einen seiner Höhepunkte mit Wenders Kinoerfolg Im Lauf der Zeit. Und ebenso in diesem Jahr, zehn Jahre nach seinem erstem großen öffentlichen Auftritt, publizierte Handke Die linkshändige Frau (1976) – eine Erzählung, in welcher die nachhaltige Wirkung des Kinos nun auch in seiner Prosa deutlich zutage trat.

Die Nähe der Textstruktur zum filmischen Erzählen wurde schnell von der Kritik erkannt und als Simulation einer filmischen Abfolge im Verfahren der „Segmentiertung“, als drehbuchtypisch eingeordnet[3]. Die Kritik ging sogar so weit, den Text nur als Vorlage für den gleichnamigen, später entstandenen Film anzusehen[4]. Viel zu kurz griff eine solch diffamierend pauschale Einschätzung der Erzählung und wurde dem niemals eindeutigen Text nicht gerecht. Peter Handke selbst betonte, dass „sein Film keine Literaturverfilmung sei, sondern daß vielmehr Buch und Film ihre Entstehung dem gleichen Erkenntnismoment verdanken, das er seit 1972 mit sich herumgetragen habe, nämlich einem <<Gefühl der Zusammengehörigkeit in der Verschiedenheit>>.“[5] Später warfen wohlgesonnenere Kritiker das Augenmerk schließlich doch auf den Eigenwert der Erzählung und anerkannt wurde sowohl ihr Textprinzip als Mittel einer Distanzierung des Lesers[6], sowie ihr mythenhafter Charakter in Bildern[7] wie im Geschehen[8], als auch die thematische Interpretation der Erzählung als Darstellung einer Selbstauslöschung/-findung[9]. Doch dies blieben einzelne Aspekte.

Aufzudecken wie, wann und warum der Text filmisch erzählt und dass sein Prinzip am Ende nicht nur weit über eine cineastische Darstellungsweise zum Selbstzweck hinausgeht, sondern alle die oben genannten Aspekte, als Teile einer neuen Weltanschauung, aufeinander bezogen werden, ist Hauptanliegen der folgenden Analyse. In einem ersten Teil sollen daher Handkes filmische und literarische Mittel und Textstrukturprinzipien aufgezeigt werden, ein zweiter Teil stellt sie hingegen als integrative Übersetzungsprozesse dar und dem ersten gegenüber. Ein dritter und abschließender Teil behandelt, dass mittels der bis dahin aufgezeigten Aspekte unterschiedliche Metaebenen in Die linkshändige Frau eingewebt werden und zeigt auf, wie sie den Gedanken des integrativen Prozesses zu einer Weltanschauung erweitern.

II. Das filmisch antiliterarische Strukturprinzip

II.1 Filmisches Erzählen

Zunächst einmal ist ein Film kein Buch und ein Buch kein Film. So banal und offensichtlich das klingt und vielleicht auch ist, so wird diese Aussage dennoch die Grundlage sein, auf der ich mich hier Handkes Text nähern möchte. Warum wir den Gegensatz Buch-Film so einfach bejahen können, ist zu allererst der unterschiedlichen Rezeptionsweise geschuldet – sehen und hören versus lesen. Wie kommt man also überhaupt dazu, Handkes Erzählweise als filmisch zu bezeichnen?

Ich möchte dafür den Blick direkt auf einen Textabschnitt werfen[10]:

An einem Winterspätnachmittag saß sie [die Frau] in dem gelben Licht, das von außen kam, am Fenster des ausgedehnten Wohnraums an einer elektrischen Nähmaschine, daneben ihr [...] Sohn, der einen Schulaufsatz schrieb. Die eine Längsseite des Raums war eine einzige Glasfront vor einer grasbewachsenen Terrasse mit einem weggeworfenen Christbaum und der fensterlosen Mauer des Nachbarhauses. Das Kind saß an einem braungebeizten Tisch über das Schulheft gebeugt und schrieb mit der Füllfeder, wobei seine Zunge zwischen den Lippen hervorleckte. Manchmal hielt es inne, schaute zur Fensterfront hinaus und schrieb dann eifrig weiter; oder es blickte zur Mutter hin, die, obwohl abgewendet, es merkte und zurückblickte.

Streng aus distanzierter Perspektive beschreibt der Erzähler wie ein Protokollant die Situation. Gut vorstellbar ist die Szene als Filmsequenz, da die bedeutenden, bildimmanenten Elemente der Filmtechnik deutlich hervorgehoben sind:

- die Kamera (sie ist lokalisierbar und ihre perspektivische Sicht verdeutlicht: von der dem Fenster gegenüberliegenden Wand aus sehen wir in den Raum und in diesem die beiden Akteure sitzen, hinter denen wir durch das Fenster die Umgebung erblicken),
- das Licht (es wird nicht nur im Farbwert: gelb, sondern auch die Lichtführung beschrieben: „von außen kommend“[11]),
- der Ton (die Szene wirkt leise, ruhig, wenn nicht sogar geräuschlos, da in ihr stark auditive Elemente vorkommen – leicht vorstellbare und typisierte Geräusche wie das Rattern einer Nähmaschine und das Kratzen eines Füllfederhalters –, deren Wertigkeit und Klang jedoch nicht definiert werden; wir wissen nicht einmal, ob die Frau nur vor der Nähmaschine sitzt, oder sie auch betätigt),
- der Schnitt (filmähnliche Schnitte sind an anderen Stellen des Buches besser erkennbar, s.u.).

Wie zur Beschreibung eines Bildausschnitts legt der Text beinahe stichpunktartig fest, was wir sehen und wie es beschaffen ist.

Weitere Aspekte filmischen Erzählens, die der Text ausschöpft, gehören zu denen des Tons und des Schnitts, lassen sich jedoch an einer anderen Textstelle besser exemplifizieren[12]:

Die Kinder schauten vor sich hin und fingen nacheinander zu grinsen an.

Die Frau: „Versteht mich bitte.“

Das Kind: „Kochst du uns jetzt etwas?“

Die Frau senkte den Kopf; dann sagte das Kind böse: „Ich bin auch traurig, nicht nur du.“

Sie saß im Schlafzimmer vor der Schreibmaschine; ohne zu tippen. Es war still im Haus. Vom Flur her näherten sich die Kinder, flüsternd und kichernd. Auf einmal schob die Frau die Schreibmaschine zur Seite, und diese fiel zu Boden.

In einem Großkaufs-Markt in der Nähe stapelte sie Riesenpakete in den Großeinkaufs-Wagen, diesen von einer Abteilung der Riesenhalle zur anderen schiebend, bis er übervoll war. In einer langen Reihe stand sie mit vielen Leuten an der Kasse; die Wagen der Kunden vor ihr so voll wie der ihre. Auf dem Parkplatz vor dem Großmarkt schob sie das schwere Gefährt, dessen Räder sich immer wieder querstellten, zum Auto. Sie lud das Auto voll, auch die hinteren Sitze, so daß sie nicht mehr zum Rückfenster hinausschauen konnte. Zuhause lagerte sie die Sachen im Keller, weil alle Kästen und die Tiefkühltruhe schon gefüllt waren.

In der Nacht saß sie im Wohnraum des Bungalow am Tisch und spannte ein Blatt Papier in die Maschine; saß still davor. Nach einiger Zeit legte sie die Arme auf die Maschine; dann den Kopf auf die Arme.

Später in der Nacht saß sie in der gleichen Haltung da, jetzt schlafend.

Sie wachte auf, schaltete die Lampe aus, ging aus dem Raum. Auf ihrer Wange war das Muster des Pulloverärmels. In der Siedlung waren nur noch die Straßenlaternen an.

Sie besuchten Bruno in seinem Büro in der Stadt;

Wie eine filmische Schnittfolge mit Szenenwechsel stehen sich hier Absätze, durch Leerzeilen getrennt, gegenüber,[13] so wie sich Schnitte ohne Szenenwechsel durch einfache Absätze manifestieren (im ersten und vorletzten Absatz).

Die Wirkung des filmischen Schnitts als Textstruktur wird hier jedoch nicht als filmische Textstruktur im Sinne eines Drehbuchs wahrgenommen. Vielmehr entstehen Bilder vor dem geistigen Auge des Betrachters durch die Beschreibung im Text; wie von der Leinwand abgeschrieben, nicht für die Leinwand „vorgeschrieben“.

Der Text wirkt vom Bild ausgehend und dennoch erschafft sich der Leser das Bild seiner Fantasie natürlich selbst. Dass dieses „Kino im Kopf“ so möglich wird, hängt vor allem auch mit dem Erzähltempo zusammen. Es ist völlig dem für den Film durch Szenen und Schnitte konstituierenden Tempo angepasst. Weder werden länger andauernde Zeitabschnitte innerhalb einer Szene durch den Erzähler zusammengefasst, noch ein minutiöses Augenmerk auf kurzweilige Handlungen gelegt: Die Erzählzeit entspricht innerhalb jedes szenischen Abschnitts konsequent der erzählten Zeit (wobei der szenische Charakter andererseits durch Zeitsprünge zwischen den Szenen, sowie rasche Szenenfolgen verstärkt wird). Und zugleich ist die Chronologie der Handlung nicht durch Rückblenden oder Vorausschau unterbrochen, sofern sie nicht in der direkten Rede durch einen der Protagonisten geschieht[14]. Was sich als filmisch für den Leser erweist, ergibt sich somit vornehmlich durch Übersetzungen von Filmtechniken auf den Prosatext, die dem Zuschauer als Betrachter bei einer Filmvorführung (noch) auffallen können. Und doch bleiben Partien des Dialoges dadurch so erhalten, wie sie nicht anders im Drehbuch vorzufinden wären. Es heisst nicht etwa „Die Frau sagte:“, sondern nur „Die Frau:“, wobei die indirekte Rede – filmisch gesehen – gänzlich ausgespart werden muss und wird. Die Wirkung des filmischen Erzählens entsteht damit einerseits durch direkte Übernahmen aus dem Film. Andererseits wirkt dies auf den Leser nur deswegen so stark, da klassische literarische Elemente dadurch fehlen oder zumindest zurückgedrängt werden.

[...]


[1] So Peter Handke in dem Aufsatz: „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“ von 1967. In: OZ 2007, S.38

[2] So Peter Handke 1966, zitiert nach der Sendung „Begegnungen“, 3sat Mai 2008. Nachzulesen unter http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/begegnungen/gvb/115981/index.html

[3] So v.a. Durzak 1982, S. 144

[4] Ebd.

[5] Sandberg 1986, S. 56

[6] So beispielsweise Thornton 1983, S. 76

[7] So beispielsweise Barthmann 1984, S. 219

[8] So beispielsweise Thornton 1983, S.80 ff.

[9] So beispielsweise Avventi 1984, S. 44/45, oder auch Linstead 1988, S. 165 ff.

[10] LF 2002, S.7

[11] Dieser Ausdruck könnte auf die Möglichkeit einer künstlichen Lichtquelle schließen lassen, wobei auf ihn als literarische Form im späteren Verlauf noch eingegangen werden wird.

[12] LF 2002, S.45-47

[13] Eine Ausnahme bildet der 2. Absatz, in dem mehrfache Szenenwechsel ohne Formatierungshinweis direkt aufeinanderfolgen: Supermarkt – Parkplatz/Auto - Zuhause

[14] Vgl. beispielsweise die Erinnerungsspiele von Mutter und Kind in LF 2002, S. 79/80

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Peter Handkes "Die linkshändige Frau" - Über filmisches Erzählen und die Erfindung einer Weltanschauung
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Deutsche und Niederländische Philologie)
Veranstaltung
Literatur und Film der 70er Jahre
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
24
Katalognummer
V117652
ISBN (eBook)
9783640200405
ISBN (Buch)
9783640206049
Dateigröße
466 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Anmerkungen der Professorin: "eine sehr originelle und überzeugende Analyse der Erzählung, die akribisch genau vorgeht und in der die Deutungsthesen überzeugend und argumentativ gut gestützt vorgetragen werden, die Parallelen zwischen Sehen und Übersetzen haben mich überrascht, aber eben auch überzeugt! Wegen kleinerer Fehler noch sehr gut (1,3)" - all diese Rechtschreibfehler habe ich vor der Publikation bei Grin behoben.
Schlagworte
Peter, Handkes, Frau, Erzählen, Erfindung, Weltanschauung, Literatur, Film, Jahre
Arbeit zitieren
Carolina Franzen (Autor:in), 2008, Peter Handkes "Die linkshändige Frau" - Über filmisches Erzählen und die Erfindung einer Weltanschauung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/117652

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