In dieser Arbeit soll anhand seines ersten veröffentlichen Buches "Down and Out in Paris and London" und den beiden Romanen "A Clergyman`s Daughter" und "Keep the Aspidistra Flying" gezeigt werden wie Orwell das englische Klassensystem darstellt, welche persönliche Entwicklung er in seinen Betrachtungen durchlebte und welche Schlussfolgerungen seine Erfahrungen nach sich zogen. Da ein Hauptaugenmerk bei George Orwell immer auf der Frage lag, ob ein Überwinden der Klassengrenzen möglich sei, soll auch in dieser Arbeit der Schwerpunkt auf diesem Problemkomplex liegen. Hier soll die Entwicklung Orwells, vom jungen, schuldbewussten Schriftsteller, der ein Einreißen der Klassengrenzen nicht nur für möglich sondern auch für notwendig hielt, hin zum anerkannten Autor, der diese Thesen klar verneint und die Überwindung des Hasses, der Vorurteile und der Isolation, nicht aber die Gleichmachung der Gesellschaft als oberstes Ziel ausweist, bewiesen werden
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Down and Out in Paris and London
2.1 Paris und die Sklaven der modernen Welt
2.2 London und das Leben als Tramp
3. A Clergyman`s Daughter
3.1 Das Leben einer Pfarrerstochter
3.2 Dorothys Abstieg
3.3 Die Rückkehr zum Status quo
4. Keep the Aspidistra Flying
4.1 Die Allmacht des Geldes
4.2 Gordons Beziehung zu Rosemary und Ravelston
4.3 Gordons Rückkehr ins „normale“ Leben
4.3.1 Der Sieg der Aspidistra
4.3.2 Happy End oder Versagen?
5. Schlussbetrachtung
6. Literatur- und Quellenverzeichnis
1. Einleitung
„Niemand hat das innerste Wesen unserer Epoche so tief und so richtig erfasst, wie Orwell. Sein Werk ist der gelungenste Versuch eines Selbstverständnisses unserer Zeit, und weist damit auch auf mögliche Auswege aus unserer geistigen und moralischen Not.“
Dieses Urteil fällte Dr. Ludwig Borinski in seinen Ausführungen über die Meister des modernen englischen Romans (280) und er unterstützt damit die Aussage von Jonathan Rose, eines Studienkollegen Orwells, dass dieser wohl die beste Zusammenfassung der modernen englischen Gesellschaft schuf, die je ein einzelner zustande bekommen hat(28) . Was ihn hierbei besonders auszeichnete war die Fähigkeit nicht nur über die eigene Klasse zu berichten, wie es die meisten seiner Kollegen taten, sondern eine klassenübergreifende Darstellung der englischen Gesellschaft zu liefern( Rose 28) .
Der Grund für dieses außergewöhnliche Talent ist bei George Orwell ganz klar in seiner Biographie zu suchen. Seine Jugend bietet den ersten Anhaltspunkt. Er wächst in einer eher ärmlichen Familie der Mittelschicht auf, die sich nur durch ihre edle Herkunft, nicht aber durch ihr Einkommen, von der Arbeiterklasse unterscheidet (Atkins 164) . Er erfährt am eigenen Leib, dass trotz oder gerade durch die unmittelbare Nachbarschaft zu den unteren Klassen, der Graben zwischen Arbeiter- und Mittelklasse, durch Vorurteile und gegensätzliche Lebensweisen, so groß wird, dass es unmöglich scheint ihn wieder zu überwinden (Atkins 154) . Die Schulzeit verbrachte er an den Privatschulen von St. Cyprian und Eton. Die Diskriminierung aufgrund seiner relativen Armut im Vergleich zu seinen Mitschülern prägten nicht nur seine negative Meinung über das englische Bildungssystem, sondern verstärkten ebenso seine Sensibilität gegenüber sozialer Ungerechtigkeit (Lang 17) .
Entscheidender für seine künftige Karriere als politischer und sozialkritischer Autor, sollte jedoch seine Erfahrung als britischer Polizeioffizier, in der Kolonie Burma, angesehen werden. In seiner sechsjährigen Dienstzeit , als aktiver Teil des imperialistischen Systems, wuchs in ihm die Erkenntnis, dass dieses System der Unterdrückung, einer, per damaliger Definition, minderwertigen Rasse, falsch sei (Williams 101) . Außerdem zog er Parallelen zwischen der Unterdrückung der Burmesen durch die Engländer und der Unterdrückung der englischen Arbeiterklasse durch die höheren Schichten der englischen Gesellschaft (Woodcock 81f.). Er selbst beschrieb es in The Road to Wigan Pier mit den Worten: “I now realized that there was no nead to go as far as Burma to find tyranny and exploitation“ (Orwell, “The Road to Wigan Pier” Kapitel 9) . Die Grundlage für die Tyrannei und die Ausbeutung der unteren Klassen stellte für ihn das englische Klassensystem selbst dar. Während es in Burma seine Rasse war, die ihn selbst zum Unterdrücker und damit zum Schuldigen werden ließ, war es in England seine edle Herkunft (Crick 243) . Um sich eines Teils dieser Schuld zu entledigen, musste er nicht nur aus Burma fliehen, wie er selbst schrieb “not merely from imperialism but from every form of man`s dominion over man” (Orwell, “The Road to Wigan Pier” Kapitel 9), sondern auch direkte Erfahrungen sammeln mit wahrer Armut, Unterdrückung und Ausbeutung. Also “to submerge himself, to get right down among the opressed, to be one of them on their side against the tyrants” (Orwell, “The Road to Wigan Pier” Kapitel 9) .
In den Jahren von 1927, dem Jahr, in dem er seinen Dienst in Burma quittierte, bis zu seiner Expedition nach Spanien und der Teilnahme am dortigen Bürgerkrieg im Jahre 1937 studierte er so die unteren Schichten der Gesellschaft und verarbeitete seine Erfahrungen und Beobachtungen in mehreren fiktionalen und nichtfiktionalen Werken (Lang 12f.) .
In dieser Arbeit soll anhand seines ersten veröffentlichen Buches Down and Out in Paris and London und den beiden Romanen A Clergyman`s Daughter und Keep the Aspidistra Flying gezeigt werden wie Orwell das englische Klassensystem darstellt, welche persönliche Entwicklung er in seinen Betrachtungen durchlebte und welche Schlussfolgerungen seine Erfahrungen nach sich zogen. Da ein Hauptaugenmerk bei George Orwell immer auf der Frage lag, ob ein Überwinden der Klassengrenzen möglich sei, soll auch in dieser Arbeit der Schwerpunkt auf diesem Problemkomplex liegen. Hier soll die Entwicklung Orwells, vom jungen, schuldbewussten Schriftsteller, der ein Einreißen der Klassengrenzen nicht nur für möglich sondern auch für notwendig hielt, hin zum anerkannten Autor, der diese Thesen klar verneint und die Überwindung des Hasses, der Vorurteile und der Isolation, nicht aber die Gleichmachung der Gesellschaft als oberstes Ziel ausweist, bewiesen werden (Woodcock 145) .
2. Down and Out in Paris and London
Mit der Veröffentlichung von Down and Out in Paris and London am 9. Januar 1933, durch den Verleger und Mitbegründer des Left Book Clubs Victor Gollancz, erschien nicht nur Orwells erstes Buch überhaupt, sondern trat Eric Blair auch zum ersten mal unter seinem Pseudonym, George Orwell, in Erscheinung (Atkins xiii). Damit endete für ihn eine, durch zahlreiche Misserfolge und Rückschläge geprägte und fast sechs Jahre dauernde, Periode sich als Schriftsteller durchzusetzen (ebd.).
Das Werk stellt die literarische Umsetzung seiner gesammelten Erfahrungen als Landstreicher in London und Tellerwäscher und junger, erfolgsuchender Autor in Paris dar (ebd.). Das grundsätzliche Thema ist Armut (Lang 34). Er schreibt dazu: “Poverty is what I am writing about and I had my first contact with poverty in this slum” (Orwell, “Down and Out in Paris and London“ Kapitel 1). Die Bezeichnung erster Kontakt resultiert aus der These, dass er in Burma zwar genug Armut gesehen habe, jedoch von der falschen Seite aus, und das er in seiner Jugend weitestgehend von der Armut abgeschottet wurden sei (Woodcock 113). Außerdem wird der Abstieg in die unteren Klassen dargestellt, wie es ja schon der Titel verrät. Hierbei steht das `Down` für den Abstieg aus der Mittelschicht in die Klasse der Arbeiter und die Klasse der Ausgestoßenen. Das `Out` repräsentiert das Leben außerhalb seiner normalen gesellschaftlichen Stellung und außerhalb der damit verbundenen Denkweisen, Ansichten und Verhaltensweisen (ebd.109). Er beschreibt die zahlreichen Arten und Folgen der Armut, insbesondere der untersten Schichten der Gesellschaft, weist auf die physischen und psychischen Probleme hin, die das Leben in Armut für ein Mitglied der Mittelschicht bedeutet und versucht mit Vorurteilen gegenüber den Armen aufzuräumen. Sein oberstes Ziel dabei bleibt die Aufklärung. Die vorrangig aus der Mittelschicht stammende Leserschaft wird am Ende nicht als Schuldiger hingestellt, sondern soll durch seine Beobachtungen zum Nachdenken gebracht werden (Gardner 23).
2.1 Paris und die Sklaven der modernen Welt
Die ersten dreizehn Kapitel des Buches beschäftigen sich mit dem Leben in Paris als Schriftsteller, der von seinen Ersparnissen lebt und versucht sich durch Veröffentlichungen seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Als dies nicht gelingt und seine Ersparnisse aufgebraucht sind, beginnt der Protagonist der Geschichte als Plongeur, einer Art von Tellerwäscher, in verschiedenen Hotels zu arbeiten. Das Außergewöhnliche daran ist nicht die Mittellosigkeit des jungen Schriftstellers, sondern seine Weigerung Hilfe aus seiner privilegierten Klasse, sprich seiner Familie oder Freunde, anzunehmen. Ohne größere Probleme hätte er Geld oder einen guten, seiner gesellschaftlichen Stellung entsprechenden, Arbeitsplatz erhalten können, doch er glaubte durch die Verweigerung am besten das Gefühl der Armut, aus der Perspektive eines Arbeiters, zu erleben (Stansky und Abrahams 251).
Die Stellung des Plongeurs beschreibt Orwell als die eines Sklaven von Sklaven (Woodcock 115), die Organisation des Hotels hingegen als ein Modellklassensystem, einen Mikrokosmos, der sozialen Hierarchie innerhalb der Gesellschaft. So ergibt sich eine komplizierte Rangordnung unter den Angestellten, wobei der Plongeurs die unterste Stufe repräsentiert (ebd.116). Er kontrastiert er das luxuriöse Leben der Hotelgäste mit der Ausbeutung der Angestellten (Meyers 6) und macht auf die strikte Trennung dieser beiden Sphären aufmerksam. Die Parallele, zur Situation zwischen den Engländern und Einheimischen in Burma, sowie zwischen der Mittel- beziehungsweise Oberschicht und den unteren Klassen in England, kann dementsprechend leicht gezogen werden (Woodcock 116). Die Unterdrückung der einen Klasse ermöglicht der anderen Klasse ihr privilegiertes Dasein, ob in den Kolonien, der englischen Gesellschaft oder in dem Grand Hotel in Paris (Schröder 50f.).
Laut Orwell herrscht unter den Unterdrückern die ständige “fear of the mob” (Means 41f.), sprich die Angst, dass die Unterdrückten ohne die Unterdrückung zu Aufständischen würden und somit der Lebensstil der höheren Klassen in Gefahr wäre (Woodcock 117). Am Beispiel des Tellerwäschers beschreibt er es wie folgt:
“A plongeur is a slave, and a wasted slave, doing stupid and largely unnecessary work. He is kept at work ultimately, because of a vague feeling that he would be dangerous if he had leisure.” (Orwell, “Down and Out in Paris and London“ Kapitel 22)
Für Orwell teilt sich die Gesellschaft in Herrscher und Beherrschte, Arme und Reiche und Gebildete und Ungebildete, wobei die Angst diese Trennung aufrecht hält. Er selbst überwindet diese Angst und kann so die Gleichheit aller Klassen feststellen (Woodcock 118). Allerdings zeigt sich in seinen späteren Werken, dass er das anfängliche Bestehen auf den Gleichheitsgedanken mehr und mehr aufgibt. Er erkennt, dass die Klassen sich in mehr unterscheiden als in ökonomischen Gesichtspunkten. Zunehmend stellt er psychologische Unterschiede fest, die ein Überwinden der Klassengrenzen sehr viel schwerer, wenn nicht unmöglich, machen (ebd.120f.).
Eine weitere Erkenntnis, die Orwell während seiner Zeit im Grand Hotel machte, beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen Moralvorstellungen und Klassenzugehörigkeit. Anfangs versuchte er seinen ethischen Code aufrechtzuerhalten, musste aber schnell feststellen, dass er in der Umgebung der Hotelküche völlig nutzlos und sogar schädlich für ihn sein konnte. Sowohl seine gewählte Ausdrucksweise, seine Freundlichkeit, als auch sein Gefühl für Anstand erwiesen sich zum einen als wertlos, da man die Konsequenzen bei eventuellem Fehlverhalten nicht fürchten musste, zum anderen als gefährlich, da seine Kollegen jede dieser „Schwächen“ für sich ausnutzten (Atkins 24f.).
Obwohl das „Ich“ in Down and Out in Paris and London das selbe Leben führte wie ein Angehöriger der Arbeiterklasse, blieb ein fundamentaler Unterschied die ganze Zeit über bestehen. Die Chance des sozialen Aufstiegs, die für seine Kollegen nicht existent war, blieb ihm ständig erhalten (Woodcock 118). Dies zeigt sich deutlich in seiner Entscheidung, wieder nach London zurückzukehren. Er nimmt seine angestammte gesellschaftliche Position wieder ein, denn nur dort scheint es ihm möglich Schriftsteller zu werden (Stansky und Abrahams 256).
2.2 London und das Leben als Tramp
Ein Jobangebot als Privatlehrer bringt den Protagonisten wieder zurück nach London. Dort angekommen stellt sich heraus, dass er die Stelle noch gar nicht antreten kann und somit der dringend benötigte Lohn natürlich ausbleibt. Erneut weigert er sich Hilfe bei Freunden und Verwandten zu suchen. Es kommt ihm auch nicht in den Sinn, sich zur Überbrückung eine andere Arbeit zu suchen. Die einzige Lösung, die ihm logisch erscheint, ist das Leben als Obdachloser beziehungsweise Landstreicher (Stansky und Abrahams 277). Da er anfangs jedoch noch über etwas Geld verfügt, übernachtet er zunächst in einer Unterkunft für die Arbeiterklasse. Er berichtet wiederum von der Angst , die ihn , ein Mitglied der Mittelschicht, beim Gedanken an die Arbeiter befiel. Besonders der Moment, der aufgrund seines Akzents zwingend kommen musste, da sie ihn als Gentleman ausmachen würden, bereitete ihm große Sorgen. Beim Betreten der Herberge wird ihm allerdings als erstes eine Tasse Tee angeboten und er wird mehr als freundlich aufgenommen. Orwell zeigt somit zum wiederholten Male, die Fehlerhaftigkeit der Mittelklassevorurteile gegenüber den unteren Klassen (ebd. 275).
Um seine sehr knappen Finanzen etwas aufzustocken und um sich auch äußerlich dem Leben in Armut anzupassen, tauscht der Erzähler seine Sachen gegen Lumpen. Diese Verwandlung, von Orwell in späteren Schriften als Kostümierung empfunden (ebd. 277), führt augenblicklich dazu, dass ihn seine Umgebung anders wahrnimmt (Means 41f.). Er schreibt dazu: “When a badly dressed man passes them they shudder away from him with a quite frank movement of disgust, as though he were a dead cat.“ (Orwell, “Down and Out in Paris and London“ Kapitel 24) . Aber auch positive Erfahrungen verbinden sich für ihn mit seiner neuen Erscheinung. So ist er hellauf begeistert, als ihn jemand mit Kumpel anspricht. Solche Momente, in denen er Kameradschaft und Akzeptanz erlebt, stellen die psychologische Belohnung für sein selbstgewähltes Leben am Abgrund dar. Weder in St. Cyprian und Eton, noch in Burma wurde er vergleichbar warmherzig aufgenommen (Stansky und Abrahams 278).
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- Arbeit zitieren
- Sebastian Selle (Autor:in), 2007, Die Darstellung des englischen Klassensystems in George Orwells frühen Werken, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/117670