Interaktiver Film. Dramaturgie, Design, Produktion


Diplomarbeit, 2006

106 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

TEIL I -Theoretische Betrachtungen

1 Was bedeutet Interaktion

2 Wesensart des Interaktiven Films
2.1 Was bedeutet Interaktion in Bezug auf Film?
2.2 Interaktiv/Linear/Nonlinear/Metalinear
2.3 Metalineares Erzählen
2.4 Entwicklung von metalinearen Systemen
2.4.1 Die Baumstruktur (Tree)
2.4.2 Das Flussdiagramm (Directed Network)
2.4.3 Das Netzwerk (Network)
2.4.4 Das absolute Netzwerk (Complete Graph)
2.4.5 Das lineare System mit Nebenereignissen (Vector with Side-Branches)
2.4.6 Das Multiperspektiv-System / Verflochtene Handlung (Braided Plot)
2.5 Anwendungsmöglichkeiten der metalinearen Systemen
2.5.1 Literatur in Buchform
2.5.2 Hypertext
2.5.3 Film
2.5.4 Games
2.6 Story-Worlds

3 Dramaturgie
3.1 Narration nach der griechischen Tragödie im klassischen und interaktiven Film
3.1.1 Grundsätzliches
3.1.2 Ziel
3.1.3 Bestandteile des Plots
3.1.4 Beschaffenheit des Helden
3.1.5 Die sechs qualitativen Strukturelemente
3.1.6 Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit
3.1.7 Plotherstellung
3.2 Dramatisches Potential eines Plots
3.3 Dramatischer Verlauf / Anordnung
3.4 Modelle der Heldenreise
3.5 Diskussion

4 Emotionale und temporäre Immersion / Eintauchen in Fiktion

5 Autor !?
5.1 Die Rolle des Rezipienten
5.2 Die Rolle des Autors

TEIL II - Interaktiver Film in der Praxis

6 Interaktiver Film in der Praxis
6.1 Einbindung des Rezipienten
6.1.1 Point of View (POV)
6.1.2 Kognitive Dissonanz / Cognitive Dissonance
6.1.3 Cut-Scenes
6.2 Interaktionsdesign
6.2.1 Motivation zur Interaktion
6.2.2 Praktische Interaktionsideen für filmische Sequenzen
6.2.3 Entscheidungspunkte / Cue-Points ohne Unterbrechungen realisieren
6.2.4 Verbs
6.2.5 Tool-Design
6.2.6 Interface
6.3 Bestandsaufnahme / Wichtige Werke auf dem Weg zum interaktiven Film
6.3.1 One Man and His World
6.3.2 Mr. Payback
6.3.3 Choose your own Adventure Books
6.3.4 Hypertext-Fiction
6.3.5 Dictionary of the Khazars [Pavi]
6.3.6 Erste Adventure-Games
6.3.7 The X-Files-Game
6.3.8 Aspen Movie Map
6.3.9 Sens Dessus Dessous [Sens]
6.3.10 Half-Life 2
6.3.11 Max Payne 2
6.3.12 Uncompressed
6.3.13 Installationen
6.4 Dokumentarfilm und Lernsoftware / Edutainment

7 Der eigene interaktive Kurzfilm: „Liebe mich oder stirb“
7.1 Ziel
7.2 Systementwicklung
7.3 Story / Dramaturgie
7.4 Drehbuchentwicklung
7.5 Dreh / Technik
7.5.1 Technik
7.5.2 Der Dreh
7.6 Postproduktion
7.7 Interface-Design
7.8 Vorführung / Reaktionen
7.9 Fazit zu „Liebe mich oder stirb“

8 Resümee

Quellen & Literaturverzeichnis:

Anhang A - Begriffserklärungen

Anhang B – Drehbuch „Liebe mich oder stirb“

Anhang C – Abbildungsverzeichnis

Einleitung

Wenn ich in letzter Zeit Bekannten erzählte, dass ich meine Diplomarbeit über den interaktiven Film schreibe, erfuhr ich oft ähnliche Reaktionen. Das seien doch Filme, bei denen man selber die Handlung bestimmen kann. Gibt es so was denn schon? Diese Reaktion ist in sich wider- sprüchlich, da auf der einen Seite gesagt wird, dass etwas über die Existenz bekannt ist (Hand- lung bestimmen), auf der anderen Seite haben sie so etwas noch nicht bewusst erlebt. Aber die Reaktion beschreibt auch ganz gut das Dilemma, in welchem ich mich am Anfang dieser Arbeit befand.

Ich musste mich fragen, wie der Begriff interaktiver Film einzuengen ist, ob nicht z.B. Compu- terspiele bereits interaktive Filme sind. Auf der anderen Seite musste ich nach Beantwortung der ersten Frage entsprechende Beispiele und Arbeiten finden, die sich hiermit beschäftigen. Und davon gibt es wenige, ganz abgesehen davon, dass es den interaktiven Film nicht gibt. Wenn jemand über den deutschen Film in den dreißiger Jahren schreibt, so ist das Material eindeutig vorgegeben und damit auch die Erwartung des Lesers. Anders hier, aber gerade dieser Fakt hat mein Interesse und meine Begeisterung für dieses Thema verstärkt. Ich beschloss, mich auf den narrativen Film zu beschränken, um auf der einen Seite das Feld etwas einzuschränken und auf der anderen halte ich diesen Bereich für den spannendsten. Ich gehe in dieser Arbeit auch auf andere Filmbereiche wie Dokumentarfilm oder Lernfilm ein, aber nur am Rande.

Ich hatte nie das Bild eines interaktiven Films, der eigentlich wie ein herkömmlicher Film ab- läuft und dann an einigen Punkten anhält und den Zuschauer fragt: „Soll unser Protagonist die hübsche Frau nun küssen oder doch lieber noch ein Bier trinken?“. Dies ist eine Möglichkeit unter vielen.

Für mich lässt sich das Ziel eines narrativen interaktiven Films eindeutig herleiten. Es gibt neben vielen anderen visuellen Erzählformen heute zwei sehr populäre, die eine ist der Film, ob nun im Kino oder auf dem heimischen Fernseher, die andere ist das Computerspiel. Die heutigen Gene- rationen wachsen mit beidem auf. Der narrative Film ist so erfolgreich, da er die Möglichkeit hat, mittels seiner Dramaturgie und seinem Aufbau das emotionale System des Menschen zu beeinflussen und ihn zum Fühlen anzuregen. Dies wird von den Zuschauern sehr geschätzt, ich glaube die meisten Menschen werden mir zustimmen, wenn ich sage, dass das Hauptziel eines Films das Wecken von Emotionen ist. Das Computerspiel hingegen ist so erfolgreich, da der Zuschauer, den ich hier eher User nennen sollte, selbst eingreifen kann; er kann interagieren. Warum sollte ein Zuschauer sich immer mit der angebotenen Perspektive abgeben. Mich interes- siert der Koffer gar nicht, sondern das, was der Mann denkt, als er den Koffer sieht. Kurz gesagt, hier habe ich zwei Konzepte, um einen Zuschauer zu begeistern, seine offensichtlichen Bedürf- nisse nach Erzählung, Mythen und emotionaler Berührung zu befriedigen. Was läge nun näher, als zu versuchen diese Konzepte zusammenzuführen, eine neue Form zu finden und damit die Erfahrung des Zuschauers noch zu vertiefen. Dem Film mangelt es an Interaktivität, dem Spiel an Narration, an Story. Also beides zusammenfügen, mischen und fertig ist das ultimative Erleb- nis…

Dieser Gedankengang begeisterte mich für dieses Thema und nach anfänglichen Recherchen und der Einsicht, dass es bei weitem nicht so einfach ist und deshalb viel geforscht werden kann, war das Thema für meine Diplomarbeit geboren und mein Engagement hat seitdem stetig zugenom- men.

Wie soll ein interaktiver Film funktionieren? Wie schon gesagt sollen Gefühle geweckt werden. Wenn man dies aber etwas genauer betrachtet, so weckt ein Film nicht per se Gefühle, sondern er lädt den Zuschauer ein, etwas zu fühlen. Wenn dieser das nicht möchte, sich z.B. nur darauf konzentriert, was an dem Film denn nun „unrealistisch“ sei, so wird er wohl kaum am Ende in Tränen ausbrechen. Der interaktive Film will diese Einladung erweitern, es wird nicht nur zum Fühlen sondern auch zum Denken eingeladen. Der Zuschauer soll die Möglichkeit haben, durch das Treffen von eigenen Entscheidungen seine Gedanken und Vorstellungen mit einzubringen; d.h. weg von dem „sich berieseln lassen“ hin zu einer aktiven Rolle des Zuschauers. Damit soll der Tiefgang, die emotionale Einbindung des Zuschauers verstärkt und seine Filmerfahrung er- weitert werden. Der Film soll mehr erlebt, weniger gesehen werden.

Das so logisch klingende Ziel bricht aber mit narrativen Konventionen des klassischen Films, wie in dieser Arbeit noch ausführlich besprochen wird. Diese Konventionen bestehen darin, dass der Zuschauer vom Autor des Films in eine Welt mitgenommen wird und ihm folgt, sich völlig auf seine Art der Erzählung und Dramaturgie einlässt. Es gibt nicht wenige Leute, die behaupten, dass Narration und Interaktivität sich ausschließen (vgl. Kap. 3.5). Entweder, ich will eine Ge- schichte hören (sehen) oder aber eine selbst gestalten. Möchte ich sie selbst gestalten, so kann aber niemand für eine gelungene Dramaturgie garantieren. Es stimmt zwar, dass diese beiden Dinge durchaus gegensätzlich wirken können, aber ausschließen tun sie sich nicht (vgl. Kap. 3). Ich möchte zudem dagegenhalten, dass die ursprünglichste Form der Narration, die Geschichte vorgetragen von einem Erzähler, sehr interaktiv ist. Der Erzähler kann jederzeit vom Zuhörer unterbrochen werden und seine Geschichte entsprechend der Zuschauerreaktion anpassen. Also bricht interaktiver Film mit Konventionen des Kinos, geht aber hin zu ursprünglichen Konversa- tionen der Narration im Allgemeinen.

Ich werde in dieser Arbeit die klassische Dramaturgie des Films auf Basis der Aristotelischen Poetik untersuchen und eruieren, wie sich diese Konzepte auf eine interaktive Dramaturgie über- tragen lassen, wie sich das Verhältnis von Autor und Rezipient ändert und wie sich das alles praktisch anwenden lässt.

Dazu werde ich die Arbeit in zwei Teile aufteilen, in einen theoretischen und einen praktischen. Im theoretischen werde ich zuerst den Begriff Interaktion erörtern und für meine Arbeit definie- ren. Die Vorstellungen zu dem Wort gehen sehr weit auseinander und eine Herleitung des Beg- riffs wird bei der Sensibilisierung des Themas helfen. Dann werde ich überlegen, was dies für den Begriff des interaktiven Films bedeutet, was Interaktion in Bezug auf Film bedeutet. Ich werde die Begriffe Linear, Nonlinear und Metalinear sortieren sowie definieren und mich dann mit metalinearen Erzählstrukturen beschäftigen, der einfachsten Form von interaktivem Film.

Als nächstes folgt dann die ausführliche Analyse von Möglichkeiten der Aristotelischen Drama- turgie und deren Weiterentwicklungen in der Verbindung mit Interaktionsmöglichkeiten. Ich werde mich dem emotionalem und temporärem Tiefgang einer Geschichte widmen und typische, von einigen Menschen als ursprünglich, dem Menschen eigene betrachteten, Handlungsstruktu- ren beschäftigen. Ich werde der Frage nachgehen, wie sich die Beziehung zwischen Autor und Rezipienten verändert und ob es den Autor in interaktiver Fiktion überhaupt noch gibt.

Der praktische Teil dieser Arbeit beschäftigt sich damit, wie man einen interaktiven Film gestal- ten kann, welche Dinge es ganz konkret zu beachten und zu bedenken gibt und welche Beispiele existieren. Dabei spielen auch Fragen wie das Interface-Design, Motivationen des Users zur In- teraktion und Art der Rezipienteneinbindung eine Rolle. Ich werde selber einen interaktiven Kurzfilm herstellen, meine Herangehensweise begründen und das Ergebnis präsentieren. Hierbei ist mir vor allen Dingen wichtig, auf die vorgestellten Theorien und Annahmen einzugehen und diese praktisch zu überprüfen.

Wie kann man in einem interaktiven Film einen Dramaturgieverlauf erzeugen, den Zuschauer durch Interaktion einbeziehen und durch entsprechendes Design ein für den Zuschauer erfolgrei- ches, neuartiges Filmerlebnis erzeugen? Was für eine Erzählform kann sich entwickeln?

Wenn der Leser diese Fragen nach Lektüre dieser Arbeit für sich besser beantworten kann, so habe ich mein Ziel erreicht.

Ich werde mich in dieser Arbeit sowohl mit der Interaktion im Kino als mit der Interaktion zu Hause, z.B. am Computer, beschäftigen, hauptsächlich aber mit der zweiten Möglichkeit, da die Möglichkeiten in einer Massenveranstaltung doch stark eingeschränkt sind.

Es sei darauf hingewiesen, dass ich in dieser Arbeit der Einfachheit halber und zur besseren Les- barkeit stets die männliche Form von Wörtern verwenden werde. Ich werde zudem die Begriffe Interaktor und Narration benutzen, wobei Narration für die Erzählung steht, allerdings ohne dies auf die mündliche Art und Weise zu beziehen. Es ist dem englischem entliehen. Mit Interaktor beschreibe ich die interagierende Person, den handelnden Menschen. Ich möchte außerdem im Vorfeld darauf hinweisen, dass viele Anglizismen genutzt werden, dies beruht nicht auf meiner Liebe zur englischen Sprache, sondern darauf, dass die Internationalisierung im Bereich des Films und des Computers so weit ist, dass für bestimmte Dinge einfach nur englische Wörter existieren, oder diese zumindest oft genutzt werden. Damit möchte ich auch dem Leser die Mög- lichkeit geben, diese Fachbegriffe gleich kennen zu lernen.

Danksagung:

Ich danke meiner Familie für die seelische und materielle Unterstützung. Ebenso danken möchte ich Carsten Albrecht und Benni Schröder für das Korrekturlesen dieser Arbeit, den Schauspie- lern Julian Engels und Ivonne Polizzano für ihren großen Einsatz, Tobias Wursthorn für seine Unterstützung in technischen Fragen und Prof. Gunther Rehfeldt für die Betreuung.

1 Was bedeutet Interaktion

Der Begriff Interaktion wird im Wörterbuch der deutschen Sprache [Wahr] folgendermaßen de- finiert:

In|ter|ak|ti|on [f. 10] wechselweise Handlung, wechselweises Vorgehen, wechselseitige Beein- flussung (von miteinander in Beziehung stehenden Personen)

In Meyers Lexikon [Meye] wird die Herkunft des Wortes folgendermaßen beschrieben:

inter: [lat.] Vorsilbe mit der Bedeutung ›zwischen‹ oder [engl.] Zwischen...; Wechsel... agere: [lat.] handeln oder action: [engl.] Unternehmung, Handlung oder gemeinsames, gezieltes Vorgehen, planvolle Maßnahme.

Das Wort verbindet demnach eine Aktion mit einer wechselseitigen Beziehung zwischen zwei Personen, wobei die Personen auch Maschinen sein können. Es handelt nicht einer, sondern zwei oder mehr Parteien, die sich gegenseitig beeinflussen. Das Produkt dieser Interaktion hätte eine Partei alleine nicht erreichen können. Bemerkenswert ist die Beschreibung wechselseitigen Wir- kens, da dies ein gleichzeitiges Wirken ausschließt, also so verstanden werden muss, dass die eine Seite etwas tut und dann die andere darauf reagiert, dann wiederum die erste usw.

Bei der Betrachtung der Felder der Wissenschaft kommen überall Interaktio- nen/Wechselwirkungen vor, z.B. zwischen zwei chemischen Substanzen. Dabei folgt die Wech- selwirkung immer dem Schema „wenn A dies und dies tut, so wird B dies und dies tun, worauf- hin A dies …“. Mittels Erfahrung und Berechnung ist die Interaktion vorhersehbar.

In der Psychologie hat der Begriff Interaktion eine sehr große Bedeutung, er beschreibt ein grundsätzliches menschliches Verhalten, ähnlich wichtig wie Denken oder Fühlen [vgl. Kübl 22]. Ist die Interaktionsfähigkeit eines Menschens mit seiner Umwelt gestört, so kann das psy- chologisch beschrieben und analysiert werden. In der Psychologie wird davon ausgegangen, dass eine Interaktion nur aufrechterhalten wird, wenn nach Überprüfung des Nutzens und des Auf- wands die interagierende Person zu einer positiven Bilanz kommt. Es findet also während einer Interaktion ein sich wiederholender Berechnungs- und Bewertungsprozess statt.

Bei der Übertragung des Konzepts auf die Interaktion mit Narration, ergibt sich die logische Konsequenz, dass dem Interaktor stets ein Ziel bewusst gemacht werden muss, z.B. seine Neu- gier nach dem Ende einer Geschichte muss befriedigt werden. Eine freie Interaktion zwischen zwei Menschen kann entstehen, da sie nicht einem vorgefertigten Programm folgen, oder dieses zumindest so komplex ist, dass es bis heute nicht berechnet werden kann. Bei der Interaktion mit Maschinen stellt sich das natürlich anders dar, es kann lediglich das Programm der Maschine so komplex gestaltet werden, dass der Mensch das Gefühl der freien Interaktion hat, aber jeder Schritt der Maschine ist Normalfall voraussehbar, vom Erbauer vorgegeben.

Interaktion und Kommunikation sind sich sehr nah und treten immer gemeinsam auf; wobei der Unterschied so definiert werden kann, dass Interaktion die Aktion beinhaltet, während Kommu- nikation immer stattfindet, z.B. allein durch Körperhaltung kommuniziert der Mensch. Dieser Unterschied wird bei der Interaktion mit einer Maschine praktisch minimiert, da die Maschine nur auf Aktionen des Menschen reagieren kann, welche nicht wissenschaftlich messbar sind, z.B. seine Ausstrahlung. Sensoren können Spannungen in Gesichtsmuskeln, Gehirnströme usw. zwar messen, aber wiederum ist der Mensch als zu komplex anzusehen um sein Gesamtbild, seinen emotionalen Zustand, exakt messen zu können. [vgl. Kübl 22ff]

2 Wesensart des Interaktiven Films

2.1 Was bedeutet Interaktion in Bezug auf Film?

Grundsätzlich bedeutet Interaktion, dass der Rezipient auf irgendeine Art und Weise Einfluss auf den Verlauf des Films nehmen kann. Ob es sich um einen veränderter Storyverlauf, eine andere Kameraperspektive oder vielleicht um einen anderer Audiokommentar handelt, ist zweitrangig. Der Film ist unter den darstellenden, erzählerischen Künsten damit eine Besonderheit. Das Thea- ter z.B. ist es von Natur aus interaktiv, da Schauspieler immer auf die Resonanz des Publikums reagieren, wenn evtl. auch nur minimal. Meldet sich das Publikum lauter zu Wort, etwa durch Buh-Rufe oder Applaus, so wird dies umso mehr Auswirkungen haben. Der größte Fall von In- teraktion wäre gegeben, wenn ein oder mehrere Zuschauer auf die Bühne steigen würden und Regieanweisungen nach ihrem Gutdünken gäben oder selber mitspielten.

Auch beim Film findet bereits Interaktion statt. Diese ist nur indirekter als beim Theater oder anderen Live-Performances. Wenn z.B. ein Kinofilm ein Kassenschlager wird oder total floppt, so wird dies von jedem ernstzunehmendem Produzenten analysiert und in die Schlussfolgerung der nächsten Projektplanung einfließen. So hat der Zuschauer Einfluss auf die nächste Geschich- te, zumindest auf das Thema und vielleicht auch die Art der Erzählung oder der Ästhetik.

In dieser Arbeit werden aber die Möglichkeiten der direkten Interaktion untersucht, man könnte diese auch „real-time-interaction“ nennen. Der Rezipient oder die Rezipienten treffen eine Ent- scheidung über mögliche Interaktionen und diese werden sofort umgesetzt. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es sich nicht, wie oft spontan mit dem Begriff „Interaktiver Film“ asso- ziiert, nur um die Veränderung des Verlaufs einer Geschichte handelt (dies ist ein sehr interes- santer Fall, welchen ich später ausführlich behandele), sondern um jedes Detail. Damit bedeutet Interaktion für den Zuschauer auch eine ganz andere Verantwortung im Bezug auf das Mitwir- ken. Der Zuschauer muss die Möglichkeiten der Interaktion erkennen, also aufmerksam bei der Sache sein.

Nun stellt sich auch die Frage: Wie kann der Grad der Interaktivität gemessen werden? Wie kann gesagt werden, dass ein Film interaktiver ist als ein anderer? Nahe liegend sind folgende drei Möglichkeiten der Operationalisierung:

- Häufigkeit der Interaktionsmöglichkeiten
- Anzahl der Auswahlmöglichkeiten innerhalb eines Interaktionspunktes
- Tiefe der Auswirkung einer Auswahl auf den Film

Brenda Laurel schlägt eine „einfachere“ Methode der Bewertung vor. Fühlt sich der Interaktor eher beteiligt oder eher nicht [vgl. Laur 20]. Wenn die Möglichkeit besteht, sich mit einem Cha- rakter frei durch einen Film zu bewegen, dies aber keinerlei Auswirkungen auf den Ausgang des Films hat, wird der Interaktor sich wahrscheinlich trotzdem sehr beteiligt fühlen und den Film als wahrlich interaktiv empfinden. Das Gefühl der Beteiligung hängt von viel mehr als den drei oben genannten Faktoren ab. Findet der Rezipient den Inhalt interessant und ist er lernbereit, so wird er sich mehr in die geschaffene Welt hineinbegeben und spielerisch die Möglichkeiten entde- cken. Sowieso spielt das Spielerische eine sehr wichtige Rolle in der Interaktion, wobei man aber klar zwischen einem Interaktivem Film und einem Videospiel unterscheiden muss, auch wenn die Grenzen manchmal etwas schwammig sind (hierzu später mehr). In dieser Arbeit wird von der vorgeschlagenen Methode Laurels Gebrauch gemacht und die Interaktionstiefe durch ein „Eingebundenheitsgefühl“ bewertet, obwohl dies wissenschaftlich aufwendiger (z.B. mit Hilfe von Befragungen) zu messen ist. Gerade bei den folgenden Erörterungen der Wirkung von In- teraktivität auf den Rezipienten und dessen Empfindungen wäre m.E. eine stur mathematische Herangehensweise zumindest mehr als bedenklich, da sich emotionale Empfindungen nur sehr schwer messen lassen.

2.2 Interaktiv/Linear/Nonlinear/Metalinear

Nachdem der Begriff Interaktivität und dessen Messbarkeit festgelegt ist, wird hier zunächst auf die verschiedenen Arten der Linearität eingegangen. Zu der bekanntesten Form der interaktiven Erzählung zählt die nonlineare. Nonlinear bedeutet, dass eine Erzählung nicht in einer geradlini- gen Form stattfindet, sondern sich vor und zurück bewegt. Dabei ist nicht das Medium aus- schlaggebend, sondern die Erzählweise. Die Ansicht, dass Film (das Material) grundsätzlich nur linear sein kann, da ein Frame nach dem anderen in einer bestimmten Geschwindigkeit und in einer unabänderbaren Reihenfolge projeziert wird, gilt nicht für die von einem Film erzählte Ge- schichte. Diese kann frei in der Zeit springen, kann Phantasien zeigen und Bilder, welche zeitlich völlig unabhängig sind. Bei der Betrachtung des Paradebeispiels „Pulp Fiction“ [Pulp] von Quentin Tarantino ist die Zeitachse so verwoben, dass ein soeben Erschossener in der nächsten Szene wieder quicklebendig auftaucht, da sie zeitlich betrachtet vorher spielt. Ebenso kann Lite- ratur als ausschließlich linear bezeichnet werden, da ein Wort nach dem anderen von links nach rechts gelesen werden muss. Damit ist auch klargestellt, dass Nonlinear nicht zwangsweise In- teraktiv bedeutet. Manche Autoren, wie etwa Galyean III., unterscheiden noch zwischen Nonli- near und Metalinear, wobei mit Nonlinearität lediglich die zeitliche Ebene beschrieben wird und mit Metalinearität eine Geschichte gemeint ist, welche verschiedene Verläufe annehmen kann [vgl. Broo 33]. Dieser Begrifflichkeit passt sich diese Arbeit an. Im Bereich der Interaktion ist Metalinearität ein verbreitetes Konzept, um den Rezipienten an dem Handlungsverlauf zu betei- ligen. Die meisten interaktiven Filme sind nonlinear oder/und metalinear, dies ist aber keine notwendige Bedingung für Interaktivität.

2.3 Metalineares Erzählen

Es gibt verschiedene Medien für metalineare Geschichten. Die gebräuchlichste Form ist die Sprache, die orale Erzählung. Der Erzähler wird seine Geschichte den Reaktionen seiner Zuhö- rer anpassen, den einen oder anderen Schlenker weglassen oder dazunehmen. Zudem wird der Erzähler seine Erzählgeschwindigkeit, seine Betonung und verschiedene Charakterisierungen anpassen. Der Erzähler kann sich überlegen, wie er mit den Erwartungen des Publikums umgeht: erfüllt er diese ganz, handelt er genau dagegen oder etwas in der Mitte davon. Auf jeden Fall handelt es sich um einen sehr interaktiven Prozess, welcher zudem eine Metalineare Story er- zählt [vgl. Broo 34-35].

In der Literatur finden sich verschiedene Formen der Metalinearität. Es gibt viele Bücher, in de- nen der Leser den Pfad oder Erzählperspektiven an verschiedenen Entscheidungspunkten wählen kann. Diese Art von Storys waren vor allen Dingen in den 1980er und 90er Jahren populär und sind eindeutige Beispiele von Metalinearität.

Eine interessante Form veröffentlichte Milorad Pavic 1988 mit „Dictionary of the Khazars“. Dieses Buch erzählt die Geschichte der Khazars, ein Volksstamm der zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert in der baltischen Region Europas lebte, in einer enzyklopädischen Art. Der Leser wird angeleitet, mit dem Lesen anzufangen und hinzuspringen, wo immer er möchte. So kann er sein Wissen ausbauen und seine eigene Geschichte spinnen [vgl. Broo 40].

Eco geht noch weiter, er beschreibt an dem Beispiel des 1890 von Alphonse Allais verfassten „Un drame bien parisien“ Metalinearität (Meta-Text) bereits damit, dass, wenn die faktisch er- zählte Geschichte und die Interpretationen des Lesers auseinander gehen, schon mindestens zwei Stränge existieren. „Drame“ ist darauf ausgelegt, mit den Interpretationen und Assoziationen des Lesers zu spielen [vgl. Eco 247].

Eine neuere Art der Metalinearität hat sich mit der Verbreitung von Hypertext entwickelt. Hyper- text ist die Verbindung von verschiedenen Texten oder Textstellen in elektronischer Form durch sogenannte Links. Die einfachste Form des Hypertexts besteht daraus, einen normalen Text e- lektronisch zu veröffentlichen und Links zu Texten mit ähnlichen Themen, zu Kommentaren und Anmerkungen einzubauen. Dies entspricht aber eher einer Digitalisierung eines Buches als ech- tem Hypertext [vgl. Land.50]. Zudem erfüllt es nicht das Kriterium einer metalinearen Narration. Nun kann man aber auch ähnlich wie bei den literarischen Beispielen Geschichten mit Entschei- dungspunkten entwickeln, welche als Links ausgeführt werden. Der eigentliche Vorteil, bzw. die neuen Möglichkeiten ergeben sich durch Suchmaschinen und Querverlinkungen. So könnte ich z.B. in einem Dokument ein bestimmtes Wort anwählen und somit die Auswahl aller möglichen weiteren „Storyfetzen“ in welchen dieses Wort vorkommt, angezeigt bekommen. So werden praktisch unendlich viele Verlinkungen hergestellt.

Im Film kann metalineares Erzählen umgesetzt werden, indem der Rezipient an bestimmten Punkten des Film (Cue-Points) gefragt wird, wie die Geschichte weiterverlaufen soll. Dies kann eine simple ja/nein Frage sein (Soll der Protagonist sich trauen, die Frau zu küssen?) oder eine ganze Auswahl an Möglichkeiten, wo geforscht und weitererzählt werden soll. Morgenroth ver- öffentlichte 1995 einen experimentalen, interaktiven Film der in einer Psychiatrie spielt, „The Files“. Zwischen verschiedenen Filmsequenzen kann der Interaktor in Klinikakten schauen und somit sein Hintergrundwissen verbessern und eigenen Vermutungen nachgehen. Dies war nur eine Option, für den Verlauf der Story nicht wichtig, es konnten sich dadurch aber viele ver- schiedene Inhalte ergeben.

2.4 Entwicklung von metalinearen Systemen

Die Eigenschaften eines metalinearen Systems hängen wesentlich von dessen Konstruktion ab. Je nachdem welche Art von System gewählt wird, ergeben sich auch verschiedene Konsequen- zen für die Dramaturgie und die Narration im Allgemeinen. Ich stelle jetzt die grundsätzlich möglichen Systeme vor, welche natürlich noch beliebig kombinier- und erweiterbar sind. Die ersten fünf Systeme sind an die Klassifizierung von Ryan [Ryan 246 ff] angelehnt, die sie zu Hypertext entwickelt hat.

2.4.1 Die Baumstruktur (Tree)

In der Baumstruktur gibt es einen Startpunkt, von dem aus es an jedem Cue-Point zwei (wahl- weise auch drei oder mehr) weiterführende Wege gibt. Es sind keine Rücksprünge oder Quer- sprünge möglich, dadurch ist sichergestellt, dass jede einzeln mögliche Geschichte überprüfbar und sinnvoll ist. Das große Problem dieser eigentlich simplen Form der metalinearen Struktur ist, dass der Aufwand exponentiell mit jedem weiteren Cue-Point steigt. Bei einer Geschichte mit z.B. vier Cue-Points ergeben sich schon 16 verschiedene Geschichten bzw. bei einem entspre- chenden Film müssten 30 „Storyfetzen“ produziert werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1, Baumstruktur

2.4.2 Das Flussdiagramm (Directed Network)

Wird der Produktionsaufwand einer Baumstruktur vermindert, indem Querverbindungen und andere Zusammenführungen eingebaut werden, kann das als Flussdiagramm bezeichnet werden.

Der Preis, der für diese Vereinfachung der Produktion in Kauf genommen werden muss, besteht darin, dass die Entscheidungen des Interaktors nicht wirklich relevant sind, da diese auf diesel- ben Ergebnisse hinausführen. Er hat lediglich die Wahl zwischen verschiedenen linearen Pfaden, welche sich immer wieder treffen. Dies ist ein häufig anzutreffendes System in kleinen Internet- filmchen. Wird dem Interaktor vorgegaukelt, dass seine Entscheidungen beeinflussend sind, kann dies zu einer Enttäuschung führen, z.B. wenn der Interaktor den Film mehrmals in ver- schiedenen Verläufen sehen will und trotz anderer Entscheidungen immer an dieselben Punkte gelangt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2, Flussdiagramm

2.4.3 Das Netzwerk (Network)

Das Netzwerk besteht aus Verbindungen, die teils bidirektional sind. Der Benutzer kann sich somit so lange wie gewollt in diesem Netzwerk bewegen, da Kreisbewegungen möglich sind, er kann vor und zurück. Diese Art der Metalinearität ist typisch für Hypertext-Anwendungen, vor allen Dingen bei der Wissensvermittlung. Eine zeitliche Linearität ist so natürlich nicht herzu- stellen und es lässt sich schwer auf eine konventionelle Art eine Geschichte erzählen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3, Netzwerk

2.4.4 Das absolute Netzwerk (Complete Graph)

Beim absoluten Netzwerk ist jeder Cue-Point mit jedem anderen Verbunden und ist bidirektional nutzbar. Der Nutzer kann sich völlig frei bewegen, so kann die Reihenfolge der Geschehnisse sich in unendlich vielen Varianten zeigen. In diesem System ist konventionelles Erzählen nicht mehr möglich.

Bei dem Versuch, in solch einem System eine Story zu entwickeln, welche immer eine nachvoll- ziehbare Handlung ergibt, gliche das der Entwicklung eines Kreuzworträtsels ohne schwarzen Feldern. Das wahrscheinlich einzige Beispiel ist Marc Saportas „Composition No. 1“, ein Buch von 1963 [vgl. Ryan 247].

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 4, absolutes Netzwerk

2.4.5 Das lineare System mit Nebenereignissen (Vector with Side-Branches)

Dieses System besteht aus einem chronologisch angeordnetem Storyverlauf, welcher durch mög- liche Nebenereignisse erweitert wurde. So kann der Benutzer sich an einer Stelle aufhalten, et- was tiefer in die Materie einsteigen, um dann der vorgegebenen Linearität zu folgen. Dadurch lässt sich ein Verlauf vorgeben und zudem Interaktivität einbeziehen. Auch Lernsoftware beruht oft auf diesem System. Ryan vergleicht diese Art der Metalinearität mit dem Besuch eines Mu- seums, durch welches der Zuschauer sich bewegt. Er kann an einer für ihn besonders interessan- ten Stelle anhalten, sich Schaubilder anschauen oder auf andere angebotene Medien zurückgrei- fen um mehr zu erfahren. Hat er genug gesehen, so geht er den vorgegebenen Weg weiter [vgl. Ryan 250].

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 5, lineares System mit Nebenereignissen

2.4.6 Das Multiperspektiv-System / Verflochtene Handlung (Braided Plot)

Wenn eine Geschichte mit verschiedenen Charakteren erzählt wird, welche das Schicksal an be- stimmten Punkten zusammenführt, kann man daraus ein Multiperspektiv-System entwickeln. Dabei wird immer dieselbe Geschichte zugrunde gelegt, aber der Benutzer kann an den Cue- Points entscheiden, mit welchem Charakter er weitergehen will, wessen Geschichte er genauer erfahren möchte. So wäre es möglich, dass nur an bestimmten Punkten entschieden werden kann, oder aber durchgängig eine Person angewählt werden kann, wie z.B. bei dem Experiment der ARD/ZDF, wo auf beiden Programmen die gleiche Geschichte zeitgleich aus jeweils der Per- spektive eines anderen Protagonisten gezeigt wurde. Bei diesem System kann entweder die Zeit kontinuierlich weiterlaufen, der nicht gewählte Weg wäre nicht mehr zu beschreiten, oder aber reversibel gestaltet werden. Manche Experten (Greg Roach, Eku Wand, beide Entwickler von narrativen Computerspielen) bezeichnen dieses System aufgrund der zeitlichen Kontinuität le- diglich als linear, was zeitlich betrachtet natürlich richtig ist. Aber m.E. ist es viel wichtiger, auch dieses System unter dem metalinearen Gesichtspunkt zu betrachten, da sich für jeden Be- nutzer ein anderes Endprodukt zusammensetzt. Ein sehr schönes Beispiel ist der Film „Time Code“ [Figg] von Mike Figgis. Dieser Film ist zwar nicht interaktiv, aber absolut multilinear. Der Bildschirm ist durchgehend viergeteilt, in jedem Viertel ist das Bild einer anderen Kamera zu sehen. Die Bilder sind alle zur gleichen Zeit aufgenommen, treffen sich und gehen dann wie- der verschiedene Wege. Einzig das Sounddesign versucht den Zuschauer auf ein Bild zu fokus- sieren. Hätte der Zuschauer dazu noch die Möglichkeit, zwischen den Perspektiven zu wählen, wäre dies ein Paradebeispiel für ein Multiperspektiv-System.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 6, Multiperspektivsystem, zeitlich lineare Perspektiven, jederzeit frei anwählbar

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 7, Multiperspektivsystem mit Cue-Points

2.5 Anwendungsmöglichkeiten der metalinearen Systemen

Die verschiedenen Systeme eignen sich verschieden gut für Bücher, Hypertext-Storys, interakti- ve Filme und Computerspiele. Es ist m.E. wichtig, auch gerade in Bezug auf den interaktiven Film die anderen Medien und deren Möglichkeiten genau zu betrachten, da sich in der Drama- turgie sowie in der Interaktion viele Gemeinsamkeiten ergeben. Überschneidungen und Ähnlich- keiten für jede Art von Gestaltung interaktiver Inhalte im Hinterkopf zu haben, ist sehr wichtig. Auch die Grenze zwischen Game und Film werden bei der Betrachtung und dem Vergleich un- tereinander deutlich. Es ergeben sich folgende Eigenschaften:

2.5.1 Literatur in Buchform

Die bekanntesten metalinearen Bücher sind die „Choose your own Adventure – Books“. Viele Story-Fetzen können in verschiedener Reihenfolge durch den Leser zusammengestellt werden, nach jedem Fetzen werden einige „Links“ angeboten. Oft wurden diese Bücher noch durch Kampfmöglichkeiten mittels Würfeln ergänzt.

Auch das bereits erwähnte Beispiel „Dictionary of the Khazars“ geht in die Richtung, obwohl es sich hier wirklich eher um eine „Story-World“ handelt als um ein Netzwerk. Der Übergang ist fließend. Diese beiden Beispiele werden später noch genauer erläutert.

2.5.2 Hypertext

Für die Erzählung mittels Hypertext sind praktisch alle Strukturen möglich und werden ange- wandt. Das Flussdiagramm eignet sich aufgrund der überschaubaren Komplexität besonders für geschriebene Geschichten, die verschiedene Verläufe nehmen sollen können. Das lineare System mit Nebenereignissen ist sehr gut denkbar für eine Geschichte, bei der an bestimmten Punkten noch Vertiefungen der Materie und kleine „Spezialüberraschungen“ entdeckt werden können. Ein Beispiel wäre eine Geschichte, in der der Leser durch Anwahl eines Wortes Hintergrundin- formationen erhalten kann. Bei dem Netwerk ergibt sich erstmals die Schwierigkeit, dass Wege bidirektional genutzt werden können. Dies macht nur Sinn, wenn der Benutzer mittels neu ange- eigneten Wissens den vorher schon gelesenen Text neu interpretieren oder Neuigkeiten daraus erkennen kann. Aus diesem Grund stellt das absolute Netzwerk, wie bereits erwähnt, eine beson- dere Schwierigkeit bzw. fast eine Unmöglichkeit dar, da die Pfade in jegliche Richtung sinnvoll kombinierbar sein müssen. Dies eignet sich vielleicht für Lexika aber nicht für Erzählungen.

2.5.3 Film

Für die filmische Erzählung ist die Auswahl eingeschränkter. Die Baumstruktur eignet sich auf- grund ihrer Einfachheit gut zum Übertragen der klassischen Dramaturgie, allerdings wie erwähnt auf Kosten eines immensen Produktionsaufwands. Es bietet sich eher das Flussdiagramm an, allerdings gibt es viele Schwachpunkte (vgl. Kap. 2.4.2). Ein Beispiel für ein Flussdiagramm ist der interaktive Internetfilm „Hypnosis“ [vgl. Meun], in dem nach jeder Filmsequenz ein weiterer Verlauf gewählt werden kann. Dazu wird die Geschichte angehalten und ein Auswahlfeld ange- zeigt. M.E. eignet sich das Medium Film nicht, auf diese Art Inhalte interessant zu vermitteln. Die Interaktivität ist auf wenige Eingriffsmöglichkeiten beschränkt und ansonsten ist das Erleb- nis gleich dem eines herkömmlichen Films. Eventuell ist der Zuschauer sogar genervt, dass er eingreifen soll, obwohl der Effekt des Eingreifens nicht zu Erkennen ist, es sich also um eine unsinnige Aktivität handelt. Lediglich für „Slapstick-Filme“ sind diese Systeme sinnvoll vor- stellbar, auch oder gerade als Gruppenerlebnis mit der Interaktivität sowohl zum Film als auch zu den anderen Zuschauern.

Ein Netzwerk-System ist filmisch gut als Wissensvermittlung vorstellbar. Da der Benutzer Vor- und teilweise auch Rücksprünge vornehmen kann, ist es schwierig, einen klassischen Plot aufzu- bauen. Es ist allerdings m.E. möglich, mittels wohl dosierter Rücksprungmöglichkeiten einen interessanten Storyverlauf zu ermöglichen. Allerdings wäre darauf zu achten, dass ein wiederhol- tes Schauen einer Filmsequenz neue Erkenntnisse für den Zuschauer bringt. Mit diesem System kann ein guter Kompromiss zwischen Interaktivität und durch den Autor geplantem Plotverlauf erreicht werden. Das kann für den Zuschauer interessant sein.

Das absolute Netzwerk ist hingegen mit einer filmischen Geschichtserzählung nicht vereinbar. Da jeder Punkt mit jedem verbunden ist, erscheint der Verlauf des Plots als pures Zufallsprodukt. Einzig vorstellbar ist eine Art von Rätsel, in dem der Zuschauer durch Forschung immer tiefer in die Materie eindringt. Da dies aber dramaturgisch nicht konstruierbar ist, zählt es nicht zur Plot- konstruktion.

Das Multiperspektiv-System ist wie oben erwähnt schon getestet worden und stellt eine Form dar, die dramaturgisch betrachtet sehr gut mit klassischer Filmtheorie vereinbar ist. Der Plot kann klar gestaltet werden und der Zuschauer kann mit dem Charakter reisen, welchen er vor- zieht. Wenn er dann die Perspektive wechseln will, kann er dies tun. So befindet sich das System nah an der klassischen Filmerzählung. Allerdings bedingt es einen geringeren Grad an Interakti- vität, vor allem hinsichtlich des Eingebundenheitsgefühls. Die Wahlmöglichkeiten sind stark eingeschränkt und das Erlebnis ähnelt er dem eines normalen Filmerlebnisses. Der Fakt, dass im deutschen Fernsehen nach ein paar Experimenten diese Form der Interaktivität eingestellt wurde, lässt darauf schließen, dass die Zuschauerreaktion dem höheren Produktionsaufwand nicht an- gemessen war.

In Kombination mit anderen Systemen ist das Multiperspektiv-System sehr wirksam. Ein Bei- spiel ist der interaktive Kurzfilm „Leerlauf“ [vgl. Coul], in dem nach zeitlichen Rücksprüngen einige Szenen noch einmal aus anderen Perspektiven betrachtet werden können. Dies gibt einen tieferen Einblick in den jeweiligen Charakter und dessen Handeln.

Ein lineares System mit Seitenereignissen ist für einen Film gut vorstellbar. Der Autor kann den Plot vorgeben und der Zuschauer kann entscheiden, ob er noch tiefer einsteigt oder einfach die klassische Filmerfahrung genießt. So können als Nebenereignissen z.B. bestimmte Gedanken der Charaktere oder chronologisch vorher liegende, erklärende Ereignisse dargestellt werden. Da beim Film die Rezeptionsgeschwindigkeit vorgegeben ist, kann man dieses System den Eigen- schaften des Films entsprechend weiterentwickeln und m.E. dadurch ein System erhalten, wel- ches für eine Verbindung von klassischer Narration im Film und Interaktion sehr attraktiv ist. Meine grundlegende Idee dabei ist, dass man einen linearen Film zeigt, der durchgehend weiter- läuft, vielleicht in den Hintergrund gelenkt, und den Interaktor die Möglichkeit gibt, Nebener- eignisse anzuwählen. Diese laufen dann parallel zum eigentlichen Film. So kann eine dramati- sche Struktur aufrechterhalten werden und zudem dem Rezipienten zusätzliche Tiefe der Filmer- fahrung angeboten werden. Dabei müssen die Stränge nicht streng getrennt werden, es kann mit Splitscreen-Technik, Soundüberlagerungen u.ä. gearbeitet werden. Dieses System ähnelt dann einem dem der verflochtenen Handlung, allerdings lassen sich nicht verschiedene Charaktere verfolgen, sonder nur innerhalb der Szene andere Schwerpunkte sehen, wie z.B. die Gedanken eines Charakters. Da die Interaktionsmöglichkeiten nur temporär auftauchen, und sich auch noch ändern, ist hier ein sehr gutes Interface-Design nötig, um das Problem der kognitiven Dissonanz (vgl. Kap. 6.1.2) in den Griff zu bekommen. Dazu später mehr in dieser Arbeit.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 8 Kombination aus Multiperspektivsystem mit Nebenereignissen

2.5.4 Games

Viele Computerspiele, vor allen Dingen Adventure-Games, arbeiten stark mit multilinearer Er- zählung. Oft ergibt sich schon in der Strukturierung des Metalinearen-Systems der Unterschied zum Film. Eine Baumstruktur kommt für ein Game nicht in Frage, da dies immer ein Ziel ver- folgt, ein definiertes, erfolgreiches Ende hat und nicht viele (höchstens einige) anbieten kann. Eine weiterentwickelte Form des Flussdiagramms ist in Adventure-Games aber vor allem in „Ego-Shootern“ oft anzutreffen. Ein solches System funktioniert anders als ein normales Fluss- diagramm-System als das frühere Entscheidungen auf die späteren Entscheidungsmöglichkeiten Einfluss haben können. Zum Beispiel kann ein in einer früheren Szene aufgesammelter Schlüssel dem Spieler später die Möglichkeit geben, durch eine Tür zu gehen. Dazu haben solche Games eine Aufbewahrungsmöglichkeit für Gegenstände. Dabei zielen Adventure-Games mehr auf das Lösen von Rätseln und „Ego-Shooter“ auf Action und Reaktionsgeschwindigkeit, wobei diese Genre-Einteilung und Charakterisierung durchaus fließend zu verstehen ist. Ryan erwähnt eine weitere Metalineare-Struktur, das Labyrinth (the Maze), welches sich dadurch auszeichnet, dass es nur einen Zielpunkt gibt. An mehreren Stellen kann der Spieler „sterben“ [vgl. Ryan 251].

M.E. ist das aber als eine Erweiterung des Netzwerkes und sollte deswegen nicht als eigenstän- diges System angesehen werden. Adventure-Games bieten meist dieses System an, der Spieler kann vor und zurückgehen bis er einen möglichen Weg gefunden hat bzw. die benötigten Ge- genstände gesammelt und Aufgaben gelöst hat. Diese Erweiterungen definieren m.E. einen gro- ßen Teil des Unterschiedes zwischen . In Games handelt der Spieler und löst Aufgaben, in interaktiven Filmen kann der Spieler evtl. Handlungen beeinflussen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 106 Seiten

Details

Titel
Interaktiver Film. Dramaturgie, Design, Produktion
Hochschule
Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
106
Katalognummer
V117725
ISBN (eBook)
9783640200856
ISBN (Buch)
9783640206339
Dateigröße
21283 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Interaktiver, Film, Dramaturgie, Design, Produktion
Arbeit zitieren
Dipl.-Ing. (FH) Robi Voigt (Autor:in), 2006, Interaktiver Film. Dramaturgie, Design, Produktion, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/117725

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