Migration sowie Kultur- und Sprachkontakte zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft sind kein neues Phänomen, denn es hat sie im geschichtlichen Verlauf immer schon gegeben. Dennoch ist die heutige Multikulturalität von anderer Art (vgl. AUERNHEIMER 2003, S. 9). Die politischen und ökonomischen Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg, die Grundlegung der europäischen Einigung, die Auslösung internationaler Migrationsbewegungen, u. a. als Folge weltweiter Globalisierungsprozesse und die gezielte Anwerbung von Gastarbeitern aus wirtschaftlich schwächeren Ländern haben die westlichen Gesellschaften tief greifend verändert. Mit den Menschen sind viele unterschiedliche Sprachen, Lebensweisen und Glaubensrichtungen nach Deutschland eingewandert (vgl. KRÜGER- POTRATZ 2005, S. 13). Das Ergebnis ist eine multikulturelle Gesellschaft1: Im Jahr 2004 lebten Menschen mit über 200 verschiedenen ausländischen Nationalitäten in Deutschland (vgl. STATISTISCHES BUNDESAMT 2006, S. 16). Diese Vielfalt der Gesellschaft spiegelt sich auch in den Kindertageseinrichtungen wieder, in denen es heute an der Tagesordnung ist, das bis zu 15 verschiedene Nationen in einer Gruppe vertreten sind (vgl. ULICH/OBERHUEMER/SOLTENDIECK 2000, S. 5). Auch die Anzahl an Kindern mit Migrationshintergrund ist nicht zu unterschätzen; so liegt beispielsweise der Anteil dieser Kinder im Alter von drei Jahren bis zum Schuleintritt im Jahr 2007 in Westdeutschland bei 29%, in Ostdeutschland bei 6% (vgl. RAUSCHENBACH 2008, S. 7).
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Beziehung zu und der Umgang mit Fremdheit und Fremden
2.1 Beziehungsmuster zwischen Eigenem und Fremdem
2.2 Umgangsformen von Einheimischen mit (fremden) Zuwanderern
2.3 Zusammenfassung
3. Interkulturelle Pädagogik
3.1 Historischer Rückblick
3.2 Stand der Diskussion und aktuelle Tendenzen
3.3 Zusammenfassung
4. Interkulturelle Kompetenz
4.1 Historischer Rückblick
4.2 Stand der Diskussion
4.3 Das Profil interkultureller Kompetenz von Veronika Fischer
4.4 Zusammenfassung
5. Übersicht zum Analyseteil
5.1 Zur Begründung der Auswahl des Profils interkultureller Kompetenz von Veronika Fischer
5.2 Erläuterung des Vorgehens bei der Analyse
6. Analyse der Richtlinien der Erzieherausbildung in NRW (2006)
6.1 Darstellung der Analyseergebnisse
6.2 Interpretation der Analyseergebnisse
6.3 Zusammenfassung und Fazit
7. Analyse ausgewählter Bildungspläne in der Elementar- pädagogik
7.1 Der Bayrische Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung (2006)
7.1.1 Darstellung der Analyseergebnisse
7.1.2 Interpretation der Analyseergebnisse
7.1.3 Zusammenfassung und Fazit
7.2 Erfolgreich starten – Leitlinien zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen des Landes Schleswig- Holstein (2004)
7.2.1 Darstellung der Analyseergebnisse
7.2.2 Interpretation der Analyseergebnisse
7.2.3 Zusammenfassung und Fazit
8. Resümee
8.1 Zusammenfassung
8.2 Ausblick
8.2.1 Vorschläge für Weiterentwicklungen
8.2.2 Mögliche Aufgabenstellungen für zukünftige Untersuchungen
8.3 Gesamtfazit
Literaturverzeichnis
Anhang
1. Einleitung
Migration sowie Kultur- und Sprachkontakte zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft sind kein neues Phänomen, denn es hat sie im geschichtlichen Verlauf immer schon gege- ben. Dennoch ist die heutige Multikulturalität von anderer Art (vgl. AUERNHEIMER 2003, S. 9). Die politischen und ökonomischen Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg, die Grundlegung der europäischen Einigung, die Auslösung internationaler Migrationsbewegun- gen, u. a. als Folge weltweiter Globalisierungsprozesse und die gezielte Anwerbung von Gastarbeitern aus wirtschaftlich schwächeren Ländern haben die westlichen Gesellschaften tief greifend verändert. Mit den Menschen sind viele unterschiedliche Sprachen, Lebenswei- sen und Glaubensrichtungen nach Deutschland eingewandert (vgl. KRÜGER- POTRATZ 2005, S. 13). Das Ergebnis ist eine multikulturelle Gesellschaft[1]: Im Jahr 2004 lebten Men- schen mit über 200 verschiedenen ausländischen Nationalitäten in Deutschland (vgl. STATISTISCHES BUNDESAMT 2006, S. 16). Diese Vielfalt der Gesellschaft spiegelt sich auch in den Kindertageseinrichtungen wieder, in denen es heute an der Tagesordnung ist, das bis zu 15 verschiedene Nationen in einer Gruppe vertreten sind (vgl. ULICH/OBERHUEMER/SOLTENDIECK 2000, S. 5).
Auch die Anzahl an Kindern mit Migrationshintergrund ist nicht zu unterschätzen; so liegt beispielsweise der Anteil dieser Kinder im Alter von drei Jahren bis zum Schuleintritt im Jahr 2007 in Westdeutschland bei 29%, in Ostdeutschland bei 6% (vgl. RAUSCHENBACH 2008, S. 7).
Vor welche Herausforderungen diese Zahlen und Fakten die Erzieherinnen[2] im pädagogi- schen Alltag stellen, soll der folgende Erlebnisbericht verdeutlichen.
Während meines Praktikums in einer Kindertagesstätte erlebte ich folgende Situation:
Nach dem gemeinsamen Frühstück bat die Erzieherin die Kinder, ihr Frühstücksgeschirr auf den Speisewagen zu bringen. Während die Mehrheit der Kinder aufstand, um ihr Geschirr abzuräumen, blieb Hassan sitzen und wartete darauf, dass seine jüngere Schwester Rahime seinen Teller und seine Tasse mitsamt ihrem eigenen Geschirr zum Speisewagen brachte. Sie tat dies ganz selbstverständlich und von sich aus, ohne eine Anweisung des älteren Bru- ders abzuwarten. Als die Erzieherin das Geschehen bemerkte, wies sie Hassan zurecht, indem sie sagte: „Eigentlich hättest du das machen sollen. Du weißt das…“ Hassan gab eher unbeteiligt zurück, dass Geschirr abräumen nicht seine, sondern die Aufgabe seiner Schwester sei. Die Erzieherin wandte sich daraufhin einem anderen Kind zu, das ihre Hilfe benötigte.
Später erfuhr ich, dass es bereits mehrere Gespräche mit den Eltern über Hassan’s Verhal- ten im Kindergarten gegeben hatte, die wenig erfolgreich verlaufen waren. Die Eltern fühlten sich in ihrem Erziehungsstil nicht respektiert und hatten daraufhin weitere Gesprächsversu- che von Seiten der Erzieherinnen ignoriert.
Es sind sicherlich viele verschiedene Faktoren, die zu diesem Abbruch der Kommunikation seitens der Eltern geführt haben. Zu vermuten ist aber, dass u. a. unterschiedliche kulturell geprägte Vorstellungen, in diesem Fall von Erziehung und dem Rollenverständnis von Mann und Frau, zur Entstehung der Kontroverse beigetragen haben. Tatsächlich sind interkulturel- le Begegnungen aufgrund unterschiedlicher, kulturell geprägter Erwartungen, sowie Anpas- sungs- und Kommunikationsschwierigkeiten anfälliger für Konflikte als monokulturelle Be- gegnungen (vgl. RAMSAUER 2007, S. 1).
Das Konzept der interkulturellen Kompetenz strebt einen besseren, unbefangeneren Um- gang mit Differenz oder Fremdheit an. Es sollen Begegnungen erleichtert werden, die durch Differenz der Orientierungsmuster, häufig verbunden mit einer asymmetrischen Beziehungs- konstellation, verunsichernd wirken (vgl. AUERNHEIMER 2006, S. 41). Vertreter des Kon- zeptes gehen davon aus, dass ein Bündel von Fähigkeiten, Kenntnissen und Einstellungen dazu beitragen kann, Differenzen, Unsicherheiten und Konflikte, die in interkulturellen Kon- takten auftreten können, besser zu bewältigen. Die multikulturelle Situation in Kinderta- geseinrichtungen bringt es mit sich, dass Erzieherinnen täglich mit Menschen anderer kultu- reller Herkunft in Kontakt stehen und damit unweigerlich mit Fremdheit und Differenz kon- frontiert werden. Um einen besseren Umgang mit den Anforderungen interkultureller Situati- onen zu erreichen, wäre es also hilfreich für die pädagogischen Fachkräfte[3] Einstellungen, Fähigkeiten und Kenntnisse zu entwickeln und zu erwerben, die gemeinhin als interkulturelle Kompetenz[4] bezeichnet werden können.
Nach Meinung vieler Autoren handelt es sich hierbei um einen lebenslangen Lernprozess (vgl. FISCHER 2005, S. 34), jedoch kann und sollte u. a. die Zeit der Ausbildung genutzt werden, um Grundlagen für diesen Entwicklungsprozess zu legen.
Ziel dieser Arbeit mit dem Titel
„Eine Analyse der gegenwärtigen Ausbildungsrichtlinien (NRW) und ausgewählter Bildungspläne in der Elementarpädagogik unter dem Fokus: Interkulturelle Kompe- tenz von Erzieherinnen“
ist es daher zu untersuchen, in wie weit interkulturelle Kompetenz in den Ausbildungsrichtli- nien zukünftiger Erzieherinnen in NRW berücksichtigt wird und in wie weit die Erzieherinnen somit theoretisch auf die Anforderungen ihres multikulturellen Arbeitsfeldes vorbereitet wer- den. Zudem wird überprüft, in wie weit Einstellungen, Fähigkeiten und Kenntnisse interkultu- reller Kompetenz in den Bildungsplänen der Länder Bayern und Schleswig- Holstein im Rahmen des Rollenverständnisses der Erzieherin verankert sind.
Wie gerade beschrieben, strebt das Konzept der interkulturellen Kompetenz einen besseren Umgang mit Differenz und Fremdheit an. In diesem Zusammenhang wird deshalb im zwei- ten Abschnitt der Arbeit, „Die Beziehung zu und der Umgang mit Fremdheit und Fremden“, zunächst der Frage nachgegangen, was Fremdheit ist und wie, auf welche Art und in wel- cher Form mit ihr umgegangen werden kann. Auch wird darauf eingegangen, welche Rolle das Eigene in der Beziehung zum Fremden spielt. Nach der Diskussion auf der abstrakten Ebene von Eigenem und Fremdem werden daraufhin vier Grundmuster im Umgang zwi- schen Einheimischen und (fremden) Zuwanderern aufgezeigt. Nach einer Zusammenfas- sung wird im dritten Abschnitt dieser Arbeit, „Interkulturelle Pädagogik“, dargestellt, welche der vier Grundmuster die Wissenschaft im Umgang mit Zuwanderern seit der Zeit der Ar- beitsmigration bis heute bevorzugt hat. Dabei wird im Rahmen eines historischen Rückblicks aufgezeigt, dass sich das Verständnis davon, wie auf die Multikulturalität der Gesellschaft reagiert werden sollte, mit der Zeit deutlich gewandelt hat. Wurde in Konzepten der Auslän- derpädagogik noch eine einseitige Anpassung der Zugewanderten an die bestehenden deut- schen Verhältnisse angestrebt, so haben Konzepte der interkulturellen Pädagogik heute ein gleichberechtigtes und durch Anerkennung geprägtes Miteinander der verschiedenen Kultu- ren im Blick (vgl. KRÜGER- POTRATZ 2005, S. 123; AUERNHEIMER 2003, S. 20f.). Der heute geforderte, anerkennende Umgang mit Differenz lässt die Notwendigkeit interkulturel- ler Kompetenz, die zu einem unbefangenen Umgang mit Verschiedenheit befähigen will, erkennen. Im Rahmen der anschließenden Darstellung des derzeitigen Diskussionsstandes wird dann auch die Aktualität des Konzeptes der interkulturellen Kompetenz aufgezeigt. Eine Zusammenfassung bietet schließlich einen Überblick über die wesentlichen Entwicklungen, die in diesem dritten Abschnitt der Arbeit aufgezeigt wurden.
Der vierte Abschnitt beschäftigt sich daraufhin eingehender mit dem Konzept der interkultu- rellen Kompetenz. Wiederum zeigt ein historischer Rückblick zu Beginn Entwicklungen des Konzeptes seit seinen Ursprüngen auf. Unter dem „Stand der Diskussion“ werden anschlie- ßend Kontroversen und Übereinstimmungen unter den Autoren bezüglich des Konzeptes dargestellt, woraufhin das Profil interkultureller Kompetenz vorgestellt wird, das zur Analyse der Ausbildungsrichtlinien und der Bildungspläne herangezogen wird. Wiederum verschafft eine Zusammenfassung am Ende Übersicht über die Erkenntnisse dieses Abschnittes.
Im fünfte Abschnitt, „Übersicht zum Analyseteil“, wird an die Darstellung des Modells an- schließend begründet, warum das zuvor beschriebene Profil interkultureller Kompetenz unter den zahlreich vorhandenen Modellen ausgewählt wurde, um auf seiner Grundlage die späte- re Analyse durchzuführen. Anschließend wird das Vorgehen im Rahmen der Analyse veran- schaulicht.
Daraufhin folgt im sechsten Abschnitt die Analyse der Richtlinien zur Erzieherausbildung in NRW aus dem Jahr 2006 unter dem Fokus der interkulturellen Kompetenz der pädagogi- schen Fachkräfte. Zunächst werden die Analyseergebnisse dargestellt, bevor eine Interpre- tation folgt. Zusammenfassung und Fazit bilden den Abschluss des Abschnittes.
Der siebte Abschnitt wendet sich dann der Analyse der Bildungspläne der Bundesländer Bayern und Schleswig- Holstein zu. Zunächst wird der Bildungs- und Erziehungsplan von Bayern untersucht, bevor auf die Leitlinien zum Bildungsauftrag von Kindertagesstätten des Landes Schleswig- Holstein eingegangen wird. Auch hier werden die Analyseergebnisse zunächst dargestellt und dann interpretiert. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse mit an- schließendem Fazit rundet Darstellung und Interpretation der Ergebnisse ab.
Das Resümee, das den achten Abschnitt dieser Arbeit bildet, fasst abschließend zunächst noch einmal die wichtigsten Erkenntnisse der Arbeit zusammen. Im sich anschließenden Ausblick werden Vorschläge für Weiterentwicklungen der wissenschaftlichen Diskussion, sowie der untersuchten Ausbildungsrichtlinien und Bildungspläne für den Elementarbereich gemacht. Zudem wird auf mögliche Fragestellungen zukünftiger Untersuchungen eingegan- gen. Ein Gesamtfazit rundet die Arbeit ab und beleuchtet das Thema abschließend noch einmal in einem größeren Zusammenhang.
2. Die Beziehung zu und der Umgang mit Fremdheit und Fremden
In diesem Abschnitt wird zunächst unter Punkt 2.1 „Beziehungsmuster zwischen Eigenem und Fremdem“ auf abstrakter Ebene erläutert, was unter Fremdheit verstanden werden soll und welche Rolle Eigenes in der Beziehung zum Fremden spielt, die durch verschiedene Beziehungsmodi gekennzeichnet werden kann. Anschließend werden unter Punkt 2.2, „Um- gangsformen zwischen Einheimischen und (fremden) Zuwanderern“, vier Grundmuster im Umgang zwischen Einheimischen und Zuwanderern vorgestellt. Eine Zusammenfassung unter Punkt 2.3 bildet den Abschluss dieses Abschnittes.
2.1 Beziehungsmuster zwischen Eigenem und Fremdem
Wenn es um Fremdheit, Fremdes oder Fremde geht, findet häufig eine Gegenüberstellung von Fremdem und Eigenem statt. Dabei kann Fremdheit als Eigenschaft von Dingen, Men- schen oder Gruppen betrachtet werden oder, wie im Folgenden, als ein gesellschaftlich kon- struiertes und kontextspezifisches Phänomen. Nach der ersten Position bedeutet Fremdheit eine natürliche Kategorie, eine anthropologische Konstante. Im Gegensatz dazu kommt es aus dem sozialkonstruktivistischen Blickwinkel primär auf soziale Prozesse oder Kontexte an, in denen Fremdheit erst definiert wird und gesellschaftliche Relevanz erhält. Danach ist Fremdheit insbesondere ein Beziehungsmodus (vgl. YILDIZ 2004, S. 145). Die sozialkon- struktivistische Perspektive nehmen unter einigen anderen auch Ursula Boos- Nünning und Ortfried Schäffter ein. So schreibt Boos- Nünning: „Was […] als fremd oder vertraut er- scheint, wird sozial definiert und gelernt“ (BOOS- NÜNNING 1993, S. 89). Auch Schäffter versteht Fremdes und Eigenes nicht als Eigenschaften von Dingen, Personen oder Gesell- schaften, sondern als Beziehungsmodus, in dem wir externen Phänomenen begegnen. Denn nur, wenn Kontaktflächen entstanden sind und wir uns näher gekommen sind, tritt die Fremdheit des Anderen, so der Autor, überhaupt erst in Erscheinung. Schäffter hebt hervor, dass sich die Bedeutung von Fremdheit nur dann voll erschließt, wenn man fähig ist, seine eigenen Anteile in diesem Beziehungsverhältnis mit zu berücksichtigen. Es geht dabei dar- um, seine eigene Position und Sichtweise als eine Möglichkeit unter vielen anderen Blick- winkeln zu erkennen und dabei zu sehen, dass das, was ich als fremd erlebe und wie ich es als fremd erlebe, sehr wesentlich von mir selbst und meiner eigenen Geschichte abhängt (vgl. SCHÄFFTER 1991, S. 12). Bielefeld betont in der Beziehung zwischen Eigenem und Fremden dagegen nicht das individuelle, sondern das historisch- gesellschaftliche Moment von Herrschaft, d.h. dass diejenigen, die als ‚Nicht- Fremde’ gelten und die Macht haben, diese Geltung durchzusetzen, das jeweils Fremde strukturieren (vgl. BIELEFELD 1992, S. 9).
Die Beziehung zwischen Eigenem und Fremden kann
1. als flexibler Umgang zwischen beiden, sowie
2. als Trennung oder Ausgrenzung und
3. als Aneignung oder Vereinnahmung
gekennzeichnet werden.
Der flexible Umgang zwischen Eigenem und Fremdem enthält viele Dimensionen. Zum Bei- spiel geht es darum, die Zwischenzone zwischen Eigenem und Fremdem als das zwischen Fremdem und Eigenem Geteilte, Mit- Geteilte und Ver- Teilte wahrzunehmen, an dem das Eigene und das Andere/Fremde historisch, politisch, ökonomisch, sozial und psychisch Teil haben (vgl. NESTVOGEL 1994, S. 31). Zudem beinhaltet dieses Beziehungsmuster nach Schäffter die „Regelung von Prozessen einer Verinnerlichung des Äußeren und einem Ent- äußern von Innerem“ und es geht um die Erschließung von „entwicklungsfördernde[n] Impul- se[n] und strukturelle[n] Lernanlässe[n]“ über das Fremde, wobei jeder für den Anderen die- ses Fremde verkörpert (SCHÄFFTER 1991, S. 22).
Der Beziehungsmodus der Trennung oder Ausgrenzung des Fremden ist gekennzeichnet durch ein Konstrukt von Eigenem und Fremdem, das zwischen beiden starre Grenzen zieht. Das zu Eigenem Konstruierte hat scheinbar nichts mit dem zu Fremdem Konstruierten zu tun; das Fremde wird als das grundlegend Andere ausgegrenzt und als solches häufig ab- gewertet (vgl. NESTVOGEL 1994, S. 38).
Die Aneignung oder Vereinnahmung von Fremdem ist schließlich durch die Aufhebung von Grenzen, also durch eine Entgrenzung gekennzeichnet. Es kommt zu einer Auflösung des Fremden, das zu Eigenem gemacht und vereinnahmt wird (vgl. NESTVOGEL 1994, S. 51).
Diese drei Beziehungsmodi können als Grundmuster unseres Denkens, Fühlens und Han- delns verstanden werden, die ‚Ordnung’ sowohl in die Wahrnehmung unserer Außenwelt als auch in die Wahrnehmung unserer Innenwelt bringen und sich ebenso als historisch ge- wachsene, gesellschaftliche Grundmuster wiederfinden (vgl. NESTVOGEL 1994, S. 27f.). Diese drei Beziehungsmuster finden sich jedoch auch als natürliche bio- physische Prozes- se, welche zum Erhalt von Leben, beispielsweise in Form von Nahrungsaufnahme und Aus- scheidung, nötig sind. Aber auch auf dieser Ebene ist ein Moment von Gesellschaftlichem enthalten, indem es kulturell geprägte Formen dieses Prozesses gibt, wie etwa kulturspezifi- sche Eß- oder Hygienestandards. Auch der Begriff der Sozialisation als „Prozeß der Entste- hung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesell- schaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt“ (GEULEN/HURRELMANN 1980, S. 51) enthält alle drei Beziehungsmodi, denn jeder Wachstumsprozess verläuft in einer Interaktion mit der Umwelt und enthält Vermischungen von Fremden und Eigenem, ebenso wie eine selektive Ausgrenzung und Vereinnahmung von Elementen aus dem jeweils gegebenen ‚Umweltangebot’ (vgl. NESTVOGEL 1994, S. 29).
Auch im Umgang von Einheimischen mit Zuwanderern lassen sich diese drei Beziehungs- modi in abgewandelter Form wieder finden.
2.2 Umgangsformen von Einheimischen mit (fremden) Zuwanderern
Zuwanderer können in mehrerlei Hinsicht fremd auf die einheimische Bevölkerung wirken, etwa aufgrund ihres Äußeren (ihrer Hautfarbe oder Kleidung), aufgrund einer anderen, un- verständlichen Sprache oder aufgrund der Tatsache, dass sie in einer anderen Kultur leben und sich in ihrem Alltag anders orientieren. Im Blick auf die vergangenen und im interkulturel- len Vergleich sichtbar werdenden Arten des Umgangs von Einheimischen mit Zuwanderern lassen sich vier grundsätzliche Formen unterscheiden:
1. Assimilationszumutung
2. Vertreibung/Vernichtung
3. Segregation
4. Änderung der eigenen Deutungsmuster: interkulturelles Leben in der dauerhaft multi- kulturellen Gesellschaft
Alle vorkommenden Formen des Umgangs sind Varianten dieser Grundmuster oder Kombi- nationen aus zweien oder mehreren Mustern (vgl. NIEKE 2008, S. 128). Das oben vorge- stellte Beziehungsmuster der Vereinnahmung findet sich hier in der Assimilationszumutung wieder. Das Beziehungsmuster der Ausgrenzung kann hier den Umgangsformen Vertrei- bung/Vernichtung und Segregation zugeordnet werden und der flexible Umgang zwischen beiden entspricht der Umgangsform der Änderung der eigenen Deutungsmuster. Im Folgen- den werden die einzelnen Umgangsformen vorgestellt.
Die Assimilationszumutung
Die Assimilationszumutung erwartet von den Zuwanderern, dass die sich spätestens nach drei Generationen vollständig an die Kultur der Einheimischen angepasst haben. Ein Vorteil der Assimilation besteht darin, dass jede Befremdung durch irgendeine Andersartigkeit in Sprache oder Kultur für die Einheimischen verschwindet. Gleichzeitig verschwindet jede mögliche Diskriminierung von Angehörigen zugewanderter Minoritäten aufgrund von Merkmalen, die auf die Zugehörigkeit zu diesen Minoritäten verweisen, also z. B. Zweisprachig- keit, eine andere Religion oder Kultur. Die Zielvorstellung einer vollständigen Integration, wie sie vor allem im Hinblick auf die Herstellung von Chancengleichheit formuliert werden kann, enthält eine solche Assimilationszumutung. Assimilation ist jedoch nur dann von Vorteil für die Zugewanderten, wenn dadurch tatsächlich jegliche Art von Diskriminierung aufhört und Chancengleichheit mit den Einheimischen erreicht wird (vgl. NIEKE 2008, S. 129).
Segregation
Die bloße Duldung der Zugewanderten auf dem eigenen Territorium führt häufig zu einer strengen Abgrenzung zwischen ihnen und den Einheimischen, zu einer Segregation. Diese Segregation kann räumlich sein, wenn die Zuwanderer in eigenen Stadt- oder Landesteilen siedeln oder es kann zu so etwas wie einer „unsichtbaren Segregation“ kommen. Dies ist dann der Fall, wenn keinerlei Kontakt zwischen den Einheimischen und Zuwanderern be- steht und die Einheimischen Distanz zu den Zugewanderten halten, sie von Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs fern halten und ihnen dauerhaft eine Position der Marginalität[5] außer- halb der zentralen Teilhabebereiche in Politik und Wirtschaft zuweisen. Unsichtbare Segre- gation äußert sich in Deutschland beispielsweise im Ausschluss von Zuwanderern ausländi- scher Nationalität von jeder Form wirksamer, politischer Teilhabe, also im Vorenthalten jeder Form von Wahlrecht (vgl. NIEKE 2008, S. 130).
Vertreibung und Vernichtung
Vertreibung und Vernichtung sind ein weiteres, vorkommendes Muster im Umgang mit Be- drohlichem und Fremdem, sei es im Umgang mit der Natur oder für feindlich gehaltenen Gruppen, im eigenen oder fremden Territorium. Alle Formen nötigender Rückwanderung – wozu hierzulande auch Teile der Rückkehrhilfen gehören – sind Anzeichen dieses Musters der Vertreibung unerwünschter Zuwanderer. Nicht seltene Fälle von Morden an Zuwande- rern sind Manifestationen eines Vernichtungswillens, der bei den meist rechtsradikalen Tä- tern vorhanden ist. Auch Witze, die sich auf Merkmale anderer Kulturen beziehen, wie etwa „Türkenwitze“ sind Ausdruck eines solchen Vernichtungswillens (vgl. NIEKE 2008, S. 129).
Änderung der eigenen Deutungsmuster
Grundsätzlich möglich sein müsste aber auch eine gleichberechtigte Aufnahme der Zuwan- derer in das soziale System der Aufnahmegesellschaft, auch wenn dies weltweit nur selten der Fall ist. Das wird mit der geläufigen Zielsetzung der Zuwandererpolitik angesprochen, wenn eine „Integration unter Wahrung der kulturellen Identität“ gefordert wird. Eine gleichbe rechtigte Aufnahme bei vollständiger Assimilation wäre leichter zu verwirklichen, aber eine solche Assimilationszumutung ist aus verschiedenen Gründen problematisch. So haben die meisten Zuwanderer der ersten Generation eine Lebensperspektive der Rückkehr spätes- tens für das Rentenalter und lehnen deshalb aus guten Gründen jede Zumutung ab, sich mehr als es für eine vorübergehende Zeit notwendig ist, an die Kultur der Einheimischen zu akkulturieren[6] (vgl. NIEKE 2008, S. 130). Zudem hat die Geschichte der Einwanderungen gezeigt, dass eine erfolgreiche Assimilation immer dann unmöglich bleibt oder nur teilweise gelingt, wenn äußerliche Merkmale der Zuwanderer, wie z. B. die Hautfarbe, diese weiterhin als Fremde erkennbar werden lassen und einen Ansatzpunkt für Diskriminierung darstellen. Angehörige von Zuwanderungsgruppen mit solchen Merkmalen können sich in der Folge also gar nicht vollständig assimilieren, selbst dann nicht, wenn sie es wollten, weil die Ein- heimischen sie weiterhin als Fremde erkennen können und dies auch tun (vgl. NIEKE 2008, S. 132).
So entstehen hierzulande und überall auf der Welt dauerhafte Formen des Zusammenlebens zwischen Einheimischen und Zugewanderten, die sich nicht ganz assimilieren können und wollen. Dieses Nebeneinander von allmählicher Assimilation und Akkulturation mit dauerhaft aufrechterhaltenen, kulturellen Besonderheiten bei den Zuwanderern, die dadurch zu sprach- lichen, religiösen, kulturellen und z. T. auch rassischen Minderheiten werden, wird als multi- kulturelle Gesellschaft bezeichnet. Multikulturalität als Zielvorstellung im Sinne des Akzeptie- rens und Schützens von kultureller Vielfalt erfordert eine Änderung der bisher unhinterfragten Deutungsmuster über die eigene Gesellschaft, welche bisher weitgehend als homogen, als deutsch, angesehen und gedacht wird. Deutungsmuster dieser Art sind selten korrekt und folgen kaum strenger Logik. Das Deutungsmuster von der sprachlich und kulturell homoge- nen Staatsbevölkerung kann sich nur allmählich durch fortgesetzte Thematisierung, durch Bildung und Aufklärung, sowie durch die ständige Erfahrung, dass es die reale Welt nicht mehr zutreffend beschreibt und durch gestaltetes interkulturelles Leben geändert werden. Eine Unterstützung bei der Änderung der Deutungsmuster ist nach Nieke nicht nur, aber auch eine pädagogische Aufgabe (vgl. NIEKE 2006, S. 132f.).
2.3 Zusammenfassung
Fremdheit kann entweder als natürliche Eigenschaft von Dingen oder Personen oder als ein Beziehungsmodus angesehen werden. Bei der zweit genannten Perspektive handelt es sich um einen sozialkonstruktivistischen Blickwinkel, bei dem davon ausgegangen wird, dass das, was als fremd erfahren wird, sozial konstruiert und gelernt worden ist. Somit hängt das, was als fremd erlebt wird und wie es als fremd erlebt wird, sehr wesentlich von der eigenen (Lern-)Geschichte ab. Im Beziehungsverhältnis zum Fremden ist es wesentlich, auch die eigenen Anteile zu berücksichtigen und zu verstehen, dass die eigene Sichtweise nur eine mögliche unter vielen anderen ist. Zwischen Eigenem und Fremdem sind drei verschiedene Beziehungsmodi möglich: Ein flexibler Umgang zwischen beiden, Trennung oder Ausgren- zung und Aneignung oder Vereinnahmung. Diese drei Beziehungsmodi lassen sich auch im Umgang mit Zuwanderern identifizieren. In der Geschichte sind immer wieder Formen der Vertreibung und Vernichtung, ebenso wie Formen der Assimilationsnötigung im Umgang mit Fremden zu finden. Grundsätzlich möglich sein müsste nach Nieke jedoch auch die Verwirk- lichung der Zielvorstellung einer multikulturellen Gesellschaft, in der Achtung und Respekt vor und Anerkennung von Andersartigkeit vorherrschend sind. Im Rahmen dieser Zielvorstel- lung erhält dann auch das Konzept der interkulturellen Kompetenz besondere Relevanz, denn wenn die Zielvorstellung nicht Achtung von Differenz, sondern Vertreibung oder Assimi- lation von Andersartigkeit wäre, wäre es nicht in dem Ausmaß vonnöten, die Mitglieder der heutigen Gesellschaft zu einem besseren Umgang mit Fremdheit und Differenz zu befähi- gen.
3. Interkulturelle Pädagogik
Nachdem aufgezeigt wurde, welche Umgangsformen mit Fremden grundsätzlich möglich und in der Geschichte auch immer wieder zu finden sind, wird nun dargestellt, wie von Seiten der Wissenschaft auf die Folgen der Arbeitsmigration in den 1960er Jahren reagiert wurde und wie sich seit dem der Standpunkt bezüglich des „richtigen“ Umgangs mit Zuwanderern geändert hat. Dazu wird der wissenschaftliche Diskurs zunächst in historischer Perspektive dargestellt, bevor der aktuelle Diskussionsstand beleuchtet wird. Eine Zusammenfassung bildet den Abschluss dieses Abschnittes.
3.1 Historischer Rückblick
In der ersten Zeit der Arbeitsmigration, während der 1960er Jahre, beschäftigte sich die Pä- dagogik zunächst noch nicht mit den daraus resultierenden Problemen, denn die angewor- benen Gastarbeiter aus südosteuropäischen Ländern kamen zunächst allein, ohne ihre Fa- milien, nach Deutschland, um hier zu arbeiten. Der typische Gastarbeiter der 1960er Jahre war jung, oft ledig und hatte in der Regel seine Familie in seiner Heimat zurückgelassen. Aus Sicht staatlicher Instanzen und der anwerbenden Unternehmen sollten die Gastarbeiter mög- lichst bald wieder in ihre Heimat zurückkehren und auch sie selbst hatten die Hoffnung, sich mit schnell verdientem Geld in ihren Herkunftsländern eine eigene Existenz aufbauen zu können (vgl. HOLZBRECHER 2004, S. 51; NOHL 2006, S. 16). Häufig ging diese Hoffnung jedoch nicht in Erfüllung: die Lebenshaltungskosten in Deutschland waren höher, als vielfach angenommen, sodass ein längerer Aufenthalt, als ursprünglich vorgesehen, in Deutschland erforderlich war. In der Folge wurden Familien gegründet und Angehörige aus den Heimat- ländern zogen nach Deutschland (vgl. HOLZBRECHER 2004, S. 51). Die Zahl der schul- pflichtigen Kinder von zugewanderten Familien war anfangs noch sehr gering und fiel statis- tisch kaum ins Gewicht, so dass sich die Schulverwaltungen noch nicht zu gesonderten Maßnahmen veranlasst sahen. Nur die Schulpflicht wurde nach einiger Diskussion im Jahr 1964 auf diese Gruppe ausgedehnt. Auch die Erziehungswissenschaft, welche in den 1960er Jahren noch mit den Bildungsreformideen und ihrer eigenen methodischen Neuorientierung befasst war und zudem von Gesamtschuldebatte und Curriculumrevision eingenommen wurde, reflektierte die Problematik bis in die 1970er Jahre kaum (vgl. AUERNHEIMER 2003, S. 35).
Die ersten, großen Veröffentlichungen Anfang der 1970er Jahre wie „Gastarbeiterkinder an deutschen Schulen“ von Koch (1970) oder das „Gutachten zur Schul- und Berufsausbildung der Gastarbeiterkinder“ von Müller (1971) dienten offenbar der ersten Bestandsaufnahme und Problemvergewisserung. Von Seiten der Wissenschaft wurden zunächst die Sprach- schwierigkeiten der ausländischen Kinder als dominantes, weil auffälligstes Problem wahr- genommen. Im Zuge der besonderen Sprachlernsituation der Kinder mit Migrationshin- tergrund wurde eine Zweitsprachendidaktik entwickelt, die die Fremdsprachendidaktik, die sich bis zu diesem Zeitpunkt mit dem Problem beschäftigt hatte, ablöste. Die starke Fokus- sierung auf Sprache ging nach einiger Zeit jedoch zugunsten anderer Problemaspekte merk- lich zurück, denn es wurde erkannt, dass sie die Problematik verkürzte, insbesondere, da die Sprachförderung in der Regel auf das Deutsch lernen begrenzt war. Maßgebend war in die- ser Zeit die Orientierung an der von der Kultusministerkonferenz in ihren Empfehlungen vor- gegebenen Doppelaufgabe, nämlich einerseits die schulische Integration der Migrantenkin- der zu verfolgen und andererseits ihre kulturelle Identität zu erhalten, damit sie später wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren konnten. In einer administrativ entschiedenen Arbeitstei- lung wurde die Integrationsaufgabe dem Regelunterricht zugewiesen und die Erhaltung der Rückkehrfähigkeit dem muttersprachlichen Ergänzungsunterricht durch ausländische Lehr- kräfte überlassen (vgl. AUERNHEIMER 2003, S. 38; NOHL 2006, S. 19). Insgesamt wurde die pädagogische Aufgabe kompensatorisch verstanden, so dass die alleinige Ausrichtung auf die Gruppe der (im Zuge der Arbeitsmigration) Zugewanderten, die explizite oder implizi- te Etikettierung der Zielgruppe als Mängelwesen unter Berufung auf die andere Herkunft oder Kultur, die Heranziehung der eigenen Kultur als Maßstab, sowie das Ziel der Anpas- sung der Zugewanderten (vgl. KRÜGER- POTRATZ 2005, S. 123) kennzeichnend für die Programme und Konzepte jener Zeit waren. Mit der Kritik an der Ausländerpädagogik setzte die Auseinandersetzung um eine neue Problemdefinition und pädagogische Aufgabenstel lung ein. Kritisiert wurde seither zum einen der sonderpädagogische Anspruch der Auslän- derpädagogik als einer speziellen Pädagogik nur für Zugewanderte bzw. die Kinder der Migranten, welche die Arbeit mit einheimischen Kindern außer Acht lässt, obwohl deren Le- benswelt sich durch den Zuzug der Migranten maßgeblich verändert hatte. Zum anderen geriet der einseitig kompensatorische Ansatz der Ausländerpädagogik ins Kreuzfeuer der Kritik, der die Kinder mit Migrationshintergrund und ihre Eltern als förderbedürftig etikettierte und auf diese Weise die Arbeitsplätze ausländerpädagogischer Fachkräfte zu sichern schien. Zudem wurde die Widersprüchlichkeit ausländerpädagogischer Zielsetzungen kriti- siert, sowohl die Rückkehrfähigkeit, als auch die Integration in die hiesige Schul- und Ar- beitswelt zu fördern (vgl. GLUMPLER 1995, S. 10).
Die z. T. heftigen Auseinandersetzungen setzen mit einer Jahrestagung des Verbandes der Initiativgruppen in der Ausländerarbeit (VIA) ein, welche unter dem Motto „Wider die Päda- gogisierung der Ausländerprobleme!“ stand (vgl. AUERNHEIMER 2003, S. 38; GLUMPLER 1995, S. 11). Vermutlich wurde diese Neubesinnung durch die sich abzeichnende, soziale Marginalisierung[7] der zugewanderten Arbeiterfamilien in Zeiten wirtschaftlicher Rezession eingeleitet. Im Zuge einer Benachteiligung zugewanderter Familien auf dem Arbeitsmarkt durch eine nachlassende Bedeutung des altindustriellen Sektors, kamen bei einigen Päda- gogen Zweifel hinsichtlich der Möglichkeiten pädagogischer Hilfen auf (vgl. AUERNHEIMER 2003, S. 38). Insbesondere die Söhne und Töchter der Gastarbeiter stießen auf Probleme bei der Suche nach einem Ausbildungs- oder Arbeitsplatz. Zunehmend wurden nun auch außerschulische, pädagogische Arbeitsfelder wie die außerschulische Jugendarbeit und die Sozialarbeit bedeutsam, was sich in der wissenschaftlichen Diskussion widerspiegelte. So nahmen Fragen der beruflichen Bildung Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre einen erstaunlich hohen Rang ein.
Eine wichtige Gegebenheit im Übergang zu den 1980er Jahren war die zumindest innerhalb der wissenschaftlichen Öffentlichkeit wachsende Einsicht, dass die Bundesrepublik zum Einwanderungsland geworden war. Der Übergang von der Gastarbeiterbeschäftigung zur Einwanderung markierte nach Franz Hamburger den entscheidenden Problemwandel (vgl. HAMBURGER 1983, S. 276). Diese Einsicht gab auch den Anstoß dazu, sich stärker als bisher mit Ansätzen der Migrationsforschung auseinanderzusetzen und sich nach pädagogi- schen Konzepten in Ländern mit längerer Einwanderungstradition umzusehen.
Schließlich gab die Veröffentlichung von Heckmann mit dem Titel „Die Bundesrepublik – ein Einwanderungsland?“ der Pädagogik neue Anregungen und leitete eine Neuorientierung ein, da die Migrantenkulturen in ihrem Stellenwert gewürdigt wurden. Angeregt durch die päda gogischen Konzepte in älteren Einwanderungsländern wurden in den frühen 1980er Jahren nun auch Konzepte einer interkulturellen Erziehung entwickelt und diskutiert (vgl. AUERNHEIMER 2003, S. 39). Wichtige Voraussetzung für die Entwicklung und Diskussion interkultureller Ansätze war die Anerkennung der ethnischen Minoritäten als dauerhafter Be- standteil einer multikulturellen Gesellschaft. Unter den Ideen und Konzepten, die nun unter dem Stichwort „interkulturelle Erziehung“ Verbreitung fanden, ließen sich zwei Tendenzen erkennen: Eine, die vom Motiv der interkulturellen Begegnung und Bereicherung getragen war und interkulturelle Differenzen als gegeben hinnahm und eine, die primär Konfliktbear- beitung intendierte (vgl. HOHMANN 1989, S. 15f.). Im Rahmen der Diskussion sah man sich bald mit grundsätzlichen Fragen, wie der Frage nach dem Kulturbegriff, nach dem Unter- schied zwischen Herkunfts- und Migrantenkulturen, sowie der Frage nach dem Stellenwert kultureller Differenz und Identität konfrontiert. Man begann sich an den Migrantenkulturen, anstatt wie früher, an den Herkunftskulturen zu orientieren. Außerdem erörterte man die Kontroverse von Kulturrelativismus und Kulturuniversalismus[8].
Ende der 1980er Jahre setzte parallel zu Etablierung der interkulturellen Pädagogik eine mehr oder minder scharfe Kritik an ihrer Idee und theoretisch- praktischen Konzeption ein. Die interkulturelle Erziehung stieß im Rahmen der Kritik auf verschiedene Einwände und wurde unter ideologiekritischen, verfassungsrechtlichen und philosophisch- normativen Ge- sichtspunkten in Frage gestellt. So lenke interkulturelle Erziehung von den meist sozialstruk- turell bedingten Problemen der Minderheiten ab, deren Situation die Idee der interkulturellen Erziehung aufkommen ließ. Es fände eine „Pädagogisierung“ der Ausländerprobleme statt, die die tatsächliche Situation der ausländischen Familien verschleiere (vgl. AUERNHEIMER 1996, S. 31). Neben Kritik und Etablierung fand zeitgleich eine Ausdifferenzierung interkultu- reller Pädagogik statt. So wurde interkulturelle Erziehung beispielsweise auch als „Friedens- erziehung“ proklamiert oder als „interkulturelle Erziehung für Europa“ aktualisiert und poli- tisch instrumentalisiert. Im Rahmen einer Reaktion auf die Kritik der ‚Pädagogisierung’ und ‚Entpolitisierung’ wurde interkulturelle Pädagogik des Weiteren auch als „politische Bildung“ konzipiert (vgl. GRIESE 2005, S. 17).
Seit Anfang der 1990er Jahre beherrscht nun die Auseinandersetzung mit dem jugendlichen Rechtsextremismus die pädagogische Diskussion, ohne jedoch an die Debatte über interkul- turelle Erziehung anzuschließen. Die beiden Diskurse werden z. T. noch bis heute getrennt geführt, möglicherweise, weil das Konzept der interkulturellen Erziehung meistens für die schulische Praxis entworfen wurde, wohingegen antirassistische Erziehung die Domäne der Jugendarbeit geworden ist (vgl. AUERNHEIMER 2003, S. 41). Im Zuge zahlreicher Strafta- ten gegen Zugewanderte Anfang der 1990er Jahre entwickelte sich eine Diskussion über mögliche Handlungsstrategien. Da Rassismus ein zentrales Element rechtsextremer Orien- tierungsmuster darstellt, lässt sich von einer Fokussierung antirassistischer Erziehung spre- chen. Durch den Kongress „Migration und Rassismus in Europa“ im Herbst 1990 wurde ein eigener, deutschsprachiger Diskurs über Rassismus und antirassistische Arbeit eingeleitet, nachdem zunächst antirassistische Konzepte aus Großbritannien, den Niederlanden und Frankreich rezitiert worden waren (vgl. AUERNHEIMER 2003, S. 41).
Durch den Entwurf des Programms für den Forschungsschwerpunkt FABER („Folgen der Arbeitsmigration für Bildung und Erziehung“) der Deutschen Forschergemeinschaft wurde schließlich ein entscheidender Perspektivwechsel eingeleitet, da die wissenschaftliche Auf- merksamkeit von den Migranten auf die pädagogischen Institutionen und deren Defizite ge- lenkt wurde. In diesem Zusammenhang wurde die notwendige Kongruenz zwischen den In- halten und den institutionellen Strukturen, vor allem für die Sozialisationsinstanzen Kinder- garten und Schule, stärker in das pädagogische Blickfeld gerückt (vgl. AUERNHEIMER 2003, S. 119). Gleichzeitig tauchten vermehrt Diskussionsbeiträge zur interkulturellen Öff- nung der Sozialen Dienste auf. Hier ging es vor allem um den Abbau der Zugangsbarrieren für Migrantinnen. Im Rahmen dieser Diskussion wurde die interkulturelle Kompetenz der pä- dagogischen Fachkräfte zum Thema, welche seit Mitte der 1990er Jahre im Rahmen einer eigenen Debatte erörtert wird (vgl. AUERNHEIMER 2003, S. 42).
3.2 Stand der Diskussion und aktuelle Tendenzen
Im Rahmen interkultureller Pädagogik gibt es zu Anfang des 21. Jahrhunderts nach wie vor theoretische Kontroversen und Streitpunkte unter den Autoren, jedoch besteht in einigen Punkten mittlerweile Einigkeit. So ist man einer Meinung, dass interkulturelle Erziehung sich an alle, d.h. an Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Lernende und Lehrende richtet und kein spezielles Konzept darstellt, das sich nur an Einrichtungen mit Personen mit Migrationshin- tergrund richtet. Zudem herrscht Konsens in Bezug auf die Tatsache, dass interkulturelle Bildung und Erziehung kein gesondertes (Unterrichts-)Fach darstellt, sondern als Schlüssel- qualifikation für jeden Einzelnen und als eine Querschnittsaufgabe in allen erziehungswis- senschaftlichen Teildisziplinen und pädagogischen Tätigkeitsfeldern zu verstehen ist (vgl. KRÜGER- POTRATZ 2005, S. 30f.). Das bedeutet, es reicht nicht, sie zum Gegenstand ein- zelner Fächer zu machen oder mit kultur- oder landeskundlicher Bildung im Sinne des Er- werbs von Kenntnissen über andere Länder und Kulturen gleichzusetzen. Weiterhin ist man sich unter den Autoren darüber einig, dass interkulturelle und europäische Bildung nicht von- einander zu trennen sind, da es in beiden Fällen um Bildung und Erziehung für ein Leben in einer sprachlich, ethnisch, sozial, national und kulturell pluralisierten Gesellschaft geht. Zu- dem besteht Konsens bezüglich des Ziels interkultureller Erziehung und Bildung. Das Ziel besteht demnach in einer Veränderung von Deutungsmustern, Einstellungen und Haltungen. Interkulturelle Erziehung und Bildung sind Teil allgemeiner Bildung: „Interkulturelle Erziehung […] ist kein Projekt, sondern eine Haltung. Wer sie sich zu eigen macht, kann sie jeden Tag anwenden und braucht keine großen Programme und Veranstaltungen“ (KRÜGER- POTRATZ 2005, S. 31 zit. n. VERBAND BI- NATIONALER PARTNERSCHAFTEN 2000), wohl aber umfangreiches Wissen und die Fähigkeit, die eigenen Sichtweisen zu hinterfragen und ggf. zu relativieren oder ändern zu können. Des Weiteren zielt interkulturelle Erziehung und Bildung auf eine Veränderung ausgrenzender Strukturen im Bildungswesen, wie sie im Zuge der Herausbildung eines nationalen Bildungssystems entwickelt wurden, um u. a. die Idee von sprachlicher, kultureller, ethnischer und nationaler Homogenität als „Normalfall“ durchsetzen zu können. Weiterhin ist die Mehrheit der Autoren der Meinung, dass es sich bei interkultureller Bildung um eine Entwicklungsaufgabe handelt, an der alle im Bereich von Bildung und Erziehung beteiligt sind. Es geht um eine Veränderung der Strukturen, in denen sie arbeiten und lernen, ebenso wie um eine Veränderung des Denkens und der Hand- lungsmuster, mit denen sie sich Wissen aneignen, vermitteln und in die Praxis umsetzen. Schließlich ist man der Meinung, dass interkulturelle Bildung und Erziehung auch förderpä- dagogische Angebote für Kinder und Jugendliche umfasst, beispielsweise für neu Zugewan- derte (vgl. KRÜGER- POTRATZ 2005, S. 31f.).
Trotz dieser konsensfähigen Charakteristika interkultureller Pädagogik gibt es, wie angedeu- tet, nach wie vor Kontroversen, beispielsweise bezüglich verschiedener Begrifflichkeiten (vgl. GRIESE 2005, S. 19). Diese Kritikpunkte regen zu Weiterentwicklungen und Modifikationen interkultureller Pädagogik an. Im Folgenden werden aktuelle bzw. zukünftige Entwicklungs- tendenzen interkultureller Pädagogik vorgestellt. Dabei wird auf interkulturelle Kompetenz als aktuelles Konzept, sowie einige bisher noch nicht etablierte Konzepte eingegangen.
Das Konzept der interkulturellen Kompetenz
Das Konzept der interkulturellen Kompetenz, das bereits seit den 1990er Jahren in einer eigenen Debatte erörtert wird, wird sich sehr wahrscheinlich auch weiterhin durchsetzen, da sich der Kompetenzbegriff momentan in allen pädagogischen Bereichen, insbesondere im Rahmen der Erwachsenen- und Weiterbildung, großer Beliebtheit erfreut, so Hartmut Griese (vgl. GRIESE 2005, S. 20). Zudem ist man sich der Relevanz interkultureller Kompetenz be- wusst, wenn diese als eine „Schlüsselqualifikation in der Einwanderungsgesellschaft“ be- zeichnet wird (vgl. SIMON- HOHM 2002, S. 44)[9].
Neben dem Konzept der interkulturellen Kompetenz, das derzeit nach wie vor diskutiert wird, gibt es eine Reihe weiterer, neuer, das bedeutet noch nicht etablierter, aber gegenwärtig (an)diskutierter Ansätze zur Weiterentwicklung oder Überwindung der interkulturellen Päda- gogik. Griese beschreibt in diesem Zusammenhang u. a. das „Konzept der Transkulturalität“, das „Konzept der kulturellen Universalien“ und das „Konzept des individualistischen Kultur- begriffs“.
Das Konzept der Transkulturalität
Sowohl das Konzept der ‚Multikulturalität’ als auch das Konzept der ‚Interkulturalität’ werden zurzeit immer häufiger vom Begriff der ‚Transkulturalität’ ersetzt (vgl. KLINKHAMMER 2003, S. 102). Dieses Konzept ist jedoch nicht neu, denn Schöfthaler beschäftigte sich bereits im Jahr 1984 mit diesem Begriff und Konzept. Allerdings scheint es erst jetzt vermehrt ins Blick- feld der Autoren zu geraten. Transkulturalität sei, so Schöfthaler, darauf ausgerichtet, „das kulturelle Fremde“ als „Anderes und Eigenständiges“ wahrzunehmen und dadurch „kulturelle Selbstverständlichkeiten“ in Frage zu stellen (vgl. SCHÖFTHALER 1984, S. 20). Insbeson- dere das letztgenannte Beschreibungsmerkmal von Transkulturalität weise über Interkultura- lität hinaus, so Bolscho (vgl. BOLSCHO 2005, S. 30). Transkulturelle Erziehung sei der Ver- such, zwischen universalistischen und relativistischen Konzepten interkultureller Pädagogik zu vermitteln. Der Philosoph Wolfgang Welsch hat elf Jahre später die komplexe Alltagssitu- ation in der heutigen, ausdifferenzierten Weltgesellschaft in seine Kritik an der „traditionellen Beschreibung von Kulturen als Inseln oder Sphären“ aufgenommen und diese Beschreibung als falsch etikettiert, da sich „Eigen- und Fremdkultur“ heutzutage nicht mehr voneinander trennen ließen. Folglich komme es darauf an „die Kulturen jenseits des Gegensatzes von Eigenkultur und Fremdkultur zu denken“ (WELSCH 1995, S. 39). Mit dieser veränderten Kul- turauffassung ist auch eine veränderte Auffassung von kultureller Identität verbunden, die nun nicht länger als Identifizierung einer Person mit einem einzigen Kollektiv verstanden werden kann. In modernen Gesellschaften, die Individuen vielfältige Orientierungen anbie- ten, können sich Individuen mit mehreren kulturellen Referenzen identifizieren. Daraus folgt:
„Wenn ein Individuum durch unterschiedliche kulturelle Anteile geprägt ist, wird es zur Auf- gabe der Identitätsbildung, solche transkulturellen Komponenten miteinander zu verbinden“ (WELSCH 1995, S. 43).
Als Schwäche des Konzeptes kann gelten, dass es möglicherweise reale „kulturelle Differen- zen“ negiert und der Fokus der Aufmerksamkeit auf Kultur und nicht etwa auf Struktur, Macht, etc. liegt. Jedoch hilft es, Probleme der interkulturellen Pädagogik, wie z. B. das Den- ken in Differenzen oder Polarisierungen, zu überwinden (vgl. BOLSCHO 2005, S. 29ff.).
Das Konzept der kulturellen Universalien
Bei diesem Ansatz geht es um folgende Fragen: Was ist allen Menschen jenseits aller Kultu- ren und Epochen gemeinsam? Was teilen Menschen an allen Orten und zu allen Zeiten mit- einander? Was ist universell und kulturübergreifend? Anthropologische Grundprämisse ist, dass jeder Mensch zugleich einzigartig und allgemein ist; jeder Mensch hat Individualität und ist zugleich allgemeines Mitglied der Gattung Mensch. Während wir durch Sozialisation bio- graphisch einzigartig geworden sind, eine persönliche Identität entwickelt haben und gesell- schaftlich gesehen eine soziale Identität, hat uns die Evolution global gesehen allgemein gemacht, in dem sie die Gattung „Mensch“ hervorgebracht hat. Es gilt nach Griese daher zu fragen und zu untersuchen, was dieses Allgemeine und Universelle ist, das in allen Kulturen und Epochen aufzufinden ist. Und welche Bedeutung und Relevanz kulturelle Universalien für pädagogische Erkenntnisse und Prozesse haben können. Im Blickfeld des pädagogi- schen Interesses steht nun das Individuum als Mitglied der Gattung „Mensch“, denn was allen Menschen gemeinsam ist, muss von Relevanz für alltägliches Handeln und Verstehen, insbesondere in pädagogischen Kontexten sein, so Griese (vgl. GRIESE 2005, S. 22).
Als kulturelle Universalien wurden in zahlreichen, Kultur vergleichenden Studien beispiels- weise Musik, Freude, Trauer und Liebe identifiziert. Aber wie sieht es beispielsweise mit Ar- beitsteilung oder Eigentum aus? Das Konzept der kulturellen Universalien provoziert Debat- ten und Diskussionen (vgl. GRIESE 2005, S. 22f.). Es wird beispielsweise proklamiert, dass kulturelle Universalien Voraussetzung für interkulturelle Kommunikation sind, denn, so wird argumentiert, wären verschiedene Kulturen ausschließlich verschieden und lägen ihnen nicht gemeinsame menschliche Züge zugrunde, dann wäre Kommunikation unter Menschen ver- schiedener Kulturen nur so beschränkt möglich wie Kommunikation mit Tieren aus anderen Gattungen (vgl. PAYER 2006). Der Fokus der Betrachtung liegt beim Konzept der kulturellen Universalien nicht beim Besonderen oder bei Differenzen, sondern bei Gemeinsamkeiten. Durch die Ergänzung des Differenzparadigmas durch das Universalitätsparadigma eröffnen sich, so Griese, neue humanwissenschaftliche Fragen und neue pädagogische Möglichkei- ten (vgl. GRIESE 2005, S. 23).
Das Konzept des individualistischen Kulturbegriffs
Das Konzept des individualistischen Kulturbegriffs versucht, die im Rahmen der interkulturel- len Pädagogik geäußerte Kritik am Kulturbegriff zu umgehen, in dem Kultur nur noch in Be- zug auf einzelne, einzigartige Individuum verwendet wird (vgl. GRIESE 2005, S. 24). Jeder Mensch ist in Bezug auf seine Sozialisationserfahrungen und Lernprozesse einzigartig. Das bedeutet, er hat eine ganz bestimmte, individuelle Kultur – verstanden als Lebensweise, Le- bensstil, Arbeitsverhalten, Denkweise, Gewohnheiten, etc. Kultur wird also zu einem indivi- duellen Merkmal, das Menschen voneinander unterscheidet. Es gibt gemäß diesem Konzept nur ‚individuelle Identitäten’. Griese favorisiert diesen individualistischen Kulturbegriff, da er davon ausgeht, dass der Kulturbegriff aufgrund seiner alltäglichen, politischen und wissen- schaftlichen Beliebtheit nicht mehr umgangen werden kann (vgl. GRIESE 2005, S. 24).
3.3 Zusammenfassung
Mit rund zehnjähriger Verspätung widmete sich in den 1970er Jahren die erziehungswissen- schaftliche Diskussion der neuen, interkulturellen Situation, welche durch den Familiennach- zug der Gastarbeiter in den pädagogischen Institutionen entstanden war.
Die Gastarbeiterkinder wurden dabei zunächst als Problem wahrgenommen. Man konzent- rierte sich auf ihre Defizite, vor allem im sprachlichen Bereich, und forderte Fürsorge und beratende Hilfe zur Kompensation ihrer Mängel. So waren die Anfänge der Ausländerpäda- gogik vom Bestreben gekennzeichnet, in erster Linie durch den Ausgleich von Sprachdefizi- ten den Schulbesuch und damit eine bessere, gesellschaftliche Integration zu ermöglichen. Integration wurde zumeist im Sinne einer Assimilation verstanden, d.h. es wurde eine einsei- tige Anpassung der Zugewanderten und ihrer Kinder an die bestehenden Verhältnisse gefor- dert. Gleichzeitig sollte die Option einer Rückkehr ins Herkunftsland offen gehalten werden. Dadurch wurden Maßnahmen wie etwa muttersprachlicher Unterricht eingeführt, die auf eine Erhaltung der spezifischen, kulturellen Identität der Migranten abzielten (vgl. HOLZBRECHER 2004, S. 51f). Somit lassen sich zur Zeit der Ausländerpädagogik zwei der oben beschriebenen Beziehungsmuster im Umgang mit Fremden wieder finden: Auf der ei- nen Seite die Assimilationszumutung und auf der anderen Seite die Ausgrenzung durch ge- sonderte Integrationsmaßnahmen. Zudem finden sich Anzeichen des Musters der Vertrei- bung in der Absicht, die Rückkehrfähigkeit zu erhalten, da die Zugewanderten nicht dauer- haft in die Gesellschaft integriert werden, sondern möglichst wieder in ihr Herkunftsland zu- rückkehren sollen.
Im Zuge der Kritik am kompensatorischen Ansatz der Ausländerpädagogik wurden schließ- lich Konzepte einer interkulturellen Erziehung entwickelt und diskutiert, wobei man sich an Konzepten aus Ländern mit längerer Einwanderungstradition orientierte. Wichtige Voraus- setzungen dafür waren die Einsicht, dass die BRD zum Einwanderungsland geworden war, sowie die Anerkennung der ethnischen Minoritäten als dauerhaften Bestandteil einer multi- kulturellen Gesellschaft (vgl. AUERNHEIMER 2003, S. 39). Im Laufe der Zeit fand eine Diffe- renzierung der Konzepte interkultureller Pädagogik statt. Zudem musste sich die interkultu- relle Pädagogik einigen Kritikpunkten stellen (vgl. AUERNHEIMER 1996, S. 31; GRIESE 2005, S. 17). Durch den Übergang von der Ausländerpädagogik zur interkulturellen Pädago- gik hat sich ein deutlicher Wandel im Umgang mit Zuwanderern vollzogen. Nun wird Aner- kennung von Differenz, sowie eine gleichberechtigte Aufnahme der Zuwanderer in die Mehr- heitsgesellschaft angestrebt.
Seit Anfang der 1990er Jahre beherrscht die Auseinandersetzung mit dem jugendlichen Rechtsextremismus die pädagogische Diskussion, jedoch ohne an die Debatte über interkul- turelle Erziehung anzuschließen. Da Rassismus ein zentrales Element rechtsextremer Orien- tierungsmuster darstellt, lässt sich von einer Fokussierung antirassistischer Erziehung spre- chen.
Im Rahmen der Diskussion vollzieht sich seit Mitte der 1990 Jahre eine Hinwen dung zu den eigenen Institutionen und zu Fragen der eigenen Kompetenz. Dabei ist die interkulturelle Kompetenz der pädagogischen Fachkräfte, also der Erzieherinnen, Lehrerinnen, Sozialarbei- terinnen etc. zum wissenschaftlichen Thema geworden, auf das im Folgenden noch ausführ- lich eingegangen wird. Auch gibt es, wie aufgezeigt, trotz nach wie vor vorhandener Kontro- versen mittlerweile einige Diskussionspunkte, in denen sich die Autoren bezüglich interkultu- reller Pädagogik einig sind. Daneben existieren bereits einige Modifikationen interkultureller Pädagogik wie das Konzept der interkulturellen Kompetenz, ebenso wie neuere, (an)diskutierte Ansätze, welche Kritikpunkte an der interkulturellen Pädagogik aufnehmen und versuchen, diese zu umgehen und die interkulturelle Pädagogik auf diese Weise weiter- zuentwickeln.
4. Interkulturelle Kompetenz
Wie im vorherigen Abschnitt aufgezeigt, wird das Konzept der interkulturellen Kompetenz seit Anfang der 1990er Jahre diskutiert und bis zum jetzigen Zeitpunkt ist noch kein Ende der Diskussion abzusehen. Aufzuzeigen, welche Entwicklung das Konzept seit seinen Anfängen durchlaufen hat, welche Kontroversen es unter den Autoren bezüglich des Konzeptes gibt und in welchen Punkten mittlerweile Einigkeit herrscht, ist das Anliegen dieses Abschnittes. Zudem wird das Profil interkultureller Kompetenz, das für die Analyse der Ausbildungsrichtli- nien und Bildungspläne ausgewählt wurde, vorgestellt. Ein zusammenfassender Überblick über diesen Abschnitt bildet den Abschluss des vierten Punktes dieser Arbeit.
4.1 Historischer Rückblick
In den USA wurde das Konzept der interkulturellen Kompetenz bereits in den 1960er Jahren diskutiert, da sich der Bedarf aufgrund der Übersee- Aktivitäten der Weltmacht, im Bereich der Wirtschaft und beim Militär ergab. In der amerikanischen Diskussion richtete sich das Interesse zunächst auf Persönlichkeitsvariablen, die eine erfolgreiche interkulturelle Kommu- nikation vorhersagten (vgl. LEIPRECHT 2001, S. 34). So beschrieb der amerikanische Sozi- alpsychologe Gardner im Jahr 1962 ein Bündel von Fähigkeiten, die Individuen besitzen, die mit besonderer, interkultureller Kommunikationsfähigkeit ausgestattet sind. Zu diesen Fähig- keiten gehörten seiner Meinung nach z. B. Integrität und Stabilität, Extrovertiertheit und eine an universellen Werten ausgerichtete Sozialisation (vgl. GARDNER 1962, S. 248). Die im Fokus der Aufmerksamkeit stehenden Persönlichkeitsvariablen sollten als Garant für eine gelingende interkulturelle Kommunikation bei der Auswahl geeigneter Kandidaten, beispiels- weise für Auslandseinsätze, helfen. Daneben standen die Möglichkeiten der Verbesserung ebensolcher Kompetenzen etwa durch Verhaltenstrainings im Mittelpunkt der Auseinander- setzungen. Schließlich wurde zunehmend häufiger die Frage nach günstigen bzw. ungünsti- gen Kontextbedingungen zur Entwicklung interkultureller Kompetenz gestellt (vgl. LEIPRECHT 2001, S. 34 zit. n. AUERNHEIMER 2000, S. 6ff.).
In Deutschland hat die Diskussion zum Thema erst mit großer zeitlicher Verzögerung einge- setzt. In den ersten Texten zum Thema wurden auch zunächst ausschließlich amerikanische Konzepte referiert. Mit der Zeit haben sich mehrere Diskussionsstränge entfaltet. Verschie- dene Disziplinen beteiligen sich nunmehr an der Erforschung des Konzeptes, wie die Sozial- psychologie, die Auslandsgermanistik, die Soziologie, die Anthropologie, die Kulturwissen- schaften, die (Sozial-)Pädagogik und die Philosophie. Wobei Sozialarbeit/Sozialpädagogik eine Vorreiterrolle einnehmen (vgl. AUERNHEIMER 2002, S. 198).
Die Bezeichnung „interkulturelle Kompetenz“ ist in der Pädagogik wahrscheinlich erstmals durch das Buch „Interkulturelle Kompetenz. Ein neues Anforderungsprofil für die soziale Ar- beit“ von Hinz- Rommel im Jahr 1994 aufgetaucht. Seitdem sind verschiedene Aspekte des Themas in der insgesamt noch sehr jungen Diskussion angesprochen worden. Hinz- Rom- mel stellt in seinem Beitrag beispielsweise den Umgang mit kultureller Differenz in den Mit- telpunkt. Er fordert in Zusammenhang mit interkultureller Kompetenz einen institutionellen Umbau, multikulturelle Teams, sowie eine Veränderung der Politik der Träger (vgl. Hinz- Rommel 1994, S. 56, 85ff., 98ff.). Machtasymmetrien in der Beziehung zwischen Fachkräften und Klienten werden von ihm, so Auernheimer, nicht angesprochen (vgl. AUERNHEIMER 2002, S. 198). Auf diesen Aspekt macht im Jahr 1995 der Niederländer Banning aufmerk- sam, denn er fokussierte in seiner Veröffentlichung hierarchische Beziehungen und Positionen als eine wichtige Komponente des Hintergrundes, vor dem wir kommunizieren.
[...]
[1] Die Bezeichnung „multikulturelle Gesellschaft“ wird in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet: zur Beschreibung eines Sachverhaltes und als Zielvorstellung (vgl. NIEKE 2008, S. 133). Hier wird er zunächst beschreibend verwendet.
[2] Allein aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Rahmen dieser Arbeit lediglich die weibliche Form verwendet. Die weibliche Form wurde aufgrund des großen weiblichen Anteils in dieser Berufs-
sparte gewählt.
[3] Die Bezeichnungen „pädagogische Fachkraft“ und „Erzieherin“ werden im Rahmen dieser Arbeit synonym verwendet.
[4] An dieser Stelle sei schon einmal vorweggenommen, dass es „das“ Konzept interkultureller Kompe- tenz nicht gibt und bis zum jetzigen Stand der Diskussion noch keine Einigkeit unter den Autoren in Bezug auf die Frage herrscht, was genau interkulturelle Kompetenz ist und welche Faktoren diesem Konstrukt zugeordnet werden können. Dennoch gibt es in einigen Punkten Konsens unter den Auto- ren.
[5] Unter „Marginalität“ wird der defizitäre Zustand der Nicht- Eingliederung bzw. Nicht- Integration ver- standen (vgl. GAITANIDES 1983, S. 6).
[6] „Akkulturation“ meint die Übernahme von Kulturelementen (vgl. GROSCH/LEENEN 1998, S. 34).
[7] Unter „Marginalisierung“ wird der Prozess zunehmender psychischer Destabilisierung von Zugewan- derten, kulturelle und subkulturelle Absonderung, Ausschließung von privaten Kontakten und Bezie- hungen zu Einheimischen und Verschlechterung der sozialen Lage bzw. Vergrößerung der Benachtei- ligung gegenüber Inländern verstanden (vgl. GAITANIDES 1983, S. 6).
[8] Eine kulturrelativistische Ansicht wird vertreten, wenn das Fremde, das andere Denken, die Anders- artigkeit, als bereichernd angesehen werden und zudem die Forderung nach einer stärkeren Veranke- rung der den anderen Kulturen zugrunde liegenden Normen, Werte und Zielvorstellungen im Bil- dungssystem und politischen Raum aufgestellt wird. Da alle Kulturen als gleichwertig betrachtet wer- den, sollte die Kultur der Anderen auch dann beachtet werden, wenn sie in Widerspruch zu den Nor- men und Werten der Aufnahmegesellschaft steht. Der Versuch, unterschiedliche Kulturen miteinander zu vergleichen, steht nach dieser Auffassung unter dem Verdacht, ethnozentrisch zu sein bzw. eigne Denkkategorien und Wertmaßstäbe in den Mittelpunkt zu stellen (vgl. LÜDDECKE 2003, S. 32f.). Von Kulturuniversalismus wird gesprochen, wenn davon ausgegangen wird, dass Kulturen trotz ihrer Verschiedenheit gemeinsame Prinzipien zugrunde liegen. Als Grundlage für ein solch kulturuniversa- listisches Denken bieten sich beispielsweise die Menschenrechte an. Demnach wären alle Elemente einer Migrantenkultur abzulehnen, welche die Menschenrechte verletzen. In diesem Zusammenhang wird häufig die Forderung erhoben, dass andere Kulturen, die im Zuge der europäischen Geschichte entstandenen Menschenrechte als gemeinsame Grundlage übernehmen sollten. Kritisch zu hinterfra- gen ist an dieser Stelle, inwieweit die Menschenrechte eurozentristisch sind und welcher Stellenwert den Menschenrechten in Europa zukommt (vgl. NIEKE 2000, S. 118).
[9] Da sich der gesamte nächste Abschnitt mit dem Konzept der interkulturellen Kompetenz beschäftigt, wird an dieser Stelle nicht weiter darauf eingegangen.
- Arbeit zitieren
- Pia Kosak (Autor:in), 2008, Gegenwärtigen Ausbildungsrichtlinien (NRW) und ausgewählte Bildungspläne in der Elementarpädagogik in Bezug auf interkulturelle Kompetenz bei Erzieherinnen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/117807