Handreichungen für den Deutschunterricht zu Frank Wedekind "Frühlings Erwachen"

Unterrichtsentwurf, Stundenskizzen und Material


Unterrichtsentwurf, 2022

96 Seiten


Leseprobe

Interpretation

Didaktische Überlegungen

Stundenskizzen

Sequenz 1 Die Zeit um 1900

1 Unterrichtszusammenhang

2 Unterrichtsziele

3 Unterrichtsverlauf

4 Hausaufgabe

Sequenz 2

1 Unterrichtszusammenhang

2 Unterrichtsziele

3 Unterrichtsverlauf

4 Hausaufgabe

Sequenz 3

1 Unterrichtszusammenhang

2 Unterrichtsziele

3 Unterrichtsverlauf

4 Hausaufgabe

Sequenz 4

1 Unterrichtszusammenhang

2 Unterrichtsziele

3 Unterrichtsverlauf

Sequenz 5

1 Unterrichtszusammenhang

2 Unterrichtsziele

3 Unterrichtsverlauf

4 Hausaufgabe

Sequenz 6

1 Unterrichtszusammenhang

2 Unterrichtsziele

3 Unterrichtsverlauf

Sequenz 7

1 Unterrichtszusammenhang

2 Unterrichtsziele

3 Unterrichtsverlauf

Sequenz 8

1 Unterrichtszusammenhang

2 Unterrichtsziele

3 Unterrichtsverlauf

Sequenz 9

1 Unterrichtszusammenhang

2 Unterrichtsziele

3 Unterrichtsverlauf

Themenvorschläge für Klassenarbeiten und Klausen

Ausgewählte Sekundärliteratur

Materialien

Biografie des Autors

Stefan Zweig[44]: Eros matutinus[45]

Arbeitsanregungen

Wedekind über Egoismus

Satire[64]

Volker Klotz [Dialog im Drama der offenen Form]


Interpretation

 

Die Bedeutung des I. Aktes von Frühlings Erwachen kann sowohl von seiner formalen Konzeption als auch von seiner inhaltlichen Aussage her bestimmt werden. In fünf Szenen lenkt Wedekind den Blick des Zuschauers auf die Welt der Jugendlichen und bietet so ein facettenreiches Spektrum jugendlichen Empfindens und Handelns. Anders als in vielen literarischen Werken aus der Zeit um die Jahrhundertwende werden die Heranwachsenden in Frühlings Erwachen nicht aus dem Blickwinkel der Erwachsenen gesehen und gewinnen ihre Konturen nicht in der Auseinandersetzung mit ihnen, sondern durch die Art und Weise, wie sie miteinander, mit sich selbst bzw. mit ihrer Sexualität umgehen, wie sie auf die biologischen Vorgänge und auch die von ihnen erwartete Triebsublimierung und die allseits praktizierten Tabuisierungen reagieren.

 

In den Szenen 1 und 3 treten Mädchen auf, zunächst Wendla Bergmann im Gespräch mit ihrer Mutter. Sie ist naiv, dabei aber voller Ahnungen und ein wenig melancholisch. Mutter und Tochter haben gleichermaßen Angst vor Wendlas Erwachsenwerden; bei Wendla äußert sich dies in ihren Todesahnungen. In I,3 erlebt der Leser/Zuschauer die Mädchen als Gruppe bei einem Spaziergang auf der Straße; ihr Gespräch kreist um Äußerlichkeiten, um Kleidung, Mode, Frisuren. Wie unaufgeklärt die Mädchen sind, zeigt sich, als sie völlig naiv über den Zusammenhang zwischen Verheiratetsein und Kinderkriegen Vermutungen austauschen. Anders als die Jungen thematisieren die Mädchen ihre Pubertätsschwierigkeiten nicht direkt, sondern ihr Frühlingserwachen wird nur angedeutet. - Wedekind bringt einen Mädchen-/Frauentyp auf die Bühne, der die Klischees der bürgerlichen Gesellschaft von der Rolle der Frau nicht aufhebt. In der Konzeption dieser Figuren seines Frühwerkes manifestiert sich bereits die Wedekind‘sche Skepsis gegenüber der Emanzipation der Frauen. Es hat den Anschein, als befänden sich die Mädchen in Übereinstimmung mit sich selbst und als brauchten sie ihr Leben nicht ständig einer kritischen Reflexion zu unterziehen.

 

Melchior Gabor und Moritz Stiefel sind die herausragenden Repräsentanten der Gruppe der Jungen. Sie nähern sich in I,2 dem Problem ihrer Sexualität zunächst auf dem Umweg einer allgemeinen Reflektion über die Abhängigkeit des Schamgefühls von erzieherischen Einflüssen. Dabei leugnet Moritz nicht die Notwendigkeit der Moral schlechthin, will aber die rigide bürgerliche Moral so verändern, dass sie Jugendliche nicht mehr in unlösbare Konflikte treibt. Melchior dagegen stellt die Gültigkeit und Wirksamkeit jeglicher Moral infrage. Seine sensualistische und materialistische Auffassung verneint radikal das Bild vom Menschen, das in der Klassik noch Gültigkeit besaß. Liest man Wedekinds frühe Aufsätze, dann ist unschwer zu erkennen, dass Melchior das Sprachrohr des Autors ist. In seinem Aufsatz Über Erotik stellt Wedekind fest, das Fleisch habe seinen eigenen Geist, und er fordert z. B., die Jugend darüber aufzuklären, „dass es in der Natur überhaupt gar keine unanständigen Vorgänge gibt, sondern nur nützliche und schädliche, vernünftige und unvernünftige"[1]. Die Frage nach Gut und Böse stellt sich bei einer solchen Sicht des Menschen nicht. Das Gespräch der beiden so ungleichen Freunde über Sexualität und ihre pubertären Erfahrungen dringt nicht bis zum Kern vor, weil Moritz vor der Intimität und den Konsequenzen für sich selbst zurückschreckt. Es erreicht auch sein Ziel deshalb nicht, weil zumindest Moritz unter dem Diktat der Schule steht. Die Heranwachsenden leiden nicht nur an ihrer Natur, sondern auch an den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Existenz.

 

Die 5.Szene führt am Ende des I. Aktes Jungen und Mädchen zusammen; Melchior begegnet Wendla, die sich – eine durchaus märchenhafte Grundsituation mit symbolischer Bedeutung – im Walde verirrt hat und nun hofft, Melchior möge ihr einen Ausweg zeigen. Dieser aber attackiert sie, indem er ihr altruistisches Verhalten diffamiert. Seine pessimistische Sicht vom Menschen, die nahezu deckungsgleich mit Auffassungen ist, die Wedekind bereits als Schüler in seinen Aufsätzen über den Egoismus vertreten hat (vgl. Hinweise in der im

 

Anhang abgedruckten Biografie, S. 70 ff.), macht auf Wendla keinen Eindruck; sie lässt sich auf eine Diskussion nicht ernsthaft ein, weil ihr ein karikatives Verhalten natürlich und selbstverständlich erscheint.

 

Bezeichnend und durchaus folgerichtig ist, wie Wedekind die 5. Szene ausklingen, wie er Wendla und Melchior agieren lässt und was er dabei ausklammert. Es fehlen: eine der Situation angemessene verbale Kommunikation, eine erotische Körpersprache, die allmähliche Annäherung der Geschlechter, Zärtlichkeit, Liebe.  Stattdessen vollzieht sich das Frühlingserwachen als völlig unkontrollierter Ausbruch der Triebhaftigkeit. Wendlas masochistische Veranlagung hatte sich bereits durch ihr ausgeprägtes Interesse für die körperlichen Züchtigungen ihrer Freundin Martha angekündigt. Dass in Melchiors Unterbewusstsein sadistische Neigungen vorhanden waren bzw. sind, verdeutlicht Wedekind mit Melchiors Traum, in dem er seinen Hund „Lolo so lange gepeitscht, bis er kein Glied mehr rührte“. (S.12, Z.2) Folgerichtig ist dieser Schluss deshalb, weil die Szene die Richtigkeit der These, dass der Mensch in Grenzbereichen weder gemäß der Moral noch gemäß der Vernunft, sondern nach seiner Natur handelt, dass also das Fleisch seinen eigenen Geist hat, „bewiesen“ wird und dass Jugendliche, die nichts über ihre Natur erfahren, gerade dieser Natur hilflos ausgeliefert sind.

 

Der I. Akt stimmt darauf ein, dass "jede der Figuren [...] ihre spezifisch eigene Problematik (besitzt), die aus jeweils unterschiedlichen Dispositionen und Fähigkeiten resultiert, den biologischen Übergang von der Kindheit zur Erwachsenenreife zu vollziehen. Weder Individuum noch Kollektiv sind der Held des Dramas; vielmehr jene ‚eigensinnige Naturkraft‘ (Benjamin) Trieb, Sexualität, Leben, deren Schicksal Wedekind an Hand einzelner szenischer Fallstudien kontrastierend gestaltet“[2].

 

Der II. Akt rundet den Problemaufriss des I. Aktes ab, bringt aber auch insofern eine Progression, als er demonstriert, wie die Jugendlichen ihre Probleme in praxi zu bewältigen versuchen. Darüber hinaus erweitert Wedekind das bisher weitgehend auf die Heranwachsenden eingeengte Panorama gesellschaftlicher Wirklichkeit, indem er die Mütter stärker in die Handlung einbezieht und sie unmittelbar zu Wort kommen lässt.

 

Wedekind zeigt in diesem II. Akt, dass Melchior willens ist, gemäß seiner Theorie und seiner Natur zu handeln. Die Heuboden-Szene, in der Melchior und Wendla intim werden, liefert gewissermaßen das Exemplum dafür, dass Melchior seine Triebhaftigkeit leben, also praktizieren will. Unmittelbar vor der Überwältigung Wendlas wiederholt er sein Credo ("und glaub mir, es gibt keine Liebe! – alles Eigennutz, alles Egoismus! – Ich liebe dich so wenig, wie du mich liebst.“ - S.41, Z. 1 ff.), und der Akt vollzieht sich gemäß seinen Maximen: ohne Rücksichtnahme auf Wendlas Abwehrversuche, ohne moralische Skrupel, triebhaft, in aggressiver Sprachlosigkeit.

 

Die bis dahin unscheinbare Randfigur Hänschen Rilow stellt Wedekind in den Mittelpunkt der 3. Szene des II. Aktes, um mit ihr eine weitere Variante sexueller Triebbefriedigung zu zeigen, sozusagen eine andere Fallstudie vorzuführen. In der Abgeschiedenheit der Toilette verschafft sich Hänschen Rilow durch das Anschauen einer Reproduktion der Venus von Palma Vecchio Lustgewinn und Befriedigung. Seine Triebrichtung äußert sich als Schaulust, die sich als Objekt ein ästhetisches Werk wählt und die durchaus Elemente des Voyeurismus hat.

 

Während Melchior und Hänschen Rilow jeder auf seine Weise Wege finden, ihre Triebe auszuleben und die Restriktionen des Sexuellen zu umgehen, befindet sich Moritz in einer schwierigeren, ja ausweglosen Lage. Auf der einen Seite erfährt er das Drängen der Natur nicht minder heftig als seine Altersgenossen, auf der anderen Seite steht er im Unterschied zu ihnen in größerer Abhängigkeit von dem Wertesystem seiner bürgerlichen Umwelt. Immer wieder klingt in seinen Worten an, wie viel ihm daran gelegen ist, den elterlichen Vorgaben gerecht zu werden; er will seine Eltern nicht enttäuschen, sucht deren Liebe oder doch wenigstens deren Anerkennung; er prüft seine Verhaltensweisen darauf, wie sie von den Eltern, aber auch von den anderen wahrgenommen und beurteilt werden könnten, und glaubt sich ständig rechtfertigen zu müssen. Melchior und Hänschen Rilow sind bar jeglicher idealistischen Vorstellung von der Welt und den Menschen, und sie können der sexuellen Repression u. a. auch dadurch entgehen, dass sie sich losgelöst von bürgerlicher Innerlichkeit einen ihren Bedürfnissen entsprechenden Freiraum verschaffen und ihr Aggressionspotential auf andere leiten (Melchior – Wendla, Hänschen – Vecchios Venus). Bei Moritz‘ Disposition richtet sich die Aggression notwendig gegen die eigene Person. Insofern überrascht sein Selbstmord nicht.

 

Bevor Moritz sich erschießt, konfrontiert Wedekind ihn in der 7. Szene mit der ehemaligen Mitschülerin Ilse, die – so die Ausgangssituation dieser weiteren Fallstudie – aus einfachen Verhältnissen stammt und damit von Anfang an nicht dem Moralkodex des Bürgertums unterliegt. Sie ist Nymphomanin. Wedekind stellt durch die Figur der Ilse den Triebprojektionen und der Triebsublimierung eines Moritz die absolute sexuelle Freiheit und Selbstbestimmtheit gegenüber. Für dieses Mädchen existieren keine Tabus, sie gibt sich allen Männern hin und sieht ganz offensichtlich den Sinn ihres Daseins darin, frei von allen Konventionen zu leben und ein Höchstmaß an Genuss zu erreichen, ohne über die Moralität ihrer Lebensweise auch nur ansatzweise zu reflektieren. Bemerkenswert ist, dass sie eine der wenigen Personen ist, die von Liebe sprechen. Sie ist das weibliche Pendant zum vermummten Herrn, der in der letzten Szene auftritt. Man kann auch sagen: Der vermummte Herr begegnet Moritz in der Maske der Ilse (vgl. im Text S. 81, Z. 20: „DER VERMUMMTE HERR. Erinnern […]“.)

 

Moritz geht auf Ilses eindeutiges Angebot nicht ein, weil dies gegen seine Ideale verstieße, weil es nicht der bürgerlichen Moral – so wie er sie verinnerlicht hat – entspräche und weil er – im Gegensatz zu Melchior – kein „Mann der Tat“ ist.

 

Die Jugendlichen können von den Eltern – auch das zeigt der II. Akt – keine echte Hilfe erwarten. In der 2. Szene, die am I,1 anknüpft, unternimmt Wendla, nachdem sie erfahren hat, dass ihre Schwester einen Jungen geboren hat, einen weiteren Anlauf, um von ihrer Mutter Aufklärung zu erhalten. Frau Bergmann entlässt ihre Tochter aus diesem Gespräch in völliger Unwissenheit und ist dadurch mitverantwortlich für Wendlas Schwangerschaft und Tod. Man kann aber aus dieser Szene nicht den Eindruck gewinnen, dass Wedekind Frau Bergmann auf die Anklagebank setzt. Die Mutter verdeckt ihre eigene Hilflosigkeit durch übertriebene Theatralik und exaltiertes Benehmen und erscheint – ähnlich wie die Kinder – als Opfer ihrer eigenen Sozialisation und der verlogenen Konventionen ihres muffigen Kleinbürgertums.

 

Frau Gabor, die Mutter Melchiors, repräsentiert ein großbürgerliches Elternhaus. Sie begegnet den Jungen freundlich und souverän und steht deren Anliegen - zumindest in den Szenen II,1 und II,5 - aufgeschlossen gegenüber. Die Art des Umgangs mit Melchior und Moritz verrät den Willen, liberale Erziehungsprinzipien zu verwirklichen. Ihre Liberalität unterstellt, dass Melchior sich im Rahmen der bürgerlichen Konventionen bewegen, dass er die gesellschaftlichen Spielregeln, zu denen Doppelmoral, Tabuisierung und Triebsublimierung zählen, akzeptieren wird. Das, was sie Vertrauen nennt, entlastet sie selbst letztlich von der Pflicht, ein inhaltliches Gespräch über Sexualität zu führen.

 

Das Bild, das Wedekind von den Müttern zeichnet, fällt aber insgesamt nicht unfreundlich aus, und man darf vermuten, dass die sehr positive Beziehung des Autors zur eigenen Mutter hier ihren Niederschlag gefunden hat.

 

Im III. Akt weitet Wedekind seine Kindertragödie zunächst zum Familien- und Gesellschaftsstück aus, indem er die Jugendlichen mit jenen Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft konfrontiert, die für ihre Sozialisation entscheidend sind: Familie, Schule und Kirche. Zwei Akte lang beschränkte sich das Stück im Wesentlichen darauf, den sexuellen Reifungsprozess von Jugendlichen und die damit verbundenen Krisen als ein weitgehend individuelles, allenfalls gruppenspezifisches Phänomen vorzustellen.

 

Der letzte Akt demonstriert, wie der Mensch nach der Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft sein sollte. Und zwischen dem Sein und dem Sollen tut sich eine unüberbrückbare Kluft auf, die zur lebenszerstörenden Falle für die Jugendlichen wird. Im III. Akt (mit Ausnahme der letzten Szene) offenbart sich Wedekinds provokative Frontstellung gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft am deutlichsten.

 

In einer grotesken und monologisch angelegten Szene (III,1) sitzt die Lehrerkonferenz über den Schüler Melchior zu Gericht. Der Schulleiter repräsentiert das System, die Macht und die sittliche Weltordnung. Warum Melchior die Konventionen der Erwachsenen verletzt hat, will niemand erfahren. Melchior darf sich nicht äußern bzw. darf nur mit Ja oder Nein antworten, wohl auch deshalb, weil alle wissen und fürchten, dass er die Scheinheiligkeit der Erwachsenen leicht entlarven könnte. Melchiors Relegation leitet sich – so der Schulleiter – aus den Erfordernissen der Institution her. Die Absurdität dieser Szene wird zur Karikatur, als die Lehrer sich um das Öffnen und Schließen eines Fensters streiten. Symbolisch verstanden zeigt diese Szene, dass nach dem Willen der Lehrer die Welt mit ihrer Wirklichkeit keinen Einlass erhalten soll. So wie ein Missverhältnis zwischen der Aufgabe und dem Anspruch der Schule auf der einen Seite und der konkreten Praxis auf der anderen Seite besteht, besteht auch zwischen dem Pathos und deren Inhalt eine solche Diskrepanz, dass der Eindruck der Lächerlichkeit unvermeidlich ist. Je hohler und nichtssagender der Inhalt, desto größer das Pathos. Die Autorität der Institution Schule ist ohne jede Legitimation, ihr Funktionieren kann nur durch eine Befehlsstruktur wie beim Militär gesichert werden.

 

Anlässlich der Beisetzung von Moritz (III,2) versammeln sich die Repräsentanten von Schule, Familie und Kirche. Die Erwachsenen spielen ohne Ausnahme die Rolle, die ihnen die Konventionen zuweisen bzw. von denen sie glauben, sie seien ihnen zugewiesen. Gemeinsam sind allen Personen Inhumanität und Selbstgerechtigkeit. Dadurch, dass Wedekind alle Erwachsenen inhuman handeln und sprechen lässt, will er verdeutlichen, dass es nicht um die Deformationen einzelner Personen, sondern um das Erscheinungsbild einer ganzen Gesellschaft geht.

 

Die Jungen verhalten sich auf ihre Weise nicht minder herzlos und egoistisch als die Erwachsenen; zumindest betrachten sie den Tod ihres Mitschülers mit großer Nüchternheit und emotionaler Kälte.

 

Ganz anders lässt Wedekind die Mädchen auf den Tod von Moritz reagieren. Sie zeigen spontan und glaubhaft ihre Zuneigung und ihr Mitgefühl. Es ist sicher kein Zufall, dass Wedekind mit Martha und Ilse zwei Mädchen auftreten lässt, die der Fassade bürgerlicher Anständigkeit und Egozentrik ablehnend gegenüberstehen.

 

In der 3. Szene des III. Aktes ringt das Ehepaar Gabor um die Zukunft ihres Sohnes. Wedekind selbst hat die exzeptionelle Stellung der Szene betont: „Nur als Peripetie des Dramas fügte ich des Kontrastes wegen eine allen Humors bare Szene ein. Herr und Frau Gabor im Streit um das Schicksal ihres Kindes. Hier, kann ich meinen, müsse der Spaß aufhören.“[3]

 

Frau Gabor repräsentiert, ähnlich wie Frau Bergmann, den Typus Mutter, die den Kindern mit Liebe und Nachsicht begegnet, zu der sie sich flüchten, die ihnen Schutz gewährt, der sie vertrauen. Aber auch Frau Gabor repräsentiert nicht, obwohl sie aufgrund ihrer intellektuellen Fähigkeiten dazu in der Lage wäre, den reflektierten und bewussten Widerstand gegen ein Herrschaftssystem, das sie dazu zwingt; sich zu unterwerfen. An ihrer Reaktion lässt sich ablesen, dass „Melchior gegen eine Wunschvorstellung mütterlicher Fantasie verstoßen hat: Frau Gabor verteidigt […] nicht die Triebansprüche des Jugendlichen, sondern ihre Projektion vom Kind als geschlechtsneutralem Wesen“[4].

 

Sie möchte Melchior als Kind behalten und hatte von ihrer liberalen Erziehung erhofft, dass ihr Sohn freiwillig die bürgerliche Gesellschaft und deren Normen akzeptieren würde. – Der Jurist Gabor, der seiner Frau die Fähigkeit zu erziehen abspricht, obsiegt in einer prozessähnlichen Veranstaltung über sie und triumphiert darüber hinaus dadurch, dass sie sich vorbehaltlos erneut in die Ehe fügt, die Einweisung Melchiors in eine Korrektionsanstalt sogar selbst fordert und ihre mütterlichen Erziehungsideale über Bord wirft.

 

Die Szene III,4 verdeutlicht, dass Melchior unter massiven Schuldgefühlen leidet und Gewissensbisse hat und dass er willens ist, seine vermeintliche Schuld gegenüber Wendla anzuerkennen und Verantwortung zu übernehmen. Melchior weiß zwar um den Egoismus als Triebfeder menschlichen (und eigenen) Handelns, aber er fühlt sich dennoch nicht frei von jeglicher Moral. So anerkennt er die Gültigkeit moralischer Gesetze und Konventionen, wenn er erklärt, für Wendla sorgen zu wollen.

 

Während III,4 auch zeigt, dass Melchior sich in der hässlichen Umgebung der Korrektionsanstalt behaupten kann und ein starker Mensch ist, demonstriert III,5 Wendlas Schwäche. Sie hält ihre Schwangerschaft für eine Krankheit, weil die Erwachsenen – jetzt auch unter Einschluss des Arztes – ein Gespinst aus Lügen weiterspinnen und das Mädchen unwissend halten und weil sie selbst nichts unternimmt, um diesen Zustand zu ändern. Diese Szene steht in engem Zusammenhang mit den ersten drei Szenen des III. Aktes. Sie demonstriert, wie von allen Erwachsenen versucht wird, auf Kosten Wendlas den Schein bürgerlicher Anständigkeit zu wahren, indem man Wendla zunächst anlügt und später zur Abtreibung zwingt, ohne dass sie den Eingriff als solchen erkennt. Wendla ist bis zum Schluss Opfer – Opfer ihrer Naivität, ihres Vertrauens und ihrer Liebe und Opfer des absoluten Herrschaftsanspruchs bürgerlicher Moral.

 

Moritz hat sich selbst umgebracht, Wendla ist an den Folgen einer Abtreibung gestorben, Melchior sitzt in einer Besserungsanstalt ein. Das Stück ist seiner Handlungsträger – wenn man die Personen überhaupt als solche bezeichnen will – beraubt, die bürgerliche Gesellschaft hat die noch nicht angepassten Heranwachsenden über die Klinge springen lassen und auf der ganzen Linie gesiegt, ohne dass es überhaupt zu einer echten Auseinandersetzung, gar zu einem Kampf gekommen wäre. Das Stück könnte zu Ende sein. Aber Wedekind fügt ihm zwei Szenen an: die berühmte, immer wieder unterschiedlich gedeutete Friedhofszene (III,7) und die heftig umstrittene Weinbergszene (III,6). Beide Szenen gehören eng zusammen.

 

In der 6. Szene räkeln sich Hänschen Rilow und Ernst Röbel im Weinberg. Ausgerechnet die Jungen, die ohne tiefergehende Interessen und erkennbar intellektuelle Ambitionen sind, deren einfaches Weltbild keinen Zweifel und schon gar keinen Selbstzweifel kennt, können sich der schönsten Freiheit erfreuen und sich die Trauben gleichsam in den Mund wachsen lassen, also einen paradiesischen Zustand erleben. Beide Jungen definieren ihre Wünsche für das zukünftige Erwachsenenleben nicht inhaltlich oder sachbezogen; sie wollen nichts bewegen, die Welt nicht verändern – sie haben keinerlei Ideale. Und Ernst Röbel und Hänschen Rilow reden nicht nur, sondern sie handeln auch so. Sie leben den Augenblick und „schöpfen ab“, sie geben sich ihren homoerotischen Neigungen hin, wohl wissend, dass sie gegen Tabus verstoßen und sich dies aus späterer Sicht als eine Verirrung erweisen kann. Was zählt, ist der Augenblick, das Hier und Jetzt, der Genuss und die Lust. Ihre lebensbejahende Haltung sorgt für ihr inneres Gleichgewicht. Sie praktizieren heimlich das nach bürgerlichen Normen Unmoralische und Verwerfliche, gleichzeitig akzeptieren und antizipieren sie die Ideologie des Spießbürgers. Hänschen Rilow und Ernst Röbel führen bürgerliche Verhaltensweisen vor, vor allem deren Doppelmoral, und zeigen, dass es sich auf diese Weise angenehm leben lässt.

 

Die Abschlussszene führt das Freundespaar Melchior und Moritz noch einmal zusammen. Moritz, die Verkörperung des Todes, will seinen Freund mit der Verlockung, die Toten seien über alles und jeden erhaben und sie verkehrten nicht miteinander, für sich gewinnen. Er wirbt für ein Dasein, das sich auf Individuation gründet, konfliktfrei ist und dem Einzelnen das Gefühl von Freiheit und Überlegenheit gibt, das harmonisch-beschaulich, eine Art Idylle ist, also jene Eigenschaften besitzt, die Moritz während seiner irdischen Existenz vermissen musste.

 

Melchior steht kurz davor, dem Freund die Hand zu reichen. Der Tod Wendlas hat ihn in eine verzweifelte Situation gebracht, Selbstmord erscheint ihm als naheliegender Ausweg. Auch er, der sich vehement gegen bürgerliche Moralvorstellungen wehrt und deren Verlogenheit durch seine Egoismustheorie überwunden zu haben glaubt, gerät in die Fallstricke moralischer Erwägungen. Es bleibt offen, ob es sich dabei um die oberflächliche Moral der idealistischen Bürgerideologie handelt, wie sie sich zum Beispiel in den Konventionen verfestigt, denen Moritz erliegt, oder um eine wahre (echte, geläuterte) Moralität, die nicht gesellschaftlich oktroyiert, sondern der menschlichen Existenz eigen ist und aus personaler Verantwortung erwächst. Tatsache ist, dass sich der ursprünglich starke und selbstbewusste Melchior zu einem verunsicherten und an sich selbst zweifelnden Jungen wandelt.

 

In dieser Situation lässt Wedekind den vermummten Herrn auftreten.[5]  Über seine Motive dafür gibt der Autor selbst Auskunft: „Es widerstrebte mir, das Stück, ohne Ausblick auf das Leben der Erwachsenen, unter Schulkindern zu schließen. Deshalb führte ich in der letzten Szene den vermummten Herrn an.“[6]

 

Der Auftritt einer neuen Figur am Ende eines Stückes verstößt zwar gegen alle dramaturgischen Regeln, macht aber in diesem Fall durchaus Sinn, weil keine der bis dahin handelnden Erwachsenen-Figuren die moralische Integrität und Glaubwürdigkeit besäße, das Schlusswort zu sprechen, gar den Jugendlichen zu raten oder zu helfen.

 

Der vermummte Herr verkörpert das Leben. Er will Melchior unter Menschen führen, ihm die Welt erschließen, ihn mit dem Interessanten dieser Welt vertraut machen. Er bekennt sich zum Leben, ohne es erklären und definieren zu können bzw. zu wollen, und eröffnet ihm eine lebensbejahende Perspektive. Wedekinds Allegorie für das Leben manifestiert sich am deutlichsten in dem Bekenntnis: „Du lernst mich nicht kennen, ohne dich mir anzuvertrauen.“ (S.79, Z.26)

 

Frühlings Erwachen erweist sich besonders am Ende als ein Thesenstück. Indem der vermummte Herr Melchiors psychische und geistige Befindlichkeit als einen (bloßen) Reflex seiner materiellen Lage erklärt, stellt er den Menschen vom Kopf auf die Füße, distanziert sich deutlich von einer einseitig idealistischen Weltsicht, die von der Selbstbestimmtheit des Menschen ausgeht. Dies ist eine deutliche Kritik am Menschenbild der Klassik und die Absage an die herrschende bürgerliche Ideologie, vor allem an deren Moral. Wedekind bringt mit dieser These des vermummten Herrn die Schlussaussage in Einklang mit dem Stück: Die Jugendlichen liefern in fast allen Szenen den Beweis dafür, dass die sinnliche Natur wesensmäßig zum Menschen gehört, ihn beeinflusst, zum großen Teil sein Handeln determiniert.

 

Dies ist aber nicht Wedekinds (aller)letztes Wort. Es scheint, als scheue er vor der Radikalität und Einseitigkeit seiner Position zurück. Sein Plädoyer für die Gültigkeit und Allmacht der sinnlichen Natur schränkt er dadurch ein, dass er den vermummten Herrn eher beiläufig auf die Würde des Menschen hinweisen und Melchior die Erkenntnis mit auf den Lebensweg geben lässt, man könne die Moral, das reelle Produkt der beiden imaginären Größen Sollen und Wollen, in „seiner Realität nicht leugnen“ (S. 80, Z.33). Zwar hat das Stück demonstriert, dass zumindest in der Phase der Pubertät die Jugendlichen von ihrer Triebhaftigkeit stark beherrscht werden, dass aber – so muss man den Schluss deuten – aufs Leben hin gesehen eine menschliche Existenz ohne Sittlichkeit, die die Würde des Menschen konstituiert, nicht denkbar ist. Sie zu erringen setzt voraus, dass die natürlichen Bedingungen des Menschen gesehen und als berechtigt anerkannt werden. Melchior jedenfalls ist klug und tatkräftig genug, die ihm gebotene Hilfe anzunehmen, sodass er seine Identitätskrise überwinden kann. Es ist zu vermuten, dass er gestärkt aus ihr hervorgehen wird.

 

Welche Figuren lässt Wedekind scheitern und zu Grunde gehen, welche überleben? Welche Erkenntnisse lassen sich daraus für die Intentionen Wedekinds gewinnen? Wendla und Moritz verkörpern Ideen, die der Autor offensichtlich als illusionär und perspektivlos einschätzt. Wendla repräsentiert die (christlichen) Tugenden der Demut und Nächstenliebe; sie lehnt den Egoismus als Lebensprinzip ab, leistet Triebverzicht bzw. akzeptiert die Macht ihrer Triebhaftigkeit lediglich in masochistischer Form. Sie verschließt die Augen vor dem Erwachsenwerden und verharrt aus Angst in einem Zustand kindlicher Naivität; sie ist dem Leben ausgeliefert und lässt sich überwältigen. Die Fallstudie der Wendla Bergmann kommt zu dem Ergebnis, dass nicht nur die bürgerliche Gesellschaft wegen ihrer Doppelmoral, sondern dass auch die Probandin selbst zu kritisieren ist, weil sie falschen Idealen anhängt und das Leben nicht annimmt, die Augen davor verschließt, dass der Wille zum Leben die Bereitschaft zu kämpfen einschließt. Behaupten kann sich dagegen Ilse, die sich von allen Zwängen und Einflüssen bürgerlicher Moral befreit hat, die das Wagnis des Lebens riskiert, im Sinne Nietzsches gefährlich lebt.

 

Auch Moritz‘ Versuch, der empirischen Welt zu entsagen und sich in der erhabenen Welt der Ideen und des Geistes einzurichten, wird von Wedekind verworfen. Wendla und Moritz fehlt die Fähigkeit, die Antriebskräfte der materiellen Welt zu erkennen und ihnen geht der Wille zur Macht ab; sie verkörpern Ideen und Lebensformen, die sich überlebt haben. Weil sie sich Illusionen über die Beschaffenheit der Welt und über Gesetzmäßigkeiten des Lebens machen, weil sie nicht erwachsen werden wollen, weil sie mit sich geschehen lassen und ihre Existenz nur erleiden, sind sie Repräsentanten der Dekadenz und somit zum Untergang verurteilt.

 

Wodurch aber sind Hänschen Rilow und Melchior den beiden so überlegen, dass Wedekind ihnen eine Zukunft lässt? Hänschen Rilow sieht das Leben völlig illusionslos. “Er kennt den wahren Wert der Maske und diese wird daher in seinen Händen zu einem beweglichen Werkszeug. Je nach Bedarf kann er sie an- oder ausziehen. Er hält sich nur so lange an die Regeln der Gesellschaft, als er daraus einen Vorteil ziehen kann. Wegen eines Verstoßes wird er sich kein Gewissen machen.“[7] Er ist der typische Opportunist und Karrierist. Bezeichnenderweise hat die Zensur die Aufführung gerade dieser Szene verhindert.

 

Melchiors Fall liegt komplizierter. Melchior ist Intellektueller, er strebt nach Erkenntnis und Wahrheit und verfügt über die Fähigkeit zu zweifeln. Früh beginnen seine „Knabenideale sich schon in wissender Skepsis gegenüber der Erwachsenenwelt zu zersetzen“.[8] Das Bild, das er von der Welt und dem Leben gewinnt, deckt sich nicht mit den Vorstellungen von Erhabenheit und Anständigkeit, die die bürgerliche Welt propagiert und denen sich die Heranwachsenden unterwerfen sollen.

 

Sein späteres Ja zum Leben signalisiert: „Wahre Moral, Menschenwürde besteht darin, sich dieser unerbittlichen Wahrheit des Lebens zu stellen und zu kämpfen. Das ist die Haltung des Typus Mensch, den Wedekind ‚Realist‘ nennt und dem ideologieverhafteten ‚Idealisten’ gegenüberstellt.“[9]

 

Der „Moralist“ Wedekind lässt keine bestimmte Moral verkünden, der vermummte Herr trägt seine Maske bis zum Schluss. Was für ihn und für Melchior der Inhalt des Lebens ist, wird nicht gesagt; der Realismus Wedekinds und der Pragmatismus des vermummten Herrn lassen aber vermuten, dass auch Elemente bürgerlichen Lebens, gegen das sich die Jugendlichen so vehement gewehrt haben, zur Fülle des Lebens gehören und von ihnen zu akzeptieren sind. „Es bleibt keine andere Wahl als ein Leben trotz allem. […] Wedekind ist zu sachlich, um nicht die Übermacht der realen bürgerlichen Gesellschaft […] anzuerkennen – jedoch die einzige, die gegenwärtige Bürger-Welt lässt sich erbärmlicher nicht denken.“[10]

 

Wedekinds Weigerung, die Inhalte des lebenswerten Lebens genauer zu bestimmen, sein Verzicht auf materielle Konkretisierung oder auf utopische Entwürfe können durchaus auch kritisch gesehen werden. So schreibt zum Beispiel Pickerodt: „Der Weg, der ihm [Moritz] gewiesen wird, ist der einer zynisch präsentierten Immoralität des Lebens um seiner selbst willen. … Da Wedekind die Schlussszene derart strikt von allen Zusammenhängen der Tragödie ablöst, da er sie zudem parodistisch auf den Faust’schen Pakt mit dem Teufel zurückbezieht, betont er, statt ihn zu mildern, dramatisch den Bruch zur Problemkonstellation des vorangegangenen Stücks.“[11]

 

In der Tat ist die scheinbare Indifferenz gegenüber den Inhalten des Lebens problematisch, zumal sich Wedekind im Zusammenhang mit der letzten Szene ausdrücklich auf Nietzsche beruft. Seine Nähe zu dessen Dekadenz- und Lebensphilosophie kann zu Missdeutungen führen, die mit folgenden Schlagworten angedeutet werden sollen: Absolutsetzung des Lebens - Unterordnung aller Werte unter die Erfordernisse des Überlebens - Propagierung eines Rechts des Starken - die Rechtfertigung für die Eliminierung alles Schwachen - Verherrlichung der Tat - die Vorstellung vom Leben als einem Kampf der Egoismen. Wedekind hat sich zeit seines Lebens darüber beklagt, dass sein Stück Frühlings Erwachen von der Kritik wie vom Theater missverstanden worden sei. Für dieses Missverstehen gibt es viele Gründe, einer ist ohne Zweifel in der Weigerung des Autors zu suchen, sein Lebenspathos substantiell zu beschreiben, die Leerformel zu füllen und in Szene zu setzen.

 

Er ist nur folgerichtig, dass Wedekind bei der Vermittlung seines „wahren“ Menschen- und Weltbildes die Bahnen des aristotelischen Theaters verlassen und eigene Form- und Stilprinzipien entwickeln musste. „In der Geschichte des modernen Theaters ist er eine Schlüsselfigur. Er weist nach rückwärts zu Lenz und Büchner, mehr noch zu Grabbe, und nach vorwärts zu den Expressionisten, die sich auf ihn berufen, zum (jungen, anarchistischen) Bert Brecht und zu Dürrenmatt, die von ihm gelernt haben.“[12] Will man diese Form- und Stilprinzipien bestimmen und ihre Funktion für die Aussage von Frühlings Erwachen erkennen, bedarf es vorweg einer Erläuterung dessen, was Wedekind seinen Humor nennt. Mehrfach beklagt er sich bitter, dieser würde nicht erkannt und gewürdigt. „Während der Arbeit bildete ich mir etwas darauf ein, in keiner Szene, sei sie noch so ernst, den Humor zu verlieren. Bis zur Aufführung durch Reinhardt galt das Stück als reine Pornografie. Jetzt hat man sich dazu aufgerafft, es als trockene Schulmeisterei anzuerkennen. Humor will noch immer niemand darin sehen.“[13] Mit Humor bezeichnet er seine fast durchgehend zu beobachtende ironische Grundhaltung gegenüber den Ereignissen. Der Wedekind’sche Humor ist der augenzwinkernd gegebene Hinweis des Autors an das Publikum, doch bitte nicht alles, was da auf der Bühne verhandelt wird, so ernst zu nehmen. Die Zerstörung oder Relativierung vieler Ansätze von Erhabenem oder von (scheinbar) ernst Gemeintem und im Ansatz Tragischem verhindert das Entstehen von Illusionen oder fördert deren Zerstörung; sie verunsichert, weil durch das Sowohl-als-auch vieles in einer Schwebe gehalten und die Handlung als (bloßes) Spiel vorgeführt wird. Vor allem dadurch kann der Eindruck entstehen, bei Frühlings Erwachen handele es sich um eine Parodie auf das Drama.[14]

 

Wedekinds Humor, seine ironische Objektivität wirken sich tiefgehend auf Struktur und Formgebung von Frühlings Erwachen aus. – Dem Stück liegt keine in sich geschlossene, stringent und zielorientiert ablaufende Handlung zugrunde; zwar sind Handlungsstränge erkennbar, z. B. die Wendla-Melchior-Handlung, aber das Stück betont das Episodenhafte stärker als die kontinuierliche Progression. Die Handlung bestimmt nicht das Drama, sondern führt gleichsam locker durch ein Programm; sie vermittelt zwischen den Episoden, die wie die Nummern einer Varieté- oder Zirkusvorstellung aufgerufen werden. Mit der Handlungsarmut geht der Bedeutungsverlust des Aktes und die Aufwertung der Szenen einher; zwar sind auch die Szenen aktionsarm und stehen oft weitgehend unverbunden nebeneinander, aber sie bilden "in sich geschlossene Einzelbilder von starkem Stimmungsgehalt, die sich als Stadien eines Geschehens mosaikartig aneinanderfügen“[15].

 

Das Stück wirkt durch das Eigengewicht der Szenen und deren demonstrierende Funktion statisch. Konfliktpotential ist zwar vorhanden, wird aber nicht unmittelbar wirksam. Konflikte werden so gut wie nicht ausgetragen, weder als Handeln noch als Gespräch. Sie sind lediglich Gegenstand der Reflexion und des Räsonnements. Selbst als Melchior in der Duellszene III,1 dem Lehrerkollegium gegenübersteht, unterbleibt die Auseinandersetzung, weil die Erwachsenen die Jugendlichen zur Sprachlosigkeit verdammen.

 

Besonders auffallend ist, wie Wedekind seine Figuren konzipiert und ins Spiel bringt. Das Stück hat keinen Helden; Melchior, die zentrale Figur, erleidet trotz seiner intellektuellen und kämpferischen Fähigkeiten die Welt; sein Überleben ist nicht zwingend aus der Handlung, sondern allenfalls aus der Idee heraus begründet. Die Kinder handeln zwar als Individuen, es fehlt ihnen aber zum Teil die unverwechselbare und wandelbare Persönlichkeit. Auch treten sie nicht als Kollektiv auf, eine Konfrontation der Gruppe mit den Erwachsenen findet nicht statt und wird auch nicht angestrebt. Allein daran ist zu erkennen, dass es Wedekind nicht vorrangig um die Darstellung eines Generationenkonflikts geht.

 

Die Figuren in Frühlings Erwachen besitzen nur in Grenzen „Persönlichkeit“; sie sind von Beginn an weitgehend festgelegt, entwickeln keine Individualität. Wedekinds Personen sind Figuren, die etwas darstellen sollen; sie verkörpern Ideen und stellen auf der Bühne Prinzipien zur Schau. So wenig Wert Wedekinds auf Realität des Milieus und auf psychologische Ausformung und Glaubwürdigkeit legt, so wenig bedeutet ihm häufig die Angemessenheit der Sprache. Die Entpersonalisierung der dramatis personae geht einher mit einer sprachlichen Stilisierung. Anders als im Drama der Klassik bietet Frühlings Erwachen durchaus eine bemerkenswerte sprachliche Pluralität; in Teilen finden sich sehr konträre Stilhaltungen. Die Jungen sprechen anders als die Mädchen; beider Sprache ist situations- und stimmungsbedingt; die Erwachsenen wiederum reden völlig anders und betonen mit Sprache ihre jeweilige gesellschaftliche Stellung und Funktion.  Zwar ist die Sprache der Jugendlichen situationsbedingt, aber oft nicht situationsangemessen. Vor allem bei den Jungen wirkt sie überhöht, stilisiert. Pickerodt spricht zu Recht von einem „Widerspruch zwischen sprachlichen Gestus und szenischer Wirklichkeit“[16]. Die Sprache wirkt in solchen Momenten realitätsfremd und losgelost von der Person; die Figuren sprechen dann nicht aus sich heraus, sondern tragen die Sprache wie eine Maske vor sich her. Eine solch rituelle Sprache ist von Figuren des Varietés und des Zirkus bekannt. Der Wedekind’sche Sprachstil ist Ausdruck von Distanz der Figuren zu sich selbst, und er trägt dazu bei, dass der Gestus des Zeigens und Vorführens seine Wirksamkeit entfaltet.

 

Alle Form- und Stilelemente von Frühlings Erwachen zeigen, dass Wedekind die „ästhetische Form als Vermittlungsagentur auf(fasst), mit deren Hilfe dem Leser und Zuschauer eine Ganzheit vorgeführt wird, die ihm die Illusionen zerreißen und die Erkenntnisse der Wahrheit vermitteln soll“[17].

Didaktische Überlegungen

 

Frühlings Erwachen wird vor allem in den Jahrgängen 9/10 gelesen. Es ist anzunehmen, dass der Stellenwert des Stücks heute geringer als in früheren Zeiten ist. Die Gründe für den vermutenden Bedeutungsverlust dürften darin zu suchen sein, dass zum einen die Dramaturgie und die Dialoge heutigen Seh- und Sprachgewohnheiten von Jugendlichen zuwiderlaufen, dass zum anderen das Stück seine vermeintlich tabuverletzende Aufklärungsfunktion verloren hat. Der Abbau fast aller Schranken, die früher durch die (Sexual-)Moral errichtet worden waren, und die Offenheit, mit der heutzutage im öffentlichen Raum über Sexualität gesprochen und „informiert“ wird, können nicht ohne Auswirkungen auf die Rezeption von Frühlings Erwachen bleiben. Bei oberflächlicher Betrachtung entsteht der Eindruck, aus dem einst fortschrittlichen und provokativen Stück sei mit den Jahren – und nicht erst seit der sogenannten Studentenrevolte von 1968 – ein „alter Hut“ geworden, der nicht mehr vermittelbar sei. Diese Folgerung basiert auf der irrigen Annahme, Wedekind sei es je darum gegangen, seine Zeitgenossen oder gar Jugendliche in Sexualfragen aufklären zu wollen. Wenn das Stück auf der Bühne und in der Schule dennoch so verstanden (und missbraucht wurde), dann verrät dies eher etwas über den Zustand der Gesellschaft, die eine solche Betrachtung favorisiert, als über das Stück selbst.

 

Für den heutigen Betrachter[18] gibt Frühlings Erwachen auch Aufschluss darüber, wie Jugendliche um 1900 ihre Pubertät erfahren haben, wie unvorbereitet und unaufgeklärt sie waren, welche gesellschaftlichen Hemmnisse einen natürlichen Umgang mit der Sexualität entgegenstanden und welche Folgen die bürgerliche Prüderie und Doppelmoral für Jugendliche haben konnten. Insofern ist das Stück auch als ein Zeugnis seiner Entstehungszeit zu lesen. Dieser historischen Betrachtung wird in der Unterrichtsplanung durch die Aufnahme eines Prosatextes von Stefan Zweig Rechnung getragen, der aus einem anderen Blickwinkel die Befunde, wie sie Wedekind inszeniert, bestätigt und ergänzt.

 

Es sei noch einmal betont: Fünfzehn- oder sechzehnjährige Schüler von heute werden aus Frühling Erwachen nichts über Sexualität erfahren, was sie nicht schon wüssten. Aber der Stoff und die Ehrlichkeit, mit der er von Wedekind in Szene gesetzt wird, bieten Gelegenheit, sich im Rahmen des Deutschunterrichts über Pubertät, Sexualität und deren Erscheinungsformen zu unterhalten – und das in einem „offiziösen“ Rahmen: in der Klasse oder im Kurs, vor Mitschülern, im Beisein und unter Beteiligung von Erwachsenen, in einem Fach, das nicht per se verpflichtet ist, Sexualaufklärung zu leisten. Das alles bedeutet, dass die Schüler Formen des kommunikativen Miteinanders, insbesondere eine Sprachebene finden müssen, die dem Thema und der Situation angemessen sind und die sich wahrscheinlich deutlich unterscheiden von denjenigen, die in den informellen Gesprächen der Schüler untereinander üblich sind. (Angesichts der Flut von öffentlich zugänglicher Aufklärung in Bild und Schrift wird im Übrigen leicht übersehen, dass Gespräche zwischen den Generationen auch heute keineswegs selbstverständlich sind und Kinder, Jugendliche und Erwachsene sich gerne hinter dem vielfältigen Medienangebot verschanzen, um Gespräche tunlichst zu vermeiden.)

 

Die Lektüre von Frühlings Erwachen bietet schließlich auch die Chance, dass Schüler, indem sie über Wedekinds Sicht der Pubertät reflektieren und in einen Diskurs eintreten, auch etwas über sich selbst erfahren und ihre eigene Entwicklungsphase distanzierter sehen können.

 

Die Interpretation hat gezeigt, dass für Wedekind die Pubertät vorrangig Stoff, nicht aber zentrales Thema ist. Am Beispiel oder – um einen Begriff aus der Dramentheorie Brechts aufzugreifen – am Modell der pubertierenden Jugendlichen und der mit dieser Lebensphase verbundenen Krisen entwickelt er seine grundlegenden Vorstellungen vom Leben und der menschlichen Existenz, wobei er darum bemüht ist, sich sowohl von der Klassik als auch vom Naturalismus abzugrenzen. – Frühlings Erwachen enthält besonders am Schluss Wedekinds Bekenntnis zum Leben, das um seiner selbst willen gelebt wird und das sich jeder näheren Beschreibung und erst recht jeder moralischen Kategorisierung entzieht. Keinen Zweifel lässt der Autor daran, welchen Menschentyp er für so lebensfähig bzw. lebenstüchtig hält, dass er in der bürgerlichen Gesellschaft bestehen kann.

 

Die Frage, ob die Schüler Wedekinds lebensphilosophisches Gedankengut, das durch den Einfluss Nietzsches am Ende des 19. Jahrhunderts große Bedeutung erlangte, ob sie die materialistische Sicht des Dramatikers, seine offen antiidealistische Position teilen, ob sie ihre eigenen Lebensentwürfe in Übereinstimmung mit oder in Opposition zu Wedekind sehen, ob sie erkennen, dass Wedekind mit seiner Apologie des Egoismus als Antrieb menschlichen Verhaltens und Handelns die bürgerliche Gesellschaft sehr genau erfasst, dürfte eine der interessantesten Unterrichtsphasen zu Frühlings Erwachen einleiten. – Einschränkend muss jedoch angemerkt werden, dass solche Fragestellungen allenfalls in einer Klasse 10, eher noch in Oberstufenkursen eine Rolle spielen können. Mittelstufenschüler generell, besonders die eines 9. Jahrgangs, schätzen erfahrungsgemäß besonders die karikierenden Darstellungen von Schule und Elternschaft. Diesem Interesse kann und soll Rechnung getragen werden, doch ist zu beachten, dass die Aufarbeitung der gesellschaftlichen Implikationen den Unterricht nicht schon deshalb dominieren darf, weil Wedekind die bürgerliche Gesellschaft zwar lächerlich macht (und auf diese Weise mit ihr abrechnet), sich aber nicht ernsthaft mit ihr auseinandersetzt; eine zu starke Akzentuierung dieses Aspekts würde die Intentionen des Autors konterkarieren. Anders stellt sich die Situation dar, wenn Frühlings Erwachen innerhalb einer größeren Unterrichtseinheit mit dem thematischen Schwerpunkt „Schule und Familie (im wilhelminischen Deutschland)“ behandelt würde – wie überhaupt das Stück in anderen thematischen Zusammenhängen eine mehr (z. B. Geschichte der Zensur, Rezeptions- und Wirkungsgeschichte) oder weniger   (z. B. Selbstmord von Schülern, abweichendes Sexualverhalten) große Bedeutung erlangen könnte.

 

Die Planungen sehen vor, dass verschiedene Form- und Strukturelemente von Frühlings Erwachen Gegenstand des Unterrichts werden. Bei der Abkehr vom aristotelischen Theater und der Entwicklung moderner Ausdrucksformen, die geeignet erscheinen, die Wahrheit des Dramatikers authentischer zu vermitteln, ist Wedekind Wegbereiter. So nimmt er zahlreiche dramaturgische Mittel des epischen Dramas vorweg. Es ist allerdings schwierig, dies im Mittelstufenunterricht zu erarbeiten. Weil leichter und möglicherweise wegen der Übertragbarkeit auf andere Dramen Gewinn bringender, wird hier auf den Typus des Dramas der offenen Form im Sinne von Klotz abgehoben.

 

Wie immer der Lehrer die Abfolge der Sequenzen verändert, er sollte auf keinen Fall jene Einheiten eliminieren, in denen Wedekinds Menschenbild und Vorstellungen vom Leben thematisiert werden, weil vor allem dieses Ideengut dem Stück seinen Rang gibt und die Aufnahme in den Kanon der Schullektüren rechtfertigt.

Stundenskizzen

 

Sequenz 1  Die Zeit um 1900

 

Material: Stefan Zweig: Eros Matutinus (S. 82)

 

1  Unterrichtszusammenhang

 

Diese erste Sequenz soll die Schüler auf den Dramentext vorbereiten, ihnen den Zugang erleichtern. Ihr liegt ein Auszug aus Stefan Zweigs Autobiografie Die Welt von gestern zugrunde.

 

In dem auszugsweise abgedruckten Kapitel Eros Matutinus zeigt Stefan Zweig auf, dass der jeweils individuelle Vorgang der Pubertät um 1900 eine öffentliche Dimension gewann, weil alle bürgerlichen Institutionen in Bezug auf die Sexualität unaufrichtig waren und weil sie, indem sie so taten, als gäbe es Sexualität nicht, ihre Mitglieder zur Unaufrichtigkeit zwangen. Zweig stellt die von Wedekind in „Einzelstudien“ aufgezeigten pubertären Probleme expressis verbis in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang, er abstrahiert vom individuellen Fall und arbeitet das Allgemeine und Grundsätzliche heraus. Insofern beglaubigt der Zweig-Text gewissermaßen das, was bei Wedekinds Neigung zum Absurden und Skurrilen fremd, wenn nicht sogar unglaubwürdig wirken könnte, und er erleichtert von vornherein das Verstehen und Einordnen einzelner Szenen und Aussagen des Stückes.

 

Sollte ein Lehrer auf den Einstieg über den Zweig-Text verzichten wollen, dann ließe sich der Text auch zu einem späteren Zeitpunkt der Unterrichtseinheit einsetzen, zum Beispiel wenn die gesellschaftliche (und politische) Bedeutung des Wedekind-Stückes erörtert wird.

 

2  Unterrichtsziele

 

Die Schüler

 

     gewinnen eine Vorstellung von der bürgerlichen Lebenswelt, insbesondere von der bürgerlichen Sexualmoral um 1900 in Deutschland,

     können den Textauszug Eros Matutinus als autobiografisches Zeugnis eines berühmten Literaten und Zeitgenossen Wedekinds einordnen,

     finden heraus, dass Zweig nicht vorrangig über Pubertätsschwierigkeiten von Jugendlichen, sondern über die generell zu beobachtende gesellschaftliche Doppelmoral und die Unwahrhaftigkeit der Erwachsenen schreiben will,

     erkennen, mit welchen Überlegungen und Beispielen die zentrale Aussage erklärt und glaubhaft gemacht wird,

     erkennen, dass Zweig als Folge des falschen Umgangs mit Sexualität im 19. Jahrhundert ein gesteigertes und übertriebenes Interesse an sexuellen Themen und Motiven diagnostiziert,

     erkennen, dass nach Zweig die öffentliche bürgerliche Moral alles Sexuelle leugnete, gleichzeitig aber das „Vorhandensein der Sexualität und ihren natürlichen Ablauf voraussetzte“,

     erkennen die gesteigerte Doppelbödigkeit der sexuellen Moral in Bezug auf Frauen,

     können die Veränderungen, die Zweig bis zum Zeitpunkt der Niederschrift seiner Autobiografie im Jahre 1940 beobachtet, benennen,

     können die heutige Situation von Jugendlichen beschreiben, bewerten und mit derjenigen vergleichen, die Zweig als die des 19. Jahrhunderts herausarbeitet.

 

3  Unterrichtsverlauf

 

3.1 Besprechung des Textes Eros Matutinus von Stefan Zweig.

 

Textparaphrase und Textanalyse können sich an den Arbeitsanregungen orientieren (vgl. S. 88).

 

a Welche grundsätzliche Kritik an den bürgerlichen Institutionen formuliert 

 

   Zweig? Wo wiederholt er seine Kritik an späterer Stelle?

 

     Unehrlichkeit aller bürgerlichen Institutionen im offiziellen Umgang mit Sexualität

     Erziehung der Jugendlichen zu Heimlichkeiten und Hinterhältigkeit, zu Unehrlichkeit (S. 82)

     Späterer Hinweis: Verschweigen und Verdecken raube den Jugendlichen das Recht auf pubertäre Sexualität; unwahre Konventionen (S. 85)

 

b Wie versucht Zweig im Folgenden die Richtigkeit seiner Kritik an der bürger-

 

   lichen Moral zu beglaubigen?

 

     Die Epoche sei dem Thema Sexualität aus Unsicherheit ausgewichen.

     Sexualität sei ins Verborgene gedrängt worden, keinerlei öffentliche Erwähnung (deshalb auch keine schriftlichen Zeugnisse).

     Es bestand der Irrglaube, dass Verdrängung zur Mäßigung führe, die wiederum die Existenz der Triebe vergessen mache.

     Alle gesellschaftlichen Instanzen hätten sich an der Lüge über die Sexualität beteiligt.

     Besonders negativ sei die unrühmliche Rolle der Wissenschaft zu werten.

 

c Was schreibt Zweig zur Mode der damaligen Zeit, und welche Funktion für  

 

   den Argumentationszusammenhang haben seine Ausführungen über die

 

   Mode?

 

     Mode bestätige den Hang zum Verhüllen; spiegle den Wunsch nach Verdrängung

     Zweig argumentiert mit einem nachprüfbaren Beispiel; es dient der Veranschaulichung und Konkretisierung.

 

d Zweig diagnostiziert „bei der Jugend eine unterirdische Überreizung, die

 

   sich in kindischer und hilfloser Art auswirkte“. Was alles gilt ihm als Indiz

 

   dafür? Wie fasst er zusammen bzw. was schlussfolgert er?

 

     Unanständige Schmierereien (Worte und Zeichnungen), Voyeurismus in Bädern, Akt- und Nacktfotografien, pornografische Bücher und Zeitschriften, spezielle Theater und Kabaretts.

     Folgerung: schwülstige Fantasien, gesteigerte Lust; unehrliche Moral und die Wahrung einer „längst unwahr gewordenen Konvention“; so wurde der Wille der Jugend zur Ehrlichkeit geopfert.

 

e Welche Rolle wurde in der bürgerlichen Sexualmoral der Frau zugewiesen?

 

     In Bezug auf Frauen spricht Zweig von doppelter Verlogenheit.

     Den Frauen seien – zumindest vor der Ehe – sexuelle Bedürfnisse gänzlich abgesprochen worden.

 

f Wie vollzog sich – nach Zweigs Beobachtungen – in Wahrheit das Sexualle-

 

         ben des Mannes? Wie wurde der Mann über seine Sexualität „aufge 

 

         klärt“?

 

     Männliche Sexualität wurde inoffizielle anerkannt, die inoffiziellen Wege zur Befriedigung der Triebe akzeptiert.

     Frauen aus einfachen Verhältnissen dienten Männern als Prostituierte.

     Aufklärung durch den Arzt; vor allem Warnung vor Geschlechtskrankheiten.

 

3.2 Zweig streut Hinweise ein, die verdeutlichen sollen, dass sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Verhältnis der Geschlechter zueinander eine deutliche Liberalisierung eingestellt habe. – Sammelt solche Hinweise und die Gründe, die Zweig für eine größere Natürlichkeit sieht.

 

     Zweig spricht von

 

o   der totalen Verwandlung der Beziehungen der Geschlechter, von den „heute gültigen freieren und unbefangeneren Anschauungen“,

o   der Heiterkeit, die heutige Betrachter der damaligen Mode befällt, der „höheren Liebesfreiheit“ der heutigen Jugend.

 

     Zweig nennt als Gründe

 

o   Emanzipation der Frau

o   die Freud’sche Psychoanalyse

o   den sportlichen Körperkult

o   die „Verselbstständigung“ der Jugend.

 

3.3 Wie hat sich Ihrer Meinung nach die Entwicklung zu mehr Offenheit und Freizügigkeit fortgesetzt? Wie beurteilen Sie die Situation von Jugendlichen der heutigen Zeit?

 

Hier wird eine erste Stellungnahme von den Schülern erwartet, aber auf keinen Fall in dem Sinne, dass sie ihre persönliche Befindlichkeit einbringen sollen. Die Fragen müssen so allgemein gehalten sein, dass die Antworten ebenfalls allgemeine Einschätzungen beinhalten können.

 

4 Hausaufgabe

 

4.1 Überleitung

 

Der Lehrer sollte sich bemühen, eine Überleitung vom Zweig-Text zur Lektüre von Frühlings Erwachen herzustellen. Er könnte etwa den Schülern mitteilen, dass es in dem Theaterstück von Wedekind um ganz ähnliche Probleme wie im Zweig-Text geht, zum Beispiel um Pubertät, um Fragen der sexuellen Aufklärung Jugendlicher durch Erwachsene, um die Folgen unterlassener Aufklärung, um die Reaktionen von Elternhaus, Schule und Kirche auf das Verlangen von Jugendlichen nach Aufklärung.

 

4.2 Aufgabenstellung – Variante 1

 

Für den Fall, dass die Lerngruppe sich – aus welchen Gründen auch immer – bei der Aneignung eines Textes wie Frühlings Erwachen schwertut, sollte eine Inhaltsübersicht angefertigt werden. Dies kann überwiegend in Gruppenarbeit während der Stunden erfolgen, was für die Schüler den Vorteil hat, dass sie während des Aneignungsprozesses nicht auf sich allein gestellt sind. Sie können sich so der Hilfe des Lehrers und der Mitschüler vergewissern; Missverständnisse werden schnell korrigiert und einer eventuell eintretenden Demotivation kann unmittelbar begegnet werden.

 

Am Ende der Stunden lesen oder spielen die Schüler eine Szene. Welche Szene gelesen/gespielt wird und welcher Schüler welche Figur übernimmt, kann in der vorhergehenden Stunde festgelegt werden,

 

Aufgabenstellungen:

 

a Sie haben für die Lektüre und das Erstellen einer Inhaltsübersicht eine Wo-

 

  che Zeit. Für die Übersicht ist folgendes Raster verbindlich:

 

 

Besondere Bedeutung hat die letzte Spalte, weil die dortigen Eintragungen häufig Grundlage für das Unterrichtsgespräch und für die Interpretation sind.

 

b Zu jeder Deutschstunde wird ein Akt gelesen und die Inhaltsübersicht aus

 

   gefüllt (möglichst mit Bleistift, damit ohne größeren Aufwand Veränderun-

 

   gen vorgenommen werden können).

 

c Überlegen Sie bitte zur nächsten Stunde auch, welche Szene des I. Aktes  

 

   gespielt oder mit verteilten Rollen gelesen werden soll. Erwünscht ist, dass

 

   Sie Ihren Vorschlag begründen können.

 

4.3 Aufgabenstellung – Variante 2

 

Lesen Sie zu Hause Frühlings Erwachen. Halten Sie in Stichworten fest, um welche Themen es geht.

 

Sequenz 2

 

Frühlingserwachen/Pubertät

 

1  Unterrichtszusammenhang

 

In jedem Fall sollten die Schüler zu Beginn der Besprechung des Stücks die Möglichkeit haben, über ihre Leseerfahrungen, ihre Eindrücke und Empfindungen zu sprechen. Dieser spontane, noch nicht ergebnisorientierte Austausch hat für die Schüler auch eine Ventilfunktion, für den Lehrer gibt er noch einmal Hinweise auf die Art der Rezeption.

 

Erfahrungsgemäß gilt das Schülerinteresse vorrangig der Darstellung von Schule und den altmodischen Auffassungen der Erwachsenen. Aspekten der Pubertät und Sexualität begegnen die Schüler mit einer gewissen Scheu, vor allem wenn Erwachsene am Gespräch beteiligt sind. Hier bedarf es erster Hilfe durch den Lehrer.

 

Frühlings Erwachen thematisiert viele Aspekte menschlichen Lebens. Der Kreis möglicher Themen sollte zu Beginn abgeschritten werden, sodass die Schüler auch in den folgenden Stunden immer wissen, welcher Ausschnitt aus dem Gesamtzusammenhang gerade zur Diskussion steht und dass bestimmte Themen möglicherweise ganz ausgeklammert werden

 

Zwei Akte lang dreht sich das Stück um Pubertätsprobleme der Jugendlichen. Die Pubertät der Jungen und Mädchen ist gleichermaßen Stoff und Thema und sollte zum Ausgangspunkt für alle weiteren Fragen gemacht werden und deshalb auch am Anfang des Unterrichts stehen.

 

Es wird nicht immer leicht sein, das Thema Sexualität und ihre Spielarten auszuklammern. Da diese Problematik Gegenstand der nächsten Sequenz ist, darf der Lehrer mit gutem Gewissen auf eine spätere Phase des Unterrichts verweisen.

 

2  Unterrichtsziele

 

Die Schüler

 

     äußern sich zu ihren Leseeindrücken,

     tauschen Meinungen über Frühlings Erwachen aus,

     erkennen die Themen des Stückes und deren Gewichtung,

      erkennen, dass alle Jugendlichen ihre Sexualität empfinden, aber in der Mehrzahl nicht darauf vorbereitet sind und unter der Tabuisierung leiden,

     listen auf, wie die Jugendlichen auf ihre Pubertät aufmerksam wurden (Samenerguss, Träume, Gespräche, veränderte Interessen, Gefühle),

     erkennen, dass Wendla nicht weiß, was mit ihr geschieht, sondern allenfalls Ahnungen hat,

     erkennen, dass Melchior sich selbst aufgeklärt hat,

     erkennen, dass Moritz unaufgeklärt ist und sich wegen sexuellen Regungen für schlecht hält,,

     erkennen, dass Wedekind das Frühlingserwachen der Mädchen eher auf der Gefühlsebene ansiedelt, das der Jungen aber als triebbestimmt darstellt.

 

3  Unterrichtsverlauf

 

3.1 Die Schüler teilen ihre Leseeindrücke und ihre Leseerfahrungen mit.

 

3.2 Worum geht es in dem Stück? Welche Themen habt ihr erkannt? Kann man eine Rangfolge der Themen erstellen?

 

Abtreibung

 

 

3.3 Welches Thema steht zentral?

 

Wovon hängt es ab, wie man die Themen gewichtet und hierarchisiert?

Ende der Leseprobe aus 96 Seiten

Details

Titel
Handreichungen für den Deutschunterricht zu Frank Wedekind "Frühlings Erwachen"
Untertitel
Unterrichtsentwurf, Stundenskizzen und Material
Autoren
Jahr
2022
Seiten
96
Katalognummer
V1181645
ISBN (eBook)
9783346611857
ISBN (eBook)
9783346611857
ISBN (eBook)
9783346611857
ISBN (Buch)
9783346611864
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Deutschunterricht, Literatur, Drama, Wedekind, Zensur, Jugend um 1900, Sexualaufklärung, bürgleriche Sexualmoral, Erziehung um 1990
Arbeit zitieren
Dieter Seiffert (Autor:in)Georg Völker (Autor:in), 2022, Handreichungen für den Deutschunterricht zu Frank Wedekind "Frühlings Erwachen", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1181645

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