Die alchemistischen Studien des jungen Goethe und deren Einfluss auf die Szene "Nacht" des Faust I


Bachelorarbeit, 2020

34 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Goethe und die Alchemie
2.1 Alchemie im Zeitalter der Aufklärung
2.2 Goethes alchemistische Periode

3. Alchemistische Motivik und Symbolik in Faust I
3.1 Die Eingangsszene des Faust I
3.2 Die Mikrokosmos-Makrokosmos-Korrelation
3.3 Goethes Weltverständnis und dessen Relevanz für Fausts Streben
3.4 Die Kette der Wesen
3.5 Erkenntnis durch Freitod
3.6 Der Erdgeist als allegorische Figur

4. Fazit und Ausblick

5.1 Primärliteratur

5.2 Sekundärliteratur

1. Einführung

Kurz vor Abschluss der Reinschrift des zweiten Teils des Faust -Dramas schrieb Johann Wolf­gang von Goethe 1831 in einem Brief an Carl Friedrich Zelter, er wünsche sich für diese Dich­tung, dass „alles zusammen ein offenbares Rätsel bleibe, die Menschen fort und fort ergötze und ihnen zu schaffen mache“1. Dies ist dem Dichter zweifelsohne gelungen, denn die Inter­pretation von Goethes Faust ist eine der größten, vielleicht sogar die größte Herausforderung der Neueren Deutschen Philologie. Die Breite an Interpretationsansätzen und Einschätzungen der Tragödie, die sich in den zahlreichen Forschungsbeiträgen zum Faust finden lassen, ist schier endlos und noch immer scheint das Werk reichlich Potenzial für neue Ansätze zu bieten. Die vorliegende Arbeit widmet sich einer Analyse der Eingangsszene von Goethes Faust - Der Tragödie erster Teil, mit besonderem Schwerpunkt auf der Erdgeistbeschwörung im Kontext des Schaffens des jungen Goethe. In seinen Jugendjahren beschäftigte er sich mit alchemisti­schen Studien, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Einfluss auf die gewählte Szene genommen haben, da es sich bei dieser um eine der ältesten Szenen des Textes handelt. Für die Interpretation der Szene ,Nacht‘ sowie der darin enthaltenen Erdgeistbeschwörung wird insbesondere die Mikrokosmos-Makrokosmos-Korrelation im Fokus stehen. Für die konkrete Analyse der Erdgeistbeschwörung soll jedoch auch ein eher selten verfolgter allegorischer Deu­tungsansatz erläutert werden, um eine weitere Position der aktuellen Faustforschung aufzuzei­gen. Die gerade in der Szene ,Nacht‘, deutlich zu erkennende alchemistische Motivik wird eine detaillierte Deutung erfahren.

Ziel der Arbeit ist es, die Einflüsse der Jugendjahre Goethes - mit besonderem Fokus auf die alchemistische Periode des Dichters - auf die Entstehung der Szene ,Nacht‘ aufzuzeigen und an konkreten Beispielen zu erläutern. Zunächst soll ein kurzer Abriss der alchemistischen Ge­schichte gegeben werden sowie die erforderlichen Begriffsdefinitionen erfolgen. Anschließend soll die Alchemie mit dem Schaffen Goethes in Beziehung gesetzt werden.

2. Goethe und die Alchemie

2.1 Alchemie im Zeitalter der Aufklärung

Die Geschichte der Alchemie lässt sich auf unterschiedliche Ursprünge zurückführen, die ebenso im ägyptischen wie griechischen Raum zu finden sind. Trotz ihrer Komplexität und der bis weit vor die Geburt Christi zurückreichenden Geschichte der Alchemie, bildet gerade das Mittelalter einen nicht unwesentlichen Zeitabschnitt für ihre Betrachtung und Entwicklung, denn in dieser Epoche breitete sich die Disziplin im europäischen Raum aus.2 Doch mit dem Ausklang des Mittelalters endet nicht etwa, wie angenommen werden könnte, die Relevanz dieser mystisch geprägten Wissenschaft. Es erscheint zunächst überraschend, dass die alche­mistisch-mystischen Lehren gerade zu Goethes Lebzeiten, also im Zeitalter der Aufklärung, einen neuen Aufschwung erfahren.

Trotz der deutlichen Diskrepanz zu den neuen Erkenntnissen in den Naturwissenschaften, bil­deten sich Geheimbünde wie die Gold- und Rosenkreuzer heraus3, deren Gruppierungen sich mehr und mehr verbreiteten und die zu einem der bevorzugten Orte für das Studium hermeti­scher Schriften sowie für das praktisch-alchemistische Arbeiten wurden. Die Naturphilosophie dieser Bewegung strebte nach einem neuen Welterklärungsmodell, das den Anspruch erhob, mit Hilfe der Zusammenführung verschiedener Traditionsstränge allumfassend zu sein. In der hermetischen Tradition wurde die Natur als komplexes Konstrukt angesehen, dessen Innerstes so rätselhaft war, dass es nur mit Hilfe einer göttlichen Intuition verstanden werden konnte. Doch mit der Zeit wandelte sich dieses Verständnis hin zu der Hoffnung, der Mensch könne jene Rätsel der Natur auch alleine, also ohne Gottes Hilfe, begreifen und dadurch sein Leben verbessern.4 Die Alchemie versprach einen solchen Erkenntnisgewinn und bot damit eine uto­pische Komponente, welche gerade in den Ordensstrukturen der Gold- und Rosenkreuzer be­sonders sichtbar wird.5

Der Adept, in diesem Fall das Ordensmitglied, gewinnt in diesem von den Geheimgesellschaf­ten geschaffenen System mehr und mehr Einsicht, je höher der von ihm erlangte Ordensgrad ist, um schließlich in das Innerste der Schöpfung vorzudringen und durch das Ablegen seiner „Blindheit“6 zu erlernen, als eine Art deus selbst an der Schöpfung mitzuwirken. Die konkrete Umsetzung jener Theorie sollte zum einen durch die Bearbeitung unedler Metalle und deren Umwandlung in Gold gelingen. Zum anderen spielte die Überwindung von Krankheiten durch die Herstellung eines Universalheilmittels eine zentrale Rolle. Der praktische Aspekt jener alchemistischen Lehre lässt sich also in einen organischen und einen anorganischen Teil glie­dern, die gemeinsam ein allumfassendes Ordnungs- und Organisationsprinzip als Grundsatz haben.7

Das Versprechen einer solchen Erkenntnis, die dem Adepten ein ,über die Grenzen der Natur hinweg gelangen‘ ermöglichen sollte, erklärt die Attraktivität der Alchemie im Zeitalter der Aufklärung. Sie stellt keinen Rückschritt zu Vergangenem dar, sondern vielmehr die Hoffnung, noch mehr, bisher unvorstellbares Wissen zu erlangen. Die Alchemisten der Aufklärung waren also, um es mit den Worten Fausts auszudrücken, auf der Suche nach dem, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ (V. 382f.)8.

Um die Alchemie im Zeitalter der Aufklärung genauer betrachten zu können, muss aber zu­nächst eine Definition der Termini ,Aufklärung‘ und ,Alchemie‘ erfolgen. Da es sich um zwei komplexe Sachverhalte handelt, ist eine Einschränkung notwendig, um sie für die vorliegende Arbeit nutzbar machen zu können. Beschränkt man die Aufklärung allein auf die , Vernunft des Menschen‘9, berücksichtigt sie nicht diejenigen Interessen der Aufklärung, die über reine Logik hinausgehen und nach der bereits vorgestellten höheren Erkenntnis streben. Die Komplexität dieses Zeitalters entsteht unter anderem durch die zahlreichen Strömungen außerhalb und in­nerhalb ihrer selbst, die sie prägten, darunter der Pietismus, die Romantik oder der Rationalis- mus.10

Eine mögliche zeitliche Eingrenzung der Aufklärung liefert Rolf Christian Zimmermann, in­dem er den Beginn des Zeitalters durch das Auftreten des Eklektizismus beschließt.11 Ein An­satz, der als tatsächliche Epocheneingrenzung zu explizit erscheint, aber dennoch die Rückbe­rufung auf bereits lange existierende Traditionen, wie der Alchemie, der Magia Naturalis oder der Kabbalistik, wie sie in der frühen Neuzeit stattfand, erklären kann. Auch die Bildung sepa­ratistischer Gruppierungen ist durch die Voraussetzung eines allgegenwärtigen eklektizisti- schen Weltverständnisses nicht mehr überraschend.

Im Kontext dieser Arbeit soll aufgrund der Komplexität dieses soeben geschilderten Sachver­haltes eine zeitliche Eingrenzung der Epoche der Aufklärung zweckdienlich sein, wenn auch diese meist nicht einer gewissen Willkür entbehrt. So wird die Zeit der Aufklärung für die vor­liegende Arbeit als eine die Jahrzehnte zwischen der Mitte des 17. Jahrhunderts und dem Ende des 18. Jahrhunderts umfassende Epoche festgelegt.

Die Eingrenzung des Alchemiebegriffs stellt sich in ähnlicher Weise als schwierig dar.

In diesem Zusammenhang muss beachtet werden, dass die Zusammenfassung diverser Lehren unter dem Begriff der , okkulten Wissenschaften[4] (meist inbegriffen sind hierbei die Magie, die Astrologie sowie die Alchemie) über die Jahre das fehlende Bewusstsein über die Autonomie der einzelnen Disziplinen zur Folge hatte. Denn trotz der Relevanz einer Betrachtung der gege­benen Wechselwirkungen dieser unterschiedlichen Praktiken und Wissenschaften, wurden sie auch unabhängig voneinander praktiziert.[12]

Dies mag an der Komplexität der einzelnen Wissenszweige liegen, denn generell kann festge­halten werden, dass die Alchemie von einem Geflecht verschiedener philosophischer, religiöser und technischer Traditionen und Praktiken ausgeht und im 17. Jahrhundert noch immer stark hermetisch geprägt war.[13] Neben der konkret praktisch-chemischen Alchemie, die die Um­wandlung unedler Metalle in jene edler Natur beinhaltete, aber auch weitere praktische Ziele vereinte, beispielsweise das bereits genannte Herstellen eines Universalheilmittels, existiert auch eine spirituell-mystisch geprägte Komponente der Alchemie. Diese beiden Seiten der Wis­senschaft bedingen und beeinflussen sich gegenseitig und sind teilweise voneinander zu tren­nen, jedoch nie gänzlich. Für die Betrachtung der Alchemie im Kontext der Aufklärung ist in erster Linie wichtig, festzuhalten, dass sich der Alchemist nicht ohne weiteres als irrational vom rationalen Naturwissenschaftler trennen lässt. Wenn auch beide Disziplinen gravierende Diffe­renzen aufweisen, die sie trennen, so sind sie im Erfahrungsraum des späten 17. und 18. Jahr­hunderts dennoch nicht inkompatibel.[14]

Besonders deutlich wird dies im späten 18. Jahrhundert, als die Alchemie, oder „Alchymie“[15], eine Erweiterung erfuhr und in die „höhere Chemie“[16] überging. Und doch muss an dieser Stelle gesagt werden, dass nicht alle alchemistisch geprägten Gruppierungen einen solch12 13 14 15 16 fortschrittlichen Ansatz verfolgten. Der zuvor bereits genannte Orden der Gold- und Rosen­kreuzer zeigte sich im Großen und Ganzen eher konservativ und fortschrittsfeindlich und be­trachtete die modernen Wissenschaften in vielerlei Hinsicht als Irrweg, den es zu vermeiden galt.17 Auch wenn Goethe nicht zwangsläufig direkte Berührungspunkte mit all den oben ge­nannten Strukturen und Systemen unterstellt werden können, so ist es doch, wie von zahlreichen Stimmen in der Forschung bereits betont wurde, dieses „geistige Klima“18, in dem er sich auf­hielt und welches sein Interesse für diesen Themenkreis formte. Zeugnis für die immense Be­deutung, die die alchemistischen Ideen für Goethe hatten, sind unter anderem seine Ausführun­gen im achten Buch von Dichtung und Wahrheit.19

2.2 Goethes alchemistische Periode

Die Diskussion um die Frage nach der persönlichen Haltung Goethes gegenüber der Alchemie und generell dem Okkulten ist in erster Linie durch die Vielzahl unterschiedlicher Theorien geprägt. Denn auch wenn Goethe seine Faustdichtung mit zahlreichen magischen und alche­mistischen Anspielungen versehen hat, können wir von diesen nicht ohne weiteres auf das Ver­hältnis schließen, das der Dichter zur Alchemie hatte. Er selbst hat hierzu keinen klaren Stand­punkt bezogen20 und so bleiben uns vor allem seine Schilderungen in Dichtung und Wahrheit sowie einige Bemerkungen in verschiedenen Korrespondenzen, um zu entscheiden, welche re­alen Einflüsse Auswirkungen auf seine Werke hatten. Dichtung und Wahrheit muss hier aller­dings mit gewisser Vorsicht zur Anwendung gebracht werden, wenn versucht wird, die tatsäch­lichen Lebenserfahrungen Goethes zu begreifen, da es sich um eine Niederschrift des Dichters selbst handelt und dadurch keine historische Schilderung seines Lebens darstellt, sondern viel­mehr die Darstellung des eigenen Lebens, die mit dem Leser geteilt werden sollte. Um es mit den Worten von Herman Grimm zu sagen: es bildet sich in „jedes Menschen Erinnerung der Mythos des eigenen Lebens“.21

Die erste und in vielerlei Hinsicht auch ausschlaggebende Begegnung Goethes mit der Alche­mie beschreibt der Dichter im bereits erwähnten achten Buch von Dichtung und Wahrheit. Der junge Goethe kehrte im Herbst 1768 schwer erkrankt aus Leipzig, wo er zuvor das Jurastudium aufgenommen hatte, nach Frankfurt in sein Elternhaus zurück. Eine Behandlung erfuhr er durch den Arzt Johann Friedrich Metz. Bei diesem handelte es sich um eine der Persönlichkeiten, die sich zu den „abgesonderten Frommen“22 zählten, wie Goethe sie in seinen Aufzeichnungen nennt. Gegenüber den Gläubigen spricht der Arzt immer wieder von einem gewissen Salz, wel­ches jedoch nur in größter Gefahr zu Anwendung gebracht werden dürfe und empfiehlt in die­sem Zusammenhang die Lektüre gewisser mystisch chemisch-alchemistischer Bücher, mit de­ren Hilfe der Leser eines Tages in der Lage sein werde, ein solches Mittel selbst herzustellen. Doch die Zubereitung dieses Mittels sei, laut Metz, aus physischen, besonders aber aus mora­lischen Gründen nicht direkt überliefert.23 Eine Formulierung, die auf nicht eingeweihte Kreise eine geradezu anziehende Wirkung gehabt haben mochte, für die damalige Zeit jedoch nicht ungewöhnlich war.

Bedingt durch das Aufkommen des Buchdrucks erschienen insbesondere im 18. Jahrhundert zahlreiche alchemistische Werke in großem Umfang. Es handelte sich um Bücher, die dem Leser einen Einblick in die Geheimnisse der Alchemie versprachen und Anleitungen zu bein­halten behaupteten, die unter anderem die Herstellung des Steins der Weisen ermöglichen soll­ten. Doch es galt, dieses geheime Wissen vor den Augen Unbefugter zu verbergen, weshalb sämtliche Texte nur in verschlüsselter Form niedergeschrieben wurden. Diese Verschlüsselung erfolgte unter Verwendung von Symbolen und Metaphern, aber auch mit Hilfe einer bestimm­ten Art von Sprache und Zeichen, die angeblich nur Eingeweihten bekannt gewesen waren. Bedingt durch die Vermischung der unterschiedlichen Verschlüsselungsmöglichkeiten gestal­tete sich die Interpretation solcher Werke äußerst schwierig.24 Diese Texte übten jedoch trotz - vielleicht auch gerade wegen - ihrer Rätselhaftigkeit einen großen Reiz auf die Rezipienten aus. Deshalb kann in Bezugnahme auf die Äußerung von Johann Friedrich Metz vermutet wer­den, dass seine Verschwiegenheit und die schwer zu deutenden Anspielungen auf eben diese Intention der Verschlüsselung des alchemistischen Wissens zurückzuführen sind.

Auf dem Höhepunkt seiner Krankheit reichte der Arzt dem jungen Goethe schließlich jenes, eigens von ihm hergestellte Salz25, das eine geradezu schockartig eintretende Besserung seines Zustandes hervorrief.26 Susanna Katharina von Klettenberg, eine Freundin von Goethes Mutter, zählte ebenfalls zu jenen , abgesonderten Frommen‘ und wagte sich an die Lektüre der von Metz empfohlenen Bücher. Sie begann mit Wellings Opus mago-cabbalisticum 27 und sehnte sich nach jemandem, mit dem sie die neu gewonnenen Erkenntnisse teilen und über die schwer be­greifliche Lektüre diskutieren konnte:

Sie hatte schon ins Geheim Wellings ,Opus mago-cabalisiticum‘ studiert, wobey sie jedoch, weil der Autor das Licht was er mittheilt sogleich wieder selbst verfinstert und aufhebt, sich nach einem Freunde umsah, der ihr in diesem Wechsel von Licht und Fins­terniß Gesellschaft leistete.28

Es gelang ihr schnell, den jungen Goethe davon zu begeistern und mitzureißen. Die gut fünf­undzwanzig Jahre ältere Frau findet in ihm einen intellektuell angemessenen Gesprächspartner und hat in vielerlei Hinsicht einen nicht unerheblichen Einfluss auf den jungen Dichter. In den Jahren 1769 bis 1774, bei denen es sich um die letzten Lebensjahre von Susanna Katharina von Klettenberg handelt, studieren beide gemeinsam die alchemistischen und pansophischen Werke, darunter Agrippa von Nettesheim, Swedenborg und Paracelsus, und beginnen sogar mit eigenen Experimenten, wie Goethe später in Dichtung und Wahrheit schildert:

Kaum war ich einigermaßen wieder hergestellt und konnte mich, durch eine bessere Jahreszeit begünstigt, wieder in meinem alten Giebelzimmer aufhalten; so fing auch ich an, mir einen kleinen Apparat zuzulegen; ein Windöfchen mit einem Sandbade war zu­bereitet, ich lernte sehr geschwind mit einer brennenden Lunte die Glaskolben in Scha­len verwandeln, in welchen die verschiedenen Mischungen abgeraucht werden sollten. Nun wurden sonderbare Ingredienzien des Makrokosmus und Mikrokosmos auf eine geheimnisvolle wunderliche Weise behandelt, und vor allem suchte man Mittelsalze auf eine unerhörte Art hervorzubringen.29

Während seiner Frankfurter Jahre hatte Goethe sich also ausführlich mit dieser Kunst auseinan­dergesetzt. Doch wie ambivalent sein Verhältnis gegenüber der Alchemie war, lässt sich durch Äußerungen in seinem Werk zur Farbenlehre aus dem Jahre 1810 erahnen. Dort nennt er die Alchemie ein „aus allgemeinen Begriffen entspringendes auf einem gehörigen Naturgrund auf­gebautes Märchen“30 und erklärt, die alchemistischen Schriften hätten ihn „mehr zum Wahn­sinn als zur Andacht“31 gedrängt. Und doch ist nicht zu verkennen, welchen Einfluss die alche­mistischen Theorien auf seine Bearbeitung des Fauststoffs hatten und in welcher Vielzahl sie sich in dem Werk wiederfinden lassen. Diese Wechselhaftigkeit lässt sich in mancher Hinsicht

[...]


1 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Bd. 20.2: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832, hg. von Karl Richter, München 1998, S. 1477.

2 Vgl.: Nabil Mesh-hadi: Die Einschätzung der Alchemie in Faust-Deutungen, Frankfurt am Main/ Bern/ Las Ve­gas 1979, S. 19.

3 Vgl.: Christopher McIntosh: The Rose Cross and the Age of Reason. Eighteenth-Century Rosicrucianism in Central Europe and its Relationship to the Enlightenment, 2. Ausgabe, Albany 2011, S. ix.

4 Vgl.: Claus Priesner: Alchemie im Zeitalter der Aufklärung. Geheimgesellschaften und Adeptengeheimnisse, In: Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 93, Heft 2 (2011), S. 386f.

5 Vgl.: ebd., S. 411.

6 Irmtraut Sahmland: „Die Natur in einer schönen Verknüpfung“. Goethes Adaption der Aurea Catena Homeri, in: Von der Pansophie zur Weltweisheit. Goethes analogisch-philosophische Konzepte, hg. von Hans-Jürgen Schrader, Katharine Weder, Johannes Anderegg, Tübingen 2004, S. 63.

7 Vgl.: Sahmland: Natur in einer schönen Verknüpfung, S. 63f.

8 Versangaben in Klammern hier und im Folgenden zitiert nach: Johann Wolfgang Goethe: Faust. Historisch­kritische Edition, hg. von Anne Bohnenkamp, Silke Henke und Fotis Jannidis unter Mitarbeit von Gerrit Brüning, Katrin Henzel, Christoph Leijser, Gregor Middell, Dietmar Pravida, Thorsten Vitt und Moritz Wissen­bach, Frankfurt am Main / Weimar / Würzburg 2018.

9 Peter-André Alt schreibt über die Aufklärung, sie sei „in sämtlichen Phasen eine Bewegung, die die Vernunft des Menschen in den Mittelpunkt ihres analytischen bzw. praktischen Interesses rückt“. Vgl. Peter-André Alt: Aufklärung. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart/Weimar 1996, S. 11.

10 Vgl.: Hans-Werner Schütt: Alchemie im Zeitalter der Aufklärung. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, Bd. 23, Heft 2 (2000), S. 157.

11 Vgl.: Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur Hermetischen Tradition des Deutschen 18. Jahrhunderts, 2. Auflage, München 2002, S. 20.

12 Vgl.: Wouter J. Hanegraaff: The Notion of ‘Occult Sciences' in the Wake of the Enlightenment, In: Aufklä­rung und Esoterik. Wege in die Moderne, hg. von Monika Neugebauer-Wölk, Renko Geffarth, Markus Meumann, Berlin/ Boston 2013, S. 73.

13 Vgl.: Christa Habrich: Von der Alchemie zur Förderung der chemischen Wissenschaft und Technik, In: Von der Pansophie zur Weltweisheit. Goethes analogisch-philosophische Konzepte, hg. von Schrader/Weder/Ande- regg, Tübingen 2004, S. 9f.

14 Vgl.: Schütt: Alchemie 2000, S. 159.

15 Mesh-Hadi: Die Einschätzung der Alchemie in Faust-Deutungen, 1979, S. 13.

16 Priesner: Alchemie im Zeitalter der Aufklärung, 2011, S. 408.

17 Vgl.: Priesner: Alchemie, S. 399.

18 Habrich: Von der Alchemie zur Förderung der chemischen Wissenschaft und Technik, 2004, S. 11.

19 Zitation im Folgenden aus: Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2, 1. Auflage, Tübingen 1812.

20 Vgl.: Gustav F. Hartlaub: Goethe als Alchemist, In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte, 3. Folge, Bd. 48 (1954), S. 19.

21 Andreas B. Wachsmuth: Geeinte Zwienatur. Aufsätze zu Goethes wissenschaftlichem Denken, Berlin/ Wei­mar 1966, S. 26.

22 Goethe: Aus meinem Leben, 1812, S. 307.

23 Vgl.: ebd., S. 307f.

24 Vgl.: Priesner: Alchemie im Zeitalter der Aufklärung, 2011, S. 390.

25 Heute wird vermutet, dass es sich dabei um ein Mineralsalz, beispielsweise Glaubersalz handelte, dessen Wir­kung sich bei Goethe in erster Linie durch den Placeboeffekt entfaltete. Vgl. Sahmland: Goethes Adaption der Aurea Catena Homeri, 2004, S. 69.

26 Vgl.: Goethe: Aus meinem Leben, 1812, S. 312.

27 Der vollständige Titel lautet: „Opus mago-cabalisticum et theosophicum, darinnen der Ursprung, Natur, Ei­genschaften und Gebrauch des Saltzes, Schwefels und Mercurii, in dreyen Theilen beschrieben, und nebst sehr vielen sonderbaren mathematischen, theosophischen, magischen und mystischen Materien, auch die Erzeugung der Metallen und Mineralien, aus dem grunde der Natur erwiesen wird; sammt dem Haupt-Schlüssel des gantzen Wercks und vielen curieusen mago-cabalistischen Figuren.“ Zuerst erschienen 1735 in Homburg auf der Höhe, 1760 in einer weiteren Auflage in Leipzig und Frankfurt.

28 Goethe: Aus meinem Leben, 1812, S. 309.

29 Ebd., S. 313f.

30 Hartlaub: Goethe als Alchemist, 1954, S. 28.

31 Ebd.

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Die alchemistischen Studien des jungen Goethe und deren Einfluss auf die Szene "Nacht" des Faust I
Hochschule
Karlsruher Institut für Technologie (KIT)  (Institut für Germanistik: Literatur, Sprache, Medien)
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
34
Katalognummer
V1181855
ISBN (eBook)
9783346603890
ISBN (Buch)
9783346603906
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Faust, Goethe, Alchemie, Mikrokosmos-Makrokosmos, Kette der Wesen
Arbeit zitieren
Nicole Marie Schindele (Autor:in), 2020, Die alchemistischen Studien des jungen Goethe und deren Einfluss auf die Szene "Nacht" des Faust I, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1181855

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