Die Großstadt im zeitgenössischen englischen Roman - am Beispiel London


Magisterarbeit, 1994

104 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einführung

II. Die Stadtdarstellung vom 18. Jahrhundert bis zur Moderne - ein motivgeschichtlicher Überblick
1. Frühformen der Großstadtdarstellung im Roman des 18. Jahrhunderts
2. Die realistische Stadtdarstellung im 19. Jahrhundert
3. Subjektivierung und Fragmentarisierung - die Großstadtdarstellung in der Moderne

III. Das zeitgenössische Bild der Stadt
1. Die Gestalt der heutigen Stadt
2. Das Leben in der zeitgenössischen Großstadt
3. Von der lesbaren Stadt zur opaken Zeichenstätte
4. Die zeitgenössische Literatur und die Großstadt - allgemeine Kennzeichen

IV. London und die London-Darstellung von der Nachkriegszeit bis in die sechzi­ger Jahre
1. Die "reaction against experiment" - Die Großstadt im traditionell erzählten zeitgenössischen englischen Roman
2. Die Wiederaufnahme des experimentellen Erzählens
2.1 Die intertextuell bestimmte Großstadterfahrung
- David Lodge, The British Museum is Falling Down (1969)

V. Die britische Megalopolis - Londons Weg in die Unübersichtlichkeit und Unwirtlichkeit
1. Die Großstadt zwischen Sein und Schein - Peter Ackroyd, The Great Fire of London (1982)
2. Die geheime Tiefenstruktur der Großstadt - Peter Ackroyd, Hawksmoor (1985)
3. Stadtgeschichte - und -geschichten - Michael Moorcock, Mother London (1988)
4. Die Großstadt im postmodernen historischen Roman - Lawrence Norfolk, Lemprière's Dictionary (1991)

VI. Schlußbetrachtung

VII. Bibliographie

I . Einführung

Betrachtet man die Darstellung der Stadt in der Literatur, so sollte man nie außer acht lassen, daß das literarische Bild der Stadt zu keiner Zeit mit der faktischen Stadt gleichsetzbar und auch kein getreues Abbild der herrschenden Verhältnisse ist, sondern in erster Linie als abhängig von der Einstellung und Persönlichkeit des Autors gesehen werden sollte. Dennoch ist der Einfluß der außerliterarischen Wirklichkeit nicht zu vernachlässigen und hat wohl jede fiktionale Stadt entscheidend mitgeprägt.

Von alters her zeigten sich die Menschen fasziniert von der großen Stadt, wie bereits die frühen literarischen Belege aus den alten Epen wie der Ilias oder der Odyssee und der Bibel bestätigen. Die Stadt galt und gilt immer noch einerseits als Schutzraum und Kulminationspunkt von Wissen und Macht, andererseits wurde und wird sie immer wieder in den negativen Ausmaßen erfahren, die ein Zusammenleben vieler Menschen auf engem Raum mit sich bringt, und es ist es nicht weiter verwunderlich, daß die Stadt in der Literatur zu allen Zeiten in ambivalenten Bildern gezeigt wird. Das eindrucksvollste Beispiel dafür ist wohl zweifelsohne in der Offenbarung des Johannes zu finden, die der Stadt Babylon, der "Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden" das "neue Jerusalem" gegenüberstellt, das sich durch reine Schönheit und Regelmäßigkeit auszeichnet.[1] Ein Beispiel, das nicht nur die zwiespältige Einstellung der Stadt gegenüber wiedergibt, sondern auch zeigt, wie sehr sich literarisches Bild und reale Stadtkonzeption gegenseitig beeinflussen, da die Idealstadt des "Himmlischen Jerusalem" nicht nur zum Vorbild für die jenseitsgerichteten literarischen Stadtkonzepte des Mittelalters wie den Gottesstaat des Augustinus wurde, sondern selbst den faktischen mittelalterlichen Städtebau bestimmte.

Nach dem Aufbrechen des jenseitsgerichteten Weltbildes des Mittelalters entwickelte sich in der Renaissance ein Interesse am Individuum und an der unmittelbaren Wirklichkeit. Der Roman, der sich dann seit dem 18. Jahrhundert in Europa zur führenden literarischen Form entwickelt, kommt dieser neuen Denkweise nahe und wird zum idealen Medium zur Darstellung der Stadt, da sich durch einen städtischen Schauplatz mit seinen vielfältigen Möglichkeiten und Erscheinungsformen auf plausi­ble Weise die unterschiedlichsten Charaktere, Situationen und Handlungen zusammen­führen lassen.

Von Roman zu Roman kann sich die Bedeutung der Stadt für das Textganze allerdings erheblich unterscheiden. So erscheint die Stadt vielfach nur im Hintergrund und bleibt auf topographische Angaben beschränkt. Im folgenden sollen dagegen jene Romane im Vordergrund stehen, in denen die Darstellung der Stadt über die Funktion als setting hinausgeht und - üblicherweise in Verbindung mit anderen Themen - Auswirkungen auf Handlung, dargestellte Zeit und Personencharakterisierung hat. Einigen Literaturwissenschaftlern zufolge sind solche Romane als "Stadtromane" zu bezeichnen. Es wurde daher wiederholt versucht, einen so bezeichneten Typus als eigenständige Gattung zu sehen, wie den Abenteuer- , den Bildungsroman oder ähnliches, indem sie die epische Zentralität der Stadt im Roman als Definitionskriterium heranzogen.

Eine allgemeine Definition bietet Volker Klotz in seinem Werk Die erzählte Stadt[2] an, das als Klassiker einer umfangreichen und umfassenden Untersuchung der Stadt im Roman gilt. Klotz sieht eine generelle Ähnlichkeit zwischen Stadt und Roman darin, daß nicht allein der Umfang des Romans der Vielfalt des Großstadtlebens entspricht, sondern auch die Fülle der Themen in beiden gegeben sind.

Andere Literaturwissenschaftler wie beispielsweise Scherpe stellen diese Definition in bezug auf die Gegenwartsliteratur allerdings in Frage, da in einer Zeit, in der das ordnungsstiftende Prinzip des Erzählens verloren gegangen ist der Terminus der "erzählten" Stadt problematisch erscheint,[3] was jedoch vorwiegend auf die experimentelle Literatur beschränkt bleibt und all die (zahlreichen) Romane ausklammert, die immer noch in der traditionellen realistischen Erzählweise gehalten sind. Einer der bekanntesten Versuche einer Klassifikation des Stadtromans wurde von Blanche Gelfant 1954 für den amerikanischen Roman unternommen. Gelfant unterscheidet drei Typen des Stadtromans, die unterschiedliche Schwerpunkte in der Darstellung des urbanen Lebens setzen. In der portrait novel erschließt sich die Stadt durch die Erfahrung einer einzelnen Figur, wie es in der Regel in Verbindung mit der Initiationsthematik geschieht, durch die der Protagonist die städtische Umwelt als wichtige Station auf seinem Weg in die Reife erfährt. Die ecological novel konzentriert sich auf eine räumliche Einheit innerhalb des Stadtganzen, wie z.B. ein Stadtviertel, eine Straße oder ein Haus. In der synoptic novel schließlich erscheint die Stadt selbst als Protagonist.[4]

Die synoptic novel, die vorwiegend in der modernen Literatur auftauchte, sieht Diane Wolfe Levy in ihrem Aufsatz "Towards a Definition of Urban Literature" als einzig wahren Typus des Stadtromans:

We could identify 'urban' literature as that where the setting takes pre­cedence over character; where in fact, the setting rises to the level of protagonist.[5]

Eine solche Sichtweise ist aber doch als zu eingeschränkt zu werten, da sie, mehr noch als die von Scherpe, nur auf sehr wenige Werke zutreffen würde.

Wie aus diesem kurzen Überblick hervorgeht, wird die Diskussion über die Problematik "Stadtroman" noch lange nicht abgeschlossen sein und auch vermutlich zu keinen allgemein gültigen Aussagen finden. Es ist aber vor allem Gelfants weitgefaßte Einteilung, die eine brauchbare Orientierungshilfe für alle Romanarten bietet, in denen die Stadtdarstellung eine wichtige Funktion innehat. Dabei muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß sich im Normalfall die drei genannten Typen des Stadtromans nicht immer streng voneinander trennen lassen, wie sich auch bei den Romanen der zeitgenössischen englischen Literatur zeigen wird.

Die Darstellung der Großstadt in englischen Romanen der Gegenwart ist bisher von der Sekundärliteratur eher vernachlässigt worden. Die Literaturkritik hat sich für die englische Literatur insbesondere mit der fiktionalen Großstadt im 19. Jahrhundert sowie dem frühen 20. Jahrhundert befaßt. Wirft man einen Blick auf die Romane der zeitgenössischen britischen Literatur, kann man feststellen, daß die Großstadt immer noch eine bedeutende Rolle spielt und viele Autoren der Gegenwartsliteratur London als handlungsbestimmenden Schauplatz ihrer Romane gewählt haben.

Es scheint also eher ein Problem der Literaturwissenschaft an sich zu sein, wie man sich dem Erscheinen der Großstadt in Erzähltexten am besten nähert. Mittlerweile haben die unterschiedlichsten Wissenschaften zu ihrer Deutung beigetragen, die demnach alle mitberücksichtigt werden müßten, wollte man eine umfassendes Untersuchung der fiktionalen Stadt betreiben. Daher ist es wichtig, eine Einschränkung auf einen gewissen Bereich zu machen, wie auch die einzigen beiden momentan vorliegenden umfassenderen Arbeiten zu diesem Thema zeigen.

Michael Breuners Dissertation Hunger for Place[6] befaßt sich mit der schon etwas zu weitgefaßten Frage nach der Darstellung des Raumes in London-Romanen von der Nachkriegszeit bis zu den späten achtziger Jahren. Der Nachteil dieser Arbeit ist, daß die umfangreiche und präzise Analyse der ausgewählten Texte in einem undurchsichtigen Verhältnis zu einem sehr theoretischen Einführungsteil über die Raumproblematik steht, den der Autor zudem im Vorwort selbst in Frage stellt. Zu klareren Ergebnissen kommt Christine W. Sizemore in A Female Vision of the City. Sizemore behandelt fünf Autorinnen der Gegenwart - Doris Lessing, Iris Murdoch, Margaret Drabble, Maureen Duffy und P. D. James - und das London-Bild in ihren Romanen. Da Sizemores Arbeit dezidiert feministisch ausgerichtet ist, betrachtet sie auch die Stadtdarstellung bei den ausgewählten Autorinnen unter diesem eingeschränkten Gesichtspunkt. Gemäß ihrer These entspricht die Darstellung Londons als Labyrinth, Netz, Mosaik, Ausgrabungsstätte oder Palimpsest dem weiblichen Denkmuster[7] und ist anhand der ausgewählten Textbeispiele und der psychologischen Fundierung der Interpretationen durchaus nachvollziehbar.

Interessanterweise behandeln beide Arbeiten einige Autoren und Romane, die dem experimentellen oder gemäßigt experimentellen Erzählen zuzuordnen sind, erwähnen aber die Auswirkungen davon auf die London-Darstellung nur am Rande oder gar nicht. In diesem Sinne soll die vorliegende Arbeit einen Überblick über die Darstellung der Großstadt unter diesem bisher vernachlässigten Aspekt geben. Um die Neuerungen angemessen aufzeigen zu können, soll zunächst ein Überblick über die Entwicklung der Großstadtdarstellung im englischen Roman vom 18. Jahrhundert bis zur Moderne gegeben werden. Im Anschluß daran werden einige generelle Charakteristika der Erscheinung der zeitgenössischen Stadt betrachtet. Diese sollen sowohl für die Sozialwissenschaften als auch für die Literatur herausgearbeitet werden, da sich hier einige wichtige Gemeinsamkeiten feststellen lassen. Um allgemeine Kennzeichen der fiktionalen Großstadt aufzuzeigen, soll auch auf illustrierende Beispiele aus anderen westlichen Literaturen (insbesondere aus Amerika) zurückgegriffen werden.

Auf die Entwicklung der Großstadtdarstellung in der englischen Literatur nach dem zweiten Weltkrieg wird anschließend eingegangen. Dabei soll ein kurzer Blick auf die außerliterarische Situation der Stadt als Einleitung dienen; überblickshalber sollen auch jene Romane der fünfziger und sechziger Jahre kurz Erwähnung finden, die der traditionellen Erzählweise zuzuordnen sind.

Die Textauswahl der hier näher betrachteten zeitgenössischen Literatur begründet sich in dem Herausstellen eines unwirtlichen, unübersichtlichen und unwirklichen Charakters der Großstadt, der auf die aktuelle Stadtdiskussion zurückzuführen ist. Die destabilisierte Wirkung, die die Stadt in den zu besprechenden Romanen auszeichnet, ergibt sich durch Vorgehensweisen und Themen, die mit ihrer Darstellung verbunden werden, wobei sich besonders intertextuelle Referenzen bzw. eine Spiegelung der Erkenntnisse der allgemeinen Stadtdiskussion und ein Bewußtmachen einer verborgenen Seite der Stadt (besonders in den seit den späten achtziger Jahren entstandenen Romanen) feststellen lassen. Die Einzelinterpretationen sollen sowohl den Kontext betrachten, in dem die Stadt im Romanganzen erscheint als auch die traditionellen Muster, auf die immer wieder zurückgegriffen wird. Im Vordergrund soll die Stadtwahrnehmung und -erfahrung der Charaktere stehen und natürlich inwieweit diese über thematische oder erzähltechnische Neuerungen vermittelt wird. Mit einem Überblick über die Ergebnisse der Interpretationen und einem Vergleich mit den erarbeiteten allgemeinen Kennzeichen wird diese Arbeit abgeschlossen.

Da London für die vorliegende Arbeit die repräsentative Großstadt sein soll, werden im folgenden auch am Beispiel der britischen Metropole Entwicklungen in der literarischen Auseinandersetzung mit der Großstadt in einem historischen und motivgeschichtlichen Überblick deutlich gemacht, um einen Rahmen für die Untersuchung der Großstadtdarstellung in der zeitgenössischen Literatur zu bilden. Eine Vorgehensweise, die zusätzlich dadurch gerechtfertigt ist, daß die zur Analyse stehenden zeitgenössischen Romane jeweils auf eine der zu besprechenden literarischen Epochen zurückgreifen.

Auch in dieser Übersicht wird - bis auf die Ausnahme von T. S. Eliots The Waste Land - nur der Roman betrachtet werden, denn obgleich die Lyrik einige einflußreiche London-Bilder geliefert[8] und einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung einer subjektiven Stadtwahrnehmung geleistet hat, reflektiert sie in erster Linie momentane Erfahrungen und Stimmungen.

II. die Stadtdarstellung vom 18. Jahrhundert bis zur Moderne - Ein motivgeschichtlicher Überblick

1. Frühformen der Großstadtdarstellung im Roman des 18. Jahrhunderts

Nach dem Feuer von 1666 nimmt der sich seit der Renaissance abzeichnende Bruch mit dem jenseitsgerichteten Weltbild nicht nur in den Einstellungen der städtischen Bevölkerung, sondern auch in der äußeren Erscheinung Londons erkennbare Formen an. Vier Fünftel der Stadt waren durch den Brand zerstört worden, und nach dem Wiederaufbau ist die mittelalterliche Stadtstruktur mit ihren schmalen Straßen und Holzhäusern fast völlig einem neuen Äußeren gewichen, das durch Steinbauten und breit angelegte Straßen gekennzeichnet ist. Ab etwa 1730 beginnt für die englische Hauptstadt eine Zeit der Prosperität. Vor allem die umliegenden Dörfer von Greater London, die schon bald von der Metropole aufgesogen werden sollen, erfahren einen großen Zuwachs an Einwohnern, und die Stadt entwickelt sich zu einem unstrukturierten Gebilde. Das neue London ist nicht nur flächenmäßig größer als sein mittelalterlicher Vorgänger, sondern auch durch eine Einwohnerzahl von knapp einer Million zur ersten Großstadt Europas geworden.

Die großstädtische Umgebung wird in ihrer nie gekannten Mannigfaltigkeit zu einer völlig neuen Erfahrung für die Bevölkerung, und Samuel Johnsons berühmt gewordene Äußerung "when a man is tired of London, he is tired of life"[9] kann als beispielhafte Wiedergabe der Einstellung vieler seiner Zeitgenossen gesehen werden. Im Zentrum des urbanen Lebens stehen materielle Werte und die Betonung des Individuellen - Gedanken, die von der ständig an Einfluß gewinnenden kaufmännischen Mittelschicht getragen werden und die tradierte mittelalterliche Vorstellung der Stadt als Gemeinschaft ablösen.[10]

Der Roman, der sich seit dem 18. Jahrhundert zur führenden literarischen Form herausbildet, kann als unmittelbare Reaktion auf die städtische Umwelt gesehen werden. Wie Ian Watt feststellt, ist

[...] the world of the novel essentially the world of the modern city; both present a picture of life in which the individual is immersed in private and personal relationships because a larger communion with nature or society is no longer available [...]"[11]

Damit wird eigentlich jedem Roman dieser Zeit eine städtische Thematik unterlegt, und es müssen Abstufungen gemacht werden, inwieweit die Großstadt für die Romanhandlung wichtig ist.

Als Abbild der bürgerlichen Wirklichkeit, die sich ihrerseits in der Hauptstadt konzentriert, besteht die Darstellung Londons überwiegend aus topographischen Angaben und Milieuschilderungen, die aus dem Journalismus hervorgegangen sind. Die Stadt selbst erfüllt über ihre Rolle als setting hinaus nur eine begrenzte Funktion.[12] Später, in Verbindung mit der Form des Bildungsromans, in dem ein unerfahrener junger Mensch aus ländlichen Regionen mit einer ihm fremden urbanen Welt konfrontiert wird, bekommt die Großstadt als wichtige Erfahrung sowohl positiver als auch negativer Art auf dem Lebensweg des Protagonisten eine bedeutendere Rolle in der Romanhandlung.[13]

Obwohl die Darstellung der Stadt hier aber immer noch ziemlich eingeschränkt und vor allem undifferenziert bleibt, kann sie dennoch als wichtige Vorstufe für den realistischen Roman gesehen werden, der sowohl die Milieuschilderung als auch sehr oft die Begegnung des naiven Einzelnen mit der urbanen Welt als festes Inventar aufweist.

2. Die realistische Stadtdarstellung im 19. Jahrhundert

Bedingt durch die Industrielle Revolution zogen seit Mitte des 18. Jahrhunderts immer mehr Menschen in die englische Hauptstadt. Während der Herrschaft von Königin Victoria wächst die Bevölkerungszahl von eineinhalb auf viereinhalb Millionen an, was aus London die größte Stadt der Welt werden läßt[14]. Das schnelle Wachstum der Stadt bringt eine Verschlechterung der Lebensbedingungen mit sich, mit der, wie Uwe Böker zusammenfassend festhält, die "Schwächung sozialer, verwandtschaftlicher, familiärer Beziehungen; Isolation, Abbau traditioneller sozialer Kontrollmechanismen, Verstärkung gesellschaftlicher Gegensätze [...]"[15] einhergehen.

Die hinzu gekommenen sanitären und hygienischen Probleme der Metropole gipfelten schließlich in mehreren großen Choleraepidemien. Die aus diesem Anlaß entstandenen Berichte der Ärzte über die Verhältnisse in den Armenvierteln Londons setzten eine Bestandsaufnahme der Stadt in Gang. Daraus hervorgehende Abhandlungen wie Henry Mayhews London Labour and the London Poor wurden grundlegend für die englischen Sozialwissenschaften, aber auch zu wichtigen Quellen für die literarische Auseinandersetzung mit der Stadt.

Mit dem Erscheinen der Faktensammlungen, Presseberichte und Blaubücher der Regierung und durch den Rückgriff der Schriftsteller auf diese Ausführungen zur Ausgestaltung der Romanwirklichkeit erscheint die fiktionale Stadt realitätsorientierter als je zuvor. Charles Dickens wird zum wichtigsten Autor in bezug auf eine realistische Darstellung Londons; ja man kann sagen, daß er zum Begründer des englischen Stadtromans geworden ist. Sein Romanwerk bestimmte und bestimmt bis in die Gegenwart das Bild des viktorianischen London und wird zum Vorbild für fast jede nachfolgende Stadtdarstellung in englischen Romanen, die den Anspruch auf ein detailgetreues Abbild der äußeren Wirklichkeit erheben. Dabei ist es nicht nur die Faktizität, die Dickens' Stadtbilder auszeichnet, sondern viel eher der Eindruck einer bewußten Erfahrung der Stadt durch das Begehen ihrer Straßen. In seinen Romanen erhält die Stadt erstmals eine handlungsbestimmende Funktion und erscheint als belebte Instanz.

Die moralisch-didaktische Absicht, dem traditionellen Leser der Mittelschicht die Schrecken der Stadt zu präsentieren und ihm zugleich einen Blick in die Vielfalt einer Welt zu gewährleisten, in die er sich selbst nie wagen würde, steht im Mittelpunkt der Romane von Dickens. Die lange üblichen distanzierten Panoramablicke, die vor allem die Lyrik der Romantik bestimmt hatten, erweisen sich als ungenügend, da die Großstadt längst nicht mehr in ihrer unübersichtlich gewordenen Gänze wahrgenommen werden kann. Die Stadt wird in ihrer direkten Erfahrung wiedergegeben, durch die Schilderung des Begehens ihrer Straßen, denn nur so kann ihre Fülle entsprechend dargeboten werden.

Die städtische Umwelt erscheint bei Dickens nun als unabdingbar für das Romanganze, da sie ein vielfältiges Handlungsgeflecht ermöglicht: Nur in der Großstadt ist ein zufälliges Zusammentreffen der unterschiedlichsten Charaktere vorstellbar, deren Geschichten miteinander verwoben und am Ende wieder aufgelöst werden.

Durch die Einführung der Eisenbahn und der Erfahrung der eigenen Mobilität ist während des 19. Jahrhunderts eine tiefgreifende Veränderung der Wahrnehmung belegt worden, die nicht ohne Wirkung auf die Stadtdarstellung in den Romanen von Dickens bleibt. War die fiktionale Stadt bisher durch einen festen Blickwinkel statisch und in einer gewissen Distanz zum Betrachter befindlich, wird sie bei Dickens von einem Eigenleben erfüllt, das unmittelbar auf die Charaktere einwirkt und häufig den Eindruck der Verwirrung bei ihnen auslöst. Ein Wechsel der Perspektiven innerhalb einer Szene[16] und die Belebung der Dingwelt, die den Bauwerken der Stadt menschliches oder organisches Verhalten zuspricht, geben dem London der Dickens-Romane einen bewegten Eindruck. Häuser, die "very grim with one another" sind, schmarotzerhafte Wohnungen,[17] um nur zwei Belege aus Little Dorrit anzuführen, oder auch der berühmte Nebel in Bleak House geben nicht nur den Eindruck der Bewegtheit wieder oder werden symbolisch für herrschende Verhältnisse eingesetzt, sondern schaffen eine Atmosphäre von mysteriöser Eigendynamik und Surrealität der Großstadt.

London erscheint auf diese Weise als komplexes bewegtes Gebilde und trotz großer Realitätsnähe keineswegs völlig erfaßbar. Die Ordnung dieser beweglichen Romanwirklichkeit befindet sich ständig an der Grenze, ins Geheimnisvolle, Unberechenbare abzurutschen, wird aber durch einen sinnstiftenden auktorialen Erzähler nie vollständig destabilisiert.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die durch die Great Depression der frühen siebziger Jahre bestimmt wird, zeigt die Literatur gemäß der realen Situation ein auffallend pessimistisches Bild der Großstadt. In den naturalistischen Romanen mit ihrer uneineingeschränkten Anklage der herrschenden Verhältnisse, wie sie beispielsweise von George Gissing verfaßt wurden, spiegeln sich die verstärkt auftretenden Klassenkonflikte, die sich vertiefende Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft und das zunehmende Gefühl einer sozialen Determiniertheit. London selbst wird, nicht zuletzt durch sein planloses Wachstum, in zunehmendem Maße als undurchdringbare Umgebung empfunden.

Die Stadt wird allerdings nicht nur im naturalistischen Roman, sondern auch in der Populärliteratur, und hier vor allem im Kriminalroman zum bestimmenden Handlungsort. Das düstere East End, realiter gekennzeichnet durch Armut und eine hohe Verbrechensrate und in der Literatur von Dickens mit dem Hauch des Mysteriösen und Unberechenbaren versehen, ist nicht nur in vielen Trivialromanen Schauplatz für kriminelle Aktivitäten, sondern auch in von der Kritik anerkannten Werken wie Robert L. Stevensons Dr Jekyll and Mr Hyde oder Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray.

Nicht nur das Verbrechen, auch dessen Aufklärung, die als Sinnstiftung in einer chaotisch gewordenen Welt verstanden werden kann,[18] wird zum interessanten Aspekt der Kriminalliteratur des späten 19. Jahrhunderts und findet seinen Höhepunkt mit Conan Doyles städtischem Detektiv Sherlock Holmes.

3. Subjektivierung und Fragmentarisierung - die Großstadtdarstellung in der Moderne

Sind Chaos und Undurchdringlichkeit der Großstadt bis dato negativ empfunden und dargestellt worden, werden sie in der Moderne zur Quelle von künstlerischer Inspiration und interessieren insbesondere in ihrer Wirkung auf das menschliche Bewußtsein.

Die Moderne - in der Regel von 1890 bis etwa zum Beginn des zweiten Weltkriegs angesetzt - wird wie keine andere Epoche in ganz Europa mit den Großstädten verbunden gesehen, denen Malcolm Bradbury als "focal points of intellectual community"[19] folgende Merkmale zuweist:

Here [...] are the intensities of cultural friction, and the frontiers of experi­ence; the pressures, the novelties, the debates, the leisure, the money, the rapid change of personnel, the influx of visitors, the noise of many langua­ges, the vivid trade in ideas and styles, the chance of artistic specialization.[20]

Auch London hat sich zu einem literarischen Zentrum entwickelt und wird zur Heimat für zahlreiche Immigranten wie Henry James, Joseph Conrad, später T. S. Eliot und Ezra Pound, die zu führenden Schriftstellern der englischen Moderne wurden. Die Literatur dieser Zeit zeigt sich unter dem Einfluß des mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zunehmenden Zweifels an den bisher gültigen moralischen und religiösen Wertvorstellungen und betont die Entfremdung und Isoliertheit des Individuums, dessen Aktionsraum fast ausschließlich die Großstadt geworden ist.

Da die urbane Welt in ihrer äußeren Erscheinung zu einem vertrauten Bereich geworden ist, verlegen sich die Romanautoren der Moderne auf die Abbildung der subjektiven Wahrnehmung der Stadt, was bisher der Lyrik vorbehalten war. Mit der Verschiebung von der Abbildung der äußeren Wirklichkeit auf das Abbilden des Bewußtseins wird allerdings auch ein Bruch mit den Traditionen des realistischen Erzählens notwendig.

Als bedeutende Anregungen für thematische aber auch erzähltechnische Neuentwicklungen dienen unter anderem die Erkenntnisse von Naturwissenschaftlern wie Darwin oder Huxley, die Schriften von Sigmund Freud und nicht zuletzt neue Massenmedien wie der Film. Während die frühen modernistischen Romane die subjektive Großstadterfahrung mit thematischen Neuerungen ausdrücken, zeigt sich besonders nach den Erfahrungen des ersten Weltkriegs eine Hinwendung zum erzähltechnischen Experiment, aber auch ein tieferer Pessimismus in der Thematik, die mit der Stadtdarstellung in Verbindung gebracht wird.

Entsprechend der bruchstückhaften Wahrnehmung, die der Großstädter durch ständige Reizüberflutung[21] entwickelt hat, wird die Abbildung dieser fragmentiert erfahrenen Wirklichkeit Thema in der Literatur; erzähltechnische Neuerungen werden dabei unumgänglich. James Joyce geht in Ulysses am weitesten in der Entwicklung experimenteller Techniken. Wenngleich dieser Roman bekanntlich in Dublin spielt, ist er zu einem paradigmatischen Großstadtroman der englischen Literatur geworden, der den stream of consciousness und die Montagetechnik zur Wiedergabe einer verinnerlichten bzw. fragmentarisch wahrgenommenen Stadt einführte. Raymond Williams hält über Ulysses fest: "The forces of the action have become internal and in a way there is no longer a city, there is only a man walking through it."[22], und dennoch erscheint diese verinnerlichte Stadtwirklichkeit so detailliert, daß es nach Joyces eigenen Aussagen möglich sein sollte, Dublin nur mit Hilfe seines Romanes nach einer völligen Zerstörung wiederaufzubauen.[23]

Eine ähnliche Vorgehensweise wie Joyce, aber auf die Darstellung Londons angewendet, zeigen die experimentell weitaus gemäßigteren Romane Virginia Woolfs. Am Beispiel von Mrs Dalloway wird deutlich, wie durch die fragmentarische impressionistische Wahrnehmung Londons im Bewußtsein der Protagonistin im Romanganzen ein plastisches Bild der Stadt entsteht.

Im gleichen Jahr wie Ulysses erscheint T. S. Eliots The Waste Land, das ähnlich wie Joyces Roman wegen seines literarischen Einflußes als einziges Gedicht in diesen Überblick aufgenommen wurde. Eliots pessimistisches Stadtbild vereint in sich Elemente der Apokalypse und der Entropie und kombiniert sie mit Bruchstücken aus Mythologie, Kultur, Literatur und Alltagsjargon zur Bestandsaufnahme einer hoffnungslosen Zeit. Die Unterscheidung zwischen Fiktion und dargestellter Wirklichkeit ist durch eine Vielstimmigkeit aus gegeneinandergesetzten Zitaten und Motiven problematisch. The Waste Land scheint darin nahe an der experimentellen Gegenwartsliteratur zu sein, doch der vollständigen Verwischung der ontologischen Ebenen wird von Eliot durch Anmerkungen und Erklärungen der einzelnen Motive entgegengewirkt. Nichtsdestominder ist der Begriff der "unreal city" dieses Werkes zu einem vielzitierten Schlagwort der zeitgenössischen Literatur und Stadtdiskussion geworden, in der die Städte häufig in einem Schwebezustand zwischen Realität und Unwirklichkeit präsentiert bzw. charakterisiert werden.

Wie in The Waste Land deutlich wird, treten in den zwanziger Jahren bedingt durch eine weitverbreitete kulturpessimistische Grundhaltung häufig Weltuntergangskonzepte in Verbindung mit der Großstadtdarstellung auf. Neben das schon zur Konvention gewordene Modell der Apokalypse treten nun weitaus hoffnungslosere Endzeittheorien wie Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes, das den Menschen als "Opfer" der Großstadt und diese selbst als sicheres Symptom für das Ende einer Kultur identifiziert[24], oder das aus der Physik entlehnte Konzept der Entropie[25]. Beide Konzepte schließen gleichermaßen die Möglichkeit eines Neubeginn aus, wie ihn die Apokalypse noch beinhaltete. Daß diese Weltuntergangsmodelle nicht nur in Gedichtform realisiert wurden, wird besonders in Aldous Huxleys Point Counter Point belegt, einem Roman, in dem das Bild einer degenerierten städtischen Gesellschaft entworfen wird und dessen Charaktere unterschiedliche Weltuntergangsmodelle vertreten.

Wie der Überblick deutlich macht, befindet sich die Großstadtdarstellung seit dem 18. Jahrhundert in einer ständigen Weiterentwicklung, die vom distanzierten Beobachten zum unmittelbaren Involviertsein in das großstädtische Leben führte, von der statischen Stadt zur bewegten und von der Abbildung der äußeren Stadtwirklichkeit zur Bewußtseinsmimesis der Moderne. Die Einflüsse von außen erwiesen sich dabei immer wieder als wichtige Kriterien, die Änderungen in der literarischen Annäherung an die Großstadt bewirkten.

Nach dem zweiten Weltkrieg ändert sich das äußere Stadtbild Londons und vieler anderer europäischer Großstädte durch Wiederaufbaumaßnahmen, doch auch durch die Entwicklung neuer Technologien ist ein Wandel im Bewußtsein der Städter und vor allem in ihrer Wahrnehmung der Großstadt feststellbar, mit denen sich die Sozialwissenschaften der Gegenwart auseinandersetzen. Bevor die Auswirkungen der neuen Stadterfahrung auf die zeitgenössische englische Literatur betrachtet werden, empfiehlt es sich daher, einen Blick auf die neueren Stadttheorien zu werfen. London soll dabei einstweilen weitgehend ausgeklammert bleiben, da zunächst einige allgemeine Aussagen zur zeitgenössischen Stadt und ihrer fiktionalen Entsprechung einen Rahmen und eine Vergleichsmöglichkeit für die entsprechenden Verhältnisse in der britischen Hauptstadt schaffen sollen.

III. Das Zeitgenössische Bild der Stadt

1. Die Gestalt der heutigen Großstadt

Lange Zeit galt die äußere Gestalt als wesentliches Merkmal zum Erkennen einer Stadt. Von einer festen Mauer umgeben, grenzte sie sich in ihren frühen Formen vom freien Land ab, und obgleich die neuzeitlichen Städte durch Trennungen in Arbeits- und Wohngegenden die Entstehung der suburbanen Gegenden schon recht früh kennenlernten, erscheint das Stadtgebiet, jedenfalls aus heutiger Perspektive, als ein überschaubarer oder zumindest erkennbarer Bereich. Die Metaphorik, mit der die Stadt im 18. und 19. Jahrhundert bedacht worden ist, zeigt allerdings bereits zu dieser Zeit die Befürchtungen einer Gestaltlosigkeit durch unkontrolliertes Wachstum, wie unter anderem das Bild des "great wen" beweist, das der englische Politiker James Cobbett für London geprägt hatte.[26]

Mittlerweile sind die Städte in gewisser Hinsicht tatsächlich gestaltlos geworden, da durch ihre Ausdehnung Grenzen nicht mehr klar zu definieren sind. Als Grund dafür wird eine weit angelegte Suburbanisierung genannt, die sich auf immer entferntere umliegende Regionen erstreckt und nicht auf stadtnahe Gebiete beschränkt bleibt. Dazu kommt die Verlagerung der Wirtschaft von Güter- zu Informationsverarbeitung, die sich an den Stadträndern konzentriert und die Zentren der Großstädte mehr und mehr entleert hat. Durch die Ausweitung und Verbreitung der Informationstechnologie, die urbane Verhaltensmuster beispielsweise via Bildschirm in die entlegensten Dörfer trägt, und immer schnellere Verkehrsmittel, die die Stadt und entfernteste ländliche Regionen eng zusammenrücken lassen, ist eine urbane Bevölkerung entstanden, die eigentlich auch ohne die Stadt existieren kann.[27] Der städtische Charakter definiert sich demnach nicht länger über räumliche Nähe, sondern über die "accessibility"[28]. Das von Melvin Webber definierte "nonplace urban realm"[29], die dezentralisierte Stadt, das urbane Feld oder die "Megalopolis" gehören neben unzähligen anderen Begriffen zur neuen Terminologie der Sozialwissenschaften, die die zeitgenössische Raumwirkung der Stadt beschreiben.

2. Das Leben in der zeitgenössischen Großstadt

Natürlich besteht die Großstadt der Gegenwart nicht nur aus ihrem äußeren Bild, und es soll daher ein kurzer Blick auf das Leben der urbanen Bevölkerung und ihre Wahrnehmung der Umwelt geworfen werden.

Seit der Jahrhundertwende befaßt sich die Stadtdiskussion mit der Großstadt als Auslöser für nervöse Leiden. Auch in Georg Simmels 1903 erschienenem Aufsatz "Die Großstadt und das Geistesleben" wird die "Steigerung des Nervenlebens" angeführt. Hier gilt sie allerdings als erste Quelle zur Herausbildung der "Verstandesmäßigkeit", die als "Präservativ des subjektiven Lebens gegen die Vergewaltigungen der Großstadt"[30] wirkt. Der Großstädter entwickelt demnach eine fragmentierte, intellektbestimmte Wahrnehmung seiner Umwelt, um sich vor den ständig auf ihn einwirkenden Impressionen zu schützen. Als Begleiterscheinung davon stellt Simmel eine indifferente, reservierte Haltung im Umgang mit den Mitmenschen fest,[31] die oft als Arroganz interpretiert wird, aber im Grunde Ausdruck eines Selbstschutzmechanismus ist, ohne den der Einzelne in der städtischen Umwelt durch die nervöse Belastung überfordert wäre.

In den Großstädten der Gegenwart ist die Reizüberflutung durch eine aus Massenmedien und Informationstechnologie konstituierte Wirklichkeit stärker als je zuvor, zudem ist eine gesteigerte Suche nach weiteren Reizen und Sensationen feststellbar, wie ein Blick auf die Freizeitangebot im heutigen Stadtleben beweist, das mittlerweile von Virtual-Reality-Präsentationen bis hin zu Sado-Maso-Parties reicht. Es verwundert nicht weiter, daß auch aktuellere Untersuchungen die Gültigkeit der Thesen Simmels für das zeitgenössische Stadtleben bestätigen. Ein Beispiel dafür ist Stanley Milgrams sozialpsychologische empirische Betrachtung des Großstadtlebens, die zwar aus den siebziger Jahren stammt, aber immer noch als repräsentativ gelten kann. Als zentralen Begriff führt Milgram die "Überbelastung" des Großstädters durch ständigen "Input" ein, durch den es zu "Adaptionen" kommt. Letztere sind verantwortlich dafür, was und wieviel wahrgenommen wird und bestimmen Entscheidungen für bestimmte Verhaltensweisen. In der Regel - so Milgram - werden dabei die Ansprüche anderer ausgeblendet, wenn sie nicht wesentlich für die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse sind.[32]

Die eingeschränkte Wahrnehmung der Umgebung und der Mitmenschen bewirkt aber auch ein wachsendes Bedürfnis des Einzelnen, sich in Szene zu setzen, um sich von den anderen abzuheben, aber auch, um bei ihnen einen Eindruck, wenngleich einen flüchtigen, zu hinterlassen; eine Tatsache, die ebenfalls von Simmel festgehalten wurde und die in einer großstädtischen Wirklichkeit, die mit Begriffen wie "Inszenierung" und "Schauplatz" beschrieben wird, mehr Bedeutung bekommen hat denn je zuvor.

3. Von der lesbaren Stadt zur opaken Zeichenstätte

Besonders auffällig und interessant im Hinblick auf die traditionsreiche Verbindung von Stadt und Literatur sind die Bezüge, die im neueren Stadtdiskurs zwischen urbaner Welt und Text gefunden werden. Dieser Vergleiche bedient sich die Urbanistik, mehr noch allerdings die Semiotik in ihren Betrachtungen zur Stadt.

Zu einem beliebten Terminus war das "Lesen der Stadt" schon im 19. Jahrhundert geworden, wie Ludwig Börnes Metapher vom "Lesen in der Stadt wie in einem aufgeschlagenen Buch"[33] zeigt. Ein Bild, das auf eine leicht durchschaubare Struktur der Stadt schließen läßt, die aber gerade in der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit der urbanen Welt in Frage gestellt wird, wie auch schon im Kapitel, das sich mit der Gestalt der Stadt befaßte, zu sehen war. In der heutigen Stadt ist die Lesbarkeit im traditionellen Sinne erheblich problematisiert, die Kevin Lynch in seinem 1960 erschienen Buch The Image of the City als wichtigstes Merkmal der Stadt fordert:

Just as this printed page, if it is legible, can be visually grasped as a related pattern of recognizable symbols, so a legible city would be one whose districts or landmarks or pathways are easily identifiable and are easily grouped into an over-all pattern.[34]

Das Einteilen der Stadt in erkennbare Muster erscheint nicht nur durch ihre Dezentralisierung unmöglich, sondern auch durch die Vielschichtigkeit der Stadt wegen des Zusammenwirkens von Gegenwart und Vergangenheit, die im neueren Großstadtdiskurs bewußt gemacht wird. Wie es bei Sharpe heißt, gilt die Stadt als "[...] a compound of succeeding layers of building or "writing", where previous strata of cultural coding underlie the present surface, and each waits to be uncovered and 'read'."[35] Im Zusammenhang damit taucht der Begriff des Palimpsests als Metapher für eine neue Lesart der Stadt in der Urbanistik auf. Gleich diesem ist die Stadt ein mehrlagiges Gebilde, unter deren momentaner Erscheinungsform die Spuren der Vergangenheit bestehen bleiben und Bauwerke der Gegenwart neben denen anderer Epochen Zeugnis einer gelebten Geschichte geben und eine lineare Lektüre im Text der Stadt erschweren.

Besonders die Semiotik brachte die Zeichenhaftigkeit des städtischen Lebens in die Diskussion über die Lesbarkeit der Stadt. Waren die traditionellen Städte um einen erkennbaren Mittelpunkt zentriert, zeigt das heutige Stadtbild eine Menge von Bezugspunkten, die gleichermaßen einen Anspruch als städtischer Mittelpunkt geltend machen können. Gab es damals Plätze und Gebäude wie Geschäftsviertel oder Kirchen, die für jedermann in ihrer Bedeutung klar definiert waren, so sind an deren Stelle Bauwerke getreten, die einem unbedarften Betrachter nichts mehr von ihren Funktionen preisgeben, was zu einem erhöhten Bedarf an Zeichen geführt hat. Straßennamen und Geschäftsschilder gehören neben Denkmälern und Bauwerken sowie den flüchtigen Belegen des Stadtlebens wie Plakate und Aushänge zu den Zeichen, die in der Absicht gesetzt worden sind, der Orientierung, dem Bewußtmachen der Geschichte oder dem Hinweis auf Aktuelles zu dienen. Dazu kommt eine Vielzahl von Zeichen, die ohne kommunikative Absicht entstanden sind, wie bestimmte Bauwerke, die als Wahrzeichen der Stadt für ihre Gesamtheit einstehen.[36]

In der gegenwärtigen Situation der Stadt ist nun ein "Ende" dieser Zeichenwelt festgestellt worden, das vor allem auf die "neuen, die unmittelbare Anschauung wie auch die traditionellen Symbolisierungen unterbrechenden Techniken der Information, Reproduktion und der multimedialen Vermittlung"[37] zurückzuführen ist. Durch den Einfluß der Informationstechnologie und der Medien entstehen nur mehr Nachbildungen von bereits vorhandenen Zeichen der Stadt. Auf diese Weise entsteht der Eindruck einer verdoppelten Wirklichkeit, die sich ihrerseits als von Medien und Fiktionen bestimmt zu erkennen gibt.

[...]


[1] Die Bibel. Offenbarung 17,5 und 21.

[2] Volker Klotz, Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin. München 1969.

[3] Klaus R. Scherpe, "Nonstop nach Nowhere City?" In: ders. (Hrsg.), Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne. Hamburg 1988. S. 129.

[4] Blanche Gelfant, The American City Novel. Norman 1954. S. 11.

[5] Diane Wolfe Levy, "City Signs: Towards a Definition of Urban Literature" in: Modern Fiction Studies 24. 1978. S. 66.

[6] Michael Breuner, Hunger for Place. Studien zur Raumdarstellung im London-Roman seit 1940. Frankfurt/M. 1991. Breuner behandelt sieben Romane von Graham Greene, Eizabeth Bowen, Colin MacInnes, Iris Murdoch, Iain Sinclair, Michael Moorcock und Peter Ackroyd, wobei er die Raumerfahrung in den jeweiligen Texten unter den Aspekten Krieg, Jugend in der Stadt und Abbildung einer zeitgenössischen Stadterfahrung untersucht.

[7] Christine W. Sizemore, A Female Vision of the City. Knoxville 1989.

[8] Hierzu ist besonders die London-Darstellung der Romantiker anzuführen, wobei Blakes "London", Wordsworths "Sonnett Composed Upon Westminster Bridge" und das siebte Buch seines autobiographischen Epos The Prelude hervorzuheben sind. Zum Kennzeichen der romantischen Lyrik wurde der distanzierte Panoramablick, der dem lyrischen Ich aus sicherer Entfernung eine Übersicht über das als schlecht und verderbt empfundene Stadtgeschehen gewährt. Weitergeführt wurde die Stadtlyrik vor allem von den Poeten der Decadence, die unter dem Einfluß von Baudelaire die negativen Seiten der Großstadt als Anregung für ihre Lyrik nutzten.

[9] in: James Boswell, The Life of Samuel Johnson, Ll.D.. (1791) zitiert nach Burton Pike, The Image of the City in Modern Literature. Princeton 1981. S. 7.

[10] Zur London-Literatur und der äußeren Situation der Stadt im 18. Jahrhundert s.v.a.: Ian Watt, The Rise of the Novel. (1957) London 1993 und auch Max Byrd, London Transformed. Images of the City in the Eighteenth Century. New Haven 1978.

[11] Watt, S. 185.

[12] Hierzu zählt beispielweise Daniel Defoes Moll Flanders, in dem London durch unzählige topographische Angaben ein erkennbarer Handlungsort ist und zahlreiche Milieuschilderungen Rückschlüsse auf die Londoner Gesellschaft des frühen 18. Jahrhunderts erlauben.

[13] Romane dieser Art sind unter anderem Henry Fieldings Tom Jones oder Tobias Smolletts Humphrey Clinker. Aber auch Richardsons Clarissa zeigt diese Thematik, denn wie Watt feststellt, ist nicht zuletzt die Stadt mit ihren verderbten Sitten und Gebräuchen der Grund für Clarissas Scheitern. (Watt, S. 182).

[14] Das Wachstum Londons sowie das Entstehen vieler neuer großer Städte in ganz Großbritannien hat die Stadt des 19. Jahrhunderts zu einem beliebten Untersuchungsgegenstand gemacht. Eine der umfassendsten Darstellungen gibt H. J. Dyos/Michael Wolff (Hrsgg.), The Victorian City. Images and Realities. Harmondsworth 1979. Dieses zweibändige Werk beschäftigt sich, wie der Titel schon sagt, sowohl mit faktischen Gegebenheiten als auch mit künstlerischen Annäherungen an die Städte im viktorianischen England.

[15] Uwe Böker, "Von Wordsworths schlummerndem London bis zum Abgrund der Jahrhundertwende. Die Stadt in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts" in C. Meckseper/E. Schraut (Hrsgg.), Die Stadt in der Literatur. Göttingen 1983. S. 29.

[16] Eine interessante Belegstelle hierfür findet sich in Martin Chuzzlewit, wo durch einen Panoramablick, der eine bewegte Stadtwirklichkeit wiedergibt, ein verwirrender Eindruck entsteht: After the first glance, there were slight features in the midst of this crowd of objects, which sprung out from the mass without any reason. [...] Thus, the revolving chimney-pots on one great stack of buildings, seemed to be turning gravely to each other every now and then. [...] Yet even while the looker on [...] wondered how it was, the tumult swelled into a roar; the hosts of objects seemed to thicken and expand a hundredfold; and after gazing round him, quite scared, he turned into Todger's again, much more rapidly han he came out. In: Charles Dickens, Martin Chuzzlewit (1843/44), London 1911. S.162.

[17] Charles Dickens, Little Dorrit (1855-57). London 1961. S. 237 und S. 312.

[18] Vgl. Böker, S. 42ff.

[19] Malcolm Bradbury, "The Cities of Modernism" in: ders., James McFarlane (Hrsgg.), Modernism. Harmondsworth 197. S. 97.

[20] Ebda., S. 97.

[21] Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung aus dem frühen 20. Jahrhundert, nämlich Georg Simmels Aufsatz "Die Großstadt und das Geistesleben" von 1913, befaßt sich mit diesem Phänomen. Simmel zufolge ist der Großstadtmensch dadurch gekennzeichnet, daß er einem raschen Wechsel innerer und äußerer Eindrücke ausgesetzt ist. Er entwickelt, da er nicht alle dieser Eindrücke verarbeiten kann, nur ein fragmentarisches Bild der Umwelt. (s. dazu auch Anmerkung 30 dieser Arbeit).

[22] Raymond Williams, The Country and the City. S. 243.

[23] Vgl. Michael Long, "Eliot, Pound, Joyce: Unreal City?" In: Edward Timms/D. Kelley, Unreal City. Manchester 1985. S. 146.

[24] Der Steinkoloß "Weltstadt" steht am Ende des Lebenslaufes jeder großen Kultur. Der vom Lande seelisch gestaltete Kulturmensch wird von seiner eigenen Schöpfung, der Stadt, in Besitz genommen, besessen, zu ihrem Geschöpf, ihrem ausführenden Organ, endlich zu ihrem Opfer gemacht. (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. (1923) zitiert nach Norbert Bolz, "Theologie der Großstadt" in: Tilo Schabert, Die Welt der Stadt. München 1990. S. 80.).

[25] Zur Verwendung der Weltuntergangsthematik in der Literatur allgemein s.a. G. Grimm et al. (Hrsgg.), Apokalypse. Weltuntergangsvisionen in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1986.

Das Konzept der Entropie stammt eigentlich aus der Thermodynamik und besagt, daß durch die Tendenz zum Temperaturausgleich in einem geschlossenen System alle Bewegung aufhört, eine Theorie, die von von zahlreichen Wissenschaftlern auf das Universum ausgedehnt wurde und somit zur wissenschaftlichen Prognose für den Weltuntergang herangezogen wurde. Der amerikanische Kulturpessimist Henry Adams übertrug das Konzept in The Education of Henry Adams (1907) auf die menschliche Gesellschaft, die er durch eine immer größere Produktion von Energie, die von einer verstärkten Emission von Ideen herrührt, letztendlich vom finalen Stillstand bedroht sieht.

[26] Vgl. Williams, S. 146.

[27] Vgl. dazu auch: William Sharpe/Leonard Wallock, "From 'Great Town' to 'Nonplace Urban Realm': Reading the Modern City" in: dies. (Hrsgg.), Visions of the Modern City. Essays in History, Art and Literature. Baltimore 1987. S. 1-50; und auch Peter Hall, "Gibt es sie noch - die Stadt?" in: Tilo Schabert (Hrsg.), Die Welt der Stadt. München 1990. S. 17-43.

[28] Sharpe/Wallock, S. 29.

[29] Ebda., S. 29: Each realm consists of "heterogenous groups communicating with each other through space" the extent of each realm is "ambiguous, shifting instantaneously as participants in the realm's many interest communities make new contacts [...]". Die Zitate wurden von Sharpe/Wallock übernommen und gehen zurück auf: Melvin M. Webber, Explorations in Urban Structure. Philadelphia 1964. S. 116ff.

[30] Georg Simmel, "Die Großstadt und das Geistesleben" (1903) in: Das Individuum und die Freiheit. Berlin 1984. S. 192-204. S.192.

[31] Ebda.

[32] Stanley Milgram, "Das Erleben der Großstadt. Eine psychologische Analyse" in: Zeitschrift für Sozialpsychologie 1.2. 1970. S. 142-152.

[33] zitiert nach Scherpe (1988), S. 145.

[34] Kevin Lynch, The Image of the City (1960), Boston 71970. S. 2.

[35] Sharpe/Wallock, S. 9.

[36] Vgl. v. a. Stierle, Der Mythos von Paris. München 1993. S. 40ff.

[37] Scherpe (1988), S. 135.

Ende der Leseprobe aus 104 Seiten

Details

Titel
Die Großstadt im zeitgenössischen englischen Roman - am Beispiel London
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Institut für Englische Philologie)
Note
1
Autor
Jahr
1994
Seiten
104
Katalognummer
V11821
ISBN (eBook)
9783638178761
Dateigröße
647 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Großstadt, Roman, Beispiel, London
Arbeit zitieren
Daniela Krommer (Autor:in), 1994, Die Großstadt im zeitgenössischen englischen Roman - am Beispiel London, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/11821

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