Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Hilfen zur Erziehung
2.1. Kinder- und Jugendhilfe
2.2. Stationäre Heimerziehung
2.3. Pädagogisches Fachpersonal in der stationären Heimerziehung
2.4. Hintergründe einer stationären Unterbringung
3. Trauma und Traumatisierung
3.1. Traumapädagogik
3.2. Traumatisierte Kinder und Jugendliche in der stationären Heimerziehung
3.3. Sekundäre Traumatisierung
3.4. Der sichere Ort - stationäre Heimerziehung und Traumapädagogik
4. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
Die Ursprünge der Kinder- und Jugendhilfe können bis ins 11. Jahrhundert verfolgt werden. In damaligen Findel- und Waisenhäusern wurden hilfsbedürftige Kinder besonders streng erzogen (vgl. Knab 2014: 21). Obwohl im 17. Jahrhundert die ersten Zusammenhänge zwischen Auffälligkeiten der Kinder und Jugendlichen und deren sozialem Umfeld gesehen wurden, wurden diese als billige, profitbringende Arbeitskräfte ausgenutzt (vgl. ebd. 22). Johann Heinrich Pestalozzi prägte die Heimerziehung ab dem 19. Jahrhundert entscheidend, da er eine positive „Beziehungsentwicklung als Grundlage für ein durch Gewöhnung zu trainierendes positives Sozialverhalten“ (ebd.) in einer familienorientierten Erziehung in den Heimen förderte.
Die ersten Gesetze bzgl. der Heimerziehung wurden 1871 im Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) festgehalten, darunter auch die sogenannten Zwangserziehungsgesetze. Durch das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) von 1921 wurde der Erziehungsgedanke wieder stärker verankert und weiterentwickelt (ebd. 23). Jedoch wurde die pädagogische und politische Entwicklung der Heimerziehung durch die Hitlerdiktatur von 1933 bis 1945 zunichte gemacht. Die Heimerziehung wurde im Sinne einer nationalsozialistischen Erziehung ausgeführt (vgl. ebd. 24 f.). „Jugendkonzentrationslager (…) wurden (…) errichtet, um ‚widerständige, schwer erziehbare und arbeitsscheue‘ Kinder und Jugendliche zu internieren“ (ebd. 26). Nach Ende des Zweiten Weltkriegs strukturierte sich die Kinder- und Jugendhilfe von Grund auf neu. Trotzdem wurden Kinder und Jugendliche in Heimen durch Züchtigung und Arbeitszwang diszipliniert, zusätzlich zu ihren traumatischen Erlebnissen (vgl. Kuhlmann 2014: 27 f.). Mit Beginn der 1960er Jahre entwickelte sich die Heimerziehung langsam in eine positive Richtung. Das Jugendwohlfahrtsgesetz verlangte eine Professionalisierung in den Heimen, die „menschenunwürdigen Zustände“ wurden offen kritisiert und die Jugendämter vertraten mehr und mehr die Interessen der Minderjährigen, statt an einer Kontrollfunktion festzuhalten (vgl. ebd. 28 f.). „Werte wie ‚Gehorsam‘ verloren an Bedeutung, Selbstverantwortlichkeit und Demokratie wurden neue Erziehungsziele“ (ebd. 29). Die Heimerziehung orientierte sich immer mehr an der Lebenswelt der jungen Menschen und entwickelte neue Erziehungskonzepte. Rechtlich wurde 1991 das auch heute noch gültige Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) eingeführt. Viele neue pädagogische Konzepte etablierten sich und Ansätze aus anderen Ländern wie den USA oder den Niederlanden wurden mit einbezogen (vgl. ebd. 29 ff.).
Trotzdem scheint die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen vor ihrer Unterbringung in einer stationären Einrichtung der Jugendhilfe wenig berücksichtigt zu werden. Zwar ist klar, welche Erlebnisse und Erfahrungen diese jungen Menschen vor ihrer Unterbringung erfahren mussten, jedoch scheint wenig hinterfragt zu werden, welche Auswirkungen diese traumatischen Erfahrungen bei den Klient_innen der Kinder- und Jugendhilfe hinterlassen. Kinder und Jugendliche werden mit diversen ‚Verhaltensauffälligkeiten‘ von ihrer Familie getrennt und in familienersetzenden Einrichtungen der Jugendhilfe untergebracht.
Traumatisierte Kinder und Jugendliche können und werden sich somit praktisch in jeder Wohngruppe der stationären Jugendhilfe und in vielen anderen Bereichen der Jugendhilfe befinden, weshalb man die Frage stellen könnte, ob nicht zwangsläufig Traumapädagogik in der stationären Jugendhilfe stattfinden muss (Schmid et al. 2007: 333).
Denn das Verhalten, welches diese jungen Menschen dort zeigen, kann durch das pädagogische Fachpersonal nicht immer aufgefangen oder verstanden werden. Traumatische Rückblenden (Flashbacks) zeigen sich häufig durch unterschiedlich geprägte Verhaltensmuster. Es stellt sich somit die Frage, ob nicht Traumapädagogik gerade in der stationären Kinder- und Jugendhilfe ein grundlegendes Kriterium in der Arbeit mit meist schwer traumatisierten jungen Menschen sein sollte.
Die vorliegende Hausarbeit beschreibt zunächst vertiefend die aktuellen Hilfen zur Erziehung und deren Grundlagen, um dann darauf aufbauend Trauma, Traumatisierung und Traumapädagogik in den Kontext zu bringen. Abschließend soll kritisch Stellung bezogen werden, ob die Traumapädagogik in der stationären Jugendhilfe etabliert werden sollte.
2. Hilfen zur Erziehung
Die Hilfen zur Erziehung sind gesetzlich im Sozialgesetzbuch Acht (SGB VIII), Zweites Kapitel, Vierter Abschnitt: Hilfe zur Erziehung, Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, Hilfe für junge Volljährige festgelegt (vgl. §27-41 SGB VIII). „Sie bieten jungen Menschen und deren Familien Unterstützung bei einem breiten Spektrum an familiären Problemen und Schwierigkeiten im Kindes- und Jugendalter“ (Mühlmann et al. 2019: 63). Hierbei können zu Beginn einer Hilfemaßnahme familienunterstützende Angebote aufgegriffen werden, wie auch längerfristige Unterbringungen in stationären Wohngruppen außerhalb der Herkunftsfamilie folgen (vgl. ebd.). In den Handlungsfeldern der Hilfen zur Erziehung werden i.d.R. sozialpädagogisch ausgebildete Fachkräfte eingesetzt. Dabei „(verfügt) etwa jede/-r dritte Beschäftigte (37,7%) (…) über eine fachlich einschlägige akademische Ausbildung, also mindestens einen Bachelorabschluss einer Hochschule in einem (sozial-)pädagogischen Fach“ (ebd.: 79). In Deutschland sind knapp 253000 Menschen als pädagogisches Personal in Einrichtungen der Kinder und Jugendhilfe (ohne Tageseinrichtungen für Kinder) tätig. Dabei sprechen wir von insgesamt 37150 Einrichtungen verteilt auf die deutschen Bundesländer (vgl. Statistisches Bundesamt 2021a). Mitarbeiter_innen in stationären Jugendhilfeeinrichtungen betreuen Kinder und Jugendliche, die zum Teil durch schwerste traumatische Lebenserfahrungen belastet sind (vgl. Schmid et al. 2007: 332).
2.1. Kinder- und Jugendhilfe
Die Kinder- und Jugendhilfe wird als „ein komplexes Feld sozialer Leistungen zur Förderung der Entwicklung junger Menschen umschrieben“ (Faltermeier/Wiesner 2017: 494). Dabei umfasst sie „ein breites Spektrum von Aufgaben zur allgemeinen Förderung junger Menschen und Familien sowie von Hilfen in besonderen Lebenslagen und Erziehungssituationen“ (ebd.). Gesetzlich verankert ist die Kinder- und Jugendhilfe ebenfalls im Achten Buch des Sozialgesetzes (SGB VIII). Hier heißt es, dass „jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit (hat)“ (§1 Abs.1 SGB VIII). Entsprechend soll das SGB VIII zur Vorbeugung, zur Hilfestellung und zum Schutz von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen dienen (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2020: 7). Jugendämter werden zur Hilfe verpflichtet und sollen Sorgeberechtigte, Mütter und Väter dabei unterstützen, zum Wohle ihrer Kinder zu handeln (vgl. ebd.). Das SGB VIII soll „Kindern und Jugendlichen Recht und Stimme verschaffen“ (ebd.) indem in §1 Abs. 3 benannt wird, dass:
Jugendhilfe zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere
1. Junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen,
2. Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen,
3. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen,
4. Dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen (soll) (§1 Abs. 3 SGB VIII).
Hierbei gibt es die Möglichkeiten von ambulanten bzw. familienunterstützenden Hilfen zur Erziehung in Form von Beratungsangeboten, Sozialpädagogischen Familienhilfen, Sozialer Gruppenarbeit oder Erziehungsbeiständen. Sollte das innerfamiliäre Spannungsfeld aber bereits soweit ausgereizt sein, dass diese Angebote nicht mehr greifen, können familienergänzende Hilfen in Betracht gezogen werden. Hiermit sind gemeinsame Wohnformen für Mütter/Väter und Kinder, Tagesgruppen oder sozialpädagogische Tagesgruppen gemeint. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit von familienersetzenden/ergänzenden Hilfen in Form von Vollzeitpflege (§33 SGB VIII), Heimerziehung/sonstige betreute Wohnform (§34 SGB VIII) oder intensive, sozialpädagogische Einzelbetreuung (§35 SGB VIII). Diese stationären Hilfen greifen im Vergleich zu den teilstationären und ambulanten Erziehungshilfen massiv in das Leben der Betroffenen ein, da die Kinder und Jugendlichen in einem solchen Setting außerfamiliär über Tag und Nacht betreut werden (vgl. Trede 2014: 24). „Die Einleitung einer stationären Jugendhilfemaßnahme setzt in der Regel voraus, dass die Familiensituation derart belastet ist, dass eine ausreichend gute Förderung des Kindes auch mit ambulanten Hilfen nicht mehr erreicht werden kann“ (Schmid 2010: 113). Trotzdem soll laut Gesetz als ein vordergründiges Ziel die Rückführung in die Herkunftsfamilie versucht werden zu erreichen (vgl. §34 Satz 2 Nr. 1 SGB VIII).
2.2. Stationäre Heimerziehung
„Der Begriff der stationären Hilfe zur Erziehung beschreibt die Unterbringung eines Kindes oder Jugendlichen in einer Vollzeitpflege, einer Heimeinrichtung oder in einer sonstigen betreuten Wohnform“ (Schumacher 2016: 16). Grundsätzlich müssen zunächst alle Hilfen zur Erziehung, die geeignet und notwendig sind, ausgeschöpft werden (vgl. Otto et al. 2018: 1356), ehe eine stationäre Heimunterbringung in Frage kommt. Hierbei können im Vorfeld auch mehrere ambulante Hilfeformen gekoppelt werden, denn „die Hilfe (muss) für den spezifischen Einzelfall ‚nach Maß‘ des individuellen erzieherischen Bedarfs passen“ (ebd.). Kinder und Jugendliche, die in einem heute häufig umgangssprachlich genannten „Kinderheim“ untergebracht werden, können i.d.R. nicht mehr in ihrer Herkunftsfamilie leben, da sie dort zu viele negative Erfahrungen wie Misshandlungen, Vernachlässigungen, körperlich und/oder emotionale Konflikte oder die Überforderung eines Elternteils durchleben mussten (vgl. Schumacher 2016: 20). Sie „weisen Untersuchungen zufolge so viele kinder- und jugendpsychiatrische Störungen und Problemlagen auf wie nur zwei Prozent der Kinder aus der Allgemeinbevölkerung“ (Gahleitner 2013: 47). Entsprechend soll ihr neues „Zuhause auf Zeit“ für die vorbelasteten Kinder und Jugendlichen ein geschützter und sicherer Ort sein, in welchem sie leben und ihren Alltag verbringen dürfen. Es sollte ein Ort sein, an dem entwicklungsförderliche Strukturen geschaffen werden. Die Kinder und Jugendlichen sollen sich möglichst sicher und geborgen fühlen. U.a. ist die Heimerziehung diesbezüglich im §34 SGB VIII klar definiert und besagt, dass Kinder und Jugendliche durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung gefördert werden sollen. Eine Rückkehr in die Familie soll zu erreichen versucht werden oder die Kinder und Jugendlichen sollen auf eine Erziehung in einer anderen Familie vorbereitet werden. Perspektivisch können die Kinder und Jugendlichen auch auf ein selbständiges Leben vorbereitet werden (vgl. §34 SGB VIII). Somit gilt der Bereich der Heimerziehung vordergründig der Stabilisierung und Unterstützung der Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen. Weiterführend wird jedoch auch eine Verbesserung der erzieherischen Grundvoraussetzungen der Herkunftsfamilie angestrebt (Schumacher 2016: 17).
Die Unterbringung eines Kindes/Jugendlichen in einer stationären Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe und der damit verbundene Hilfeplanprozess, soll das vertraute Zuhause des Kindes/Jugendlichen für einen definierten Zeitraum ersetzen. Die dort angestellten sozialpädagogischen Fachkräfte, die i.d.R. im Schichtdienst arbeiten, werden zu den Erwachsenen, die die Erziehung übernehmen müssen. Sie werden somit unwillkürlich zu Bezugs- oder sogar Bindungspersonen der Kinder und Jugendlichen. Trotz alledem sollte im gesamten Hilfeplanprozess „eine intensive und wertschätzende Elternarbeit angestrebt (werden), die im Alltag der Jugendlichen kontinuierlich umgesetzt werden soll“ (Schumacher 2016: 22).
2.3. Pädagogisches Fachpersonal in der stationären Heimerziehung
Die Kinder und Jugendlichen, die stationär untergebracht werden, sollten diesen Ort an dem sie leben und ihren Alltag verbringen, als geschützten, sicheren und geborgenen Raum erkennen, an dem pädagogisch unterstützend und kooperierend zusammengearbeitet wird. Die Kinder und Jugendlichen sollten durch die vom Fachpersonal geschaffenen Strukturen in ihrer Entwicklung gefördert werden. Entsprechend (sind,) aufgrund der häufig schwierigen Situationen und Lebenslagen, aus denen die Jugendlichen in eine Heimeinrichtung kommen, die fachlichen Anforderungen an die pädagogischen Mitarbeiterinnen [sic!] häufig sehr hoch (Schumacher 2016: 24).
Auch die Beschäftigung von Personen mit fachlicher und persönlicher Eignung in einer erlaubnispflichtigen stationären Einrichtung ist gesetzlich mit den §§ 45 ff SGB VIII verankert (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter 2017: 2ff.). Unter welchen Voraussetzungen Fachpersonal eingesetzt wird, muss mit den jeweiligen Konzeptionen der Einrichtungen abgestimmt werden (vgl. ebd. 4). „Im Bereich der Hilfen zur Erziehung und insbesondere der Heimerziehung ist jedoch regelhaft eine pädagogische Ausbildung auf Fachschul- und Fachhochschulniveau vorauszusetzen“ (ebd.). Da sich die Gesellschaft stetig entwickelt, „verändern und erweitern sich die Aufgaben der Fachkräfte und damit auch die an sie gestellten Anforderungen“ (ebd. 6) ebenso. Und auch „wissenschaftliche Erkenntnisse (fordern) nach angepassten Interventionsformen und Hilfen“ (ebd.) wie zum Beispiel „[…] Erkenntnisse der Bindungs- und Traumaforschung sowie der Neurowissenschaften“ (ebd.). Laut Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter sollten pädagogische Fachkräfte klare Haltungen, differenzierte Wissensbestände und die Fähigkeit zum fachlichen Handeln besitzen (vgl. ebd. 7). Neben der ständigen Reflexion sollen Fach-, Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenz vor allem durch die Ausbildungs- und Einrichtungsträger vermittelt werden (vgl. ebd. 8), denn „Kompetenzen werden durch Wissen fundiert, durch Werte konstituiert, als Fähigkeit disponiert, durch Erfahrung konsolidiert und auf Grund von Willen realisiert“ (Spiegel 2004: 254). Trotzdem scheint es so,
[…], dass viele sozialpädagogische Fachkräfte nicht ausreichend auf die emotionalen Belastungen und heftigen Gegenübertragungsgefühle sowie auf den Umgang mit persönlichen Grenzverletzungen in ihrem Berufsfeld vorbereitet werden (Schmid, Grieb & Kölch, 2011 zit. n. Steinlin et al. 2015: 24).
Die pädagogische Ausbildung umfasst ein breites Spektrum an Methoden und Kompetenzen, wobei das Praxisfeld dieser mitunter einen ebenso großen Stellenwert haben sollte.
2.4. Hintergründe einer stationären Unterbringung
Kinder und Jugendliche, die stationär in einer Heimeinrichtung untergebracht werden, haben i.d.R. im Vorfeld bereits ambulante Hilfen durchlaufen (vgl. Santen/Pluto/Peucker 2019: 51). Dabei ist nicht immer klar ersichtlich, wer die Hilfeform eingefordert hat, da dies mitunter ein Prozess ist, an welchem mehrere Personen und Instanzen beteiligt sind (vgl. ebd.). Festgesetzt ist jedoch, dass
Jugendämter in Deutschland nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet (sind), vorläufige Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen als sozialpädagogische Hilfe in akuten Gefahren- oder Krisensituationen durchzuführen (Hirschberg/Hinsch/Kähler 2018: 31-32).
In der aktuellen Kinder- und Jugendhilfestatistik (2018: 39-40) werden folgende zehn Kategorien als Hauptgründe für die Gewährung der Heimerziehung/sonstigen betreuten Wohnform nach §34 SGB VIII unterschieden:
1. Unversorgtheit des jungen Menschen
2. Unzureichende Förderung/Betreuung/Versorgung des jungen Menschen in der Familie
3. Gefährdung des Kindeswohls
4. Eingeschränkte Erziehungskompetenz der Eltern/Personensorgeberechtigten
5. Belastungen des jungen Menschen durch Problemlagen der Eltern
6. Belastungen des jungen Menschen durch familiäre Konflikte
7. Auffälligkeiten im Sozialverhalten (dissoziales Verhalten) des jungen Menschen
8. Entwicklungsauffälligkeiten/seelische Probleme des jungen Menschen
9. Schulische/berufliche Probleme des jungen Menschen
10. Übernahme von einem anderen Jugendamt wegen Zuständigkeitswechsels
Mit Ausnahme des letzten Grundes, kann man alle weiteren Hauptgründe in drei verschiedene Kategorien unterteilen, welche auch ineinander übergreifen können: unzureichende Sorge (1.-3.), familiäre Probleme (4.-6.) und Probleme des jungen Menschen (7.-9.) (vgl. Santen/Pluto/Peucker 2019: 53-54). Kategorien, die übergreifen können beispielsweise „auch Folgen einer Belastungssituation (sein), […] wenn Jugendliche mit dissozialem Verhalten auf Vernachlässigung oder Gewalttätigkeiten der Eltern reagieren […]“ (ebd. 53). Aus der o.g. Kinder- und Jugendhilfestatistik (vgl. 2018: 39-40) geht außerdem hervor, dass die ‚unzureichende Sorge‘ als Hauptgrund für eine stationäre Unterbringung aufgezeigt wird. Dies haben Santen, Pluto und Peucker (vgl. 2019: 54) ebenso herausgearbeitet und Prozentual berechnet: 71% der in Vollzeitpflege lebenden Kinder und Jugendlichen sind aufgrund ‚Unzureichender Sorge‘ untergebracht, 24% aufgrund ‚familiärer Probleme‘ und letztlich 6% aufgrund ‚Probleme des jungen Menschen‘ selbst. Bereits „2016 haben die Jugendämter fast doppelt so viele Kinder [84230, d. Verf.] wegen Anzeichen von Misshandlung aus ihren Familien genommen als noch ein Jahrzehnt zuvor [25998, d. Verf.]“ (Sell 2018: 4). Laut einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 06. Januar 2021 (vgl. 2021b: 1ff.) wurden im Jahr 2019 ca. 555000 Kindeswohlgefährdungen seitens der Jugendämter in Deutschland festgestellt. Dabei wird von vier Gefährdungsarten gesprochen: Vernachlässigung, psychische Misshandlung, körperliche Misshandlung und sexuelle Gewalt. Die Vernachlässigung eines jungen Menschen überwiegt mit 45% aller 555000 festgestellten Kindeswohlgefährdungen, wobei „in jedem fünften Fall von Kindeswohlgefährdung (20%) mehrere Gefährdungsarten gleichzeitig vorlagen“ (ebd.). Dass diese belastenden Ereignisse bei den Kindern und Jugendlichen nicht nur körperliche, sondern auch seelische Spuren hinterlassen, scheint unumstritten. „In unseren stationären Jugendhilfeeinrichtungen befinden sich Kinder und Jugendliche, die extreme traumatische Lebenserfahrungen gemacht haben“ (Schmid et al. 2007: 332).
3. Trauma und Traumatisierung
Der Begriff Trauma stammt ursprünglich aus dem Griechischen und bedeutet übersetzt Verletzung/Wunde. Als einer der Ersten definierte Sigmund Freud (1999: 284) Trauma als
[…] ein Erlebnis, welches dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzuwachs bringt, daß [sic!] die Erledigung oder Aufarbeitung desselben in normalgewohnter Weise mißglückt [sic!], woraus dauernde Störungen im Energiebetrieb resultieren müssen.
Mittlerweile haben sich viele Experten mit der Definition von Trauma beschäftigt. Die Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) wurde gegründet, welche Trauma wie folgt definiert:
Der Begriff Trauma (griech.: Wunde) lässt sich bildhaft als eine „seelische Verletzung“ verstehen, zu der es bei einer Überforderung der psychischen Schutzmechanismen durch ein traumatisierendes Erlebnis kommen kann. Als traumatisierend werden im Allgemeinen Ereignisse wie schwere Unfälle, Erkrankungen und Naturkatastrophen, aber auch Erfahrungen erheblicher psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt sowie schwere Verlust- oder Vernachlässigungserfahrungen bezeichnet. Umgangssprachlich wird der Begriff Trauma in Bezug auf verschiedendste [sic!] als leidvoll erlebte Vorkommnisse verwendet, um zu kennzeichnen, dass es sich dabei um eine besondere Belastung für den Betroffenen gehandelt hat (DeGPT 2021).
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