Hilfsbedürftige Senioren in Zeiten der Corona-Pandemie? Eine Evaluation zweier Hilfsprojekte in Hangelar und Sankt Augustin


Bachelorarbeit, 2021

166 Seiten, Note: 1,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffsdefinitionen

3. Stand der Forschung (JE)

4. Theoretischer Hintergrund (JE)

5. Erläuterungen zum Hintergrund der Evaluation (JE)

6. Projekt Sankt Augustin (JE)
6.1 Katholischer Seelsorgebereich Sankt Augustin
6.2 Projekt Nachbarschaftshilfe
6.3 Begründung der Forschungsfrage
6.4 Methodik
6.4.1 Fragebogen Sankt Augustin
6.4.2 Rücklauf der Fragebögen
6.4.3 Gruppeninterviews im Club, Sankt Augustin
6.5 Ergebnisse
6.5.1 Fragebogen
6.5.2 Teilweise leitfadengeführtes Interview
6.5.2.1 Gründe für die (Nicht-)Nutzung
6.5.2.2 Angst vor dem Corona-Virus
6.5.2.3 Bedeutung des Einkaufens
6.5.2.4 Angst vor fremden Personen
6.5.2.5 Kommunikationswege des Projektes
6.5.3 Zwischenfazit
6.5.4 Telefoninterview mit Teilnehmerinnen des „Clubs“, 12.01.21
6.5.4.1Wissen um Probleme für Gebrechliche beim Einkaufen
6.5.4.2 Bekanntheit des Projektes
6.5.4.3 Gründe für die Nicht-Nutzung
6.5.4.4 Hilfe der Familie
6.5.4.5 Einstellung gegenüber dem Projekt
6.5.4.6 Faktoren, die die Inanspruchnahme eines Dienstes beeinflussen
6.5.5 Fazit

7. Projekt Hangelar (NP)
7.1 Entstehung von Hilfsprojekten in Hangelar
7.2 WhatsApp-Gruppe für die Corona-Nachbarschaftshilfe
7.3 Begründung der Forschungsfrage
7.4 Methodik
7.4.1 Online-Fragebogen Hangelar
7.4.1.1 Rücklauf der Fragebögen
7.4.2 Telefonisches Experteninterview Hangelar
7.5 Ergebnisse
7.5.1 Online-Fragebogen
7.5.2 Teilweise leitfadengeführtes Interview
7.5.2.1 Gründe für die (Nicht-)Nutzung des Projekts
7.5.2.2 Angst, Helfer auszunutzen
7.5.2.3 Bedeutung des Einkaufens
7.5.2.4. Gründe für den Erfolg des Projektes
7.5.2.5 Berücksichtigung der Bedürfnisse der Hilfesuchenden
7.6 Fazit: Rückschlüsse für Projekt Hangelar

8. Corona-Hilfsprojekte im Umkreis Köln/Bonn (NP)
8.1 Begründung der Forschungsfrage
8.2 Methodik
8.2.1 Online-Fragebogen
8.2.2 Rücklauf der Fragebögen
8.3. Ergebnisse
8.3.1 Online-Fragebogen
8.4 Fazit: Rückschlüsse für Projekte Köln/Bonn

9. Gemeinsames Fazit

10. Anschließende Handlungsempfehlungen (NP)

11. Ausblick (NP)

Anhang
Anhang 1: Fragebogen zum Hilfenetzwerk Corona in Sankt Augustin
Anhang 2: Interviewleitfaden für die semistrukturierten Interviews im „Club“, Sankt Augustin
Anhang 3: Transkribiertes Gruppeninterview 14.09.2020, 14.30 Uhr, Club Sankt Augustin
Anhang 4: Transkribiertes Gruppeninterview 21.09.2020, Club Sankt Augustin
Anhang 5: Interviewleitfaden für ein semistrukturiertes Interview am Telefon, organisiert vom „Club“ in Sankt Augustin
Anhang 6: Transkript Telefon-Gruppeninterview Club, 12.01.21, 15 Uhr bis 15.22 Uhr
Anhang 7: Kategoriensystem Interviews Club, 14.09.20 und 21.09.20
Anhang 8: Kategoriensystem Telefoninterview 12.01.21
Anhang 9: Online-Fragebogen: Corona-Hilfe in Hangelar
Anhang 10: Interviewleitfaden für das semistrukturierten Experteninterview für das Hangelarer Hilfsprojekt
Anhang 11: Transkript teilweise leitfadengeführtes Telefoninterview Frau W., Hangelar
Anhang 12: Kategoriensystem Interview Hangelar, 16.12.20
Anhang 13: Online-Fragebogen: Corona-Hilfen im Umkreis Köln/Bonn

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In der vorliegenden Arbeit werden zwei Projekte untersucht, welche in der Coro- nazeit vor allem älteren Menschen Hilfe beim Einkaufen, Botengängen und ähnli­chem anbot. Dies lag darin begründet, da zu Beginn der Coronapandemie im Frühling 2020 Menschen über 65 Jahren empfohlen wurde, zu ihrem eigenen Schutz vor Ansteckung zuhause zu bleiben. Damit ihr Ansteckungsrisiko gering­gehalten wurde, entschieden die Ortschaften Hangelar und Sankt Augustin sowie viele weitere, private Einkaufshilfen zu vermitteln. Somit mussten die Senioren auch für notwendige Tätigkeiten nicht die Wohnung verlassen, sondern konnten sicher in einem Lockdown verbleiben. Einige dieser Projekte verliefen erfolgreich - soll heißen, sie verzeichneten hohe Nutzungszahlen - andere nicht. Ein in dem untersuchten Zeitraum selten genutztes Projekt war in Sankt Augustin angesiedelt, ein erfolgreicheres im Nachbarort Hangelar. Diese Arbeit untersucht, was die Er­folgskriterien für das Hangelarer Projekt - initiiert von einer Privatperson und durchgeführt von verschiedenen Vereinen in Hangelar und Umkreis - sind und waren, und worin die geringe Nutzung in Sankt Augustin - durchgeführt vom Katholischen Seelsorgebereich Sankt Augustin unter dem Namen „Gemeinsam gegen Corona“ - begründet liegt.

Dazu bedienen sich die Autorinnen der Grounded Theory und verzichten somit auf die Aufstellung von Hypothesen. Vielmehr wurden Umfragen per Fragebogen geführt und qualitative Interviews geführt. Die Ergebnisse der Arbeit werden als Handlungsempfehlungen aufgeführt. Sie lauten: Den Bekanntheitsgrad von beste­henden Vereinen steigern, um die potenzielle Klientel von sich zu informieren; ein gutes Netzwerk zwischen bestehenden Vereinen und Gruppen schaffen, um auf Ressourcen wie Wissen und Kontakte zurückgreifen zu können; Vertrauen innerhalb der Gemeinde etablieren, denn dies erhöht die Nutzungsrate, wie im Laufe dieser Arbeit herausgefunden wird; und schließlich die Berücksichtigung der Bedürfnisse der Zielgruppe, da sonst die Nutzung nach kurzer Zeit wieder endet.

Die Arbeit ist in drei Teile unterteilt: Zunächst folgt ein allgemeiner Stand der Forschung, welcher für beide Projekte gültig ist und auf den in den später folgen­den zwei Analysen Bezug genommen wird. Der theoretische Hintergrund, wel­cher sich mit der Grounded Theory befasst, folgt. Anschließend wird auf den Hin- tergrund der Evaluation eingegangen, wo unter anderem auf die Coronapandemie eingegangen wird.

Schließlich folgt eine Analyse des Projektes „Gemeinsam gegen Corona“ aus Sankt Augustin (im Folgenden genannt: das Projekt). Dazu wird zunächst der Träger1 des Projektes und sein Engagement außerhalb von Corona vorgestellt. Danach wird genauer auf das Sankt Augustiner Projekt eingegangen. Die Begrün­dung der Forschungsfrage gilt selbstverständlich ebenso für den Teil, der sich mit dem Hangelarer Projekt befasst. Aus Gründen der Verständlichkeit wurde er je­doch an diese Stelle gesetzt, da die vorhergehenden Informationen für die Be­gründung der Frage essentiell sind. Der Forschungsfrage angeschlossen ist die Methodik. Als Weiterführung der Methodik folgen die Vorstellung des Fragebo­gens, welcher in Sankt Augustin auslag, sowie die Gruppeninterviews, welche nach der Auswertung der Fragebögen durchgeführt wurden. Die daraus gewonnen Erkenntnisse werden im Kapitel Ergebnisse zusammengefasst, jeweils unterteilt nach ihren Erhebungsmethoden in den Unterkapiteln Fragebogen, Gruppeninter­views sowie ein als Ergänzung dazu durchgeführtes telefonisches Gruppeninter­view. Angeschlossen ist ein Fazit für Sankt Augustin.

Es folgt der Teil, der sich mit dem Projekt in Hangelar auseinandersetzt. Dieser spiegelt im Aufbau den Teil Sankt Augustin, führt jedoch seine unabhängige Un­tersuchung durch und führt sie später mit den Ergebnissen aus dem ersten Teil zusammen. Zunächst wird auch hier beschrieben, wie das Hangelarer Projekt zu­stande kam und erläutert das Instrument, das von den Freiwilligen hier genutzt wurde, sich zu koordinieren: eine Whatsapp-Gruppe. Zur Rekapitulation folgt auch hier noch einmal ein Kapitel zur Forschungsfrage sowie eins zur Methodik. Auch dieses ist unterteilt nach den genutzten Mitteln Fragebogen und Expertenin­terview. Ebenso ist das anschließende Kapitel Ergebnisse unterteilt. In Fazit wer­den die Ergebnisse einzeln erläutert; zudem werden Erfolgskriterien für des Ge­lingen eines Corona-Hilfsprojektes aus den Daten herausgezogen und vorgestellt.

Um den Blick nicht nur auf die Ortschaften Hangelar und Sankt Augustin zu be­schränken, wurde der Fokus auf den Umkreis Köln-Bonn erweitert. 25 Projekte wurden mit einem Fragebogen angeschrieben, welchen sechs auch ausfüllten. Diese werden in diesem Kapitel vorgestellt und werden unterstützend herangezo­gen, um die Erfolgskriterien im Sinne der Grounded Theory mehr in Daten zu verankern.

In einem abschließenden Fazit werden die Teile Hangelar (inklusive des Ausflugs in die Projekte des Köln-Bonner Raums) sowie Sankt Augustin zusammengeführt und Handlungsempfehlungen ausgesprochen.

Nach dieser Zusammenfassung der Arbeit folgt nun der Stand der Forschung, um die für die Untersuchung wichtigen Themenfelder vorzustellen.

2. Begriffsdefinitionen

Matching: Wenn zu einer hilfesuchenden Person ein passender Helfer gefunden wurde, der sowohl die gesuchte Art Hilfe anbietet als auch im selben oder einem nahen Stadtteil wie der Hilfesuchende wohnt.

Katholischer Seelsorgebereich: Der katholische Seelsorgebereich Sankt Augus­tin unterhält viele Angebote und Einrichtungen in fünf Gemeinden der Stadt. Da­runterfallen sowohl Kitas als auch die Caritas, welche wiederum mehrere Ange­bote organisiert. Diese sind u.a. die Tafel oder auch der Lotsenpunkt; eine Hilfe­stellung für Menschen, die Probleme bspw. mit der Kommunikation mit Ämtern haben.2 Der Katholische Seelsorgebereich hat Mitte März das Hilfenetzwerk „Gemeinsam gegen Corona“ gegründet.

Corona: Das Virus SARS-CoV-2, kurz Corona-Virus oder nur Corona genannt, verursacht die Krankheit Covid-19. Dies ist eine schwere Lungenerkrankung und kann zum Tod führen. Es verursachte es eine weltweite Pandemie, welche An­fang 2020 begann. Übertragen wird es vor allem durch Tröpfcheninfektion, wes­halb Menschen angehalten werden, in öffentlichen geschlossenen Räumen Mund- Nasen-Masken zu tragen, um die Verbreitung einzudämmen.3

Lockdown: Um die schnelle Ausbreitung des noch unbekannten Virus einzu­dämmen, beschloss die deutsche Regierung Anfang 2020 einen mehrere Wochen andauernden Lockdown. Außer für als „unerlässlich“ betrachtete Arbeiten wie Verkäufer in Supermärkten oder gesundheitliche Dienstleistungen wurden die Menschen angehalten, von zuhause aus zu arbeiten und die Wohnung nicht zu verlassen. Auch draußen durften sich nur maximal zwei Personen aus verschiede­nen Haushalten treffen und dies nur unter Einhaltung eines Sicherheitsabstands von 1,5m.

3. Stand der Forschung (JE)

Es gibt einige Studien dazu, wieso Senioren keine medizinische, staatliche, frei­willige oder anders geartete Hilfe annehmen. Zwei Studien, welche Andersens Verhaltensmodell4 zugrunde legen, sollen hier erwähnt werden.

Walters, Iliffe, und Orrell untersuchten, wieso viele Senioren keine sozialen Ser­vices in Anspruch nehmen, obwohl ihnen dies zustünde oder zupasskäme, wenn sie ihre Bedürfnisse nicht mehr selbst befriedigen können. Dazu befragten sie stichprobenartig 55 Senioren über 75 Jahren und 15 Pflege- bzw. Hilfeanbieter.5 Sie kommen zu dem Ergebnis, dass viele alte Menschen deshalb keine fremde Hilfe suchen, weil sie sich zurückziehen, resignieren, oder niedrige Erwartungen in Hinblick auf die mögliche Hilfe hätten.6 Sie sähen keinen Sinn in der Dienst­leistung, da sie ihre Lebenssituation ohnehin nicht verbessern könne.7 Dies seien die identifizierten Hauptbarrieren. Dazu kommt ihre Feststellung, dass gesund­heitliche Probleme „kleingeredet“ würden. Dies betreffe häufig als peinlich ange­sehene Probleme wie Inkontinenz.8 Walters et al. stellen außerdem fest, dass, wenn die Senioren um Hilfe gesucht haben, sie sie häufig als unzureichend be- schrieben.9 So etwa hätten Pflegedienste zu wenig Zeit, um sich ausreichend um die Senioren zu kümmern.10

Auslander, Auslander und Soffer nahmen sich in Jerusalem eines ähnlichen The­mas an.Sie erforschten die Reaktion älterer Menschen, die eingeladen wurden, an einer „supportive community“ teilzunehmen, und legten dafür Andersens Verhal­tensmodell zugrunde (siehe Seite 8 ff. in dieser Arbeit). Eine „supportive commu- nity“ hat zum Konzept, dass ältere Menschen möglichst lange in ihren Wohnun­gen leben können. Dazu werden Dienstleistungen innerhalb eines Viertels angebo­ten, welche dies ermöglichen sollen, darunter Hausmeisterdienste, Gesundheits­dienste und ein soziales Programm.11

In sechs Stadtvierteln Jerusalems befragten sie 89 Teilnehmer der „supportive community“ und 92 Nicht-Teilnehmer.12 Laut Auslander et al. haben Andersens Predisposing characteristics - das sind bereits bestehende Auffassungen oder Lebensumstände - kaum Einfluss auf die Einstellung zur Hilfesuche. Vielmehr zählten die Enabling characteristics- diese beschreiben zum Beispiel das soziale Umfed einer Person; wenn die Senioren nur sporadischen Kontakt zu ihren Kin­dern hätten, suchten sie häufiger den Kontakt zur community und nähmen die angebotenen Hilfen an. Dagegen suchten Senioren, die selbst ehrenamtlich aktiv seien, seltener Unterstützung. Ein großer Faktor scheint die wahrgenommene und tatsächliche Hilfsbedürftigkeit zu sein. Die älteren Mitglieder der community schätzten sich selbst kränker ein und waren einsamer als die Nicht-Mitglieder.13 Die Autoren weisen allerdings darauf hin, dass Einsamkeit ein erwiesener Faktor für Depression ist und den Gesundheitszustand negativ beeinflussen könne.14 Zudem seien Senioren, die hauptsächlich von einer Tochter versorgt werden, häu­figer bereit, Mitglied der community zu werden, als Eltern von Söhnen. Es wird vermutet, dass die Eltern ihren Kindern nicht zu viel zumuten möchten und sich deshalb von der community versorgen lassen; gleichzeitig befinden sich meist Frauen in der Rolle der Pflegenden.15

Die vorliegende Arbeit hat zwar zum Ziel, zukünftige Projekte der Kirche in Sankt Augustin zu verbessern, indem sie das Projekt der Nachbarschaftshilfe in Corona-Zeiten untersucht und daraus Handlungsempfehlungen zieht. Wie Wal­ters, Iliffe, und Orrell16 in ihrer Londoner Studie feststellten, handeln manche Hilfsangebote an den Bedürfnissen ihrer Nutzer vorbei. Ein Kernproblem ist so­mit - neben den Hürden, die bei Inanspruchnahme von Dienstleistungen auftau­chen mögen-die fehlende Einbindung biographischen Wissens der Nutzer. Auch hierzu gibt es viele Forschungen. Auf beiden Gebieten ist vor allem Andreas Schaarschuch zu nennen. Viele seiner Forschungen sind in die vorliegende Arbeit eingeflossen.

In dem Sammelband „Soziale Dienstleistungen aus Nutzersicht“ von Oelerich und Schaarschuch erläutert Hanses in seinem Beitrag „Perspektiven biographischer Zugänge für eine nutzerInnenorientierte Dienstleistungsorganisation“, dass bio­graphisches Wissen „eine zentrale Ressource [sei], auf deren Basis die Subjekte den Umgang mit ihrer Lebenslage und die Inanspruchnahme von Unterstützungs­leistungen [organisierten]“.17 Er stellt die Behauptung auf, der „Ausschluss bio­graphischen Wissens der NutzerInnen“ lasse „die angebotenen Dienstleistungen verpuffen“.18 Hierbei stellt er klar, dass Kundenorientierung und die Wahrneh­mung biographischen Wissens der Nutzer nicht dasselbe seien und einander auch nicht bedingten.19 Mit anderen Worten: Nur, weil man eine sehr kundenorientierte Dienstleistung anbiete, bedeute das nicht, dass sie der Klientel auch nütze oder diese sie voll ausschöpfen (könne). Denn es sei möglich, an ihnen „vorbei zu han­deln“, wenn man ihr Wissen und ihre Bedürfnisse nicht in die Dienstleistung mit einbeziehe.

Hanses beschreibt die Entstehung des Phänomens wie folgt: Die Ignoranz gegen­über dem Wissen der Kunden geschehe oft unbewusst. Die Art, wie in Projekten gehandelt werde, entstehe aus internen Organisationskulturen. Oft stünden dort andere Ziele zuoberst denn das der Kundenorientierung. Zudem komme, dass vie­len Dienstleistern nicht klar sei, dass und wie die Kundenbiographie als Wissens­quelle auszuschöpfen sei.20 Sie handelten also in guter Absicht, und machten es dennoch verkehrt. Hanses schreibt, dass es in Zukunft immer wichtiger werde, soziale Dienstleistungen an den Nutzern auszurichten statt nur für sie. Nutzerwis­sen müsse auf eine Stufe mit Expertenwissen gestellt werden. „Standardisierte Angebote“21 werden im Rückzug sein, da sie schlecht mit dem Anspruch der Aus­richtung auf die realen Bedürfnisse der Nutzer zu vereinen seien. Solcherart neu gestaltete Projekte müssten sich kontinuierlich selbst evaluieren, um weiterhin nah an der Nutzerrealität zu bleiben22.

Aus einer anderen Richtung, aber mit demselben Ziel, argumentieren Oelerich und Schaarschuch in einem Beitrag im selben Werk. Sie fragen, wie es geschehen könne, dass „Absicht und Wirkung“ von sozialen Projekten „trotz intensiven Be­mühens seitens der Professionellen oftmals auseinanderklaffen [...]“23. Und sie gehen weiter mit der Frage, was Nutzer denn selbst als hilfreich empfänden im Hinblick auf solche Projekte. Nutzen unterscheiden sie hier in drei Dimensionen: die materiale Dimension (etwa die Auszahlung von Geld), die personale Dimensi­on (wenn z.B. Ansprechpartner für Probleme zur Verfügung stehen), und die inf­rastrukturelle Dimension (z.B. das Wissen um das Vorhandensein von Hilfe, wenn sie benötigt wird)24. Befragt wurden für ihre Studie minderjährige Jugendli­che, welche über die ambulante Betreuung für Jugendliche eigene Wohnungen finanziert bekommen, wenn das Zusammenwohnen mit der eigenen Familie aus verschiedenen Gründen keine Option mehr ist.25 Hierbei kommen sie zu dem Er­gebnis, dass nicht jede Dimension für jeden Nutzer gleich wichtig oder gleich erwünscht sei. Sie nennen dies den „subjektiven Relevanzkontext“, und es hänge vom Nutzer ab, ob sich der Nutzen eines Projektes entfaltet oder nicht. Zudem identifizieren sie noch den institutionellen Relevanzkontext. Dieser werde wieder aus der Sicht des Nutzers wahrgenommen und besage, welche „Merkmale der Institution [.] einen als relevant wahrgenommenen Einfluss auf den Nutzen der [.] in Anspruch genommenen Dienstleistung haben“.26

Auch Beckmann und Richter beschäftigen sich im gleichen Band mit der Frage, wie Nutzerinteressen besser in Projekte eingebunden werden können. Auf der Ebene der Organisation (im Sinne von der Organisation als Firma) befände sich dies noch in den Kinderschuhen, so existieren zum Beispiel lediglich Beschwer- demanagements.27 Diese Theorien sollen im Fazit bei der Formulierung der Hand­lungsempfehlungen helfen.

Neben der theoretischen Behandlung des Themas suchten die Autorinnen jedoch noch thematisch ähnliche Evaluationen, um von ihrer Vorgehensweise zu lernen. Viele Evaluationen, die sich mit ähnlichen Projekten beschäftigen, sind nicht of­fen zugänglich, da sie ohne eine Veröffentlichung an die Auftraggeber gereicht werden. Nur vereinzelt sind Evaluationen zu finden, welche für diese Arbeit eine wertvolle Quelle sein können. Zu nennen sind hier vor allem die Evaluationen von UNICEF28 und von Oelerich, Schaarschuch et al. aus dem Jahr 201929, welche sich mit den Barrieren der Inanspruchnahme sozialer Dienstleistungen vonseiten der Nutzer beschäftigen.

Die Autorinnen suchten aberauch Forschungen, die thematisch nicht unbedingt so nah an den beiden untersuchten Projekten in Sankt Augustin und Hangelar sind, die jedoch die gleichen Methoden verwendeten. Hier ist vor allem Schlebrowskis Dissertation „Starke Nutzer im Heim“ zu nennen.30 Sie untersucht die Auswir­kungen, die die Auszahlung von Taschengeld für die Bewohner in einem Heim für geistig Behinderte bedeuten. Dazu nutzt sie teilstrukturierte Interviews. In dieselbe Sparte fallen auch Forschungen wie die von Normann, in denen esum erzieherische Hilfen in Heimen geht und ob die Nutzer sie retrospektiv als erfolg­reich bewerten.31 Hier orientierten sich die Autorinnen daran, wie Interviews in Evaluationen dargestellt werden und in den Text einfließen.

4. Theoretischer Hintergrund (JE)

Als theoretischer Hintergrund soll Andersens Verhaltensmodell32 33 34 dienen. Dieses Modell, welches in den 1960er Jahren entwickelt wurde, soll erklären, weshalb Menschen medizinische Hilfe aufsuchen oder eben nicht. Andersen identifiziert drei Hauptfelder, welche beeinflussend auf die Entscheidung wirken.[33],[34]

Die „Presdisposing characteristics“ mitsamt Unterpunkten bezeichnen die gege­benen Voraussetzungen einer Person. Dazu zählen zum Beispiel das Alter oder das Geschlecht (Demographic). Diese Faktoren beleuchten, wie wahrscheinlich eine Krankheit und somit ein Hilfsbedarf ist. Social Structure bezeichnet die sozi- ale Umgebung einer Person, ob sie privat mit vielen oder wenigen möglichen Hel­fern ausgestattet ist oder auf offizielle Hilfsdienste angewiesen ist. Aber auch eine gesundheitsfördernde oder -schädigende Umwelt zählt dazu. Schließlich gibt es noch die Health Beliefs, also der Kenntnisstand um gesundheitsfördernde Maß­nahmen, Dienstleistungen und ihre Wirkung.35

Der zweite Faktor heißt „Enabling resources“ und meint die Ressourcen, die je­manden dazu bringen könnten, Hilfe aufzusuchen oder zu bekommen. Dort sind die Familie und die soziale Gemeinschaft aufgeführt. Beide haben das Potenzial, Hilfsdienste auszuführen, sodass keine weiteren benötigt werden, oder aber ge­wollt oder ungewollt Einfluss geübt wird(bspw. indem sie konkret Überforderung feststellen oder aber im Gespräch ohne gezielte Absicht Hilfsmöglichkeiten er­wähnen, was den Betroffenen dazu bringen kann, sich über die Angebote zu in- formieren).36

Der dritte Faktor, der eine Entscheidung zur Hilfsannahme beeinflussen kann, lautet „Need“ und wird unterteilt in die selbst wahrgenommene Hilfsbedürftigkeit versus die diagnostizierte.37 Andersen betont, dass bei der selbst wahrgenomme­nen Hilfsbedürftigkeit zum Beispiel eine unterschiedlich stark ausgeprägte Schmerztoleranz ausschlaggebend sein kann für eine Selbsteinschätzung. Ebenso wichtig seien aber auch etwa die Einschätzung über die Wichtigkeit eigener Prob­leme; dass sie ausreichend groß seien, damit eine fremde Hilfe gerechtfertigt wird. Die diagnostizierte Hilfsbedürftigkeit hingegen unterscheide sich von Arzt zu Arzt und auch in den Fachbereichen.38

Natürlich soll dieses Modell die Annahmebereitschaft für medizinische Hilfe, nicht aber für nachbarschaftliche Hilfsprojekte erklären. Dennoch wurde das Mo­dell bereits häufiger auch für die Erläuterung von Annahmebereitschaft in anderen Kontexten herangezogen. Ein Beispiel dafür sind die oben erwähnten Studien von Auslander et al. sowie Walters et al.

Darüber hinaus eignet sich das Modell gut für den Kontext der Hilfsprojekte in Sankt Augustin und Hangelar. Denn auch hier geht es um die Annahmebereit­schaft der Senioren. Dorthinein können aber auch der Gesundheitszustand oder das soziale Umfeld spielen. Kranke oder gebrechliche Menschen sind möglicher­weise eher bereit, fremde Hilfe anzunehmen, als gesunde. Wer regelmäßig von seinen Kindern oder Nachbarn die Einkäufe geliefert bekommt, braucht dagegen keinen derartigen Hilfsdienst mehr. Andersens Modell kann also Erklärungen für die geringe Nutzung des Projekts in Sankt Augustin liefern.

5. Erläuterungen zum Hintergrund der Evaluation (JE)

Anfang 2020 breitete sich der neuartige Erreger SARS-CoV-2, kurz Coronavirus genannt, über die ganze Welt aus. Diese Pandemie hatte in Deutschland ab März einen Lockdown zur Folge. Bis auf einige systemrelevante Jobs wurde größten­teils von Zuhause aus gearbeitet. Menschen durften sich nur noch auf der Straße und maximal zu zweit treffen. Zudem musste ein Sicherheitsabstand von 1,5 Me­tern eingehalten werden. In allen Gebäuden herrschte Maskenpflicht. Besonders alte (ab 65 Jahren) oder vorerkrankte Menschen waren gefährdet. Gerade für sol­che Menschen war es gefährlich, die Wohnung zu verlassen. Jedoch mussten auch diese Personengruppen weiterhin Lebensmittel einkaufen oder Geschäfte erledi­gen, wie z.B. Briefe verschicken. Für solche Situationen entstand in Sank Augus­tin das Hilfenetzwerk „Gemeinsam gegen Corona“ (hier: das Projekt). Hier sollte auf unbürokratische Art nachbarschaftliche Hilfe bereitgestellt werden, um die Senioren zu schützen und zu vermeiden, dass sie die Wohnung verlassen müssen und sich so anstecken können.

Nachdem die Anfänge der Corona-Krise und deren Auswirkungen auf das ge­meinschaftliche Leben kurz beschrieben wurden, soll hier der Träger und Initiator des Hilfsprojekts in Sankt Augustin vorgestellt werden. Danach wird das Projekt selbst vorgestellt und analysiert.

6. Projekt Sankt Augustin (JE)

6.1 Katholischer Seelsorgebereich Sankt Augustin

Der Katholische Seelsorgebereich in Sankt Augustin unterhält eine Tafel, mehrere Kleiderkammern und Caritasstellen. In den Caritasstellen ist es möglich, Lebens­mittelgutscheine zu bekommen. Diese werden durch Spenden der Bevölkerung ermöglicht. Die Caritas tauscht die Spenden in ausgewählten Supermärkten gegen Lebensmittelgutscheine um. Mit diesen kann der Einkauf bezahlt, nicht jedoch Alkohol erworben werden.

Die Tafel39 kann nach Vorlage einer Meldebescheinigung und eines Einkom­mensnachweises besucht werden. Hier werden unter anderem Lebensmittel, aber auch Shampoo, Blumensträuße oder Kinderkostüme an die bedürftigen Menschen verteilt. Mehrere Supermärkte werden von freiwilligen Fahrerinnen und Fahrern besucht, deren Aufgabe es ist, die nicht verkauften Waren für die Tafel einzula­den.

Die Tafelbesucher werden farblich nach Gruppen sortiert, um einen zu großen Andrang zu vermeiden. Für die jeweiligen Farbgruppen sind unterschiedliche Ausgabezeiten vorgesehen, sodass jeden Tag eine andere Gruppe zuerst dran­kommt. Die Mitglieder der späteren Gruppen können in einem ebenfalls von der Tafel organisierten Café auf ihren Einkauf warten. Dort gibt es Gebäck, Kaffee und Tee.

Gegenüber des Cafés liegt der Lotsenpunkt40 der Kirche. Dort wird Hilfe aller Art angeboten. Der Lotsenpunkt unterstützt unter anderem bei der Beantragung von Geldern, Ämterkontakt, Wohnungssuche. Der Lotsenpunkt fungiert zudem als Sprachrohr für Menschen, die aufgrund einer Sprachbarriere beeinträchtigt sind.

Die Kleiderstuben verkaufen zu geringen Preisen gespendete Kleidung. Die Klei­dung wird auf Mängel untersucht, sodann nach Jahreszeiten und Kleiderart sor­tiert. Die Kleiderstuben können von jedem besucht werden, also auch Nicht­Bedürftigen.

Wie bereits oben erwähnt, mussten all diese Hilfsangebote wegen Corona ge­schlossen werden. Als Reaktion darauf entstand das nachbarschaftliche Hilfspro­jekt „Gemeinsam gegen Corona“, welches im Folgenden vorgestellt wird.

6.2 Projekt Nachbarschaftshilfe

Am 17. März 2020 fragte die Stabsstelle Integration und Sozialplanung der Stadt Sankt Augustin (hier: die Stadt) den Katholischen Seelsorgebereich Sankt Augus­tin an, ob ein gemeinsames Projekt zur nachbarschaftlichen Hilfe in der Corona- Krise aufgebaut werden könne. Ziel war es, wie oben beschrieben, die Seniorin­nen und Senioren bei ihren Tätigkeiten zu unterstützen. Das Projekt wurde inner­halb einer Woche strukturiert. Zuständige in der Kirche waren der Caritasbeauf- tragte des Seelsorgeteams Bernd Werle, Pastoralreferent Marcus Tannebaum und Engagementförderin Hanna Teuwsen.

Das Corona-Hilfsprojekt baute auf den bereits bestehenden Strukturen der Cari- tas-Sprechstunde, des Lotsenpunktes und der Kleiderstube auf. Die Freiwilligen aus den jeweiligen Teams boten in ihren Räumlichkeiten in insgesamt fünf Stadt­teilen Sankt Augustins (Ort, Mülldorf, Menden, Birlinghoven/Buisdorf, Nieder­pleis) Anlaufstellen für Menschen an, die in der Corona-Zeit helfen wollten oder Hilfe brauchten. Die Freiwilligen wurden in Listen geführt, welche täglich aktua­lisiert und an alle Hauptverantwortlichen der Anlaufstellen geschickt wurden. So war jede Stelle auf dem aktuellen Stand.

Die freiwilligen Helferinnen und Helfer konnten sich mithilfe eines Bogens an­melden, den sie entweder bei einem Team der Kirche abgaben oder an die zentrale Mailadresse schickten. Auf dem Bogen mussten Name, Adresse, Alter und Art der Hilfe eingetragen werden, sowie eine Telefonnummer oder Mailadresse. Die An­gabe des Alters war notwendig, um festzustellen, ob vielleicht das Einverständnis eines Erziehungsberechtigten notwendig war. Über die Angabe der Adresse konn­te sichergestellt werden, dass Helferin oder Helfer und Hilfsbedürftige oder Hilfs­bedürftiger möglichst im gleichen Stadtviertel wohnen. Durch die Angabe der Art der Hilfe schließlich wurde das tatsächliche Matching durchgeführt. Arten der Hilfe waren z.B. Einkaufsgänge, Postgänge, Apothekengänge, Gassi führen der Hunde. Wenn ein Matching zwischen einem Helfer und einem Hilfesuchenden stattgefunden hatte, wurde anschließend über die Telefonnummer oder per Email der Kontakt hergestellt

Um die Bevölkerung Sankt Augustins über das Programm zu informieren, wurden gleichzeitig Flyer gedruckt und in Briefkästen geworfen und Plakate aufgehängt.

In knapp drei Monaten meldeten sich insgesamt 28 Freiwillige, jedoch nur drei Hilfsbedürftige. Ziel dieser Arbeit wird es sein, Gründe für die geringe Rückmel­dung von Seiten der Hilfsbedürftigen zu identifizieren.

6.3 Begründung der Forschungsfrage

Das Projekt in Sankt Augustin lief über mehrere Monate, genaue Daten liegen nur für die ersten drei (März bis Mai 2020) vor. In dieser Zeit meldeten sich, vor al­lem in den ersten Wochen, 28 Helfer aus fünf Ortschaften. Im selben Zeitraum gingen allerdings nur drei Anfragen nach Hilfe ein. Diese Diskrepanz soll in der vorliegenden Evaluation untersucht werden. Die Ergebnisse sollen helfen, zukünf­tige Projekte zu verbessern. Dazu wird die nachbarschaftliche Hilfe, welche im Nachbarort Hangelar angeboten wird, vergleichend untersucht.

Die Forschungsfrage lautet demnach: Worin unterscheiden sich die Hilfsangebote aus den beiden Orten? Als Unterfragen können identifiziert werden: Welche Fak­toren führten zum Erfolg der Hangelarer Nachbarschaftshilfe? Welche davon kann Sankt Augustin übernehmen?

Im Sinne der Grounded Theory wird deshalb zunächst auf die Aufstellung von Hypothesen verzichtet. Die Theorien, worin die unterschiedliche Behandlung sei­tens der Nutzenden gelegen hat, sollen aus dem Datenmaterial heraus entstehen, um den wirklichen Grund zu fassen und nicht mögliche Gründe auszuschließen (wie es bei der Falsifizierung von Hypothesen der Fall ist).41

6.4 Methodik

Diese Arbeit orientiert sich an der Methode der „Grounded Theory“, wie sie in dem Werk von Glaser und Strauss vorgestellt wird.42 Grounded Theory bedeutet, Theorien aus Daten herauszugewinnen, sodass sie „geerdet“ (grounded) sind. Es werden hier also nicht, wie sonst üblich, Theorien und Hypothesen gebildet und mithilfe der Daten zu falsifizieren versucht. Vielmehr werden zuerst die Daten erhoben, um erst anschließend die Gründe für ein mögliches Verhalten eines Menschen oder einer Sache aus diesen herauszulesen. Im Mittelpunkt steht hierbei die Generierung von Theorien und weniger deren Überprüfung. Besonders eignet sich dieser Ansatz für komparative, also vergleichende, Studien.43

Die Autorinnen wählten diesen Ansatz, da er für die Evaluation der vorliegenden Projekte am geeignetsten erschien: Ziel war es, tatsächliche Gründe für die (Nicht-)Nutzung der Projekte in Hangelar und Sankt Augustin herauszufinden statt mögliche Gründe auszuschließen (diese Art von Theorie nennen Glaser und Strauss „materiale Theorie“).44 Dies ist eine aus dem Material gezogene und di­rekt auf ein bestimmtes Projekt anwendbare Art von Theorie. Deren Abstraktion ist dann eine „formale Theorie“. Diese will für ein bestimmtes Gebiet Allgemein­gültigkeitscharakter besitzen).45 Diese Identifizierung von Gründen soll dazu die­nen, zukünftige Projekte besser auf dieZielgruppe zuzuschneiden.

Eine Theorie besitze laut Glaser und Strauss zudem Kategorien und Eigenschaf­ten. Kategorie bedeute hier ein kleiner Teil der übergreifenden Theorie. Wenn z.B. die Theorie lautet: „Die Menschen nutzten den Service des nachbarschaftli­chen Projektes nicht, weil dies nur die körperlich Eingeschränkten tun“, kann eine Kategorie davon eben die Mobilität der Befragten sein, eine andere die Nutzungs­intensität des Projektes. Eine Eigenschaft der Kategorie Mobilität kann sein, ob und wie oft die Befragten spazieren gehen.46 47 48 Mit der Abfrage der Eigenschaften können die Kategorien gefüllt werden. Fangen die Ergebnisse an, sich zu wieder­holen, so deutet dies auf die „Sättigung“ der Kategorie hin. Die Forscherin muss nun nach neuen, im besten Falle entgegengesetzten Kategorien suchen.[47],[48]

Glaser und Straus empfehlen zwei Strategien zur Auswahl der Vergleichsgruppen: Die eine lautet, ähnliche Gruppen zu suchen. Somit würden zwar ähnliche Daten pro Kategorie generiert, jedoch könnten aber so Unterschiede zwischen beiden Gruppen herausgefunden werden. Die zweite Strategie laute, sehr unterschiedliche Gruppen zu wählen. Dies würde zu sich stark unterscheidenden Daten pro Kate­gorie führen, die jedoch auf Gemeinsamkeiten hindeuten könnten.49

Ob Daten nun über quantitative oder qualitative Methoden erhoben werden, sei irrelevant; eigneten sich nach Glaser und Strauss doch beide, um alle Kategorien ständig miteinander zu vergleichen. Sie empfehlen, die Daten beim Kodieren di­rekt zu vergleichen und so Theorien zu generieren.50

Um zunächst eine möglichst breite Datengrundlage für die Untersuchung des Pro­jekts in Sankt Augustin zu schaffen, wurde eine Befragung per Fragebogen in drei Kirchen durchgeführt. Um die in den Fragebögen getroffenen Aussagen im Ge­spräch zu vertiefen und ihnen nachzugehen, folgten teilweise leitfadengeführte Interviews mit zwei Gruppen von Seniorinnen. Diese kamen über die Stadt Sankt Augustin zustande und fanden im „Club“ statt, einer Begegnungsstätte für Senio­ren. Die Reihenfolge und Formulierung der Fragen wurde dabei an den Ge­sprächsverlauf angepasst und nicht streng abgearbeitet.

Die Teilnehmer der Interviews unterzeichneten keine Einverständniserklärung, gaben aber ihr mündliches Einverständnis, dass die erhobenen Daten in der vor­liegenden Arbeit verwertet werden dürfen. Bei den zwei Interviews im „Club“ war im Vorhinein nicht klar, wie viele Personen vor Ort sein würden und ob und wie viele von ihnen interviewt werden möchten. Zudem hätte beim Umgang mit Stift und Papier ein Hygienekonzept für die Utensilien bereitgestellt werden müs­sen.

Die restlichen Interviews, sowohl für den Teil Hangelar als auch den Teil Sankt Augustin, wurden telefonisch durchgeführt. Auch hier war eine schriftliche Ein­verständniserklärung nicht einzuholen. Den Teilnehmern wurde jedoch erläutert, für welche Arbeit sie befragt werden und was mit ihren Daten geschieht. Im Falle des „Club“ wurde zudem zugesagt, die fertiggestellte Arbeit zur Verfügung zu stellen, damit sie eingesehen werden kann.

6.4.1 Fragebogen Sankt Augustin

Der Fragebogen wurde ausgedruckt und in drei verschiedenen Kirchen in Sankt Augustin ausgelegt. Dem lag folgende Überlegung zugrunde: Die Zielgruppe des Hilfsprojektes waren ältere Menschen, die als solche selten über Zugang zum In­ternet verfügen. Eine Online-Umfrage wäre demnach wohl nicht von ihnen be­merkt worden. Eine Befragung, in der die Fragebögen postalisch zugesandt wer­den, fiel ebenfalls aus, da vor allem Nicht-Nutzer befragt werden sollten. Über diese lagen jedoch natürlich keine Informationen vor, auch nicht die Adresse. Zu­dem unterstellten die Autorinnen, dass eine Umfrage seltener beantwortet wird, wenn die Adressaten selbst das Porto aufwenden müssen, um den Bogen zurück­zusenden. Finanzielle Mittel für die Frankierung der Antwortbriefe jedoch lagen den Autorinnen nicht vor. Insofern blieb nur, die Zettel öffentlich auszulegen und Urnen zur Verfügung zu stellen, in die die beantworteten Bögen eingeworfen werden konnten. Der Katholische Seelsorgebereich Sankt Augustin bot hierauf drei Kirchen an. In jede der Kirchen wurden nun Fragestationen errichtet, die mit einem Plakat beworben wurden. Zudem setzten die Autorinnen einen Aufruf zum Mitmachen in die Pfarrnachrichten. Die Fragebögen lagen von Juni bis September aus.

Aufgrund der Beschränkungen der Personenanzahl in Gebäuden durch Corona füllten leider nur wenige Menschen die Befragung aus; insgesamt waren es zwölf Teilnehmer.

Der Fragebogen sollte herausfinden, was die Gründe für eine Nutzung oder Nichtnutzung des Corona-Hilfeprojekts waren. Er war in drei Blöcke aufgeteilt. Zu Anfang stand die Frage, ob das Projekt genutzt wurde oder nicht. Wurde es genutzt, so sollten die Fragen auf der ersten Seite des Bogens beantwortet werden. Wurden sie nicht genutzt, so folgten die Fragen auf der zweiten Seite. Zum Schluss wurden statistische Daten wie das Alter, der Wohnort, der Bildungsab­schluss und die Haupteinnahmequelle erfragt.

Zunächst stellte sich die Autorin vor und erläuterte das Projekt, damit die Teil­nehmenden wussten, wovon die Rede war. Auf eine extra für diese Arbeit erstellte Emailadresse wurde verwiesen, sollten während des Ausfüllens Fragen über das Projekt bzw. die Forschung dazu entstehen.

Frage Eins lautete: „Nehmen oder nahmen Sie das Hilfsangebot der Kirche in Corona-Zeiten in Anspruch?“ und trennte die Nutzenden von den Nicht­Nutzenden des Projektes. Dies war eine reine Ankreuzfrage. Diejenigen, welche das Projekt genutzt haben, konnten dazu auf derselben Seite Fragen beantworten und weiter zu Frage Zwei gehen. Die Nicht-Nutzer wurden zu Frage Sechs wei­tergeleitet.

Frage Zwei („Wenn Sie das Angebot nutzen/nutzten, woher haben Sie davon er­fahren?“) diente dazu, herauszufinden, welcher Kommunikationsweg sich beson­ders bewährt hatte. Zur Beantwortung stand ein Freifeld zur Verfügung.

Frage Drei fragt nach den Gründen für die Inanspruchnahme der Hilfe. Hier war eine Mehrfachnennung möglich. Die vorgegebenen Antwortmöglichkeiten „Ich gehöre zur Risikogruppe“, „Ich brauchte ohnehin eine Hilfe“, „Ich gehöre zwar nicht zur Risikogruppe, wollte mich aber dennoch nicht gefährden“ konnten durch „Sonstiges“ und ein Freifeld ergänzt und näher beschrieben werden.

Frage Vier ergründet die Zufriedenheit mit der bereitgestellten Hilfe im Projekt durch Ankreuzen von Ja oder Nein und einem Freifeld für Verbesserungsvor­schläge

Frage Fünf untersucht, ob die Menschen das Angebot auch nach der Zeit von Corona nutzen würden oder nicht. Dies war eine reine Ja/Nein-Ankreuzfrage.

Frage Sechs war die Frage, zu welcher diejenigen, die die Hilfe nicht nutzten, nach der Eingangsfrage weitergeleitet wurden. Sie fragt nach den Gründen für die Nichtnutzung. Auch diese war eine Multiple Choice mit mehreren Antwortmög­lichkeiten sowie einem Freifeld zur Präzisierung von „Sonstiges“. Sie lauteten „Ich gehöre nicht zur Risikogruppe“, „Ich wollte meine Einkäufe (...) weiterhin selbst erledigen“, „Ich hatte bereits Hilfe“, „Sonstiges“. Eine Mehrfachnennung war möglich.

Frage Sieben lautete, welche Gründe man dafür haben könnte, weder dieses Hilfs­angebot noch ein anderes zu nutzen. Sie war eine reine Freifeldfrage.

Anschließend wurden statistische Daten abgefragt, um etwaige Muster innerhalb der Nutzenden und Nichtnutzenden herauszufinden. Möglich wäre etwa, dass alle Nutzenden aus demselben Stadtteil kommen oder nur in einer bestimmten Alters­schiene vorkommen.

Schließlich bedankte sich die Autorin bei den Teilnehmenden und bat sie, den Zettel in die bereitstehende Box zu werfen. Der Nutzen der Teilnahme wurde noch einmal herausgestellt und wie weiter mit den Antworten verfahren wird.51

6.4.2 Rücklauf der Fragebögen

Trotz der langen Auslagezeit in den Kirchen war die Rückmeldung nur spärlich. Lediglich zwölf Menschen füllten an den drei Standorten Fragebögen aus. Dies kann an den Hygienemaßnahmen liegen, welche auch die Kirchen zu berücksich­tigenhaben. Demnach darf nur eine bestimmte Anzahl Menschen in ein Gebäude, damit die Abstandsregeln eingehalten werden können. Die Pandemie wird sicher zudem Menschen abgehalten haben, überhaupt in die Kirche zu gehen.

Auch waren nicht alle Fragebögen, welche in die Boxen eingeworfen wurden, ausgefüllt. Auf einem stand eine Beschwerde über die zu kleine Schrift, ein ande­rer hatte einen unleserlichen Kommentar abseits eines Freifeldes geschrieben, jedoch nichts angekreuzt. Diese wurden aussortiert.

6.4.3 Gruppeninterviews im Club, Sankt Augustin

Es wurden zwei teilweise leitfadengeführte Interviews geführt. Diese wurden mit Einverständnis aller Damen aufgenommen und transkribiert. Sie fanden nach Ab­sprache mit der Organisatorin im „Club“ statt, einer Seniorenbegegnungsstätte der Stadt Sankt Augustin. Dort findet jede Woche eine Bingorunde statt, welche auf­grund von Corona mehrere Male ausgefallen war und nun erstmals wieder statt­fand. Die Teilnehmerzahl war aufgrund der Pandemie begrenzt, dennoch wurde die Autorin eingeladen, dort Interviews durchzuführen. Der Kontakt zur Stadt entstand durch Nachfrage bei der Kirche, ob es nicht möglich sei, mehrere Senio­ren gleichzeitig zu interviewen. Dies hörte die Organisatorin des Clubs und mel­dete sich bei der Autorin. Die teilnehmenden Damen wurden vor Beginn der

Interviews über das Projekt und seine Evaluation seitens der Forscherin aufgeklärt und ihr Einverständnis eingeholt, die Interviews führen zu dürfen. Die Forscherin ging von Tisch zu Tisch und befragte in den Bingo-Pausen die Damen einzeln. Alle wurden einzeln noch einmal über die Aufnahme des Gesprächs informiert und zu welchen Zwecken diese diene.

Es waren einmal elf und einmal acht Damen zwischen 71 und 85 Jahren, die Ver­anstalterin von der Stadt sowie die Interviewerin anwesend. Alle Damen kannten das kirchliche Hilfsangebot, denn einige Zeit zuvor wurde von der Veranstalterin eine Liste mit allen Hilfsangeboten zu Beginn der Coronazeit an die Damen ver­teilt.

Die Entscheidung für ein an den Fragebogen anschließendes Interview fiel, da in einem Interview Fragen direkter geklärt werden können und auch die Möglichkeit des Nachfragens für den Interviewer besteht. Zudem war der Rücklauf beim Fra­gebogen nicht sehr groß, obwohl er drei Monate auslag. Mit einem Interview be­steht die Möglichkeit, in kurzer Zeit mehr Menschen zu befragen und ihnen auch mehr Fragen zu stellen, als es bei einem Fragebogen toleriert würde.52

Ein unstrukturiertes Interview eignete sich nicht, da eine Vergleichbarkeit der Fragen gegeben sein musste. Die Fragen bauten auf dem Fragebogen auf, sollten seine Erkenntnisse vertiefen oder daraus entstandene Fragen seitens der Forsche­rin klären. Von daher wurden möglichst viele Daten zu den gleichen Fragen benö­tigt. Da in einem unstrukturierten Interview auch mal Fragen vergessen werden können, war dies nicht die Methode der Wahl. Auch ein streng leitfadengeführtes Interview fiel heraus. Zum Einen gab die Situation ein solches Interview nicht her, da sich alle Damen in einem Raum befanden und die Interviewerin die Pausen des Bingospiels nutzte, um den Teilnehmerinnen ihre Fragen zu stellen. Zum anderen bestand die Möglichkeit, dass die Damen einer Fremden keine Antwort geben wollen. Deshalb wurde um das Interview herum eine persönliche Unterhaltung gebaut, in der die Fragen eingestreut wurden. In einem streng nach Leitfaden ge­führtes Interview sind auch Nachfragen seitens des Interviewers nicht möglich, wenn etwa ein Punkt mehr ausgeführt werden soll oder eine Frage vom Teilneh­mer falsch verstanden wurde und die Antwort in eine ungewollte Richtung geht.53

6.5 Ergebnisse

6.5.1 Fragebogen

Die Antworten auf den Fragebögen lassen erkennen, dass bis auf eine Person kei­ner der Teilnehmenden den Service genutzt haben. Zwei dieser Personen haben selbst Hilfe angeboten und fallen somit aus dem Raster der Klientel heraus. Ent­sprechend hat fast niemand die folgende erste Seite ausgefüllt, da diese für die Nutzer des Projekts bestimmt war.

Die eine Person, die bei Frage Eins („Nahmen oder nehmen Sie das Hilfsangebot der Kirche in Corona-Zeiten in Anspruch?“) Ja ankreuzte, ließ Frage Zwei aus („Woher haben Sie von dem Angebot erfahren?“) und kreuzte bei Frage Drei „Sonstiges“ an („Weshalb nahmen/nehmen Sie die Hilfe in Anspruch?“). Frage Vier, ob man mit dem Angebot zufrieden sei, wurde mit Ja beantwortet, ohne nä­her darauf einzugehen. Frage Fünf, ob man das Angebot auch nach Corona gerne nutzen würde, wurde nicht ausgefüllt.

Die Personen, die den Service nicht nutzten und demnach bei Frage Eins Nein ankreuzten und weiter zu Frage Sechs geleitet wurden („Warum haben Sie das Angebot nicht genutzt?“, mit einer Auswahl an möglichen Gründen sowie einem Freifeld; Mehrfachauswahl möglich), gaben viermal an, dass der Grund bereits vorhandene Hilfe aus dem Umfeld war. Ebenso häufig (viermal gewählt) war „Ich wollte meine Einkäufe [...] weiterhin selbst erledigen“, eine Person schrieb in das Freifeld darunter explizit „Selbstständigkeit“. Dies kann allerdings einerseits be­deuten, dass sie (1) den Verlust der Selbstständigkeit fürchtet, wenn fremde Hilfe angenommen wird, (2) das Einkaufen aufgrund der vorhandenen Selbstständigkeit weiterhin möglich war, oder aber (3) die „Selbstständigkeit“ beruflicher Natur ist und deswegen eine Einkaufshilfe als unnötig angesehen wurde. Wer weiterhin als Selbstständiger arbeitet, braucht vermutlich keine Einkaufshilfe. Wahrscheinlich ist jedoch die zweite Interpretation.

Die Teilnehmenden der Fragebogen-Aktion befinden sich mehrheitlich im Alters­spektrum von 61 bis 70 Jahren (2 Personen) und älter (4 Personen). Drei Personen kommen aus Sankt Augustin Ort, zwei aus Hangelar und zwei aus Mülldorf. Hochschulabschlüsse (viermal) sowie berufliche Bildung (dreimal) sind fast gleichauf als häufigste Bildungsabschlüsse genannt. Man darf also annehmen, dass der Bildungsstandard der Teilnehmer hoch ist. Fünf Menschen beziehen Ren­te, vier bekommen Lohn. Aufgrund des hohen Alters der Mehrheit der Teilneh­menden ist anzunehmen, dass diese Personen jedoch kurz vor der Rente stehen.

Zwei junge Teilnehmende von 19 und 20 Jahren senken den Altersschnitt. Eine Person war selbst Helfer in dem Projekt, eine andere nutzte den Dienst nicht und erklärte über den Fragebogen, dass dies nicht geschah, um Aufwand (vermutlich für die Helfern) zu vermeiden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Mehrzahl der Menschen, die den Fra­gebogen ausfüllten, im Rentenalter oder kurz davor sind und den Service nicht nutzten. Die Gründe dafür waren meist, dass schon Hilfe bestand oder nicht benö­tigt wurde, da sie noch selbst einkaufen gingen. Die eine Person, die „Ja“ ange­kreuzt und demnach den Service genutzt hatte, machte leider keine weiteren nütz­lichen Angaben.

Aus diesen Ergebnissen leiten sich Fragen ab, etwa, warum die Senioren teilweise noch selbstständig einkaufen gingen. Waren sie doch besonders gefährdet durch Corona und deshalb aufgerufen worden, zuhause zu bleiben und Kontakte zu mei- den, um sich nicht zu infizieren. Eine zweite Frage lautet, ob die Senioren mög­licherweise nichts von dem Service wussten und ihn deshalb auch nicht nutzten. Eine Vermutung entsteht, dass Einkäufen eine Selbstständigkeit bedeutet - auf die einmal ja auch so deutlich hingewiesen wurde - auf die nicht verzichtet werden möchte.

Zudem stellt sich die Frage, ob die Menschen, die Hilfe von ihrer Familie erhal­ten, generell auch fremde Hilfe annähmen, wenn die Familie diese nicht leisten könnte; oder ob sie dann auch selbstständig einkaufen gingen.

Diesen Hintergründen der Antworten wurde weiter nachgegangen. Ambesten ließ sich dies in Interviews bewerkstelligen, da in dieser Befragungsform nachgehakt werden kann.

6.5.2 Teilweise leitfadengeführtes Interview

Im Fragebogen wurde, wie oben beschrieben, nicht abgefragt, ob auch die Nicht­Nutzenden von dem Angebot wussten und es dennoch nicht nutzten. Deshalbbe- gann der Fragebogen mit der Frage, ob der teilnehmenden Person das Angebot der Kirche bekannt war. Alle Teilnehmerinnen wussten von dem Angebot. Dies lag zum einen an dem oben erwähnten Info-Flyer, den die Leiterin des „Clubs“ ver­teilt hatte. Zum anderen haben alle Anwesenden Flyer, die von der Kirche erstellt wurden, in ihren Briefkästen gefunden oder waren über Aushänge in den Hausflu­ren darüber informiert worden.

6.5.2.1 Gründe für die (Nicht-)Nutzung

Als Nächstes wurde gefragt, ob die Teilnehmerinnen das Angebot nutzten. Bei einigen war dies auch der Fall. Sie haben das Angebot der Kirche oder anderer Anbieter kurzzeitig genutzt. Die Mehrheit der befragten Personen hat ein solches Angebot jedoch nichtin Anspruch genommen. Nach der Vorstellung des Projek­tes durch die Interviewerin, wurden im Plenum bereits einige Gründe für die Nicht-Nutzung des Angebotes diskutiert.

D: Das in Niederpleis, die ham dann sogar angeboten und haben im Haus aushängen, ne? und äh, da is noch ne anderes Netzwerk, also es gibt noch was, wo man hinkann

A: Es kann vielleicht auch sein, dass viele Leute, ältere Leute sagen, Fremder kommt mir nicht ins Haus

I: JA

E: Also ich hatte ja auch mal nen Zettel dazu, es gab ja dann auch so Be- trüüger, hab ich euch ja auch dazu gegeben, bei der Post, dass die die Poli­zei ja auch sagte, seid vorsichtig (Z.59-67, Interview 14.09.20, Club, S. 91)

Die Interviewteilnehmerinnen wiesen zudem daraufhin, dass es noch andere Hil­fenetzwerke gibt (so zum Beispiel den Nachbarschaftsverein aus Hangelar, wel­cher im zweiten Teil dieser Arbeit untersucht wird). Dies kann zur Folge haben, dass sich die potenzielle „Kundschaft“ auf die Netzwerke verstreut und jedes so­mit weniger Personen zu betreuen hat. Ein weiterer Grund, welcher auch später noch angesprochen wurde, kann das Misstrauen gegenüber Fremden und Betrü­gern sein. Offenbar wurde in der Coronazeit davor gewarnt, dass sich betrügeri­sche Netzwerke gebildet hätten. Ob diese sich auch als Einkaufsdienst getarnt haben, wurde in dem Interview nicht weiter angesprochen, wohl aber die Angst davor, an ein solches zu geraten.

Als weitere Gründe gegen eine Nutzung des Projekts wurden Sparsamkeit, das Gefühl, die Helfern auszunutzen, Scham und schlicht Unsinnigkeit einer Hilfe genannt. Eine befragte Person sagte in Bezug auf die Sparsamkeit, dass sie sehr auf ihr Geld achten müsse. Wenn sie nun einem freiwilligen Einkäufer sagte, sie brauche Schnitzel, brächte dieser ihr vielleicht das teure Produkt von der Fleischtheke mit statt einem günstigeren aus der Tiefkühltruhe. Das könne sie sich nicht leisten. Viele ließen sich beim Einkaufen von der (eventuell reduzierten) Auslage inspirieren:

A: Ja, bei mir ist zum Beispiel, ich muss ein bissen aufpassen mit meinem Geld und dann geh ich zum Lidl und wenn der Lidl dann Fleisch für 50% hat und das kann also auch morgen ablaufen, aber ich kauf das und frier es ein. (Z. 86-88, Interview 14.09.20, Club, S.92)

Auch kam das Argument auf, dass die Inanspruchnahme einer Einkaufshilfe mit Schamgefühlen verbunden sein könnte.

A: Wenn ich jetzt jemanden zum Einkaufen anrufe und der geht dann für mich einkaufen, dann hätte ich ein schlechtes Gewissen auszugehen, ohne dass jemand für mich einkauft. So ,Guck mal, die läuft hier rum aber ein­kaufen kann se nicht‘ (Z.215-217, Interview 14.09.20, Club, S.97)

Auch schlechtes Wetter anfangs des Jahres wurde einmal als Grund dafür ge­nannt, eine Einkaufshilfe in Anspruch zu nehmen. Als Hauptgrund für die Nicht­nutzung wurde jedoch die noch vorhandene Selbstständigkeit genannt. Solange es (körperlich) möglich sei, selbst einzukaufen, würde diese Möglichkeit auch ge­nutzt.

Häufig bestand die Notwendigkeit fremder Hilfe im Lockdown nicht, weil Ver­wandte ohnehin schon den Einkaufsdienst übernahmen, oder die Teilnehmerinnen dies selbst erledigten:

D: Also bei mir war das so, ich habs zweimal in Anspruch genommen, und dann dachte ich mir warum sollst du das jetzt noch machen? Ich kann mit dem Auto fahren, (Unverständlich) oder? Ja. Deshalb hab ich das praktisch selbst wieder gemacht ich brauchte dann kein Hilfenetzwerk (Z. 70-73,In- terview 14.09.20, Club, S.92

[.]

C: [.]Dieses Angebot hab ich auch geleesen, da hab ich nur gedacht, wenn ichs BRÄUCHTE, und meine Tochter könnts nicht machen, wegen der kleinen Kinder, die kann ja auch nicht immer weg, ne, dann würde ichs in Anspruch nehmen. Ich brauchs halt nicht, hm (Z. 164-167,S.95,ebd.)

[.]

F: Nein, da würde ich da meine Töchter das sowieso machen habe ich auch noch nie das Angebot angenommen (Z. 193f.S. 96)

[.]

F: Eben wie gesagt aus dem Grund dass meine Töchter das machen, ne und eh da kann ich da bin ich sicher das läuft alles gut und fremde Men­schen, da habe ich wirklich sehr Angst. (Z.196-198, ebd.)

Frau D nahm das Angebot zweimal an, dann dachte sie jedoch darüber nach, dass sie diese Hilfe eigentlich nicht brauchte, weshalb sie den Einkauf wieder selbst übernahm. Frau Cwardem Angebot fremder Hilfe grundsätzlich nicht abgeneigt. Dies liegt auch darin begründet, dass sie keine Familie hat, die sieum Hilfe bitten könnte. Da sie jedoch selbst noch fit genug ist, sah sie ebenfalls keine Notwen­digkeit für einen Einkaufsservice.

Frau F berichtete hingegen, dass ihre Familie bereits vor Corona den Einkauf übernommen hat. Zudem gabsie zu, Angst davor zuhaben, fremde Menschen in ihr Lebensumfeld zu lassen. Dies wurde in einer späteren Frage noch einmal the­matisiert.

Fast alle Interviewten gaben an, dass sie den Service in Anspruch nehmen wür­den, wenn ihnen keine andere Person helfen könnte und sie selbst dazu nicht in der Lage wären. Für diesen Fall-„[.] es kann ja auch was passieren, ne, dass ich mal ausrutsch und kann nicht laufen [.]“ - bewahrten einige der interviewten Personen die oben genannte Liste mit Angeboten und deren Telefonnummern auf.

6.5.2.2 Angst vor dem Corona-Virus

Auch bestand bei den Befragten keine große Angst vor dem Virus:

B: Ich hab mich da nicht so gefürchtet (unverständlich) und spazieren ge­hen und so eingeschränkt wie in Frankreich Italien oder so da so schlimm wars ja nicht. Also für MICH ist Corona jetzt nicht das GROßE Problee- em, denn ich bin zu Anfang immmmer einkaufen gegangen und später als wir Masken ich hab mit der Maske und so, bin mit der Bahn gefahren, ich bin jeden Tach spazieren gegangen [.] (Z. 113-117, Interview 14.09.20, Club, S.93)

C: [.] Also ich bin auch gar nicht rausgegangen. Außer Einkaufen haben wir nichts unternommen [.]Wir ham auch keine Ausflüge und nix ge­macht. Kein Urlaub. Ich sag immer ich komme mir vor wie in einem Rie­sengefängnis [.] (Z.102-112, Interview 21.09.2020, Club, S. 101f.)

[.]

D: [.] bin nach Bonn-Beuel gefahren, weil der Edeka großräumiger ist da bin ich nicht so in Berührung gekommen. (Z. 178f, S.104, ebd.)

Ähnlich wie Frau B äußerten sich auch die anderen Teilnehmerinnen. Sie haben sich in ihrem Lebenswandel insoweit eingeschränkt, als dass sie keine Ausflüge mehr unternahmen oder sich mit Freunden trafen. Unter Beachtung der Hygiene­maßnahmen wurden jedoch weiterhin die Einkäufe und teilweise Spaziergänge getätigt. Die Schlussfolgerung, dass wegen der geringen Angst vor einer Anste­ckung auch nicht auf den Service der Kirche zurückgegriffen wurde, liegt dem­nach nahe. Häufig wurde jedoch hinzugefügt, dass zwar ein großer Respekt vor der Krankheit bestehe, jedoch die bestehenden Sicherheitsmaßnahmen wie Masken und Hand­desinfektion ein ausreichendes Sicherheitsgefühl vermittelten. Menschenansamm­lungen und enge Supermärkte wurden zumeist gemieden.

6.5.2.3 Bedeutung des Einkaufens

Um herauszufinden, wieso von der Mehrheit der Befragten der Service nicht ge­nutzt wurde, wurde nachgefragt, was genau Einkaufen denn für die Befragten be­deute. Wenn es etwa wichtig für sie sei, weil dadurch Selbstständigkeit erhalten bleibe - so wie es einige Antworten auf den Fragebögen vermuten ließen - könnte hier ein Grund für die Nichtnutzung vorliegen.

A: Aus dem Haus zu kommen. Gerade jetzt in der Situation (Z. 32, Inter­view 21.09.2020, Club, S. 98)

[...]

C: Ich sag mal so, da man ja eh nichts in Anspruch nehmen konnte, ähm, weil alles zu war, war das für uns sowas „meine Güte, jetzt komme ich endlich mal ein bisschen raus und kann angucken“ (Z. 106ff., S. 102, ebd.)

[.]

D: Ich denke mal nach alle dem äh, was ich jetzt so hatte ich war ja sehr sehr viele Monate jetzt auch nur in der Wohnung und so ist das für mich schon etwas, wie ich mich aufmache und gehe nach Bonn und laufe durch die Friedrichstraße oh, ich erlebe es alles! [.] (Z. 202-205, S.105) Aber äh, so wie Baumarkt oder solche Sachen mach ich eigentlich nicht, ne, nur jetzt so für meinen Lebensunterhalt das Wichtigste ne (Z. 180ff., S.104,ebd.)

In Zeiten der coronabedingten Beschränkungen bedeutet Einkaufen für alle Be­fragten eine Abwechslung vom Alltag in der eigenen Wohnung. Wie in der obi­gen Frage erläutert, schränkten sich die Seniorinnen privat ein, um möglichst we­nig Kontakt zu Menschen zu haben und somit das Ansteckungsrisiko zu senken. Einkaufen bedeutet somit, aus dem Haus zu kommen und etwas zu sehen. Einkau­fen war hier jedoch meist beschränkt auf Notwendiges wie zum Beispiel Lebens­mittel. Nur eine Teilnehmerin gab zu, sich auch einen neuen Mantel gekauft zu haben oder zum Mittagessen auszugehen:

D: Wenn ich da mal auf den Markt gehe und im Literaturcafé da öhh, so schön Mittagessen, nicht kochen müssen, also, solche Sachen genieße ich sehr. Und das mach ich auch, da bin ich Egoist sach ich mal. Ich bin auch schon oder hab mir nen Mantel gekauft und solche Sachen hab ich auch schon gemacht, ne, uuund bei mir in Hangelar kann man ja auch vieles so kaufen wie Wäschegeschäft und so da muss ichgar nicht in die großen Kaufhäuser, die lieb ich eh nicht. (Z. 206-213, Interview 21.09.2020, Club, S. 105)

Einige Gründe, weshalb die Teilnehmerinnen weiterhin selbst einkaufen gingen, wurden bereits beleuchtet. Nun interessierte aber auch, ob sie einem Einkaufs­dienst generell eher positiv oder negativ gegenüberstehen. Deshalb wurde gefragt, wie denn ein Projekt zur Einkaufshilfe aussehen solle, damit es von den anwesen­den Teilnehmerinnen genutzt würde.Auf diese Frage kam von einer Befragten ein ganz konkreter Gestaltungsvorschlag:

A: Es müsste vielleicht, ich weiß ja nicht ob das so machbar ist, dass man sagen wir mal, von dem Geschäft, wo man einkaufen geht, oder wo dieje­nigen einkaufen gehen, dass man davon eine äh, wie soll ich jetzt sagen, Dokumentation hat. Die machen doch heute alles mit Bildchen, fotografie­ren und so, könnte man sagen: Oh ja, das kann ich auch brauchen, das auch; ne, dass man praktisch so nen Katalog haben [...] oder auch wenn die kommen, und sagen “was möchten Se haben?“, die rufen meistens muss man ja anrufen. Aber äh, vielleicht dass vielleicht auch bei denjeni­gen, die wirklich was kaufen wollen, so ein - Katalog, das hört sich jetzt groß an, Katalog - aber Prospekt, meinte ich geben kann. Von den wich­tigsten Sachen. Da könnte ich mir auch vorstellen, dass mancher doch sagt „Och ja, das ist doch schick“. (Z. 17-30, Interview 21.09.2020, Club, S. 98)

So könne dem Einkäufer genaubeschrieben werden, welches Produkt gewollt sei. Auch eine mögliche Inspiration für den nächsten Lebensmitteleinkauf wäre hier­bei gegeben, die weiter oben als ein Hinderungsgrund für die Inanspruchnahme einer Einkaufshilfe genannt wurde. Zudem wäre das Problem behoben, das häufi­ger als lästig beschrieben wurde, vor allem von denen, die das Angebot der Ein­kaufshilfe einige Male genutzt hatten:

C: Ich sag mal so der kauft ja nur das ein, was ich ihm aufn Zettel schrei­be. Und und ähhh, alles andere, wenn ich denk “Ach, jetzt hab ich ganz vergessen“, das kann dann leicht passieren. Nee. Das man in der Hektik denn vergisst, äh, “Mensch, das wolltest du doch auch mitgebracht be­kommen“, ne? (Z. 128-131, Interview 21.09.2020, Club, S. 102)

Viele antworteten jedochauf die Frage, wie ein Projekt zur Einkaufshilfe optima­lerweise gestaltet sein sollte, dass sie auch einen perfekten Service erst nutzen würden, wenn sie selbst nicht mehr dazu in der Lage wären, einen Einkauf zu täti­gen:

F: Wenn ich gar nichts mehr kann und bin denn nur auf das Wochenende angewiesen, wo meine Töchter Zeit haben, dann würde ich auch mitten in der Woche Hilfe holen, ne wenn ich gar nichts mehr kann. (Z. 209-212, In­terview 14.09.2020, Club, S.97)

Konsens unter den befragten Personen war, dass der Service nur dann genutzt würde, wenn sie selbst nicht mehr in der Lage seien, sich zu helfen, und weder Familie, Nachbarn oder Freunde bereitstünden. Dies ist insofern interessant, als dass überwiegend eine positive Einstellung gegenüber diesem oder ähnlichen Pro­jekten vorherrscht. Viele der Teilnehmerinnen lobten sogar ausdrücklich die Ent­stehung eines solchen Projekts. Die nächste Frage, welche spontan im Inter­viewkontext entstand, behandelte deshalb das Thema Angst. Gefragt wurde, ob Angst davor bestünde, Hilfe von fremden Personen anzunehmen, und warum dies so sei.

6.5.2.4 Angst vor fremden Personen

Die Frage, ob Angst vor dem Corona-Virus bestand, wurde von einer befragten Person falsch verstanden. Sie erzählte, dass sie Angst vor fremden Menschen ha­be, die in ihre Wohnung kämen. Da diese Frage erklären könnte, weshalb so der Service des Projektes so wenig in Anspruch genommen wurde, wurde sie mit in den Katalog übernommen und an die restlichen Teilnehmerinnen gestellt.

F: Mit fremde Menschen, ichweiß nie ob das jetzt einer ist, der ehrlich ist wenn jetzt, wenn jetzt die ganze Zeit gesagt wird man wird geholfen und so da weiß ich nicht ob das so irgendeiner ist, da hätte ich große Angst, und zu mir kommt und dann muss man denen das Geld vorher geben, be­vor man eingekauft hat oder nachher? [.]Ja dann gibt man dem ndas Geld jetzt und und auf Nimmerwiedersehen isser weg, ne und vor solche Sa­chen fürchte ich mich (unverständlich) (Z. 183-190, Interview 14.09.2020, Club, S.96)

[.]

A: Es kann vielleicht auch sein, dass viele Leute, ältere Leute sagen, „Fremder kommt mir nicht ins Haus“ (Z. 62f, S.91, ebd.)

[.]

D: [.] dann würde ich mich jetzt wahrscheinlich weil ich ja auch selber dabei war, hier das Hilfenetzwerk 60+anrufen ja und äh, aber wenn das nicht existieren würde, ja dann würde ich eben aus meiner Gegend [.]. (Z.231ff., Interview 21.09.2020, Club, S. 106) Aber wenn es irgendwie machbar ist, mache ich Dinge auch noch selber weil mir das ja auch gut tut ne? Aber Hilfe in Anspruch nehmen, würde ich. Weil ich persönlich einfach auch gerne das äh, das weiß ich einfach. Und das ist ja auch wichtig (Z.241ff, ebd.)

[.]

Interviewerin: Also auch keine Sorgen wegen Fremden [.]?

B: Nee

A: Die kommen ja auch nicht in die Wohnung. Die bleiben draußen ste­hen. Die bleiben draußen stehen und geben die Sachen vor der Tür ab. Man bezahlt auch vor der Tür. Ja. Also da brauchst du gar keinen reinlas­sen. (Z.58-62, S.100, ebd.)

Sorge vor Betrügern oder Misstrauen gegenüber den Freiwilligen bestand bei den Befragten größtenteils nicht. Frau D bspw. war bereits selbst im städtischen Hil­fenetzwerk 60+ aktiv und kannte daher sowohl das System der nachbarschaftli­chen Hilfe als auch die Organisatoren einer solchen. Zwei weitere befragte Perso­nen, Frau A und Frau B, hatten keinerlei Bedenken, da sie wussten, wie eine Ein­kaufsabgabe abläuft. Sie gehörten allerdings auch zu jenen, die den Dienst ein­oder zweimal genutzt hatten. Jedoch ist Frau A bewusst, dass es Senioren gibt, die solchen Hilfsangeboten eher zurückhaltend gegenüberstehen. So äußert sie direkt zu Beginn des Interviews Vermutungen darüber, warum so wenig Hilfsanfragen an die Kirche gestellt wurden.

Frau F hingegen hat große Angst vor fremden Menschen. Sie befürchtet, dass sie auf einen betrügerischen Dienst hereinfallen könnte, der ihr dann Geld stiehlt. Im Laufe des Gesprächs teilte sie zudem mit, dass sie große Angst vor Einbrechern habe, die sie durch den Einkaufsdienst ausspionieren könnten:

F: [...] und fremde Menschen, da habe ich wirklich sehr Angst. Weil ich auch unten wohne, ne alleineund bei meinem Nachbar ist auch schon ein­gebrochen worden, und deswegen ist das so leicht bei uns durch die Teras- sentür oder oder die Wohnzimmertür eingetreten und dann isser schon drin, ne. (Z. 197-201, Interview 14.09.2020, Club, S.96)

6.5.2.5 Kommunikationswege des Projektes

Ein weiterer vermuteter Grund der Nicht-Nutzung war eine mögliche Unbekannt­heit des Projekts. Dieser Verdacht wurde jedoch direkt zu Beginn beider Inter­viewtermine ausgeräumt, da die Teilnehmerinnen imPlenum bekannt gaben, von dem Projekt zu wissen. Dies bestätigte sich auch in den einzelnen Gesprächen. Deshalb wurde die Frage umgewandelt in: Woher erfuhren Sie von dem Projekt?

C: Ja also bei uns im Haus, ich wohn in so nem Haus mit 6 Parteien, und da hängt das immer noch ich mein es hängt immer noch unten, also. Halt,

oder ich hats mir auch bei mir aufgehängt, [.] (Z.171ff., Interview 14.09.2020, Club, S.95)

[.]

D: Das in Niederpleis, die ham dann sogar angeboten und haben im Haus aushängen,ne? (Z.59f,S.91,ebd.)

[.]

A: Ja du [an Veranstalterin Frau E; Anmerkung der Autorin] hast uns ja ne ganze Liste gegeben. (Z.48, S.91, ebd.)

[.]

D: Ich bekam auch vieles angeboten, also ich hab da im Gemeindeblatt ge­lesen, [.] (Z.41f, S.90, ebd.)

Die Teilnehmerinnen C und D berichteten, dass sie über Aushänge in den Haus­eingängen über das Projekt informiert wurden. Frau D hat gleichzeitig auch über das (katholische) Gemeindeblatt davon erfahren. Dieser Weg steht aber natürlich nur den katholischen Bürgern der teilnehmenden Gemeinden offen, weshalb er wohl auch nur dieses eine Mal Erwähnung fand. Die anderen Teilnehmerinnen, beispielhaft durch Frau A, erfuhren durch eine oben erwähnte Liste, die die Ver­anstalterin Frau E zusammengestellt hatte, von dem Projekt. Bereits zu Beginn des Gesprächs wies sie (siehe oben) darauf hin, dass es betrügerische Netzwerke gebe, die sich als Hilfedienst tarnten. Aus diesem Grund hatte Frau E bereits zu Beginn der Corona-Krise eine Liste mit seriösen Hilfsangeboten zusammenge­stellt. Aufdieser Liste stand auch das Projekt der Katholischen Kirche.

6.5.3 Zwischenfazit

Rückschlüsse für Projekt Sankt Augustin

Alle interviewten Teilnehmerinnen wussten um das kirchliche Hilfsprojekt und nannten Aushänge, die Information in den Pfarrnachrichten sowie die Liste mit Projekten von Frau E als Gründe dafür. Diese Publikationswege scheinen sich bewährt zu haben.

Auch war die Mehrheit der mündlich Befragten dem Projekt gegenüber positiv eingestellt, obwohl sie es nicht nutzten. Eine Teilnehmerin war sogar in der Ver­gangenheit selbst in einem Netzwerk aktiv. Eine Akzeptanz für nachbarschaftliche Hilfe scheint demnach ebenso vorhanden, wenn auch Bedenken wegen Betrügern und Einbrechern genannt wurden.

Insgesamt zeigte sich - sowohl in den Interviews als auch in den Fragebögen - dass die Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, bei der Mehrheit der befragten Personen vorhanden ist. Dennoch würde ebenfalls die Mehrheit der Befragten diese Hilfe nur in Anspruch nehmen, wenn sie selbst nicht in der Lage seien, sich zu helfen, und keine Familie oder Freunde bereitstünden. Angst vor Fremden besteht bei den Befragten nur eingeschränkt. Als weitere Einschränkungen wurden Scham, die Gefahr des zu teuren Einkaufs durch die fremde Person oder das Vergessen von Artikeln auf der Einkaufsliste genannt. Diese Gründe wurden jedoch nur verein­zelt genannt oder gar nur als möglicher Grund, warum andere Personen - und nicht die befragten Personen selbst - den Service nicht nutzten.

Ein bedeutsamer Grund, die fremde Hilfe nicht anzunehmen, scheint jedoch zu sein, dass die Familie diesen Dienst bereits übernimmt. Sollte diese Möglichkeit wegfallen, äußerten einige der mündlich Befragten aber, die nachbarschaftliche Hilfe annehmen zu wollen.

Ebenfalls zeigte sich auch die Selbstständigkeit als ein großer Faktor. Solange diese noch erhalten ist, kaufen die Senioren offenbar noch allein ein. Die hohe „Fitness“ zusammen mit der eher gering ausgeprägten Angst vor dem Virus füh­ren anscheinend dazu, dass die Senioren alltägliche Aufgaben wie Einkaufen selbstständig bewältigen und sich dabei ausreichend geschützt fühlen. Sie sehen keinen Grund, in der Wohnung zu bleiben, um die Einkäufe durch andere Perso­nen erledigen zu lassen. Auch ein „perfekter“ Einkaufsservice würde daran nichts ändern. Oftmals beschränkten sich die Interviewten in ihrem sonstigen Privatle­ben, ließen sich jedoch das Einkaufen „nicht nehmen“ und freuen sich über die Gelegenheit, rauszukommen. Dazu kommt, dass der Einkauf teilweise als einziger Grund gesehen wurde, aus der Wohnung herauszukommen und etwas anderes zu sehen, quasi als „Flucht vor der Isolation“. Dieser Punkt lässt sich mit folgendem Zitat zusammenfassen:

G: Ich helfe auch anderen immer, ne, ich fahr die Andern noch durch die Gegend , nee, noch brauch ich Gott sei Dank nicht, ich brauch keine Hilfe. (Interview 21.09.2020, Club, Z.255f, S.107)

Frau G ist dankbar dafür, keine Hilfe zu brauchen. Sie schätzt ihre Selbstständig­keit und hilft sogar noch anderen Personen dabei.

Dies lässt darauf schließen, dass die „fitten“ Senioren, besonders diejenigen mit Familie, nicht zu der Zielgruppe des Hilfsangebotes gehören.

6.5.4 Telefoninterview mit Teilnehmerinnen des „Clubs“, 12.01.21

Da die „fitten“ Senioren laut den ersten beiden Interviews offenbar gut ohne Hilfe zurechtkommen, ist es nun interessant, die Sicht der gebrechlichen Senioren zu erforschen. Um mit der Grounded Theory zu sprechen: Die Kategorie der „Fitten“ ist ausreichend gefüllt; nun will die Kategorie der „Gebrechlichen“ erforscht wer­den. Dazu wurde ein erneuter Interviewtermin mit dem „Club“ vereinbart. Auf­grund eines zweiten Lockdowns fand dieses Interview anonym am Telefon statt. Die Veranstalterin des „Clubs“ rief die Senioren auf, sich am 12.01.21 in eine von ihr moderierte Telefonkonferenz einzuschalten und sich dort interviewen zu las­sen. Fünf Teilnehmerinnen folgten dem Aufruf und fanden sich zur Konferenz ein. Nach der Vorstellung der Interviewerin und des Projekts wurde das Inter­viewverfahren erläutert. Das Einverständnis aller Teilnehmerinnen, ihre Aussagen und Daten aufzunehmen und in dieser Arbeit zu verwerten, wurde eingeholt.

Wichtig war es hier, Teilnehmer zu haben, die entweder selbst gebrechlich sind oder die die Probleme von Gebrechlichen beim Einkaufen kennen und etwas aus dieser Perspektive erzählen können. Deshalb wurde direkt zu Beginn des Inter­views gefragt, ob die Teilnehmerinnen hierzu etwas sagen können

6.5.4.1Wissen um Probleme für Gebrechliche beim Einkaufen

Eine Teilnehmerin äußerte sich nicht zu der Frage, eine gab zu, gebrechlich zu sein und Hilfe zu benötigen.

C: JA bei mir ist es so, dass wie gesagt, ich bin ab heute ein bisschen bes­ser, aber ich hab Depression im Moment und ich hab so viel abgenommen und mir ist schwindlig (Z. 21ff., Transkript Telefoninterview, S.111)

Zwei weitere sagten, selbst fit zu sein, aber gebrechliche Bekannte zu haben, und eine der Befragten beschrieb sich als fit und gab keine Angaben zu Bekannten.

B: Ich kann nur sagen, ich bin noch fit, ich habe keine gesundheitlichen Probleme, aber ich treff natürlich hier im Geschäft auch schon mal Be­kannte, die mir dann erzählen, dass dann also bestimmte Dinge von Kin­dern besorgt werden (Z. 11ff., ebd.)

[.]

F: So kleinere Sachen die gehe ich selber einkaufen, und, wenn es schwer ist, dann äh, meine Tochter und Schwiegersohn und auch der Enkel, [.] ist auch schon einkaufen gegangen für mich (Z.41ff.,S.112)

[.]

G: Ja die G geht morgens so früh um acht einkaufen, da sind so gut wie keine Leute drin im Geschäft, und da ich noch Auto fahren kann. Familie hab ich nicht hier, aber ich komm noch zurecht (Z.45ff., ebd.)

6.5.4.2 Bekanntheit des Projektes

Als Nächstes wurde auch in diesem Interview gefragt, ob den Teilnehmerinnen das Projekt der Kirche bekannt sei. Alle Teilnehmerinnen verneinten, da sie nicht katholisch seien und somit nicht über den Gemeindebrief darüber erfahren konn­ten. Aushänge in den Hausfluren wurden zwar erwähnt, doch dienten diese der Bekanntmachung anderer Projekte. Allen Teilnehmerinnen war jedoch ein ähnli­ches Projekt der evangelischen Kirche bekannt. Zwei von ihnen berichteten, von diesem bereits angesprochen bzw. schriftlich informiert worden zu sein.

D: Im ersten Lockdown, da kam gleich von der evangelischen Kirche von [Stadtteil] jemand und hat mir angeboten, einkaufen zu gehen (Z. 61f, S.113.)

[.]

B: Ich hab auch ein Schreiben bekommen von hier in [Stadtteil] meiner Kirche hier, die ham das dann auch angeboten, dass man sich an sie wen-

[...]


1 In dieser Arbeit wird aus Gründen der Lesbarkeit nur die männliche Form genutzt, Ausnahmen, wenn etwa nur von weiblichen Personen die Rede ist, sind vorbehalten. Selbstverständlich sind jedoch alle Geschlechter gemeint

2 Die Webseite des Katholischen Seelsorgebereichs ist erreichbar unter: https://katholisch-sankt- augustin.de/

3 Vergleiche hierzu https://de.wikipedia.org/wiki/SARS-CoV-2

4 Vgl. Andersen (1995).

5 Vgl. Walters u. a. (2001), S. 278.

6 Vgl. Walters u. a. (2001), S. 281.

7 Vgl. Walters u. a. (2001), S. 280.

8 Vgl. ebd.

9 Vgl. Walters u. a. (2001), S. 281.

10 Vgl. Walters u. a. (2001), S. 280.

11 Vgl. Auslander u. a. (2003), S.209 f.

12 Vgl. Auslander u. a. (2003), S. 212.

13 Vgl. Auslander u. a. (2003), S. 214.

14 Vgl. Auslander u. a. (2003), S.219 f.

15 Vgl. Auslander u. a. (2003), S. 219.

16 Vgl. Walters u. a. (2001).

17 Vgl. Hanses (2005), S.65.

18 Ebd.

19 Vgl. Hanses (2005), S.71 f.

20 Vgl. Hanses (2005), S.72 f.

21 Hanses (2005), S.75.

22 Vgl. Hanses (2005), S.74 ff.

23 Oelerich/Schaarschuch (2005), S.80.

24 Vgl. Oelerich/Schaarschuch (2005), S.83 ff.

25 Vgl. Oelerich/Schaarschuch (2005), S.81 f.

26 Oelerich/Schaarschuch (2005), S.94.

27 Vgl. Beckmann/Richter (2005), S.137 f.

28 Vgl. Scott u. a. (2017).

29 Vgl. Oelerich u. a. (2019).

30 Vgl. Schlebrowski (2009).

31 Vgl. Normann (2005).

32 Vgl. Andersen (1995).

33 Vgl. Andersen (1995).

34 Vgl. Thode u. a. (2004), S.15 ff.

35 Vgl. ebd.

36 Vgl. ebd.

37 Vgl. Andersen (1995).

38 Vgl. Andersen (1995), S.3.

39 https://katholisch-sankt-augustin.de/einrichtungen/caritas/tafel/

40 https://katholisch-sankt-augustin.de/einrichtungen/caritas/lotsenpunkt/

41 Vgl. hierzuGlaser/Strauss (2010).

42 Vgl. Glaser/Strauss (2010).

43 Vgl. Glaser/Strauss (2010), S.19ff.

44 Vgl. Glaser/Strauss (2010), S.50 ff.

45 Vgl. ebd.

46 Vgl. Glaser/Strauss (2010), S.53 f.

47 Vgl. Glaser/Strauss (2010), S.76 ff.

48 Vgl. Glaser/Strauss (2010), S.84 ff.

49 Vgl. Glaser/Strauss (2010), S.71.

50 Vgl. Glaser/Strauss (2010), S.119 ff.

51Siehe Anhang „Fragebogen zum Hilfenetzwerk Corona in Sankt Augustin“, S. 81

52 Vgl. Döring/Bortz (2016), S. 357.

53 Vgl. Döring/Bortz (2016), S.358 f.

Ende der Leseprobe aus 166 Seiten

Details

Titel
Hilfsbedürftige Senioren in Zeiten der Corona-Pandemie? Eine Evaluation zweier Hilfsprojekte in Hangelar und Sankt Augustin
Hochschule
Fachhochschule Bonn-Rhein-Sieg in Sankt Augustin
Note
1,3
Jahr
2021
Seiten
166
Katalognummer
V1182261
ISBN (eBook)
9783346616135
ISBN (Buch)
9783346616142
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Corona, Grounded Theory, Sozialpolitik, Sozialwissenschaft, Interview, Senioren, Hilfenetzwerk
Arbeit zitieren
Anonym, 2021, Hilfsbedürftige Senioren in Zeiten der Corona-Pandemie? Eine Evaluation zweier Hilfsprojekte in Hangelar und Sankt Augustin, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1182261

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