Relative Solmisation nach Malte Heygster und ihre Bedeutung für musikalisches Lernen nach Wilfried Gruhn

Funktion und Konsequenzen der Arbeit mit relativer Solmisation für den Musikunterricht an Volks- und Musikschulen sowie für die LehrerInnenausbildung


Masterarbeit, 2022

107 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Teil 1 RELATIVE SOLMISATION - Charakteristik und Besonderheiten der von Malte Heygster und seinem Bielefelder Team entwickelten Methodik und Didaktik zur relativen Solmisation
1.1 Emotion
1.1.1 Nukleusverfahren
1.1.2 Diversitätsverfahren
1.1.3 Häufige Begegnung (- mit einfachen Liedchen oder Motiven)
1.1.4 Tonbeziehung - Tonaler Affekt:
1.1.5 Das Gerüst der Diatonik
1.2 Klang
1.2.1 Primat des Klanges
1.2.2 Stellvertreter des Klanges
1.2.3 Silben, Vokabeln, Namen als Nomenklatur
1.2.4 Die Stimme als Quelle des Klanges
1.2.5 Inbesitznahme
1.3 Zeit
1.3.1 Sog
1.3.2 Reizschwelle
1.3.3 Tonkreise
1.3.4 Lerntempo
1.3.5 Gültigkeitspunkt
1.4 Empfindsamkeit
1.5 Die Lernenden - individuelle Persönlichkeiten
1.5.1 Musikalischer Besitz
1.5.2 Tonbewusstsein
1.5.3 Kinästhetik - Singen mit Hand und Stimme
1.6 Die Lehrenden - ihr Selbstverständnis, ihre Motivation
1.6.1 Theorie
1.6.2 Erfahrung
1.6.3 Beziehung
1.6.4 Konzentration
1.6.5 Identifikation
1.6.6 Rituale
1.7. Wahrnehmung
1.7.1 Wahrnehmungsschulung
1.7.2 Wahrnehmungsziele - Globale Wahrnehmung - Detailwahrnehmung
1.7.3 Deduktives und Induktives Verfahren
1.7.4 Musikalische Parameter
1.7.5 Huckepackverfahren
1.7.6 Einkleiden

Teil 2 MUSIK LERNEN - Wilfried Gruhn
2.1. Musik
2.1.1 Musik als Schallereignis
2.1.2 Musik als Werk
2.1.3 Musik als Tun
2.2. Lernen
2.2.1. Was ist Lernen?
2.2.2. Was erfordert Lernen?
2.2.3. Was sind die Ziele des Lernens?
2.3 Musik-Lernen
2.3.1 Genuines Musiklernen
2.3.2 Musikalische Repräsentation
2.3.3 Audiation
2.3.4 Das Hören
2.3.5 Das Handeln - der Körper
2.3.6 Musik und Sprache
2.3.7. Kunst und Pädagogik
2.3.8 Die emotionalen Komponenten des Musiklernens bei Wilfried Gruhn

Teil 3 SCHNITTMENGEN - Musiklernen im Sinne Gruhns mittels Heygsters Methodik und Didaktik der relativen Solmisation
3.1 Relative Solmisation Teil genuinen Musiklernens - Fachvokabular der Musik
3.1.1 Relative Solmisation benennt Tonbeziehungen
3.1.2 Relative Solmisation macht Tonbeziehungen hörbar
3.1.3 Relative Solmisation ermöglicht wirksame Methodik und Didaktik
3.2 Voraussetzungen
3.3 Intentionen
3.3.1 Wahrnehmungsschulung
3.3.2 Vorstellungsbewusstsein - Tonbewusstsein
3.3.3 Die Schleife von Handeln und Denken
3.3.4 Transformation in Sprache
3.3.5 Transformation in Schrift
3.4 Wege
3.4.1 Lernen mit dem ganzen Körper
3.4.2 Wiederholungen
3.4.3 Vielfalt der musikalischen Erscheinungen
3.4.4 Konzentrierte Arbeitsatmosphäre
3.4.5 Theorieunterricht

Fazit

Abstract

Abstract (English)

Abbildungsverzeichnis

Lehrmaterial mit relativer Solmisation

Literaturverzeichnis

Vorwort

„Solmisationsgestützter Unterricht - uralt nach seiner Entstehungsgeschichte und brandaktuell in seiner heutigen Methodik - verwendet Verfahren, die den hohen qualitativen Ansprüchen jeden Musikunterrichts in der Gruppe, Klasse oder einzeln genügen.“ (Heygster 2012 S.7)

Solmisation begleitet die Vorgänge des Musizierens und der Musikvermittlung schon sehr lange und in den unterschiedlichsten Kulturen. Der Wunsch Musik zu verstehen, sie sichtbar zu machen und weiterzugeben ist so alt wie ihre soziale Funktion. Solmisation als Verfahren die tonalen Zusammenhänge körperlich zu erfassen, zu benennen und darzustellen ist dabei auch altbewährt. Zwischenzeitlich fast in Vergessenheit geraten, wird ihr im musikpädagogischen Diskurs der letzten Jahrzehnte wieder größere Bedeutung zugemessen. Dennoch hält sie im gesamten deutschsprachigen Raum nur zögerlich Einzug in die allgemeine Unterrichtspraxis des Musikunterrichtes an Grundschulen.

Die hier vorgestellte Methodik und Didaktik der relativen Solmisation nach Malte Heygster hat ihren Ursprung in der Kodályschen Musikpädagogik. Heygster hat sie mit einem Team der Musik- und Kunstschule Bielefeld bei Professor Gábor Friss in Ungarn über zwei Jahre ausgiebig praktisch erleben und erlernen können. Die dort gewonnenen Erfahrungen haben er und sein Bielefelder Team der heutigen Zeit den hiesigen gesellschaftlichen Gegebenheiten und den Bedürfnissen der lernenden Kinder angepasst. Über Jahre wurden die so gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen weiterentwickelt und praktiziert. Heygster hat sie in einem Handbuch der relativen Solmisation in der Praxis beschrieben und theoretisch zusammengefasst.

Im persönlichen Erleben seines Unterrichts, in vielen Seminaren und durch intensives Studium seiner Schriften habe ich Malte Heygsters Methodik und Didaktik im Detail kennengelernt, in Feinheiten erfahren und ihren Umfang erfasst. Es lohnt sich die Möglichkeiten, Besonderheiten und die Reichweite dieser Methodik genauer zu betrachten.

Heygsters Musikunterricht mit relativer Solmisation wird in vielerlei Hinsicht hohen Ansprüchen gerecht. Als praktische Erfahrung erlebe ich das in den letzten zwanzig Jahren meiner Unterrichtspraxis mit relativer Solmisation nahezu täglich von neuem. Musik als Tätigkeit, gesungen oder musiziert, wird mit den Schülerinnen und Schülern praktiziert und dabei zusätzlich durch die theoriefreie Nomenklatur der Solmisation bereichert. Relative Solmisation ist ein hilfreicher Zwischenschritt auf dem komplexen Weg von der affektiven Wahrnehmung über die entstehende Repräsentation musikalischer Sachverhalte, das beginnende musikalische Denken bis hin zur expliziten Formulierung und Festlegung der Musik in Sprache und Schrift. Zugleich generiert das Musiklernen mittels relativer Solmisation aber auch eine wertvolle Motivation für die Musiklernenden.

Unterricht mit relativer Solmisation findet zwar, wie Interviews und kleine Studien aufzeigen,1 mancherorts auch in Österreich statt und Malte Heygster ist als Lehrer bei den meisten mit relativer Solmisation befassten Musiklehrenden hierzulande als Referenz auf diesem Gebiet bekannt. Die Details und der weitreichendere Umfang der von ihm und seinem Team entwickelten Methode, somit auch die potenziellen Möglichkeiten und der Mehrwert dieser Methodik und Didaktik bleiben den Lehrenden aber meist verborgen. Nur ein kleiner Teil dessen, was Malte Heygster als ansprechende und effektiv wirksame Methode aufzeigt und praktiziert, wird in die Praxis umgesetzt. Dabei bleiben viele Möglichkeiten und Chancen seiner Methodik ungenützt.

Heygsters „Art und Weise“ sowohl Musik als auch das Musizieren zu lehren, bewährt sich an der Basis -im Schulalltags an den Volksschulen2 - ebenso wie in der musikalischen Fachausbildung, von den Musikschulen bis zu den Musikhochschulen. Im gesamten deutschsprachigen Raum hat die Arbeit mit relativer Solmisation in den letzten Jahrzehnten eine Renaissance erlebt. Eine sehr alte Technik hat in neuer Form wieder Einzug in die Lehrpraxis im Grundschulunterricht und auch in neuerem Lehrmaterial gefunden.3 Im universitären Kontext existiert eine große Achtung und grundlegendes Interesse an den Möglichkeiten und Nutzen des Unterrichtes mit relativer Solmisation.4 Seitens der für die

LehrerInnenausbildung an Pädagogischen Hochschulen Zuständigen konnte ich hier in Wien und Umgebung neben großem Interesse aber zugleich die Skepsis wahrnehmen, ob unter dem für musikalische Laien offensichtlich sperrigen Begriff der relativen Solmisation angebotene Kurse auch freiwillig besucht würden.

Konkrete Ausbildungsmöglichkeiten für Musik Studierende und Lehrende bestehen zur Zeit in Österreich auch gar nicht. In Deutschland gibt es unter anderem das Netzwerk Relative Solmisation und eine Ausbildungsschiene an der Akademie für kulturelle Bildung in Remscheid mit einer Qualifizierung.5 Die Situation in der Schweiz ist sehr divers. In der deutschsprachigen Westschweiz existiert, sowohl in der Chortradition als auch in der universitären und schulischen Praxis ein aktiver Umgang mit verschiedenen Formen der relativen Solmisation, meines Wissens gibt es aber auch keine speziellen Ausbildungen. Es besteht also insgesamt ein Manko an Ausbildungsmöglichkeiten für Musiklehrende, die ihre Praxis in solmisationsgestütztem Musikunterricht vertiefen möchten.

Die Gründe dafür sind vielschichtig. Nachdem es Heygster bei der musikalischen Arbeit mit relativer Solmisation, wie im Folgenden aufgezeigt wird, nicht um schnell anwendbare Tricks und Tipps für den Musikunterricht, sondern um eine grundlegende Herangehensweise an die Musikwahrnehmung und -vermittlung geht, spielt gerade der Faktor Zeit eine bedeutende Rolle. Um ein nachhaltiges Bewusstsein der vielfältigen musikalischen Parameter zu ermöglichen, aber vor allem auch, um musikalische Handlungskompetenz zu erlangen, werden bei den Studierenden und Lehrenden oft selbst noch wichtige Erfahrungen nachgeholt. Diese Prozesse entziehen sich jedoch einem schnellen Zugriff und fallen oft der Zeitoptimierung des Unterrichts- und Studienalltag zum Opfer.

Die Wirksamkeit von Heygsters Methodik ließe sich anhand von Studien untersuchen, diese waren aber in den letzten zwei Jahren wegen des oftmalig unterbrochenen Präsenzunterrichtes nicht möglich. Deshalb wird im Folgenden der Versuch unternommen, diese Methodik und Didaktik wissenschaftlich zu belegen. Dazu werden vor allem die Forschungsergebnisse, Erkenntnisse und Aussagen des Musikpädagogen und Wissenschaftlers Wilfried Gruhn dienen. Die Forschungsschwerpunkte des international tätigen, emeritierten Professors für Musikpädagogik liegen unter anderem in der Kognitionspsychologie und Neurobiologie des Lernens. Gruhn hat die Phänomene und

Vorgänge des Musiklernens aus neurowissenschaftlicher und lerntheoretischer Perspektive analysiert und in vielen Schriften dargelegt. Seine Erkenntnisse bestätigen wissenschaftlich bis ins Detail die Vorgänge, die Heygster mittels der solmisationsgestützten Methodik seit Jahrzehnten praktiziert. Sie sollen im Folgenden die wissenschaftliche Verankerung von Heygsters Methodik und Didaktik in der Lernforschung aufzeigen.

In seinem Buch „Lernziel Musik“ zeigt Gruhn „Perspektiven einer neuen theoretischen Grundlegung des Musikunterrichts“ auf. Er beschreibt und untersucht dabei verschiedene gängige Argumentationsmuster für den Musikunterricht. In seinen Betrachtungen kristallisiert sich die Notwendigkeit eines handlungsorientierten Musikunterrichts heraus, die er in fünf Thesen zur musikalischen Bildung zusammenfasst. (Gruhn 2010a S.120-126) Drei dieser Thesen, musikalische Bildung, musikalisches Lernen und die Musikpädagogik betreffend, möchte ich hier zitieren, da sie auch Heygsters Sichtweise und Selbstverständnis als Lehrer charakterisieren:

Gruhns These1: „Musikalische Bildung zeigt sich im Vermögen, Musik musikalisch erfahren, erleben, darstellen und verstehen zu können. Nicht Wissen über Musik, sondern Kompetenz in Musik ist ihr Merkmal - Kompetenz, die sich in Produktion und Reproduktion, Improvisation und Interpretation, Empathie und kritischer Betrachtung niederschlägt. Musikalische Bildung hat, wer eigene musikalische Gedanken angemessen ausdrücken, fremde darstellen und verstehen, sowie beide beurteilen und ggf. verändern kann.“

Gruhns These 4: Musikalisches Lernen ist darauf gerichtet, zu musikalischem Denken, Handeln und Verstehen zu befähigen. Dabei geht es vornehmlich um die Bildung immanenter musikalischer Bedeutungen in der inneren Vorstellung, die dann als Struktur im Begriff gefasst und schließlich symbolisch als Text kodiert werden können.“

Gruhns These 5: Musikpädagogik als wissenschaftliche Disziplin hat nicht die Aufgabe, Musik zu vermitteln (das tun die Musiker als Interpreten), sondern sie liefert die wissenschaftliche Grundlage für die Anleitung zu musikalischem Lernen.“

Professor Gruhns wissenschaftliche Erkenntnisse sind Grundlage für seine Thesen und Erörterungen musikalisches Lernen betreffend. In Folge sind sie auch theoretische

Fundierung dessen, was er unter anderem in einem Früherziehungsprogrammen „Kindliche Lernwelt Musik“ in der Praxis umsetzt.

Heygster beschreitet den entgegengesetzten Weg. Vor allem in der zweiten Auflage seines Buches expliziert er sehr genau und detailreich methodische Abläufe im solmisationsgestützten Unterricht. Unterrichtswege und Unterrichtsmaterialien werden in der aufbauenden Logik des „Nukleusverfahrens“ (siehe auch 1.1.1) ausgebreitet. Daraus werden Lernziele definiert. In den so entstandenen methodischen und didaktischen Kommentaren leitet Heygster die Theorie aus den Erfahrungen der Praxis des Musikunterrichts ab. Im Vorwort seines Buches schreibt er:

„In der Hoffnung, dass sich die Wirkung der relativen Solmisation aus der Anschaulichkeit der Anwendungen mit klingenden Beispielen erschließt, wird die Praxis vor die erklärende Theorie gestellt. Denn auch die Lernenden im Unterricht erleben zunächst methodische Abfolgen und die aus ihnen folgenden Aktivitäten, um zuletzt die Theorie zu begreifen. Ein Grundsatz der (solmisationsgestützten) Methodik lautet, dass Kompetenzen sich durch Handeln aufbauen, nicht durch Erklärung. “ (Heygster 2012 S.7)

Dem Aufbau der musikalischen Handlungskompetenz, dem Inhaltsaspekt „Musik als Tun“ wendet sich die vorliegende Arbeit vornehmlich zu, da hier Methodik und Didaktik Heygsters ihre Wirkung entfaltet.

Daher müsste Musik im schulischen Lernprozess von Handlungskompetenz (Improvisieren, Komponieren) ausgehen, damit sich ein „Vokabular“, d.h. ein Repertoire von musikalischen Strukturen bilden kann, über die man aktiv verfügt und die dann beim Hören (auch von Kunstwerken) genutzt werden können.“ (Gruhn 2010a S.111)

Gruhns Beschreibung schulischer Lernprozesse trifft schon hier ins Zentrum von Heygsters Schüsselbegriffen ohne die Solmisation eigens zu thematisieren: die Bildung eines Vokabulars in Form von musikalischen Strukturen kommt Heygsters Beschreibung eines Vokabulars das sich aus den zusammengefügten Silben der Töne eines Intervalls oder einer Intervallfolge ergibt, sehr nahe. (siehe 1.2.3)

Teil 1 RELATIVE SOLMISATION - Charakteristik und Besonderheiten der von Malte Heygster und seinem Bielefelder Team entwickelten Methodik und Didaktik zur relativen Solmisation

Die unmittelbare affektive Begegnung mit Musik steht für Heygster am Beginn musikalischer Lernprozesse.6 In detailliert in seinem Buch beschrieben Prozessen werden meist ohne verbale Erläuterungen kleine Musikstücke von Anfang an musiziert und dabei die Aufmerksamkeit nach und nach auf unterschiedliche musikalische Parameter gelenkt. Auf diese Weise wird den Lernenden eine elementare und umfassende Wahrnehmung von Musik mit vielen Sinnen ermöglicht.7 Die verschiedenen sinnlichen und ästhetischen Qualitäten der Musik kommen so besser zum Tragen und sie wird schrittweise theoriefrei verinnerlicht. (siehe 1.2.4. und 1.6.1.)

„Die RS schlägt die Brücke von der affektiven zur kognitiven Rezeption“ (Heygster 2019 S.2) Erst was gefühlt wird kann verstanden werden. Die erlebten Affekte prägen sich ein. Da primär weder der Lehrende noch der Lernende sondern die Musik im Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens und der Konzentration steht, kann diese sich als verlässliche Konstante und zugleich Quelle pädagogischer Ideen entfalten und authentisch vermitteln.

Solches Vorgehen bedingt eine in vielerlei Hinsicht andere Art des Musikunterrichtens. Seine Grundzüge werden in der von Heygster und seine Team entwickelten Methodik und Didaktik der relativen Solmisation formuliert und im Folgenden beschrieben.

Musikalische „Grundlagenarbeit“ mit relativer Solmisation ist nicht nur am Anfang der musikalischen Ausbildung bei Kindern von großem Nutzen. Auch für Studierende, praktizierende Musiker und Pädagogen ist ein Nachholen oder Vertiefen der im Zuge des Lerntempos übergangenen musikalischen Grunderfahrungen hilfreich und notwendig.

Die verwendeten Begriffe und Leitwörter der von Malte Heygster und seinem Team entwickelten Methode sind Marksteine und Orientierungshilfen für den individuell stattfindenden Unterricht. Sie helfen, diese nicht alltägliche Methodik konsequent umzusetzen und verdienen daher besondere Aufmerksamkeit. In der zweiten Auflage seines Buches „Relative Solmisation - Grundlagen . Materialien . Unterrichtsverfahren“ werden, nach der Erklärung der Grundzüge und Wirkungsweisen seiner Arbeit mit relativer Solmisation, Unterrichtsverläufe sehr genau und in ihrer Abfolge beschrieben und analysiert. So kann man sich für das Erlernen von Malte Heygsters Methodik der Theorie auch aus der Praxis heraus annähern.

Diese Schüsselbegriffe werden hier neu geordnet, mit Zitaten belegt und aus eigenem Blickwinkel vorgestellt. Es entsteht ein neues Raster in welches diese Begriffe und Leitwörter „eingehängt“ werden.8 Diese neue Gliederung folgt dabei erst vier Kernbegriffen die sich für mich, über Jahre hinweg, als charakteristisch für Heygsters Arbeit herauskristallisiert haben: Emotion, Klang, Zeit und Empfindsamkeit. Danach werden weitere didaktische und methodische Begriffe und Erklärungen aus Heygsters Methodik unter dem Gesichtspunkt der Funktion und Rolle der Lernenden und Lehrenden im solmisationsgestützen Unterricht vorgestellt. Im letzten Kapitel - Wahrnehmung - werden die damit zentral befassten methodischen Begriffe in ihren von Malte Heygsters dazu formulierte Gedanken dargelegt. Es stellt zugleich den Übergang zum zweiten großen Teil, einer Skizze und Gliederung des Musiklernens aus neurobiologischer und kognitionspsychologischer Perspektive nach Wilfried Gruhn, dar.

Heygsters Zitat von Rousseau soll hier als ein übergeordnetes Credo seiner Arbeit die Einleitung dieses Teils abschließen: „Lehrt die Musik, auf welche Weise ihr wollt, aber sorgt dafür, dass sie immer ein Vergnügen bleibt.“9

1.1 Emotion

Musik ohne Emotion ist nicht denkbar. Emotionalität ist als das innere gefühlsmäßige Beteiligtsein auch anthropologisch betrachtet eine der Triebfedern für die Entstehung von Musik.10 Ihr kommt in der Pädagogik eine gewaltige Bedeutung zu. Emotion als Bewegung aus etwas heraus (lat.: e =aus movere =bewegen) ist zudem eine wichtige „Kraftquelle“.

Aus der großen Fülle an Definitionsmodellen und Untersuchungen über die allgemeine Bedeutung der Emotionen möchte ich hier eine von Klaus Scherer, Professor und Spezialist für die Psychologie der Emotionen in Genf herausheben. Er unterscheidet in der Publikation "What are emotions? And how can they be measured?" (Scherer 2005) fünf Funktionen in der Verarbeitung von Emotionen:

1.) Bewertung von Wahrnehmungseindrücken
2.) Systemregulation
3.) Vorbereitung und Ausrichtung von Handlungen
4.) Kommunikation von Reaktionen und Verhaltensabsichten
5.) Beobachtung des internen Zustands und der Organismus-Umgebung-Wechselbeziehung.

Ohne diesbezüglich ins Detail zu gehen zu wollen ist die pädagogische Notwendigkeit eines reflektierten Umganges mit Emotionen angesichts der von Scherer verwendeten Formulierungen und Begriffe sofort erkennbar.

Emotion ist für Heygster unter verschiedenen Aspekten unverzichtbarer Bestandteil solmisationsgestützten Unterrichts. In unterschiedlichen Zusammenhängen erläutert er ihre Funktion und Wirkung:

„Das Solmisieren löst Gefühle aus. Diese affektive Wahrnehmung ist intensiv und pädagogisch unverzichtbar. Sie lässt musikalische Zusammenhänge erahnen. Das Fühlen bereitet das Verstehen vor. Mit dem sinnlich-emotionalen Erfahren der Diatonik schafft die RS-Methodik eine Grundlage, aus der sie nachfolgend das Verstehen entwickelt.“ (Heygster 2019 S.2)

Die große Präsenz der Emotion als Begriff in Heygsters Darlegungen ist bemerkenswert. In beinahe jedem didaktischen Zusammenhang verweist er auf ihre Bedeutung. Im Folgenden werden einige Schlüsselbegriffe aus seiner Methodik und Didaktik in denen die Emotion eine bedeutende Rolle spielt vorgestellt:

1.1.1 Nukleusverfahren

„Der Nukleus solmisationsgestützten Unterrichtes ist eine kurze Melodie in einem geringtönigen Tonkreis. (siehe 1.3.3) Die Erfahrungen der Lernenden mit den musikalischen Parametern wachsen dann durch behutsame Ausweitung des Ton- und Rhythmusmaterials. Ebenso legt die solmisationsgestützte Methodik die Entwicklung der emotionalen und intellektuellen Wahrnehmung planmäßig an.“ (Heygster 2012 S.17)

Mit dem Auf- und Ausbau der kleinen vermittelten Motive oder „musikalischen Zellen“ findet von Anfang an und immanent eine intensive Begegnung mit emotionalen Aspekten und Möglichkeiten der Musik statt. Die sehr kurzen Musikstücke werden für die Kinder zu Trägern ihrer Emotionen. Scheinbar anspruchslose kleine Lieder wie „Das Lied von der grauen Maus“ (Heygster 2012 S.24f) werden durch Rollenspiel und wechselnde emotionelle Färbungen im Vortrag zum „Hit“. Sie sorgen durch mehrere Unterrichtseinheiten hindurch für konzentrierte Aufmerksamkeit und werden immer wieder von den Schülerinnen und Schülern selbst eingefordert.11

Mit der Entwicklung der emotionalen und intellektuellen „Wahrnehmungsfähigkeiten“ spricht Heygster in diesem Zitat noch mehr als den rein musikpädagogischen Nutzen solchen Vorgehens im Unterricht an. Seine Methodik und Didaktik ermöglicht und befördert grundlegend die Wahrnehmung und eine Entwicklung von emotionalen „Fähigkeiten“. Das sind Kompetenzen, denen im Unterrichtsalltag eher selten Aufmerksamkeit und Zeit eingeräumt wird.

Da im Nukleusverfahren anfangs ein markanter, exemplarischer Lerninhalt in den Mittelpunkt gestellt wird, kann mit einem sehr kleinen Ausschnitt aus der Vielfalt der musikalischen Möglichkeiten so konzentriert gearbeitet werden, dass dieses Stück Musik

dem Lernenden wirklich zu eigen wird. (siehe auch „musikalischer Besitz“ 1.5.1) Diesem verinnerlichten Kern fügt das Nukleusverfahren in der Folge schrittweise weiterführende Unterrichtsinhalte zu. Dabei sollte aber das Internalisierte, bereits Aufgenommene immer die größere Schnittmenge darstellen. Die neuen Anteile sind also stets kleiner als die bekannten.

Die eindringlichen und variantenreichen Wiederholungen des entstandenen Nukleus lassen Heygster feststellen: „Jedoch lieben Kinder wie Erwachsene auch die Intensität des Nukleusverfahrens.“ (Heygster 2012 S.20) Das entspricht auch meiner Erfahrung. Der Sog (1.3.1), das hohe Unterrichtstempo (1.3.4) und die Intensität dieser Art des Unterrichts lässt sich jedoch nur schwer verbal vermitteln. Es besteht die Notwendigkeit den Lehrenden ein Erleben dieser Vorgänge in Seminaren und Fortbildungen zu ermöglichen.

„Im Nukleusverfahren treffen die Lernenden anfangs auf einfache Lieder mit niedriger Reizschwelle (siehe 1.3.2) auf die Musik mit zunehmend vielfältigem Ausdruck folgt. Die Vielfalt und Buntheit wird aus der Erfahrung mit dem Einfachen intensiver erlebt, vielleicht sogar intensiver als beim Diversitätsverfahren. So bietet solmisationsgestütze Musikpädagogik einen roten Faden für den langfristigen Unterrichtsverlauf.“ (Heygster 2012 S.17)

1.1.2 Diversitätsverfahren

Eine Unterbrechung oder Kombination des „ruhigen Fahrwassers“ der Arbeit im Nukleusverfahren mittels des Diversitätsverfahrens hält Heygster für sinnvoll und notwendig. „Auch entspräche ein durchgehendes Nukleusverfahren nicht den Lernbedürfnissen der meisten Lernenden.“ (Heygster 2012 S.17) So bekennt sich Heygster dazu, dass eine umfassende Vermittlung von Musik eine Mischform der beiden Verfahren sein muss.

„Lehrkräfte, die sich des Diversitätsverfahrens bedienen, verlassen sich nicht nur auf die Kraft ihrer Unterrichtsverläufe. Sie bestehen vielmehr weder darauf, mit ihrer unterrichtlichen Energie alleine die Entwicklung zu bestimmen, noch beschränken sie sich darauf, ihre Inhalte mit methodischer Beharrlichkeit zu verankern. Sie haben im Blick, dass auch die Einflüsse der Umwelt die Lernenden prägen, und verlassen sich darauf, dass sich die Mosaiksteine der vielen Einflüsse schließlich zu einem stimmigen Bild zusammenfügen werden.“ (Heygster 2012 S.16)

Lernvorgänge welche die Diversität der Lernenden berücksichtigen spielen eine große Rolle in der musikalischen Entwicklung. Zu ihnen gehört auch das sogenannte wilde Lernen 12 ( auch als natürliches Lernen von Geburt an beschrieben). „Kinder holen sich auf diese Weise von Geburt an ihre Erfahrungen. Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kenntnisse entwickeln sich auf eher chaotische Weise, nicht über planende Systematik. “ (ebenda)

Das bestätigen auch Wilfried Gruhn und der Neurowissenschaftler und Psychiater Manfred Spitzer (Spitzer 2002a und b). Sie beschreiben, dass das erste Musikerleben und -erlernen, wie das einer Sprache, ganz von selbst und ohne lerngerechte Organisation stattfindet. (siehe auch „genuines Musiklernen“ 2.3.1 und 2.2.1. „alltägliches Lernen“)

1.1.3 Häufige Begegnung (- mit einfachen Liedchen oder Motiven)

Heygster musiziert dieselben Melodien und Phrasen in oftmaliger Wiederholung aber in Varianten vor und mit den Lernenden. Dabei verändert er die sekundären und tertiären musikalischen Parameter (Interpretations- und Aufführungsparameter) und verfolgt so indirekt unterschiedliche Wahrnehmungsziele. (siehe auch 1.7.4) In verschiedenen Tempi, Artikulationen und Tonhöhen werden eine Vielzahl an Versionen eines Liedes vorgetragen oder gemeinsam musiziert. Mimik, Gestik und Körpersprache verändern das Lied, auch mit unterschiedlichen Texten können verschiedene emotionale Erfahrungen mit demselben musikalischen Grundmaterial gemacht werden.

„Langsames Lerntempo ist dann schädlich, wenn es durch den Auftrag zum Wiederholen entsteht. Die Anweisungen: „Mach das noch mal“, auch „Das wollen wir jetzt noch einmal vertiefen“ verringert fast immer die innere Beteiligung am Lernstoff und am Unterrichtsgeschehen. Die Wiederholung - vielleicht das wichtigste methodische Mittel überhaupt - muss stattdessen genutzt werden, um ständig neue Wahrnehmungen hervorzulocken. (...) Die Wiederholungen bewirken tiefes Eindringen in die Musik.“ (Heygster 2012 S.211)

So spontan der Unterricht auch erscheinen mag, er muss wohlüberlegt und gut vorbereitet sein. So kann, mit dem notwendigen Einfühlungsvermögen für die unterschiedlichen Situationen in der Klasse, ein spielerischer, phantasie- und liebevoller Zugang zur Verinnerlichung eines kleinen Stücks Musik geschaffen werden. Dieses wird bei jedem Lernenden aber individuell unterschiedlich emotional verankert. Auf diese Weise entsteht persönlicher „Musikalischer Besitz“ (siehe 1.5.1.)

1.1.4 Tonbeziehung - Tonaler Affekt:

Unterschiedliche kleine Terzen (sie sind ja bei reiner Intonation physikalisch nachweisbar unterschiedlich groß)13 lösen, ihrer Funktion entsprechend, unterschiedliche Emotionen aus. In der Theorie ist das den meisten Musiklernenden und -praktizierenden klar. Aber für wen sind diese Unterschiede schon „zu einem Begriff“ geworden und wer kann sich ihre unterschiedlichen Klangqualitäten vorstellen oder sie gar singen?

„Hören wir zwei Töne nacheinander, bleibt beim Erklingen des zweiten Tons der Klang des vorigen in unserer Erinnerung, beide treten in eine Beziehung zueinander. Dieser Zusammenhang übt eine Wirkung auf den Menschen aus. Die Tonbeziehung ist vielleicht der wirkungsvollste Träger musikalisch ausgedrückter Emotion.“ (Heygster 2019 S.1)

Heygster sprich in diesem Zusammenhang vom diatonischen Affekt, der von zwei nacheinander gespielten Tönen ausgeht. Tauscht man nur ihre Reihenfolge aus, entsteht bereits ein anderer Affekt. Wichtig wird diese scheinbar triviale Erkenntnis auch im Gehörbildungs- und Theorieunterricht: Schnell wird von „der kleinen Terz“ gesprochen und diese wird „gelehrt“ und dann abgeprüft. Es kann dem Lernenden dabei die faszinierende Existenz unterschiedlicher kleiner Terzen14 gar nicht bewusst gemacht werden. Genau dasselbe Intervall in der Umkehrung gespielt oder gesungen erzeugt zudem ja einen gänzlich anderen Affekt. Das kann für Verwirrung sorgen. Es wird anders unterrichtet, wenn bewusst ist, dass viele verschiedene Affekte unter einem Begriff (hier der kleinen Terz) zusammengefasst werden. Mit Hilfe der relativen Solmisation werden von frühestem Anfang an diese gleich benannten Intervalle als unterschiedliche Tonbeziehungen wahrgenommen. Diese Tonbeziehungen werden zum Vokabular der relativen Solmisation und so in ihrer musikalischen Identität benannt. „Das Vokabular stellt Klang dar...“ (Heygster 2019 S.1) (siehe auch 1.2.3.)

1.1.5 Das Gerüst der Diatonik

„Wie bei der absoluten Tonbenennung (c, d, e, f, g,..) benennt das Silbenvokabular der relativen Solmisation nur sieben Stammtöne, mit Alterationen sind es dann 17. Wenn zwei Töne zwei verschiedene Tonbeziehungen eingehen können, erlauben die sieben Stammtöne 42 verschiedene, mit den alterierten Tönen gerechnet 272 unterschiedliche Tonverbindungen. (...) Wenn Millionen von Melodien nur 272 unterschiedliche Tonverbindungen enthalten, müssen sich Tonverbindungen wiederholen. (...) Der Musikunterricht vermittelt zunächst die Vertrautheit mit den häufigsten. Sie haben eine zusammenfassende, strukturierende Bedeutung. (...) Sie sind Patterns der diatonischen Musik, die allen diatonischen Melodien eine Ähnlichkeit und Erkennbarkeit geben. Sie bilden das Gerüst der Diatonik.“ (Heygster 2012 S.187,188)

Die in Melodien und Harmonien geltenden Zusammenhänge beschreibt Heygster als Gerüst der Diatonik. Wird dieses (mittels der relativen Solmisation) in der Wahrnehmung aufgebaut, kann jede Melodie in das Gerüst „eingehängt“ werden. „Die Voraussetzung dafür ist Empfindsamkeit für tonliche Zusammenhänge.“ (Heygster 2012 S.230)

1.2 Klang

„Solmisationsgestützte Methodik macht das Hören des Klanges zu ihrem zentralen Wirkungsfeld. Alles was im Musikunterricht gelehrt wird, alles was mit Musik als hörbarer Kunst zusammenhängt, wird vom klingenden Ton abgeleitet und auf ihn zurückgeführt. Dieses Primat des Klanges ist Bedingung der Methodik und erfordert einen auditiven Unterrichtsbeginn.“ (Heygster 2012 S.218)

„Der Weg vom Klang zur Note und wieder zurück“ war für einige Zeit die Überschrift Heygster für eine Zusammenfassung seiner solmisationsgestützten Methodik. Damit sind sämtliche kulturtechnischen Prozesse im Bereich der Musik angesprochen, ob sie nun hilfreich, hinderlich oder zu verbessern sind.

1.2.1 Primat des Klanges

Die große Bedeutung des Klanges in Musikvermittlung und -unterricht ist vielen Lehrenden nicht bewusst. Musikunterricht der sich mit der Weitergabe sogenannter Fakten der

Musiktheorie begnügt wird scheitern, Musikvermittlung ohne die Realität und Wirkungskraft des lebendigen Klanges kann nicht gelingen.15

„Das Primat des Klanges lässt Tonbewusstsein entstehen. Wer den Klang vor die instrumentale Bewegung und vor die Beschäftigung mit der Notation stellt, wer in seinem musikalischen Handeln vom Klang als Zentrum ausgeht, wer aus der Grundbildung und dem anfänglichen Instrumentalunterricht die Erfahrung hat, dass Technik und Notation immer nur ein Abbild der Musik sind, wird immer das Primat des Klanges anstreben,...“ (Heygster 2012 S.230)

Natürlichen Klang16 auch zu erleben ist für den Instrumentalunterricht immens wichtig. So gut, medial aufbereitet, anschaulich und unterhaltend die Unterrichtsmaterialien für den Instrumentalunterricht auch sein mögen, sie können nie das bewirken oder ersetzen, was der direkte Höreindruck vermag. Das direkte Klangerleben über Instrument oder Stimme setzt für die Lernenden Bezugspunkte und schafft Perspektive für das Finden und den Aufbau des eigenen Klanges.

1.2.2 Stellvertreter des Klanges

Die Handgesten und Notationsverfahren welche Heygster in seiner Methodik und Didaktik expliziert, sind als Stellvertreter des Klanges anfangs nur Begleiter direkter Klangerfahrungen. (Heygster 2012 S.228) Von Anfang an werden sie aber, sofern sie nicht die Aufmerksamkeit zu sehr in Anspruch nehmen, den auditiven Unterrichtsbeginn begleiten. Stellvertreter des Klanges sind nach Heygster visuelle Erscheinungsformen des Klanges wie:

- Handgesten
- Buchstabennotation (Buno) - hier wird mit Kleinbuchstaben der Anfang der jeweiligen Solmisationssilbe notiert, z.B.: s m ss m s m s -
- Tonhand (jeder Finger entspricht einem Ton einer Tonleiter, für Halbtöne liegen zwei Finger aneinander oder: eine Hand ersetzt die Notenlinien, die freie Hand zeigt die Note
- Kopfnotation (Kono) - ohne, mit wenigen oder mit fünf Notenlinien
- Instrumentalbewegungen

Die klingende Musik kann von diesen Stellvertretern kurzzeitig ersetzt werden.17 Ihre wichtige Aufgabe ist es, sich an die Musik zu heften. Sie helfen begleitend beim Aufbau einer Vorstellung des Klanges im Vorgang der Audiation. (siehe 2.3.3)

Die Solmisation begleitende Handzeichen haben eine lange Tradition. Die von Heygster verwendeten entsprechen zu einem Großteil der englischen, ungarischen und deutschen Tradition. (siehe Abb.1)

Die Handzeichen tragen in ihrer Kombination als Handgesten zur Verinnerlichung und Merkfähigkeit der gehörten diatonischen Affekte bei. In gleitenden Bewegungen gehen dabei die Hände meist der Stimme des Lehrenden voraus. Sie folgen in ihrer räumlichen Anordnung der Tonhöhe und können durch die Art ihrer Präsentation auch Interpretations- und Aufführungsparameter (siehe 1.7.4) wie z.B. Dynamik, Agogik und Artikulation veranschaulichen. So können Melodien schon bald (bei guter Übung sogar, mit unterschiedlichen Bewegungsabläufen der beiden Hände, zweistimmig) von den Händen der Lehrenden abgelesen.18

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

„Handgesten zeigen nicht einfach nur Töne an. Vielmehr wird beim Zeigen der charakteristische Klang einer Tonbeziehung erlebt. Damit erhält auch die Bewegung eine Charakteristik. Bewegung und Klang verschmelzen in der Wahrnehmung zu einem kombinierten Ablauf. Die Handgeste passt zum Charakter des Klangs. Sie macht eine Klangaussage.“ (Heygster 2012 S.192)

Über die Notation (von Heygster in Buchstaben- und Kopfnotation unterschieden) (siehe auch 3.3.5) können, wenn musikalische Repräsentationen schon ausgebildet sind, Rückschlüsse auf die eigentliche Musik gemacht werden. Im Prozess des Musizierens wird dann wieder subjektiv gefärbte Musik, implizit und explizit musikalisch denkend (siehe auch 2.3.6), aus visueller Wahrnehmung erzeugt. „Auch Noten, sie sind ja nur Stellvertreter des Klanges, wirken zunächst nicht sinnlich. Die solmisationsgestützte Methodik kann jedoch dafür sorgen, dass die Noten an den Klang erinnern, ja sogar, die Noten Emotionen auslösen.“ (Heygster 2012 S.14)

1.2.3 Silben, Vokabeln, Namen als Nomenklatur

„Die relative Solmisation singt Melodien auf Silben. Die Silben verweisen auf innere Zusammenhänge von Musik. Der Sinn der Silben erschließt sich beim Singen, zunehmend bei mehrfachem Singen. (...) Die Silben sind musizierbares Material.“

Über die Bedeutung der einzelnen Silbe in der Solmisation herrscht in Fachkreisen Uneinigkeit. Heygster berichtet in einer privaten Konversation (Heygster 2021) von dem Musikpädagogen Martin Widmaier, der schreibt: „Die einzelne Solmisationssilbe steht allerdings für keine Tonbeziehung, sondern für einen Tonort im diatonischen System (z.B.„so“), einen Knoten im Netz.“ Eine Definition die Heygster nach eigenen Aussagen im Einzelnen nicht so nachvollziehen mag. (ebenda)

Zwei Töne in tonalem Zusammenhang ergeben ein spezifisches Intervall, ihre zwei kombinierten Solmisationssilben lassen den spezifischen Namen dieser Tonbeziehung entstehen (z.B. so-mi als kleine „Rufterz“). Durch Praxis wird es dann möglich, dass diese Namen zu Trägern des Klanges werden. Heygster beschreibt eine Wechselwirkung zwischen diesen Vokabeln und ihrem Klang bei dem Aufbau musikalischer Repräsentation:

„Jede Tonverbindung hat ihre eigene klingende Färbung, ihre musikalische Identität aus dem tonalen Zusammenhang. (...)Die Silbenfolge für die Tonbeziehung prägt sich schneller ein als ihr eigentlicher Klang. Bei häufigem Singen und Hören tragen aber die Silben den eigentlichen Klang der Tonbeziehung, nämlich den tonalen Affekt (diatonischen Affekt), in die Wahrnehmung und Erinnerung“ (Heygster 2012 S.10)

„Der diatonische Tonvorrat und damit das Silbenvokabular der relativen Solmisation ist nicht vielfältig, es hat nur sieben Stammtöne, mit Alterationen 17. Entsprechend gibt es 17 Solmisationssilben.“ (Heygster 2012 S.187/188) Die von Heygster verwendeten Silben haben eine interne Logik und sind gut zu singen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.2 Die Stammtöne mit Alterationen

Wie im Aufbau einer Sprache verbinden sich die einzelnen Silben also zu den Namen der Tonbeziehungen, man spricht dann auch vom Vokabular das den Klang darstellt. (Heygster 2019 S.1) „Die relative Solmisation deckt die Struktur des diatonischen Tonmaterials auf, indem sie gleichen Patterns immer gleiche Namen gibt.“ (Heygster 2012 S.188) In einem Interview formuliert es Heygster sogar so: „ Die Solmisation ist keine Methode sondern ein Vokabular.“ (Heygster 2020 S.37ff)

Nomenklaturen werden als verbindliche Zusammenstellung von Benennungen, also Sach- und Fachbezeichnungen definiert. Die von Heygster so benannte Nomenklatur der relativen Solmisation hat aber eine Besonderheit: sie stellt die Musik direkt und klingend dar. Die meist theoriebezogenen Bezeichnungen einer Nomenklatur setzten (zum Beispiel in der Chemie) Vorerfahrungen oder theoretisches Erkennen voraus.

„Die Vokabeln der Nomenklaturen „Solmisation“ und „Rhythmussprache“ bedürfen keiner Erklärung, sie umschreiben nichts, sondern stellen die Musik dar, direkt und konkret klingend. Die Vokabeln verleihen dem musikalischen Verlauf nicht etwa einen Namen, sie sind die musikalische Aussage selbst. Sie führen unmittelbar zu dem, was Musik ausmacht, verkörpern Klang und Emotion gleichermaßen. Daher ist die relative Solmisation eine theoriefreie Nomenklatur.“ (Heygster 2012 S.217)

1.2.4 Die Stimme als Quelle des Klanges

Die Stimme hat als Ausdruck der Persönlichkeit, ob gesprochen oder gesungen, eine große pädagogische Wirkung. „Musikpädagogik benötigt zuerst den „echten“ Klang. Die ideale Klangquelle ist die Singstimme, weil sie personenbezogen ist und die Melodie auf sinnliche Weise präsentiert.“ (Heygster 2012 S.219) So ist es zu verstehen, dass Malte Heygster in seinen Darlegungen zur Methodik und Didaktik feststellt, dass die Qualität und die Ausbildung der Stimme viel weniger wichtig seien als die Tatsache, dass die Lehrkraft sich mittels ihrer Stimme offenbart .

Eine natürliche, „ungebildete“ Stimme kann für Kinder manchmal sogar „verständlicher“ sein als die hochkultivierte Stimme ausgebildeter Sängerinnen und Sänger. Es bedarf des Muts und in der Folge auch der Übung, die eigene, oft wenig beachtete Stimme bedeutsam einzusetzen. Dabei ist es zu einem guten Teil auch seiner Stimme als Quelle des Klanges (ebenda S.13ff) und seinem gesamten Auftreten zu verdanken, wenn es dem Lehrenden gelingt, durch direktes Erleben ein Stück mehr, den Reiz und die Möglichkeiten der Musik zu vermitteln. (siehe auch 1.6)

1.2.5 Inbesitznahme

Direktes Erleben von Klang, ob über die Stimme oder ein Instrument, macht es den Lernenden möglich, sich Musik anzueignen.

„..der unmittelbare Klang hat immer Vorrang vor der Erklärung. Über die Sinne wird die Musik vom Menschen direkt aufgenommen. Die persönliche Beziehung zu einer Melodie, die Inbesitznahme kann sich nur aus dem unmittelbaren sinnlichen Klang ergeben. ... Erst das Gespürthaben lässt umfassendes Verstehen von Musik zu.“ (Heygster 2012 S.14)

Dieses besondere und nachhaltige Verstehen von Musik entspringt also der sinnlichen Wahrnehmung. Neurologisch betrachtet handelt es sich um implizite und explizite Vorgänge des Verstehens. Wilfried Gruhn nennt diese Inbesitznahme den Übergang von phänomenaler zu repräsentationaler Ebene. (siehe auch 2.3)

1.3 Zeit

Musik ist immer ein Verlauf in der Zeit. Die Aufmerksamkeit musizierender und Musik hörender Menschen richtet sich einerseits auf diesen Verlauf. Das fordert in der Zeit andauernde Konzentration. Durch den Verlauf entsteht ein wesentlicher Teil der Wirkung von Musik...“ (Heygster 2012 S.251)

Heygsters Arbeitsweise strahlt einen anderen Umgang mit der Zeit aus. Nicht Optimierung von Zeit und vermittelten Inhalten steht im Zentrum, vielmehr bestimmt die Musik in der für sie und ihre Vermittlung notwendigen Zeit seinen Unterricht.

Bemerkenswert war bei einigen der erlebten Seminare Heygsters auch der feine und beharrliche Prozess einer Schärfung der (reinen) Intonation der singenden Gruppe. Studierte MusikerInnen, teils sogar ausgebildete SängerInnen, konnten dabei immer noch eigene Hör- und Intonationsungenauigkeiten und Disharmonien entdecken und verändern

Die Beziehungen der Töne eines Tonraumes zueinander zu spüren, die ganz spezifische Charakteristik eines Intervalls in seinem Bezugssystem zu erleben, singend Leittönen zu begegnen die uns musikalisch „nach Hause“ bringen oder in neue harmonische Gefilde entführen, es sind solche Erlebnisse, die selbst erfahrene Musiker immer wieder neu bewegen können. Die Spannungsstruktur eines Tonraumes oder einer bestimmten Scala zu erfassen, sich darin zu bewegen und auszuprobieren schafft musikalischen Bewegungsraum. Fühlt man sich darin sicher, sind diese Strukturen verinnerlicht, kommt es gar nicht zu Stresssituationen bei der Aufforderung zu improvisieren oder ein Solo zu spielen.“ (Audétat 2017)

Ein ungestörter aber bewusster Umgang mit der Zeit ist ebenso wie die Vertrautheit und Verankerung in den verwendeten Tonkreisen oder „Tonräumen“ Voraussetzung für lustvolles Improvisieren. Beides wird durch Heygsters methodisches Vorgehen schon bei den Jüngsten von Anfang an gefördert. (siehe auch 1.3.3.) Gelingen solche Unterrichtsprozesse mit relativer Solmisation, baut sich in der Klasse eine Spannung auf, ein Sog, der Konzentration und Ruhe bewirkt und den Unterricht weiter trägt.

1.3.1 Sog

„Musik ist ein Verlauf in der Zeit, der Spannung aufbaut. Sie wirkt durch diesen Verlauf und vermittelt das Empfinden, mitgezogen zu werden. Der aus dieser Spannung entstehende Sog eines Musikstückes kann starke körperliche und seelische Empfindungen hervorrufen.“ (Heygster 2012 S.227)

Die Spannungsbögen, selbst bei sehr einfachen Liedern, physisch zu erleben und nachzuvollziehen, den Ablauf von Melodien körperlich umzusetzen und dadurch aufzunehmen, gehört zu den elementaren Unterrichtserfahrungen der Methode Malte Heygsters.

Wenn sich die Sogwirkung von Musik auf die Lernenden überträgt, wenn sie sich im gemeinsamen Musikerleben entfalten kann und wenn Lernende und Lehrende dadurch gemeinsam, wie von selbst immer tiefer in die Materie eindringen, ist das ein Indikator für gelungenen Unterricht.

Es gibt viele Impulse und Gründe die langsamen und wirkungsvollen Prozesse in Heygsters Methodik abzukürzen zu wollen. Dabei verlieren sie aber meist ihre Wirkung. Hier liegt möglicherweise auch eine Ursache dafür verborgen, dass diese Verfahren und methodischen Umsetzungen oft nicht langfristig in die Praxis finden. Zweifel und Kritik herrschen nicht nur in Bezug auf den erwünschten sogenannten Lernfortschritt und sein Tempo, sondern auch prinzipiell, in Bezug auf ihre Durchführbarkeit angesichts einer Gewöhnung an die hohe Reizdichte und -intensität, der Kinder und Jugendliche im Alltag ausgesetzt sind.

1.3.2 Reizschwelle

„Lehrende dürfen sich nicht dem Druck aussetzen, um der Akzeptanz der Lernenden willen die Stärke der Reizschwelle zum Kriterium der Musik zu machen, die sie anbieten. Es muss ihnen gelingen, auch die Qualität einfacher musikalischer Vorgänge zu vermitteln. Auch deshalb steht einfache Musik am Anfang.“ (Heygster 2012 S.220)

Es ist eine tägliche Herausforderung und keinesfalls leicht oder selbstverständlich, die Ruhe und Konzentration auszustrahlen die Heygsters Art und Weise des Unterrichts ermöglichen. Er verlangt Disziplin und Konsequenz und diese kann und sollte auch von alle Mitwirkenden, im Dienste der Sache, eingefordert werden. Solche Musikpädagogik will vermitteln „...dass wir eine Reizskala empfinden, bei der agitato seine Bedeutung nur als Gegensatz zu calmo erhält. Sie will ein Gespür für Maß, für Maßstäbe entwickeln.“ (ebenda)

1.3.3 Tonkreise

Besonders in Bezug auf die verwendeten Tonkreise in solmisationsgestütztem Unterricht rät Heygster zu einem langsamen Fortschreiten. Ausgehend von der Rufterz so-mi entsteht jeweils durch Anfügen eines zusätzlichen Tons ein neuer Tonkreis. (Abb.3) In den ersten Klassen der Grundschule reizt Heygster die Möglichkeiten von Tonverbindungen mit zwei Tönen: so-mi und mi-so sehr lange aus.19 (Siehe auch „Häufige Begegnung“ 1.1.3.) Es ist gut möglich, erst am Ende des ersten Semesters den gesamten Dur - Tonraum mit Silben und Gesten eröffnet zu haben. „ So verzichtet das Nukleusverfahren zunächst darauf, die glanzvolle Reichhaltigkeit der musikalischen Welt vorzuführen“ (Heygster 2012 S.17)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1.3.4 Lerntempo

Elementare Klangerfahrungen können mittels der relativen Solmisation in kleinschrittigen Verfahren möglich gemacht werden. Diese bieten gleichzeitig Raum für einen spielerischen, fantasie- varianten- und facettenreichen Umgang mit den Musikstückchen und Liedern. Es ergibt sich ein schnelles Unterrichtstempo bei (unbemerkt) langsamer Progression der Lerninhalte. „Solmisationsgestützte Methodik lässt eine Handlung schnell auf die andere folgen. Lernende jedes Alters lieben ein schnell pulsierendes Unterrichtsgeschehen. Die methodischen Forderungen lauten: Schnelles Unterrichtstempo bei langsamem Lerntempo, wobei die wenigen Unterrichtsinhalte tief verankert werden.“ (Heygster 2012 S.212) .

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch, dass bei einem Unterrichtsweg von der Gesamtwahrnehmung ins Detail (also im deduktiven Verfahren - siehe 1.7.3) ein erst hohes Unterrichtstempo mit großem Schwung bewusst gebremst werden kann:

„Beim hierarchischen Ablauf des deduktiven Verfahrens verliert sich der Schwung mit zunehmendem Fortschreiten in Richtung Detail. Beim ersten Vorsingen oder Vorspielen strahlt die Musik noch ihre Vitalität aus, die Darstellung des ganzen

Rhythmus lässt noch den Zusammenhalt des Ganzen spüren. Doch wird die Atmosphäre mit jedem Schritt des Ablaufes sachlicher, obwohl immer die ganze Melodie ertönt. Wenn zuletzt die Tonverbindungen fokussiert werden, ist jeglicher Schwung hinderlich. Da die Lernenden die Wirkung der ganzen Melodie erlebt haben, ist ihnen dies auch zuzumuten.“ (Heygster 2012 S.185)

1.3.5 Gültigkeitspunkt

Den „ genau gemeinten zeitlichen Augenblick “ (Heygster 2012 S.192) des Einsetzens einer Aktion oder musikalischen Äußerung zu erfassen und umsetzen zu lernen, ist keinesfalls selbstverständlich. Schon mit sehr jungen Kindern erarbeitet Heygster genau diese Fähigkeit: Zum Beispiel im Steinlied (Heygster 2012 S.21).

Ein Stein wird am Ende des Liedchens zu einem bestimmten Zeitpunkt und im Metrum in die Hand des linken Nachbaren im Sitzkreis fallen gelassen. Der Lehrende klatscht bei dem Aufprall des Steines in der Hand des Nachbarn und vermittelt darauf gestisch, das Lied singend, dass dieser Prozess fortgesetzt werden soll.20 Der Aufprall des Steines in der nächsten Hand wird von der ganzen Gruppe nun immer durch ein Klatschen markiert.

Während vieler variierter Durchläufe (z.B. in unterschiedlicher Tonhöhe, Tempo oder Stimmung) wird den Mitwirkenden, hörend und zunehmend auch mitsingend, musikalisches Erleben ermöglicht. Wird der Gültigkeitspunkt der Weitergabe gut umgesetzt wird das positiv bemerkt, Fehlversuche werden nicht extra kommentiert.

Länge, Form und Ende des Liedchens vermitteln sich nach einiger Zeit indirekt, sie werden implizit wahrgenommen und verankert. Das Ende des Liedes ist zum Beispiel als Handlung (das Fallenlassen des Steines in die Hand des Nachbarn) in Erscheinung getreten.

Ein Gefühl für das Metrum, aber auch für den Gültigkeitspunkt - den Augenblick des Aufschlages des Steins in die Nachbarhand - entsteht mit der Zeit bei nahezu jedem, auch den jüngsten Schülerinnen und Schülern. Der Aufschlag des Steines in der nächsten Hand wird mental erlebt ohne dass er in der eigenen Hand spürbar ist.

Nach kurzer Zeit können die Mitwirkenden auch einen „unsichtbaren Stein“ so weitergeben als würde er real existieren. Das lässt sich auch gesondert demonstrieren. Das Fallenlassen und der Aufprall eines imaginären Steines in der Hand wird gestisch angedeutet und das Auftreffen auf der Hand von der ganzen Gruppe durch ein Klatschen markiert. Das Setzen eines für sich und für andere spürbaren Gültigkeitspunktes zu erlernen, aber auch rhythmisch synchron zu agieren (und nicht zu reagieren), ist für die musikalische Arbeit von Beginn an unerlässlich und auf diese Weise gut zu üben.

1.4 Empfindsamkeit

Der Begriff der Empfindsamkeit ist vor allem als literarischer Epochenbegriff und eine Tendenz in der Aufklärung geläufig. In der Psychologie wird die Empfindsamkeit unter anderem als „ eine von 16 Primärdimensionen der Erwachsenenpersönlichkeit“ 21 beschrieben. Die Empfindsamkeit wird psychologisch aber auch als hohe Sensibilität im Zusammenhang mit Begabung und Hochbegabung, meist sogar in negativer Konnotation benutzt.22

Heygster verwendet den Begriff bewusst und häufig mit anderer Bedeutung. Es ist dann die Rede von Empfindsamkeit als Fähigkeit, fein, detailliert und emotional wahrzunehmen. Diese Qualitäten zu fördern oder wieder zu wecken erscheint ihm auch angesichts der hohen Reizdichte, mit der Kinder und Jugendliche heute umzugehen haben, äußerst notwendig.

Empfindsamkeit als Kompetenz, als pädagogisches Ziel wird in den Curricula kaum als solche erwähnt. Sie ist aber, mit der aus ihr erwachsenden Fähigkeit fein und genau zu empfinden, doch Voraussetzung für eine differenzierte Wahrnehmung kleiner Unterschiede und Ähnlichkeiten. (siehe auch „Invarianz“ 1.7.6 und Wahrnehmungs- schulung 1.7.1)

„Die Tonbeziehungen einzeln mit Silben zu benennen bedeutet sie zu unterscheiden. Das Singen auf Silben schafft Empfindsamkeit für die Verschiedenartigkeit der Tonbeziehungen. Es bewirkt ein Wiedererkennen der Unterschiede, wenn diese auch meistens nicht sofort auf die Ebene des bewussten Wahrnehmens gelangen.“ (Heygster 2012 S.11)

Die Verschiedenartigkeit gleich benannter Intervalle je nach ihrer Funktion und Lage im diatonischen Raum ist jedem Musiker bekannt. Ein Intervall in seinem diatonischen Kontext genauer kennen zu lernen, ist hingegen ein faszinierender Prozess der manchmal im Tempo der von Begeisterung und Ehrgeiz bewegten Musikausbildung zu kurz kommt. Es bedarf besonderer Empfindsamkeit, Zeit und Konzentration. Heygster ermöglicht diesen Prozess in seinem Unterricht mit zum Teil wohlüberlegter, aber auch durch den Moment inspirierter, oftmaliger Begegnung mit den Motiven und Phrasen der bearbeiteten Musikstücke. Dieses Erleben kann einen Veränderungsprozess in der Musikwahrnehmung bewirken.

„Empfindsamkeit ist ein kaum bewusster Zustand. Die Silben werden als angenehm empfunden. Sie werden wiedererkannt, fühlen sich zunehmend vertrauter an und ihre Zusammenhänge lassen sich ahnen. Die Affekte hinter den Silben gehen uns nahe, sie beeinflussen unsere Stimmung. Das Wohlgefühl wächst durch die häufige Begegnung mit ihnen. Die Affekte nisten sich ins Gedächtnis ein. Wenn die klangliche Empfindsamkeit zunimmt, löst das Singen und Hören solmisierter Gestalten nicht das Wissen aus etwa einen Molldreiklang gesungen zu haben, sondern im Idealfall eine Gänsehaut. Damit kommen die Lernenden der Musik sehr nahe. Was wirklich wesentlich ist an der Musik, nehmen wir über die Empfindsamkeit bereits auf. Sie leistet für das Hören und Musizieren zunächst bessere Dienste als das Wissen über Musik.“ (Heygster 2012 S.60)

Die Empfindsamkeit ist also Voraussetzung für das Arbeiten mit relativer Solmisation, jeder Schüler bringt sie mehr oder weniger ausgebildet in den Unterricht mit. In weiterer Folge wird durch solche Arbeit aber auch größere Empfindsamkeit geschaffen. Diese Empfindsamkeit ermöglicht ein feines affektives Wahrnehmen und erzeugt den Boden für das Verstehen. Erst kommt erst zu einem impliziten Verstehen das in der Folge dann bewusst also explizit wird. Erst darauf kann das Verstandene dann benannt werden.

1.5 Die Lernenden - individuelle Persönlichkeiten

„Ich suchte nach einer Ausbildung für Kinder und Jugendliche, die wirklich (...) personenbezogen ist, musikalisch ist.“ (Interview Heygster 2020 S.37ff)

Die große Achtung und Sensibilität die Heygster den Lernenden als Persönlichkeiten entgegenbringt, ist Tenor - sowohl seiner Arbeit als auch seiner Schriften. Individualität und Diversität werden wahrgenommen und wenn nötig wird darauf reagiert. Die Unterrichtsverläufe tragen der Tatsache Rechnung, dass jeder Mensch beim Erleben und Aufnehmen von Musik einen individuellen Weg gehen muss. Auch in dieser Einschätzung stimmt Heygster mit Gruhn überein. (siehe auch 2.2 )

[...]


1 „Relative Solmisation in der Grundschule“ MA Martina Hangler 2020 und J.S. Heiden (2015)

2 Man könnte diesen Prozess an den Schulen mit den Worten Wilfried Gruhns auch als „allgemeine musikalische Alphabetisierung“ bezeichnen.

3 Siehe auch „Lehrmaterial mit relative Solmisation“ S.105. Interviews mit praktizierenden Musikpädagoginnen und Musikpädagogen in Hanglers jüngst erschienener Masterarbeit über relative Solmisation im Grundschulunterricht kann man entnehmen, dass dort wo in Österreich mit relativer Solmisation gearbeitet wird, die methodische Anwendung und Praxis im Unterricht sehr unterschiedlich ist. (Hangler 2020)

4 Dabei beziehe ich mich auf die intensive Erfahrung der letzten drei Jahre meines Studiums an der mdw. Beinahe in jedem Seminar fanden sich Ansatzpunkte und Interesse an der Arbeit mit RS, von Seiten der ProfessorInnen und Lehrbeauftragten ebenso wie von Seiten der StudentInnen.

5 https://kulturellebildung.de/kurse/solmisation-relativ-einfach-einfach-relativ/#search:Rela

6 Malte Heygster hat in seinen Veröffentlichungen lange von solmisationsgestützem Unterricht gesprochen. Dieser Begriff wird daher auch im Zusammenhang mit seinen Zitaten verwendet. Erst in einer Korrespondenz im November 2019 habe ich von ihm die Einwilligung erhalten, in dieser Arbeit von „ der Methodik und Didaktik, die von Malte Heygster im Team der Musik- und Kunstschule Bielefeld entwickelt wurde “ zu sprechen. Dabei wurde das weiterentwickelt, was M.H. und das Bielefelder Team in jahrelanger Fortbildung von dem Kodály Schüler Professor Gábor Friss gelernt hat. In diesem Wissen und großer Achtung aller seiner wichtigen „Mitstreiter“ und „Mitentwickler“ werde ich hier doch, aus praktischen Gründen gekürzt, von der „Methode Heygster“, oder einer Art und Weise der relativen Solmisation „nach Heygster“ scheiben.

7 Diese elementare Musikwahrnehmung hat Entsprechungen in Gruhns „genuinem Musiklernen“. Siehe auch 2.3.1

8 Bei den meisten Begriffen ist allerdings eine singuläre Zuordnung zu einem Kapitel nicht möglich und sinnvoll. Sie wurde daher von mir assoziativ, nach dem wörtlichen Vorkommen der Begriffe oder aus dem Zusammenhang vorgenommen.

9 Heygster zitiert auf S.190 J. J. Rousseau: Emile oder die Erziehung

10 Vgl. R.Köppl, E.Altenmüller: „Die Kunst des Musizierens“ und G.Kreuz:“Musik und Emotion“ in H.Bruhn, R.Kopiez, A.Lehmann (Hg.):“Musikpsychologie. Das neue Handbuch, S.548-572

11 Auch Jahre später ist dieses unscheinbare Liedchen für die Schüler in meinen Klassen mit einer lebhaften und freudigen Erinnerung verbunden.

12 Heygster zitiert Röbke (2009)

13 Die Obertonreihe generiert unterschiedliche kleine Terzen.

14 z.B.:die Tonbeziehung so-mi die (kleine) „Rufterz“, im Gegensatz zu re - ti (kleine) „Leitterz.

15 Auf Grund von Beobachtung des Musikunterrichtes vieler auch sehr unterschiedlicher Lehrkräfte an drei unterschiedlichen Volksschule über sieben Jahre kann ich berichten, dass in Sachen der grundlegenden Musikvermittlung nur allzu gerne mit Arbeitsblättern, Lückentexten und anderem visuellen Unterrichtsmaterial gearbeitet wird. Wenn mit den Klassen gesungen wird, geschieht das in geschätzten 80% der Unterrichte mit Playback von Tonträgern. Nur sehr selten singt der Lehrer oder die Lehrerin selbst die Lieder vor. Das Hören direkt erzeugter Klänge als Quelle musikalischer Erfahrungen und weitere Arbeit am Aufbau eines Tonbewusstsein sowie die Verankerung von musikalischen Strukturen bleibt somit auf der Strecke.

16 In Zeiten des Online-Unterrichtes muss Klangerleben als direktes, natürliches Erleben hervorgehoben werden. Die Unzulänglichkeiten digitaler Medien in klanglicher Hinsicht sind trotz allen Bemühungen und technischen Verbesserungen immer noch eklatant. Die Tatsache, dass Instrumentalunterricht in Zeiten des coronabedingten Kontaktverbotes überhaupt möglich ist und war, ist wohl mehr der enormen Willensanstrengung von SchülerInnen und LehrerInnen zu verdanken als den benutzten Medien.

17 Ob es, bei gutem Aufbau musikalischer Repräsentationen, möglich sein kann, zum Beispiel für Gehörlose die relative Solmisation als Gebärdensprache zu verwenden ist noch zu wenig ausprobiert worden und nicht untersucht. Meine Erfahrung in Zeiten des coronabedingten Singverbotes in Klassenzimmern war damit sehr gut. Die jungen Kinder meinten nach einer kurzen Phase in der ich nach Heygsters Methode in variierenden Versionen kleine Patterns mit Maske gesungen habe, zu hören, was ich danach tonlos zeigte.

18 In der Verfeinerung und Intensivierung solcher Technik sehe ich hier eine reelle Möglichkeit, diese präzisen Gesten auch als musikalische Gebärdensprache für Gehörlose einzusetzen.

19 Es werden aber auch andere Möglichkeiten z.B. mit drei Tönen mi - re - do zu beginnen bei Heygster erwähnt. (Heygster 2012 S.20)

20 Die ganze Sequenz findet ohne spezielle sprachliche Erklärung oder Ankündigung und ohne expliziten Hinweis auf das Ende der Liedes, das Metrum oder die gemeinte Taktzeit der Weitergabe statt.

21 Lexikon der Psychologie in fünf Bänden, G.Wenninger (Hg) Bd.1, 2000, Berlin: SpektrumVerlag, S.384

22 z.B.: Nora Härtel: „Das Leid der Empfindsamkeit“ Deutschlandfunk 13.10.2005

Ende der Leseprobe aus 107 Seiten

Details

Titel
Relative Solmisation nach Malte Heygster und ihre Bedeutung für musikalisches Lernen nach Wilfried Gruhn
Untertitel
Funktion und Konsequenzen der Arbeit mit relativer Solmisation für den Musikunterricht an Volks- und Musikschulen sowie für die LehrerInnenausbildung
Hochschule
Universität für Musik und darstellende Kunst Wien  (Studiendekanat für musikpädagogische Studien)
Note
1
Autor
Jahr
2022
Seiten
107
Katalognummer
V1182548
ISBN (eBook)
9783346616753
ISBN (eBook)
9783346616753
ISBN (eBook)
9783346616753
ISBN (Buch)
9783346616760
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Solmisation, Relative Solmisation, Solfége, Malte Heygster, Wilfried Gruhn, Musiklernen, Audiation, musikalische Repräsentation, Tonbewusstsein, Kinästhetik, Wahrnehmungsschulung, Tonaler Affekt, handlungsorientiertes Musiklernen
Arbeit zitieren
Doris Audétat (Autor:in), 2022, Relative Solmisation nach Malte Heygster und ihre Bedeutung für musikalisches Lernen nach Wilfried Gruhn, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1182548

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Relative Solmisation nach Malte Heygster und ihre Bedeutung für musikalisches Lernen nach Wilfried Gruhn



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden