Das Narrativ vom nationalen Kampf. Die Mythisierung des "Befreiungskrieges" in der frühen Republik (1923-1938)


Bachelorarbeit, 2021

49 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Forschungsstand
1.2 Methodik

2. Nationalismus und politischer Mythos
2.1 Nation und Nationalismus
2.2 Formen und Funktion von politischen Mythen

3. Der Befreiungskrieg als Gründungsmythos
3.1 Die „türkische“ Nationalbewegung
3.2 Das kemalistische Narrativ
3.3 Die Ritualisierung des Befreiungskrieges

4. Künstlerische Aufwertung des Krieges in der frühen Republik
4.1 Ratip Tahir Burak: Ergenekon
4.2 Zeki Faik İzer: İnkılap Yolunda

5. Fazit

6. Quellen- und Literaturverzeichnis

7. Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

Der Krieg zwischen 1919 und 1923 wird innerhalb der türkischen Historiographie als ein nationaler Kampf ( Milli Mücadele ) gegen die imperialen Mächte idealisiert. Er besitzt einen symbolischen Charakter und hat in der türkischen Gesellschaft einen besonderen Stellenwert. Untersucht man den „Befreiungskrieg“ hauptsächlich auf dessen narrative und ikonische Darstellung, so lassen sich Formen eines politischen Mythos wiederfinden, die zumindest im deutschsprachigen Raum nur teilweise untersucht worden sind. Insbesondere im Hinblick auf die Mythenforschung gibt es begrenzte Untersuchungen über den Befreiungskrieg, denn die Mythenforschung im deutschsprachigen Raum beschränkt sich auf den deutschen, innereuropäischen und amerikanischen Mythos. Nur einige wenige Historiker*innen wie Stefan Plaggenborg oder Corry Guttstadt verdeutlichen die mythischen Elemente des Befreiungskrieges und bezeichnen ihn als einen Gründungsmythos. Dementsprechend widmet sich die vorliegende Arbeit der Frage, welche narrativen Formen für die Mythisierung des Befreiungskrieges genutzt wurden und was für eine Intention die Führungselite der frühen Republik mit dem Narrativ eines Befreiungskrieges oder nationalen Kampfes verfolgte.

1.1 Forschungsstand

Innerhalb der wissenschaftlichen Geschichtsforschung gibt es zahlreiche Arbeiten zum Befreiungskrieg der Türken. Allerdings beschäftigen sich die meisten davon mit dem Kriegsverlauf und beschreiben demnach die Schlachten, die während des Zeitraumes zwischen 1919 und 1923 erfolgten. Entsprechend wird die kemalistische Historiographie als Anhaltspunkt gewählt und damit aufbauend die Zeit zwischen 1919 und 1923 beleuchtet. In Anbetracht dessen heben sich die wissenschaftlichen Arbeiten des niederländischen Turkologen Erik-Jan Zürcher im Vergleich zu den anderen Werken, die in diesem Forschungsbereich vorhanden sind, hervor, da er argumentativ bekräftigt, dass die Grundlage für die Schaffung einer Widerstandsbewegung seitens der Nationalisten in Anatolien bereits auf 1915 zu datieren ist. So waren es die Anführer des Komitees für Einheit und Fortschritt, vor allem Talat Paşa, die eine Widerstandsbewegung planten und nach der Kapitulation des Osmanischen Reichs im Jahr 1918 diesen Plan umsetzten.1 Somit widerspricht Zürcher dem kemalistischen Narrativ, das besagt, dass die Landung Atatürks den Anfang der Befreiungsbewegung kennzeichne. Demnach werden in der vorliegenden Arbeit die wissenschaftlichen Arbeiten von Zürcher herangezogen, um eine überschaubare Sichtweise auf den Krieg (1918-1923) herzustellen.

Schaut man sich den deutschsprachigen Forschungsbereich zum türkischen Befreiungskrieg an, so wird ersichtlich, dass dieser nur von einigen wenigen Historiker*innen behandelt wird. Die Mythenforschung im deutschsprachigen Bereich bezieht sich nur auf den innereuropäischen und amerikanischen Mythenraum und vernachlässigt somit die türkische Mythenlandschaft. Lediglich der Historiker Stefan Plaggenborg verdeutlicht, dass der Befreiungskrieg aufgrund anarchischer Zustände in Anatolien ein bürgerkriegsähnliches Ausmaß hatte, und definiert den Krieg als einen Bürgerkrieg. Diesbezüglich wird in den wissenschaftlichen Arbeiten von Plaggenborg eine ausgiebige Untersuchung vollzogen. Er widerspricht der kemalistischen Historiographie, die den Krieg als einen nationalen Kampf gegen die imperialen Mächte idealisiert, indem er mit Beweisen eine gegenteilige Sicht zum Krieg veranschaulicht.2 Demzufolge werden neben den Werken Zürchers vor allem die wissenschaftlichen Ausarbeitungen von Plaggenborg hinzugezogen.

1.2 Methodik

Die vorliegende Arbeit teilt sich in drei Kapitel auf und soll im ersten Kapitel die theoretische Ebene abdecken. Auf der Theorieebene werden die wissenschaftlichen Arbeiten des Historikers Eric J. Hobsbawm und des Soziologen Ernest Gellner im Hinblick auf die Entstehung des Nationalismus sowie die Eigenschaften einer Nation herangezogen. In diesem Zusammenhang ist es vonnöten, die Mythenforschung miteinzubeziehen, da Akteure einer modernen Nation zur Durchsetzung ihrer Ideologien historische Errungenschaften für politische Zwecke mythisieren und somit ein Narrativ aufbauen. Dabei besitzt das Narrativ die Intention, ein kollektives Bewusstsein innerhalb der Gesellschaft herbeizuführen, um dadurch einen Homogenisierungs- und Indoktrinationsprozess zu starten. Dementsprechend muss im Kontext der narrativen Untersuchung des türkischen Befreiungskrieges der politische Mythos in seiner Form und Funktion untersucht werden. Dazu werden die wissenschaftlichen Arbeiten von Yves Bizeul (Politikwissenschaftler), Dieter Langewiesche (Historiker), Rudolf Speth (Politikwissenschaftler) und Jan Rohgalf (Politikwissenschaftler) miteingebunden, die im Bereich der politischen Mythen überschaubare Erkenntnisse liefern.

Bezugnehmend auf die Nationalismus- und Mythenforschung soll auf der Analyseebene, die im dritten und vierten Kapitel zu finden ist, die Verknüpfung zum türkischen Befreiungskrieg vorgenommen werden. Dabei wird im dritten Kapitel der Krieg zwischen 1919 und 1923 veranschaulicht und im Hinblick auf dessen narrative und rituelle Form untersucht. Diesbezüglich wird zum einen auf die Widerstandsbewegung der Nationalisten unter der Ägide von Mustafa Kemal Atatürk eingegangen, zum anderen auf die Ritualisierung des Krieges mittels Nationalfeiertagen und Denkmalerrichtungen. Für die Analyse des kemalistischen Narrativs wird insbesondere auf die wissenschaftlichen Arbeiten von Zürcher und Plaggenborg zurückgegriffen, die eine andere Sichtweise zum Krieg bieten und das kemalistische Narrativ widerlegen. Darauf aufbauend sollen einige Kernpunkte der 36-stündigen Marathonrede Atatürks, die er im Jahr 1927 vor dem Parlament vortrug, betrachtet werden. Dabei geht es um die narrative Struktur der Rede, die Heroisierung seiner Person sowie die bewusste Stilisierung der Ereignisse zwischen 1919 und 1923. Als Kontrast werden die Memoiren von Rauf Orbay, Kazım Karabekir und Halide Edip-Adıvar, die allesamt einen wesentlichen Beitrag zur Widerstandsbewegung leisteten, herangezogen, um aus deren Sichtweise einige historische Ereignisse zu beleuchten und diese mit der Rede Atatürks zu vergleichen. Anschließend wird die Ritualisierung des Befreiungskrieges untersucht. Dazu werden die Nationalfeiertage, die unmittelbar nach der Ausrufung der Republik etabliert wurden, in Bezug auf deren narrative Strukturen und Wirksamkeit untersucht. Als Basis dient die Monografie „Vom Osmanen zum Türken“ der Historikerin Sara-Marie Demiriz, die sehr detailreich die einzelnen Nationalfeiertage in Bezug auf deren narrative Funktion untersucht hat. Im Anschluss an das dritte Kapitel soll die Denkmallandschaft der frühen Republik betrachtet und deren Effektivität auf das kollektive Gedächtnis verdeutlicht werden.

Das vierte Kapitel befasst sich mit der künstlerischen Aufwertung des Befreiungskrieges. Exemplarisch wird das Gemälde „Ergenekon“ von Ratip Tahir Burak und „İnkılap Yolunda“ von Zeki Faik İzer in Bezug auf die bildliche Darstellung der kemalistischen Historiographie analysiert. Als Grundlage für die Untersuchung wird die Expertise der Kunsthistorikerin Burcu Dogramaci hinzugezogen. Somit soll die vorliegende Arbeit das Narrativ vom nationalen Kampf untersuchen, die Formen für die Mythisierung des Befreiungskrieges veranschaulichen und anhand dessen die Intention dahinter aufzeigen.

2. Nationalismus und politischer Mythos

Der Nationalismus ist ein politisches Prinzip, dessen Grundsatz darin besteht, politische und nationale Einheiten deckungsgleich zu machen.3 Das Nationalgefühl, das Gellner als eine Empfindung definiert, treibt nationalistische Bewegungen voran. Dabei kann das nationalistische Prinzip verletzt werden, wenn sich eine fremde Herrschaft ein erobertes Territorium innerhalb seiner Landesgrenzen einverleibt oder die lokale Herrschaft von einer fremden Gruppe ausgeübt wird.4 Das Fremde, welches nicht ein Teil des nationalistischen Prinzips ist, führt zu einer Verletzung des Nationalgefühls. Als Folge dessen wird Zorn empfunden, der Hass und Gewalt verursacht.5 Dementsprechend ist laut Gellner der Nationalismus „[…] eine Theorie der politischen Legitimation, der zufolge sich die ethnischen Grenzen nicht mit den politischen überschneiden dürfen; insbesondere dürfen innerhalb eines Staates keine ethnischen Grenzen die Machthaber von den Beherrschten trennen […].“6 In Anbetracht dessen wird im folgenden Kapitel der Nationalismus näher betrachtet. Dabei werden zunächst die Begriffe „Nation“ und „Staat“, die den Kern der nationalistischen Idee ausmachen, definiert. Anschließend soll der Übergang zum Nationalismus sowie dessen Kernelemente beleuchtet werden. Anknüpfend an den Nationalismus soll der politische Mythos in Bezug auf dessen Formen und Funktion analysiert werden. Denn politische Mythen sind Narrationen, die sich auf ein Kollektiv beziehen und somit das Nationalbewusstsein aufkeimen lassen. Sie sind sowohl ein Produkt der gesellschaftlichen Kommunikation als auch des gesellschaftlichen Handelns und heben nur besondere Ereignisse hervor.7 Dabei wird nicht nur die erzählerische Perspektive eingenommen, sondern auch die rituelle Darstellung in Form von Bildern, Denkmälern und Festen.8 Von einem politischen Mythos spricht man dann, wenn Ereignisse wie Revolution, Nation oder Krieg mythisiert werden.9

2.1 Nation und Nationalismus

Der Begriff „Nation“, wie wir ihn gegenwärtig verstehen, ist ein recht moderner Begriff und geht auf das 18. und 19. Jahrhundert zurück. Exemplarisch zeigt Hobsbawm dies anhand des Wörterbuchs der königlich-spanischen Akademie, welches „[…] die Begriffe Staat, Nation und Sprache in ihrer modernen Bedeutung erst seit der Auflage von 1884 […]“10 verzeichnet. Vor 1848 bezog sich die Nation auf die gesamte Einwohnerschaft einer Provinz, eines Landes oder eines Königreichs. Seit der Auflage von 1884 bezieht sich der Begriff jedoch auf eine politische Körperschaft und somit auf den Staat.11 Diese Art von Bedeutungswandel vollzog sich ebenfalls im Osmanischen Reich. Der Begriff „millet“ wurde vor dem Aufkeimen nationalistischer Ideen im 19. Jahrhundert als Synonym für die religiöse Zugehörigkeit einer bestimmten Bevölkerungsgruppe verwendet. Das Millet-System teilte die Bevölkerung des Reiches in Muslime, Christen und Juden auf. Im Zuge des Nationalismus wurde dem Begriff eine nationale Bedeutung verliehen. Somit kann der Nationsbegriff als eine wechselseitige Anerkennung von Mitgliedern definiert werden, die sich einer Gruppierung zugehörig fühlen.12 Dabei spielen dieselbe Kultur und Sprache, aber auch die Anerkennung gegenseitiger Rechte und Pflichten eine wesentliche Rolle. Dementsprechend argumentiert Gellner, dass der Mensch die Nation mache, weshalb er Nationen als „[…] Artefakte menschlicher Überzeugungen, Loyalitäten und Solidaritätsbeziehungen […]“13 sieht.

Der Staat ist eine gesellschaftliche Institution, die legitime Gewalt besitzt und ausübt.14 Für die Aufrechterhaltung der Ordnung ist der Staat die einzige politische Autorität, die (Zwangs-)Gewalt ausführt.15 Eine private oder gesellschaftlich ausgeübte Gewalt wird nicht geduldet und ist demnach illegitim.16

Der moderne Staat besteht aus festgelegten Landesgrenzen, um sich von anderen Territorien abzugrenzen. Innerhalb seiner Landesgrenzen herrscht er über die gesamte Einwohnerschaft und hat sich zum Ziel gesetzt, auf dem gesamten Territorium dieselben institutionellen sowie administrativen Ordnungen und Gesetze durchzusetzen.17 Allerdings waren Ordnung und Gesetz nicht religiös, sondern weltlich veranlagt. Dieser moderne Staatsgedanke nahm seine Gestalt im Zeitalter der Französischen Revolution an.18 Infolgedessen ist der Nationalstaat als ein Konstrukt zu verstehen, das innerhalb seiner Landesgrenzen eine höhere Instanz besitzt, welche für die Aufrechterhaltung der Ordnung sorgt und dadurch Gewalt ausübt. Um allerdings die Nation nicht nur mittels einer autoritären Staatsgewalt zu lenken, muss ein kollektives Zugehörigkeitsgefühl vorhanden sein. Dies erfolgt beispielsweise durch Sprache und Kultur. Die Gesellschaft wird aufgrund von Gemeinsamkeiten, die mithilfe derselben Rechte und Pflichten eine gegenseitige Anerkennung ermöglichen, zu einem Kollektiv geformt. Ausgangspunkt dieses Konzeptes bildet der Nationalismus.

Die Nation ist keine ursprüngliche oder unveränderliche soziale Einheit, sondern gehört einer bestimmten und jungen Epoche an.19 Demgemäß argumentiert Gellner, dass der Übergang zum Nationalismus mit der industriellen Revolution einhergehe, die durchaus eine Periode der turbulenten Neuanpassung gewesen sei und dadurch eine homogene Gesellschaft geformt habe.20 Dementsprechend lehnt er die Auffassung ab, dass der Nationalismus solch eine Homogenität aufgezwungen habe, und vertritt die Ansicht, dass der Nationalismus auf die industrielle Organisation einer Gesellschaft zurückgehe.21 Demnach ist von einer neuen gesellschaftlichen Herausforderung auszugehen, deren Folge die Formung einer nationalistischen Idee war. Der Nationalismus wirkte gegen die Ansprüche der absolutistischen Herrschaftsschicht, die nicht bereit war, sich der neuen Struktur anzupassen, sodass diese Periode des Übergangs eine gewalttätige und konfliktreiche sein musste.22 Der konfliktreiche Übergang mündete in der Konsequenz, eine neue Form der sozialen Organisation zu schaffen, die sich von bestehenden Strukturen loslöste. Dabei verdeutlicht Gellner, dass der Nationalismus bereits bestehende Kulturen umwandelt, erfindet oder vernichtet.23 „Der Prozeß der Industrialisierung lief in aufeinanderfolgenden Phasen ab und unter verschiedenen Bedingungen; er brachte neue Rivalitäten hervor, mit neuen Verlusten und Gewinnen […]“24, die das Zeitalter des Nationalismus besiegelten. Der Nationalismus bringt somit Nationen hervor, indem er bereits bestehende Kulturen selektiv einsetzt oder radikal umwandelt.25 Gellner verdeutlicht, dass der Nationalismus sich als volksnah darstellt und sich bewusst an der Unterschicht vergreift.26 Dabei versucht der Nationalismus, verständlich zu machen, dass einer Unterdrückung seitens einer fremden Hochkultur durch eine kulturelle Wiederbelebung und Neubestätigung entgegengehalten und bekämpft wird. Dieser Prozess führt letzten Endes zu einem nationalen Befreiungskrieg, dessen Ziel darin besteht, die fremde Kultur auszuschalten.27 Jedoch wird das Fremde nicht durch die alte lokale Kultur ersetzt, sondern vielmehr eine neue Kultur erfunden.28 In diesem Zusammenhang ordnet Hobsbawm die antiimperialen (Befreiungs-)Bewegungen folgenden drei Kategorien zu: Sie wurden von lokalen und gebildeten Eliten vorangetrieben, welche die europäische Idee der nationalen Selbstbestimmung zum Vorbild nahmen. Innerhalb der Bevölkerung herrschte eine antiwestliche Stimmung (Fremdenfeindlichkeit), die dazu führte, dass kriegerische Stämme Widerstand gegen die Besatzer leisteten.29

Dass sich der Nationalismus vor dem Ersten Weltkrieg rasant verbreiten konnte, führt Hobsbawm auf die sozialen sowie politischen Veränderungen des 18. und 19. Jahrhunderts zurück.30 Auf der politischen Ebene bekräftigte die internationale Lage (Kolonialismus und Imperialismus) die Feindseligkeit gegenüber Minderheiten und Menschen mit einer anderen Ethnizität.31 Dies führte zu einem Exklusionsprozess, der als Folge die Ausübung von Gewalt und Vertreibung hervorbrachte. Auf der sozialen Ebene bekräftigte insbesondere die industrielle Revolution die gesellschaftliche Veränderung. So gab es traditionelle Gruppierungen, die sich gegenüber der neuen Gesellschaftsklasse bedroht fühlten und sich deswegen dagegen auflehnten.32 Das Leben der Menschen änderte sich und viele flohen aufgrund von besseren Perspektiven in die Städte, sodass eine Landflucht ihren Lauf nahm und die Urbanisierung vorantrieb. Allerdings hatte der Nationalismus seinen endgültigen Höhepunkt am Ende des Ersten Weltkriegs.33 Grund dafür war der Zusammenbruch der Vielvölkerstaaten in Mittel- und Osteuropa (Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich, Russisches Zarenreich). Dieser Zusammenbruch führte dazu, dass neue Nationalstaaten entstanden.34 Als Folge dessen wurden die ethnische Zugehörigkeit sowie die Sprache zu zentralen Elementen einer Nation, die keine eigene Geschichte besaß bzw. sich nicht mit der Vergangenheit identifizieren wollte.35 Untersucht man die Gründe für die ethnisch-sprachliche Dominanz innerhalb einer Nation, so sind sie in zwei Kategorien aufzuteilen. Die nichtstaatlichen nationalen Bewegungen waren Gemeinschaften aus Gebildeten, die abseits der politischen und geographischen Grenzen vor allem mittels der Sprache und Literatur verbunden waren. Für sie war die Sprache „[…] mehr als das Medium einer hochentwickelten Literatur und als ein universelles geistiges Ausdrucksmittel.“36 In Anbetracht dessen lieferte die Sprache beispielsweise für Deutsche und Italiener „[…] ein zentrales Argument für die Schaffung eines einheitlichen Nationalstaates […]“37. Der ethnische Nationalismus hingegen spielte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Grund dafür waren Massenauswanderungen und die theoretische Umformung des Rassebegriffs. Durch die Bedeutungsentwicklung des Begriffs wurden die Menschen nicht nur aufgrund ihrer Hautfarbe unterschieden, sondern durch ethnische Unterscheidungsmerkmale wie Arier, Semiten, Slawen, Asiaten etc.38 Verstärkt durch den Darwin‘schen Evolutionismus bekam der Rassismus wissenschaftliche Begründungen, „[…] sich gegenüber Fremden abzuschließen oder sie […] zu vertreiben und umzubringen.“39 Aufgrund der ethnischen sowie sprachlichen Bedeutungen, die dem Nationalismus zukommen, kam es zu einer gegenseitigen Bestärkung der beiden Elemente.40 In diesem Zusammenhang stellt Hobsbawn exemplarisch den Sprachnationalismus hervor, dessen Ziel darin bestehe, „[…] die Nationalsprache von fremden Elementen zu säubern.“41 Allerdings verdeutlicht Hobsbawm, dass nicht die Kommunikation oder die Kultur maßgebend für den sprachlichen Nationalismus seien, sondern Probleme von Macht, Politik und Ideologie.42 Um diese Macht, Politik und Ideologie aufrechtzuerhalten, ist es für die Führungselite einer Nation vonnöten, ihre eigene nationale Geschichte zu erzählen, um sich von ihrer Vorgeschichte abzugrenzen. Dementsprechend sind National- und Gründungsmythen unerlässliche narrative Methoden, um innerhalb der nationalen Grenzen ein Kollektiv zu bilden, das sich auf ihre gemeinsame Kultur, Sprache und Geschichte bezieht.

2.2 Formen und Funktion von politischen Mythen

Mythen sind offen für Interpretationen, weil deren Inhalt eine Flexibilität verschafft.43 Diese Deutungsvariabilität sorgt dafür, dass die Handlung eines Mythos nicht gänzlich abgeschlossen wird, sondern offen für weitere Interpretationsmöglichkeiten ist.44 Dieser Freiraum sorgt dafür, dass Mythen „[…] unterschiedliche Handlungsoptionen legitimieren können […]“45. Somit sind Mythen narrative Strukturen, die neu erzählt, wiederbelebt oder verdrängt werden.46 Durch den Prozess der Neuerzählung erfindet sich die Nation und imaginiert sich anders als zuvor. Allerdings braucht sie dafür neue Mythen oder sie muss alte Mythen mit neuem Sinn füllen.47 Insofern besteht die Kernaufgabe von nationalen Mythen darin, Inklusion und Exklusion durch die Festlegung von Selbst- und Fremdbildern zu etablieren. Dadurch ist der Mythos in der Lage, eine kollektive Identität zu stiften oder sie in Krisenzeiten zu bewahren.48 Infolgedessen operieren politische Mythen mit binären Codes (wir – sie, gut – böse, zivilisiert – wild). Dies ermöglicht es dem politischen Mythos, eine narrative Grenze zwischen der Gemeinschaft (wir) und der Umwelt (sie) zu ziehen.49 Dadurch wird eine kollektive Identität markiert und diese gefestigt, da stets eine äußere Bedrohung herrscht und dementsprechend Zusammenhalt gezeigt werden muss.50 Verantwortlich für die Bildung von nationalen Identitäten war der Erste Weltkrieg, der den Vielvölkerstaaten ein Ende setzte und somit neue Nationen schuf. Um diese Entwicklung zu legitimieren oder dieser zu widersprechen, wurden National- und Gründungsmythen kreiert, die sich auf den Krieg bezogen.51 Gleichzeitig etablierte man Feindbilder, um den Mythos aufrechtzuerhalten. Allerdings reflektieren die Kriegsmythen nicht die Wirklichkeit, sondern weichen von den tatsächlichen Ereignissen ab.52

Politische Mythen und Rituale sind eng miteinander verknüpft. In diesem Zusammenhang verweist Bizeul auf die Aussage des Philosophen Ernst Cassirer, der den Mythos als episches und den Ritus als dramatisches Element sah, die nicht unabhängig voneinander zu betrachten sind.53 Der Ritus sorgt nämlich dafür, dass der Mythos vergegenwärtigt wird und somit erhalten bleibt. Der Mythos hingegen macht den Ritus glaubhaft und legitimiert dessen Ausübung seitens der Gemeinschaft.54 Somit sind Rituale als soziale Ereignisse zu verstehen, die sich wiederholen.55 Außerdem dienen sie der Kontrolle sowie der Schaffung einer gemeinsamen Zukunft.56 In diesem Zusammenhang hebt Rudolf Speth hervor, dass die Ritualisierung von politischen Mythen im 19. Jahrhundert mittels Festen, Zeremonien, Aufmärschen, Denkmalserrichtungen und politischen Kulten vollzogen wurde. Sie entfalteten eine andere Wirksamkeit als Texte.57

Das Fest ist eine Möglichkeit zur Ritualisierung des politischen Mythos und dient der kollektiven Regeneration. Es sorgt dafür, dass das alltägliche Leben kurzzeitig unterbrochen und aufgehoben wird. Dieser Effekt ermöglicht die Herstellung eines kollektiven Ortes.58 Wiederum wird dieser kollektive Ort strategisch für die Ritualisierung des Mythos ausgenutzt, indem die emotionalen und affektiven Handlungen institutionalisiert werden.59 Somit ist das Ziel der Feste und Feiern, eine kollektive Identität zu schaffen sowie ein Selbstbild zu entwerfen, das emotionale Ressourcen für politisches Handeln bereitstellt.60 Dadurch wird die Schaffung einer Nation ermöglicht und deren Handlungsmächtigkeit gefestigt. Die Feste sind also „[…] Teil einer öffentlichen Erinnerungskultur, in der [die] kollektive Identität durch Konstruktion von Vergangenheit hergestellt wird.“61

...


1 Vgl. Erik-Jan Zürcher: Turkey. A modern history, London 32004; Erik-Jan Zürcher: The unionist factor. The role of the Committee of Union and Progress in the Turkish national movement, Leiden 1984.

2 Vgl. Stefan Plaggenborg: Ordnung und Gewalt. Kemalismus – Faschismus – Sozialismus, Berlin 2012; Stefan Plaggenborg: Viel Krieg, keine Nation. Die Entstehung der modernen Türkei, in: Ewald Frie / Ute Planert / Dieter Langewiesche (Hrsg.): Revolution, Krieg und die Geburt von Staat und Nation. Staatsbildung in Europa und den Amerikas 1770-1930, Tübingen 2016, S. 149-168.

3 Vgl. Ernest, Gellner: Nationalismus und Moderne (Rotbuch-Rationen), Berlin 1991, S. 8; Eric J. Hobsbawm: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt am Main 1992, S. 20.

4 Vgl. Gellner: Nationalismus, S. 8.

5 Vgl. ebd.

6 Ebd., S. 9.

7 Vgl. Rudolf Speth: Nation und Revolution. Politische Mythen im 19. Jahrhundert, Wiesbaden 2000, S. 118.

8 Vgl. ebd., S. 30.

9 Vgl. ebd., S. 112.

10 Hobsbawm: Nationen, S. 25.

11 Vgl. ebd.

12 Vgl. Gellner: Nationalismus, S. 16.

13 Ebd.

14 Vgl. ebd., S. 11.

15 Vgl. ebd.

16 Vgl. ebd.

17 Vgl. Hobsbawm: Nationen, S. 97.

18 Vgl. Hobsbawm: Nationen, S. 97.

19 Vgl. ebd., S. 20.

20 Vgl. Gellner: Nationalismus, S. 63-64.

21 Vgl. ebd., S. 65.

22 Vgl. ebd., S. 64.

23 Vgl. ebd., S. 77.

24 Ebd., S. 82.

25 Vgl. ebd., S. 87.

26 Vgl. Gellner: Nationalismus, S. 89.

27 Vgl. ebd., S. 90.

28 Vgl. ebd.

29 Vgl. Hobsbawm: Nationen, S. 178.

30 Vgl. ebd., S. 130.

31 Vgl. ebd.

32 Ebd.

33 Vgl. ebd., S. 155.

34 Vgl. ebd.

35 Vgl. Hobsbawm: Nationen, S. 122.

36 Ebd., S. 122-123.

37 Ebd., S. 123.

38 Vgl. ebd., S. 128-129.

39 Ebd.

40 Vgl. ebd., S. 130.

41 Ebd., S. 129.

42 Vgl. ebd., S. 131.

43 Vgl. Dieter Langewiesche: Krieg im Mythenarsenal europäischer Nationen und der USA. Überlegungen zur Wirkungsmacht politischer Mythen, in: Nikolaus Buschmann / Dieter Langewiesche (Hrsg.): Der Krieg in den Gründungsmythen europäischer Nationen und der USA, Frankfurt am Main 2003, S. 16.

44 Vgl. ebd.

45 Ebd., S. 17.

46 Vgl. ebd., S. 19.

47 Vgl. ebd.

48 Vgl. ebd.

49 Vgl. Jan Rohgalf: Jenseits der großen Erzählungen. Utopie und politischer Mythos in der Moderne und Spätmoderne, Wiesbaden 2015, S. 315.

50 Vgl. ebd.

51 Vgl. Dieter Langewiesche: Unschuldige Mythen. Gründungsmythen und Nationsbildung in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, in: Kerstin von Lingen (Hrsg.): Kriegserfahrungen und nationale Identität in Europa nach 1945 (Krieg in der Geschichte, Bd. 49), Paderborn 2009, S. 31-32.

52 Vgl. ebd., S. 34.

53 Vgl. Yves Bizeul: Theorien der politischen Mythen und Rituale, in: Yves Bizeul (Hrsg.): Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen (Ordo Politicus, Bd. 34), Berlin 2000, S. 19.

54 Vgl. ebd.

55 Vgl. ebd., S. 18.

56 Vgl. ebd., S. 31.

57 Vgl. Speth: Nation, S. 128.

58 Vgl. ebd., S. 196.

59 Vgl. ebd.

60 Vgl. ebd., S. 197.

61 Ebd.

Ende der Leseprobe aus 49 Seiten

Details

Titel
Das Narrativ vom nationalen Kampf. Die Mythisierung des "Befreiungskrieges" in der frühen Republik (1923-1938)
Hochschule
Universität Duisburg-Essen
Note
2,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
49
Katalognummer
V1183145
ISBN (eBook)
9783346607072
ISBN (eBook)
9783346607072
ISBN (eBook)
9783346607072
ISBN (Buch)
9783346607089
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Türkei, Befreiungskrieg, Mythos, Atatürk
Arbeit zitieren
Hasan-Yasin Baran (Autor:in), 2021, Das Narrativ vom nationalen Kampf. Die Mythisierung des "Befreiungskrieges" in der frühen Republik (1923-1938), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1183145

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