Kriminalität und Verbrechen sind in der Medienlandschaft allgegenwärtig. Nach den TV-Richtern am Nachmittag ermitteln Kommissare am Vorabend in vermeintlich “echten” Kriminalfällen, bevor zur Prime Time schließlich die großen, publikumsträchtigen Serien- und Film-Produktionen ausgestrahlt werden. Selbst die Nachrichtensendungen dazwischen bilden keine Ausnahme und lassen das Thema keineswegs außer Acht.
An Interesse der Öffentlichkeit mangelt es also nicht. Insbesondere Geschichten und Berichte über Sexualverbrechen scheinen dabei erfolgversprechende “Publikumsrenner” zu sein, die daher auch immer wieder in den Medien auftauchen. Genau dieser Bereich der Kriminalität bildet den Ausgangspunkt dieser Arbeit. Im ersten Abschnitt wird zunächst anhand der Epoche des Deutschen Kaiserreichs (1871 - 1918) ein historisches Verständnis von Geschlechterrollen und Körperdefinitionen und den daraus resultierenden kulturellen Deutungsmustern sexueller Gewalt erarbeitet. Literaturgrundlage bildet hier vor allem die Dissertation von Tanja Hommen aus dem Jahr 2000. Im Zuge dessen richtet sich der Fokus schon bald auf die Rolle von Kindern - hauptsächlich junge Mädchen - in Sittlichkeitsprozessen. Der Frage nach der Bewertung der Glaubwürdigkeit dieser Zeuginnen vor Gericht wird schließlich im zweiten Abschnitt der Arbeit nachgegangen. Außerdem soll ein Bogen in die heutige Zeit geschlagen werden, um abschließend Überlegungen anzustellen, inwiefern “das Kind vor Gericht” das kulturelle Kindheitsbild einer Zeit repräsentiert bzw. das Verhalten gegenüber den wirklichen Kindern beeinflusst.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Wer ist der Täter, wer das Opfer in einem Sexualverbrechen?
2.1 Geschlechterrollen und Körperdefinitionen im Kaiserreich
2.2 Das „verführende“ Mädchen – Über „Komplizenschaft“ und die (Mit-)Schuld des Kindes
3. Kindliche Zeugen in Sittlichkeitsprozessen – >Eine Frage der Glaubwürdigkeit?
3.1 Warum man dem Kind im Zeugenstand nur selten glaubte
3.2 Gerichtliche Vernehmungen – Ein Blick zurück und in die Gegenwart
4. Die Kontroversen um die Schutzbedürftigkeit von Kindern – Ein Ausblick
Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Nach rund einer halben Stunde ist der Fall klar: Thomas, 19 Jahre alt, hat die vier Jahre jüngere Tatjana vor acht Monaten gegen ihren Willen zum Sex gezwungen. Es war Vergewaltigung. Daran besteht nun kein Zweifel mehr. Dass Thomas die Tat letzten Endes gestehen würde, war ohnehin schon seit den letzten zehn Minuten der Verhandlung absehbar. Die vernommenen Zeugen belasteten ihn schwer und die Beweislage war nur allzu erdrückend gewesen. Dementsprechend lautstark und verachtend hatte die Menge der Zuschauer im Saal Thomas’ Geständnis schließlich quittiert. Richterin Barbara Salesch hatte erst dafür Sorge tragen müssen, dass wieder Ruhe einkehrt und dazu wiederholt laut mit ihrem Hämmerchen auf den Tisch geschlagen. Gleich nach der Werbepause wird sie ihr Urteil verkünden und Thomas mit einer – wie der Zuschauer erwarten darf – harten Strafe belegen, bevor im Anschluss Richter Alexander Hold ab 16 Uhr in ähnlichen Fällen weiter für Recht und Ordnung sorgen wird.
Auch wenn dieses Beispiel aus einer Fernseh-Gerichtsshow erfunden ist: So oder so ähnlich flimmert es täglich über Millionen von Bildschirmen. Kriminalität und Verbrechen sind in der Medienlandschaft allgegenwärtig. Nach den TV-Richtern am Nachmittag ermitteln Kommissare am Vorabend in vermeintlich „echten“ Kriminalfällen, bevor zur Prime Time schließlich die großen, publikumsträchtigen Serien- und Film-Produktionen ausgestrahlt werden. Die Palette reicht dabei vom klassischen ZDF-Krimi bis hin zu ‚C.S.I.’, den amerikanischen „Crime Scene Investigations” im Stil eines MTV-Musikvideos. Selbst die Nachrichtensendungen dazwischen bilden keine Ausnahme und lassen das Thema keineswegs außer Acht. Und wem das alles noch nicht reicht, der hat seit geraumer Zeit die Möglichkeit, sich mit digitalen Sendern wie ‚RTL Crime’ 24-stündige Programme ins Wohnzimmer zu holen, die sich ganz und ausschließlich dem Verbrechen widmen.
An Interesse der Öffentlichkeit mangelt es also nicht. Insbesondere Geschichten und Berichte über Sexualverbrechen scheinen dabei erfolgversprechende „Publikumsrenner“ zu sein, die daher auch immer wieder in den Medien auftauchen. Genau dieser Bereich der Kriminalität soll den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit bilden. So werde ich im ersten Abschnitt zunächst versuchen, anhand der Epoche des Deutschen Kaiserreichs (1871 – 1918) ein historisches Verständnis von Geschlechterrollen und Körperdefinitionen und den daraus resultierenden kulturellen Deutungsmustern sexueller Gewalt zu erarbeiten. Literaturgrundlage bildet hier vor allem die Dissertation von Tanja Hommen aus dem Jahr 2000. Im Zuge dessen richtet sich der Fokus schon bald auf die Rolle von Kindern – hauptsächlich junge Mädchen – in Sittlichkeitsprozessen. Der Frage nach der Bewertung der Glaubwürdigkeit dieser Zeuginnen vor Gericht möchte ich mich dann im zweiten Abschnitt meiner Arbeit annähern. Außerdem werde ich an dieser Stelle versuchen, einen Bogen in die heutige Zeit zu schlagen, um abschließend Überlegungen anzustellen, inwiefern „das Kind vor Gericht“ das kulturelle Kindheitsbild[1] einer Zeit repräsentiert bzw. das Verhalten gegenüber den wirklichen Kindern beeinflusst.
2. Wer ist der Täter, wer das Opfer in einem Sexualverbrechen?
2.1 Geschlechterrollen und Körperdefinitionen im Kaiserreich
Im Rahmen ihrer Dissertation hat Tanja Hommen Strafprozessakten untersucht, in denen Fälle von Notzucht, unzüchtigen Handlungen an Kindern sowie Blutschande und Verführung dokumentiert wurden, die sich in der Zeit zwischen 1870 und 1905 in der ländlichen Gesellschaft Bayerns ereignet haben.[2] Darin unterstreicht Hommen, dass Definition und kulturelle Konstruktion von Körpern und Körperlichkeit eine entscheidende Rolle bei der Wahrnehmung und Deutung eines Verbrechens spielen.[3] Körper werden auf kulturell spezifische Weise und innerhalb eines komplexen Netzes aus Zeichen und Codes definiert. Diese diskursive Vorstellung des weiblichen, männlichen sowie kindlichen Körpers produziert somit auch kulturelle Wahrnehmungs- und Erfahrungsweisen sexueller Gewalt. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Körperlichkeit und Körpererfahrung historisch – d.h. wandelbar – sind.[4] Im Folgenden werde ich nun einen genaueren Blick auf Hommens Ergebnisse für die Gesellschaft Bayerns gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts werfen, da die von ihr gewonnen Erkenntnisse eine wichtige Grundlage für die weiteren Überlegungen in dieser Arbeit darstellen.
Zentraler Ausgangspunkt der Dissertation von Tanja Hommen ist der Begriff der ‚Erfahrung’. Im alltäglichen Sprachgebrauch ist in diesem Zusammenhang heute meist vom „Erfahrungen machen“ die Rede. Der Mensch „macht“ Erfahrungen. Es handelt sich also um etwas scheinbar passives, was einem widerfährt. Laut Hommen wird eine Erfahrung allerdings vielmehr in einem sozialen Kontext und unter Verwendung kultureller Deutungen (aktiv) produziert. ‚Erfahrung’ bezeichnet folglich die Bedeutungszuschreibung zu einem Ereignis durch das erlebende Subjekt.[5] Dabei ist die Art und Weise, wie wir die Dinge bzw. Erlebnisse wahrnehmen und einordnen soziokulturell beeinflusst. Kulturelle Deutungsmuster variieren somit je nach Geschlecht, Alter, Herkunft und anderen Faktoren. Die Erfahrung sexueller Gewalt lässt sich infolgedessen nicht als allgemeingültig beschreiben, sondern geschieht stets im sozialen und lebensweltlichen Kontext.
Jener Kontext war gegen Ende des 19. Jahrhunderts jedoch schon beinahe „vorgegeben“. Hommens Diskursanalyse zeigt, dass in den Köpfen der Menschen ganz klare Vorstellungen eines Sexualverbrechens existierten.[6] Dies ist auf die damalige Konstruktion der Geschlechterrollen zurückzuführen, die den verletzenden, männlichen Körper vom verletzlichen, weiblichen Körper unterschied. Dementsprechend kam für den Straftatbestand der Notzucht laut Reichsstrafgesetzbuch auch nur ein Mann als Täter sowie eine Frau in der Rolle des Opfers in Frage.[7] Im Diskurs war die Vergewaltigung damit „eine Form der Gewalt, die sexuell konnotiert und keineswegs geschlechtsneutral ist.“[8] Dieser Auffassung lagen komplementäre Körperdefinitionen zu Grunde, die zudem eine Verknüpfung zwischen dem Körper bzw. der Sexualität eines Menschen auf der einen Seite und dem Geist bzw. der Persönlichkeit desselben auf der anderen nahe legten. So zeichnete sich der Mann im Diskurs der Epoche des Deutschen Kaiserreichs durch eine deutlich gesteigerte Triebhaftigkeit aus. Kennzeichnend für ihn war ein aggressiver Geschlechtstrieb, der ständige Selbstbeherrschung erforderte. Ihm gegenüber standen die Frau, die sich dem Mann unterwirft, und die im Diskurs allgegenwärtige Verletzlichkeit ihres Körpers. Die Vorstellung des Geschlechtsverkehrs als einen Kampf, der mit dem Sieg des Mannes und der Unterwerfung der Frau endet, war eine sogar von Ärzten geteilte, durchaus geläufige Auffassung. Mitunter sprach man auch vom „männlichen Sadismus“, der eine gewisse Freude daran empfindet, dass der Akt für die Frau einen folgenreichen Eingriff darstellt, aus dem sie nicht „unversehrt“ hervorgeht, womit auch die Deflorierung der Frau durch den Mann gemeint war.[9]
Zusammenfassend kann man also formulieren, dass die diskursive Auffassung vom Verhältnis zwischen Körper und Geist für den Mann zunächst zwar ein positives Moment enthielt: Die Vernunft versetzte ihn schließlich in die Lage, seinen Trieb zu beherrschen. Jedoch konnte sich der männliche Sadismus auch „bis ins Pathologische steigern und wurde dann zur Grundlage von Sexualverbrechen.“[10] Bei der Frau hingegen stellte die Verletzlichkeit des Körpers durch sexuelle Gewalt demnach eine ernsthafte Bedrohung ihrer Seele und somit ihrer Persönlichkeit bzw. sozialen Identität dar.[11] Vor diesem Hintergrund der gesellschaftlichen und kulturellen Definitionen der Körper waren die Rolle des Täters und die des Opfers in einem Sexualverbrechen bereits praktisch vorgegeben.
2.2 Das „verführende“ Mädchen – Über „Komplizenschaft“ und die (Mit-)Schuld des Kindes
In der „Malefitz-Processordnung der Churfl. Durchl. in Bayrn / Fürstenthumbs der Obern Pfaltz“ aus dem Jahr 1658 heißt es im „sibent Articul des ailfften Titul“:
„So ein Mägdlein / welches unter zwöllf Jahren ist / geschändet wurde. / Welcher ein solches Kind mit gewalt Notzüchtiget / der soll vom Leben zum Todt mit dem Schwert gericht werden. Da er aber dasselbig ohne Gewalt understanden / und vollbracht / so soll der Thäter mit Ruethen ausgehawen / und Unsers Fürstenthumbs ewiglich verwisen / das Mägdlein aber nach gelegenheit der Sachen gestrafft werden.“[12]
Hiermit haben wir es offenbar mit dem ersten Fall zu tun, in dem der Rechtsgedanke von der Mitschuld des kindlichen Opfers bzw. der „Zeugin“ eines Sexualverbrechens Eingang in die Gesetzgebung gefunden hat.[13] Ich verwende deshalb den Ausdruck ‚Zeugin’, weil die Mädchen, die in einem Sittlichkeitsprozess vor Gericht aussagten, auch als solche auftraten – und eben nicht als Klägerinnen.[14] Die Frage der Schuld galt es schließlich noch zu klären, worauf ich in diesem Abschnitt näher eingehen möchte.
Nach Tanja Hommen bestanden die diskursiven Körperdefinitionen zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs in noch stärkerem Maße für Kinder. Auch im Diskurs über die sexuelle Ausbeutung kindlicher und jugendlicher Opfer finden sich hauptsächlich junge Mädchen als Opfer sowie Männer in der Rolle des Täters.[15] Die Verletzung der sog. „geschlechtlichen Unversehrtheit“ eines Kindes wog dabei allerdings noch gravierender als bei erwachsenen Frauen, die einer Vergewaltigung zum Opfer gefallen waren, denn sie bedeutete die Gefährdung und möglicherweise sogar Zerstörung der Seelenreinheit und Sittlichkeit des Kindes.[16] Ein Übergriff sexueller Gewalt zog somit nicht selten – so die gängige Vorstellung – das moralische Verderben des jungen Opfers nach sich. Als mögliche Folgen malte man sich beispielsweise aus, dass das Kind nach der Tat fast zwangsläufig „vom rechten Weg“ abkommen und der Prostitution oder dem Verbrechen in die Arme fallen musste.[17] Mitunter finden sich in diesem Zusammenhang zudem sozialdarwinistische bzw. degenerationstheoretische Auffassungen, die in den Opfern – also den Mädchen und Frauen – Träger einer moralischen Verderbnis sahen, welche sich dadurch weiter „fortpflanzte“. Man fürchtete so eine durch psychische Ansteckung verursachte „Epidemie“ der moralischen Verderbtheit, weshalb man ein solches Opfer sexueller Gewalt mitunter auch lieber aus der dörflichen Gemeinschaft ausschloss, statt dem jungen Mädchen zu helfen.[18]
Entscheidend aber ist die damalige Vorstellung, dass die Unschuld des Kindes eben nicht nur eine Schwäche darstellte, sondern auch eine Gefahr:
[...]
[1] „»Kindheitsbild« meint die Entwürfe und Vorstellungen, die sich eine Epoche, eine soziale Gruppe oder auch ein Einzelner von Kindern macht (und die individuell und gesellschaftlich außerordentlich wirksam sein und das Verhalten gegenüber ›wirklichen‹ Kindern durchaus beeinflussen können).“ Aus: Richter, Dieter: Das fremde Kind. Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt am Main 1987. S. 19.
[2] Vgl.: Hommen, Tanja: Körperdefinition und Körpererfahrung. „Notzucht“ und „unzüchtige
Handlungen an Kindern“ im Kaiserreich. In: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), Heft 4. S. 577-601.
[3] Vgl.: Ebd., S. 577f.
[4] Vgl.: Ebd., S. 580.
[5] Vgl.: Ebd., S. 581f.
[6] Vgl.: Hommen, Tanja: Körperdefinition und Körpererfahrung, a.a.O., S. 582-588.
[7] Vgl.: Ebd., S. 582.
[8] Ebd., S. 584.
[9] Vgl.: Ebd., S. 584-586; vgl. ferner auch: Hommen, Tanja: „Sie hat sich nicht im Geringsten gewehrt“. Zur Kontinuität kultureller Deutungsmuster sexueller Gewalt seit dem Kaiserreich. In: Künzel, Christine (Hrsg.): Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung. Definitionen und Deutungen sexueller Gewalt von der Aufklärung bis heute. Frankfurt am Main (u.a.) 2003. S. 119-136, hier S. 123f.
[10] Hommen, Tanja: Körperdefinition und Körpererfahrung, a.a.O., S. 586.
[11] Vgl.: Ebd., S. 586-588.
[12] Zit. nach: Aengenendt, Josef: Die Aussage von Kindern in Sittlichkeitsprozessen. Bonn 1955. S. 15.
[13] Vgl.: Ebd., S. 15f.
[14] Vgl.: Hommen, Tanja: „Sie hat sich nicht im Geringsten gewehrt“, a.a.O., S. 120.
[15] Im Folgenden verwende ich die Ausdrücke ‚Kind’ und ‚Mädchen’ aus diesem Grund weitestgehend synonym.
[16] Vgl.: Hommen, Tanja: Körperdefinition und Körpererfahrung, a.a.O., S. 588f.
[17] Vgl.: Ebd.
[18] Vgl.: Ebd., S. 589 & 596; vgl.: Wulffen, Erich: Das Kind. Sein Wesen und seine Entartung. Berlin 1913. S. 272.
-
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen.