Hans Magnus Enzensberger - Bildzeitung

Eine literaturwissenschaftliche und didaktische Gedichtanalyse


Hausarbeit, 2020

22 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Der Entstehungskontext von Bildzeitung
2.1 Hans Magnus Enzensberger
2.2 Die bundesdeutsche Gesellschaft der 50er und der Aufstieg der BILD
2.3 Die Bewußtseins-Industrie

3. Bildzeitung - Literaturwissenschaftliche Gedichtanalyse

4. Bildzeitung unterrichten - Didaktische und methodische Überlegungen zu notwendigem Kontextwissen und dem Anregen von Verstehensprozessen

5. Fazit

6. Quellen- und Literaturverzeichnis
6.1 Quellen
6.2 Literatur

7. Anhang
7.1 Hans Magnus Enzensberger - Bildzeitung
7.2 Arbeitsblatt „Der Aufstieg der BILD-Zeitung“

[Der Anhang 7.1 ist aus urheberrechtlichen Gründen nicht im Lieferumfang enthalten.]

1. Einleitung

Diesen Werbespruch kennt fast jeder: „Bild Dir Deine Meinung!“ Kritiker sprechen dagegen von gezielter Meinungslenkung, von Manipulation und Tendenz. Die erstmals am 24. Juni 1952 erschienene BILD-Zeitung1 polarisiert durch fette Schlagzeilen und reißerische Storys. Doch dieses Konzept ist ihr Erfolgsgarant: kein anderes Boulevardblatt erreichte innerhalb von so kurzer Zeit eine so breite Leserschaft.2 Nach ihrer Gründung spielte die BILD daher schnell eine bedeutende Rolle in der westdeutschen Presselandschaft. Problematisch ist dabei die generelle Fähigkeit einer jeden Zeitung, durch ihren Informationsauftrag sowie Beitrag zur Meinungsbildung die Bürger/innen zu beeinflussen, da „die Medien und die in ihnen tätigen Personen nicht automatisch neutral und ohne eigene Interessen agieren“3. Die kritische Auseinandersetzung mit der Berichterstattung eines Mediums ist daher immer obligatorisch, was Schüler/innen vermittelt werden sollte. Genau diesen Punkt kritisierte bereits 1957 Hans Magnus Enzensberger an den BILD-Leser/innen und schrieb: ,,[M]öge die Erde dir leicht sein / wie das Leichentuch / aus Rotation und Betrug / das du dir täglich kaufst / in das du dich täglich wickelst.“4 Doch weshalb sah er sich zu einem solch direkten Angriff auf die BILD­Zeitung und deren Käufer/innen genötigt und welche Rolle spielte dabei die westdeutsche Gesellschaftssituation der 50er-Jahre? Gab es einen gesonderten Anlass für Bildzeitung5? Und wie kann das Gedicht an Schüler/innen heute vermittelt werden?

Um diese Frage zu beantworten, beschäftigt sich diese Hausarbeit mit der Frage, was es heißt, Bildzeitung zu verstehen, welches Kontextwissen für das Verstehen notwendig ist und wie Schüler/innen dazu angeregt werden können, die Kontexte in ihren Verstehensprozess einzubeziehen. Dafür betrachtet das erste Kapitel der Arbeit den Entstehungskontext des Gedichts, indem die Person Enzensberger näher beleuchtet und auf die sozialgeschichtlichen Entwicklungen der BRD in den 1950er Jahren sowie die Geschichte der BILD-Zeitung ein­gegangen wird. Der Abschnitt beschäftigt sich anschließend mit dem Essay Bewußtseins­Industrie, um Enzensbergers Medienverständnis darzulegen. Mit dem gewonnenen

Hintergrundwissen wird im zweiten Kapitel Bildzeitung literaturwissenschaftlich analysiert. Darauf aufbauend zeigt der letzte Teil der Arbeit, welches Verständnis in Bezug auf das Gedicht von Lernenden erwart- bzw. erreichbar ist, welches Kontextwissen dafür benötigt wird und wie dieses vermittelt werden kann. Ziel ist es, Bildzeitung als Lemgegenstand aufzubereiten, indem didaktische und methodische Überlegungen für das Anregen von Verstehensprozessen erarbeitet werden.

2, Der Entstehungskontext von Bildzeitung

Das erste Kapitel der Arbeit untersucht beginnend den Entstehungskontext des Gedichts. Dafür wird zunächst die Person Hans Magnus Enzensberger näher beleuchtet und an­schließend die bundesdeutsche Gesellschaft der 50er-Jahre sowie die Entstehung und Etablierung der BILD-Zeitung in dieser Zeit genauer betrachtet. In einem dritten Schritt wird Enzensbergers frühe Medientheorie mithilfe seines Essays Bewußtseins-Industrie dargelegt.

2,1 Hans Magnus Enzensberger

Enzensberger wurde 1929 in Kaufbeuren geboren, ab 1939 zum Eintritt in die Hitlerjugend verpflichtet und 1944 in den Volkssturm einberufen, dem er sich aber entziehen konnte, wes­halb er der sogenannten „Flakhelfer-Generation“ zuzuordnen ist. Als Kind und Jugendlicher erlebte er den Nationalsozialismus, dessen Zusammenbruch bzw. Scheitern sowie den all­gegenwärtigen Ideologiezwang. Ebenso prägten ihn der Zweite Weltkrieg und vor allem die Bombenangriffe auf Nürnberg. Ab 1947 nahm er an den Sitzungen der „Gruppe 47“ teil, studierte von 1949 bis 1954 Literaturwissenschaft, Sprachen und Philosophie und pro­movierte ein Jahr später über Clemens Brentanos Lyrik6. Anschließend war er bis 1957 als Rundfunkredakteur bei Alfred Andersch angestellt.7

Dieser kurze biografische Auszug diente der Darlegung prägender Lebensereignisse vor der Veröffentlichung von Enzensbergers erstem Gedichtband Verteidigung der wölfe 1957, welcher auch Bildzeitung beinhaltet. Bis 1945 erlebte er demnach das diktatorische Dritte Reich, welches seine Macht mithilfe von Einschüchterung und Indoktrination der Menschen aufrecht erhielt. Letzteres gelang vor allem durch die Propaganda der gleichgeschalteten Medien. Aufgrund dessen wurde durch die alliierten Siegermächte der vollständige Neuaufbau des Pressewesens nach Kriegsende vorangetrieben. Freie Zeitungen waren für die Etablierung eines demokratischen Staates unabdingbar.8 Im Folgenden soll deshalb knapp auf die sozialgeschichtlichen Vorgänge der Nachkriegs- sowie 50er-Jahre in Westdeutschland eingegangen und der Aufstieg der BILD-Zeitung nachgezeichnet werden.

2,2 Die bundesdeutsche Gesellschaft der 50er und der Aufstieg der BILD

Die westdeutsche Gesellschaft war zunächst eine Nachkriegsgesellschaft. Kriegsbeschädigte, -gefangene und -flüchtlinge, Displaced Persons9, immense materielle Schäden und soziale Not prägten zunächst das Bild in ganz Deutschland. Trotzdem gelang es schnell, einen kulturellen Alltag wieder zu ermöglichen, welcher sich wie schon im Krieg - als wichtiges moralisches Überlebensmittel [erwies]“10. Die Währungsreform, das European Recovery Program und die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft schufen gute Rahmenbedingungen für den Wiederaufbau in Westdeutschland:

„Statistischen Kennziffern zufolge gilt für das Wohlstandsniveau und den Grad der Modernität der Bundesrepublik, dass sie bereits in ihrem Gründungsjahr den höchsten Stand der Zwischenkriegszeit (1938/39) eingeholt und überholt hatte, so dass der Wiederaufbau immer mehr in einen noch ungekannten volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ausbau überging, der neue gesellschaftliche Horizonte eröffnete.“11

Ein weiterer Vorgang dieser Zeit war das schnelle Bevölkerungswachstum durch steigende Geburtenraten sowie den Zuzug von Flüchtlingen, Vertriebenen und Auswanderern, worauf der Staat ab 1950 mit einem Massenwohnungsbau reagierte. Zusätzlich führten die Ein­gliederung der Bundesrepublik in die rasant wachsende Weltwirtschaft, der stetige Zustrom an Arbeitskräften (vor allem qualifizierter aus der DDR) und der expandierende Außenhandel zu einem anhaltenden Wirtschaftsboom. Die Arbeitslosenquote sank während des „Aufbau­jahrzehnts“ bis zur Vollbeschäftigung, gleichzeitig verdoppelte sich das Bruttosozialprodukt bis I960, wodurch der gesamtgesellschaftliche Wohlstand wuchs. Knapp die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung arbeitete um 1955 in manuellen Berufen, besonders in den „Wachstumsindustrien, Maschinen- und Automobilbau, Chemie und Pharmazie sowie Erdölverarbeitung“12. Durch die ansteigenden Löhne sowie die Rentenreform 1957, welche den Zusammenhang von Alter und Armut durchbrach, wurde aus der Nachkriegs- eine Konsumgesellschaft. Die Durchsetzung der Fünf-Tages-Woche in der zweiten Hälfte der 50er- Jahre ermöglichte der Bevölkerung mehr Freizeit, welche besonders im Kreise der Familie zuhause verbracht wurde. Dadurch stieg der Medienkonsum stark an und Tageszeitungen, Boulevardblätter, Zeitschriften sowie Radio wurden zu Massenmedien.13 Dennoch wuchs die soziale Ungleichheit, ,,[a]ber dies war kaum merkbar, weil die gesamte Gesellschaft auf einer höheren Stufe, in einem neuen und bisher ungekannten Wohlstand, angelangt war“14, was letztendlich im Begriff des „Wirtschaftswunders“ Ausdruck fand.

Eine weiteres, grundlegendes Phänomen der 50er-Jahre war, dass „der Sektor der Printmedien insgesamt ,eine zum Bevölkerungswachstum in Beziehung gesetzte überproportionale Auf- lagensteigerung‘[erlebte]“15. Auch die von Axel Springer begründete und am britischen Daily Mirror orientierte BILD-Zeitung profitierte davon. Der Erfolg des Boulevardblattes erklärt sichjedoch besonders durch ihre Vorgehensweise:

„Rudolf Michael hat das Konzept, auf dessen Grundlage er ,Bild‘ als Chefredakteur in den Jahren 1953 bis 1959 gestaltete, im Mai 1958 in einer Rede vor Zeitungsgroßhändlem prägnant umrissen. Hauptziel von ,Bild‘ sei es, die Leser und Leserinnen emotional zu berühren - und das aktuelle Weltgeschehen diente der Redaktion als Material für dieses Emotionsmanagement. Um Gefühle zu wecken, strebe ,Bild‘ vor allem nach ,Anschaulichkeit‘, nach /Unmittelbarkeit bis zur Primitivität/ Die Käufer erwarteten und schätzten die von ,Bild‘ gesteuerten Gefühle nach Michaels Meinung als „Korrelat zu einer großenMonotonie des modernen Lebens’.“16

Das Emotionalisieren der Leserschaft erreicht die Zeitung bis heute durch starke Kontraste. So stehen neben beängstigenden Darstellungen rührende Geschichten, neben Sensationen Dramen, zwischen Gewalt, Empörung und Panikmache erotische Bilder. Ziel ist es dabei, als Straßenverkaufszeitung die Aufmerksamkeit der Menschen zu gewinnen, sie zu einem Kauf zu bewegen und eine nachhaltige Leser-Blatt-Bindung herzustellen.

[...]


1 Die Hausarbeit nutzt während der Diskussion folgende Abgrenzung: BILD-Zeitung (als Abkürzung auch BILD) meint das Boulevardblatt; Bildzeitung meint Bezüge zum Gedicht von Enzensberger.

2 Bereits 1953 erzielte die Bildzeitung eine Auflage von mehr als einer Million, 1955 über zwei Millionen.

Vgl. Schröder: Die 65-Jahre-Auflagen-Bilanz der Bild, https://meedia.de/2018/02/02/die-65-jahre-auflagen- bilanz-der-bild-rekorde-in-den-1980em-seit-2002-geht-es-rasant-nach-unten/ (02.05.2020).

3 Bundeszentrale für politische Bildung: Funktionen der Medien in einer demokratischen Gesellschaft I und II. https://www.bpb.de/gesellschaft/medien-und-sport/medienpolitik/189218/funktionen-der-medien-in-einer- demokratischen-gesellschaft-i-und-ii (02.05.2020).

4 Enzensberger: Bildzeitung, S. 13.

5 In der Erstausgabe von 1957 wurde der Titel kleingeschrieben, was sich jedoch in späteren Auflagen änderte. Die Hausarbeit nutzt als Quelle eine Gedichtsammlung Enzensbergers aus dem Jahr 2006, weshalb Groß­schreibung verwendet wird.

6 Nach Patrick Ramponi könne Enzensbergers Dissertation „in mancherlei Hinsicht auch als poetisches Selbst­porträt“ gelesen werden. „Nicht nur wird hier in einem gänzlich unakademischen Tonfall Clemens Brentano zum modernen Exzentriker (,Kobold und Biirgcrschrcck'. ,ein Komödiant), zum Dandy avant la lettre ver­klärt, auch zeigen seine intensiven Textbeobachtungen, wie genau Enzensberger bei Brentano das eigene Handwerk gelernt hat: Brentanos dichterisches Verfahren stifte ,unter den Worten Beziehungen, die weder logisch noch syntaktisch zu fassen sind“ die dadurch erzeugte „Entstellung4 folge einer doppelten Poetik, die sich ausgiebig im traditionellen Formenrepertoire abendländischer Lyrik bedient, zugleich aber keine Scheu vor alltäglichen Redewendungen und Gemeinplätzen zeigt, die wiederum poetisch zerlegt und dadurch verfremdet (und kritisierbar) werden.“ (Ramponi: Hans Magnus Enzensberger, S. 497. Hervorhebung im Original).

7 Vgl. Dietschreit: Enzensberger, S. 177.

8 Christina von Hodenberg pflichtet dem bei: „Der Strukturwandel der massenmedialen Öffentlichkeit war ein wichtigerFaktorderinnerenDemokratisierung [...].“ (Hodenberg: KonsensundKrise, S. 87).

9 Als Displaced Persons bezeichnet die Geschichtswissenschaft die ehemaligen, ausländischen Zwangsarbeiter des Dritten Reichs.

10 Schildt: Die Sozialgeschichte derBundesrepublikDeutschlandbis 1989/90, S.ll.

Axel Schildt führt dies weiter aus: „Innerhalb des ersten Nachkriegsjahres etablierten sich mit allliierter Lizenz herausgegebene Tageszeitungen, Zeitschriften und der Buchmarkt, das Radio strahlte oft nach nur wenigen Stunden oder Tagen der Unterbrechung wieder Programme aus, Theater- und Konzertveranstaltungen, Filmvorführungen, Kunstausstellungen erfreuten sich sofort großer Beliebtheit, der Sportbetrieb setzte im Sommer 1945 ein, die Schulen öffneten im Frühherbst wieder ihre Pforten, die Hochschulen folgten wenig später.“ (Ebd., S.ll -12).

11 Ebd., S. 13.

12 Schildt: Die Sozialgeschichte derBundesrepublikDeutschlandbis 1989/90, S. 19.

13 Hodenberg führt dies weiter aus: „Der Siegeszug des Fernsehens, die Ausweitung der Radioprogramme und der Aufstieg der Boulevardpresse beeinflußten den Alltag der Bevölkerung und ließen neue Rezeptionsge­wohnheiten entstehen. Kurzum, die ersten beiden Jahrzehnte der Bundesrepublik waren eine Zeit dynamischen Wandels nicht nur der Theorie, sondern auch der Praxis der massenmedialen Öffentlichkeit.“ (Hodenberg: Konsens und Krise, S. 87).

14 Schildt: Die Sozialgeschichte derBundesrepublikDeutschlandbis 1989/90, S. 32.

15 Hodenberg: Konsens und Krise, S. 91.

16 Führer: Erfolg und Macht von Axel Springers „Bild“-Zeitung in den 1950er-Jahren, S. 313. Inwiefern die angebliche „Monotonie des modernen Lebens“ der BILD-Leser/innen der Wahrheit entsprach, soll an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Beispiele für das Weltgeschehen der 50er-Jahre wären der Korea-Krieg, die Wiederbewaffnung von BRD und DDR, die Entstalinisierung, der Ungarn-Aufstand, der Suez-Krieg, der Beginn der Europäischen Einigung durch die Römischen Verträge oder auch der sogenannte „Sputnikschock“.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Hans Magnus Enzensberger - Bildzeitung
Untertitel
Eine literaturwissenschaftliche und didaktische Gedichtanalyse
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Institut für Germanistische Literaturwissenschaft)
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
22
Katalognummer
V1184303
ISBN (eBook)
9783346608512
ISBN (Buch)
9783346608529
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hans Magnus Enzensberger, Bildzeitung, literaturwissenschaftliche und didaktische Gedichtanalyse, Gesellschaftsgeschichte BRD, Bewußtseins-Industrie, Kontext, Anregen von Verstehensprozessen, Arbeitsblatt
Arbeit zitieren
Felix Hutschenreuter (Autor:in), 2020, Hans Magnus Enzensberger - Bildzeitung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1184303

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