Medizinische Dienstleistungen und ihre Inanspruchnahme durch ältere Menschen mit Migrationshintergrund

Eine Querschnittsstudie anhand der LISA-II-Daten 2019 im Bezirk Berlin-Mitte


Masterarbeit, 2020

121 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung

Abstract

Tabellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretischer Hintergrund
2.1 Die Migrationsbevölkerung in Deutschland
2.2 Die Migrationsbevölkerung im Bezirk Berlin-Mitte
2.3 Die gesundheitliche Lage der Migrationsbevölkerung
2.3.1 Die Morbidität und Mortalität von türkischstämmigen Migrant|inn|en
2.3.2 Die Morbidität und Mortalität von (Spät-) Aussiedler|inne|n
2.4 Einflüsse auf den Gesundheitszustand von Migrant|inn|en
2.5 Migrationsspezifische Verhaltensweisen bei Krankheit und Gesundheit
2.5.1 Subjektive Vorstellungen, Theorien und Konzepte von Gesundheit und Krankheit
2.5.2 Migrationsspezifische Zugangsbarrieren im Gesundheitswesen
2.5.3 Migrationsspezifische Inanspruchnahme des Gesundheitswesens
2.6 Ableitung der Fragestellung und Hypothesen

3 Methodisches Vorgehen
3.1 Die LISA-II-Studie
3.1.1 Fragebogenvorstellung
3.1.2 Die Pretest- und Vorbereitungsphase
3.1.3 Datenerhebungsphase
3.2 Datenaufbereitung, Umkodierung und Deskription der Variablen
3.2.1 Abhängige Variablen: Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen
3.2.2 Unabhängige Variable: Zuwanderungserfahrung
3.2.3 Unabhängige Variablen: „Predisposing Characteristics“, „Enabling Resources“ und „Need Factors“
3.3 Statistische Modellierung
3.3.1 Regressionsdiagnostik für die linearen Regressionsmodelle
3.3.2 Regressionsdiagnostik für das negative Binomialregressionsmodell

4 Ergebnisse
4.1 Deskriptive Ergebnisdaten
4.2 Induktive Ergebnisdaten
4.2.1 Induktive Ergebnisse für die AV: Inanspruchnahme Hausarzt/Hausärztin
4.2.2 Induktive Ergebnisse für die AV: Inanspruchnahme Facharzt/Fachärztin
4.2.3 Induktive Ergebnisse für die AV: Inanspruchnahme der ersten Hilfe bzw. Notaufnahme
4.2.4 Induktive Ergebnisse für die AV: Inanspruchnahme der Vorsorgemaßnahmen

5 Diskussion
5.1 Interpretation der Ergebnisse
5.2 Stärken und Limitationen der Ergebnisse
5.3 Handlungsempfehlungen

6 Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang
STATA Do-File (gekürzte Version)

Zusammenfassung

Die bedarfsgerechte Versorgung als zentrales Ziel des deutschen Gesundheitswesens ist eine große gesundheitspolitische Herausforderung. Die Inanspruchnahme der medizi­nischen Gesundheitsversorgung erfordert einen verstärkten und barrierefreien Austausch mit dem Versorgungssystem. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und der zurückliegenden langen Zuwanderungshistorie in Deutschland repräsentieren ältere Men­schen mit Zuwanderungserfahrung inzwischen einen bedeutenden Anteil der deutschen Gesellschaft. Dennoch sind sie in der Nutzung des nationalen Gesundheitssystems im Vergleich zu Menschen deutscher Herkunft aufgrund vorherrschender Zugangs- und Wirksamkeitsbarrieren generell benachteiligt. In dieser Masterarbeit soll untersucht wer­den, ob die älteren Menschen mit Zuwanderungserfahrung eine geringere Inanspruch­nahme medizinischer Dienstleistungen aufweisen im Vergleich zu den älteren Menschen ohne Zuwanderungserfahrung.

Die LISA-II-Studie ist als querschnittliche randomisierte Befragung angelegt, die als Zielgruppe die älteren Bewohner/innen des Bezirks Berlin-Mitte ab dem 60. Lebensjahr definiert. Die Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen für türkischstämmige (n = 53), polnischstämmige (n = 56), russischstämmige (n = 29) und deutsche Einwohner/in- nen (n = 1.123) wurde unter Verwendung des LISA II 2019 Datensatzes analysiert. Die zu untersuchenden medizinischen Dienstleistungen umfassen Haus- und Facharztpraxen, Notfallambulanzen und Vorsorgemaßnahmen. Nach Adjustierung weiterer Prädiktoren zeigen die Ergebnisse, dass das Inanspruchnahmeverhalten unterschiedlich ausfällt. Die russischstämmigen Migrant|inn|en weisen eine statistisch signifikant geringere hausärzt­liche Inanspruchnahme auf als die deutsche Referenzgruppe (ß-Koeffizient = -1,1; 95%- KI = -2,0; -0,3), wohingegen die polnischstämmigen Migrant|inn|en statistisch signifikant weniger Vorsorgemaßnahmen wahrnehmen (ß-Koeffizient = -0,7; 95%-KI = -1,2; -0,3).

Ausgehend von anderer Literatur wird theoretisiert, dass Sprach- und Informationsde­fizite, kulturelle Präferenzen, individuelle Barrieren sowie sozioökonomische und ge­sundheitliche Faktoren für das unterschiedliche Inanspruchnahmeverhalten erklärend herangezogen werden können. Trotz der Limitationen und eingeschränkten Repräsenta­tivität schlagen die Ergebnisse weitere Analysen und notwendige Handlungsempfehlun­gen vor, um den barrierefreien Austausch mit dem medizinischen Gesundheitssystem zu verbessern und gesundheitliche Ungleichheiten abzuarbeiten. Zukünftige Forschungen könnten die Analysen auf weitere Bezirke in Berlin und Regionen in Deutschland aus­weiten, Menschen aus anderen Herkunftsländern rekrutieren sowie weitere Bereiche der medizinischen Dienstleistungen untersuchen.

Abstract

Need-based care as a central goal of the German health system is a major health policy challenge. The use of medical health care requires an increased and barrier-free exchange with the care system. Against the background of demographic change and the long history of immigration in Germany, older people with immigration experience now represent a significant proportion of German society. Nevertheless, they are generally disadvantaged in the use of the national health system compared to people of German origin due to the prevailing barriers to access and effectiveness. The aim of this master's thesis is to inves­tigate whether older people with immigration experience show a lower utilization of med­ical services compared to older people without immigration experience.

The LISA II study is designed as a cross-sectional randomized survey, which defines the older residents of the Berlin-Mitte district from the age of 60 as the target group. The use of medical services for Turkish-born (n = 53), Polish-born (n = 56), Russian-born (n = 29) and German residents (n = 1,123) was analyzed using the LISA II 2019 data set. The medical services to be examined include visits to general practitioners and specialists, emergency clinics and utilization of preventive measures. After adjusting further predic­tors, the results show that utilization behavior varies. The migrants of Russian descent show a statistically significantly lower level of utilization of general practitioners than the German reference group (ß-coefficient = -1.1; 95% CI = -2.0; -0.3), whereas the migrants of Polish descent reported using statistically significantly fewer preventive measures (ß- coefficient = -0.7; 95% CI = -1.2; -0.3).

Based on other literature, it is theorized that language and information deficits, cultural preferences, individual barriers as well as socio-economic and health factors can be used to explain the different utilization behavior. Despite the limitations and limited represent­ativeness, the results suggest further analysis and necessary recommendations for action are needed in order to improve the barrier-free exchange with the medical health system and to mitigate health inequalities. Future research could expand the analyses to other districts in Berlin and regions in Germany, recruit people from other countries of origin and examine other areas of medical services.

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Übersicht zu den relevanten Fragenkomplexen des LISA II Fragebogens

Tabelle 2: Deskriptive Ergebnisse

Tabelle 3: LISA II Befragte im Vergleich zur über 60-jährigen Bevölkerung im Bezirk Berlin-Mitte

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Health Behavior Model nach Andersen

Abbildung 2: Bevölkerung in den Berliner Bezirken nach Migrationsstatus

Abbildung 3: Bevölkerung mit Zuwanderungserfahrung im Bezirk Berlin-Mitte nach Herkunftsgebiet 20 Abbildung 4: Multivariate induktive Ergebnisse für die AV: Inanspruchnahme des Hausarztes/ der Hausärztin

Abbildung 5: Multivariate induktive Ergebnisse für die AV: Inanspruchnahme des Facharztes/ der Fachärztin

Abbildung 6: Multivariate induktive Ergebnisse für die AV: Inanspruchnahme der Notaufnahme . 69 Abbildung 7: Multivariate induktive Ergebnisse für die AV: Inanspruchnahme der Vorsorge­maßnahmen

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

Im Zeitverlauf der letzten Jahrzehnte ist Deutschland zu einem Einwanderungsland geworden. Aus diesem Grund gewann die Gesundheit von Menschen mit Zuwanderungs- erfahrung1 immer mehr an Aufmerksamkeit in der gesundheitswissenschaftlichen For­schung. Die bisherigen Befunde konnten belegen, dass der Zuwanderungsprozess in en­gem Zusammenhang mit der sozialen und gesundheitlichen Situation sowie auch den Krankheitsrisiken und Gesundheitschancen steht (Razum et al. 2008, 16ff.). Vorliegende Studien haben zudem gezeigt, dass es Unterschiede im Gesundheits- und Nutzungsver­halten im deutschen Gesundheitswesen zwischen Migrant|inn|en und der deutschen Mehrheitsbevölkerung gibt (Brzoska und Razum 2009, 151ff.). Die bedarfsgerechte Ver­sorgung ist ein zentrales Ziel des deutschen Gesundheitssystems und eine große gesund­heitspolitische Herausforderung (Pfaff und Pförtner 2016, 91f.). Die Nutzung von Leis­tungen und Angeboten der medizinischen Gesundheitsversorgung erfordert einen routi­nierten und möglichst barrierefreien Austausch mit den Versorgungsstrukturen auf indi­vidueller Ebene. Wie Brzoska und Razum (2014, 1896) zeigen konnten, stoßen Menschen mit Zuwanderungserfahrung vermehrt auf Zugangs- und Wirksamkeitsbarrieren im deut­schen Gesundheitssystem und sind dadurch bei der Inanspruchnahme spezifischer Ge­sundheitsangebote benachteiligt. Hierbei stellt sich die in dieser Arbeit zu untersuchende Frage, ob sich eine Benachteiligung auch in der verringerten Inanspruchnahme medizini­scher Dienstleistungen niederschlägt. In Deutschland leben aktuell rund 9,9 Mio. Auslän- der/innen und 20,8 Mio. Menschen mit Zuwanderungserfahrung. Mit einer quellenabhän­gigen Größe von circa 2,7 Mio. türkischstämmigen Migrant|inn|en, 2,2 Mio. polnisch­stämmigen Migrant|inn|en und 1,3 Mio. russischstämmigen Migrant|inn|en stellen diese Bevölkerungsgruppen in Deutschland einen relevanten Teil der Gesellschaft dar (Statis­tisches Bundesamt 2019a, 63). Zudem gehört Deutschland zu den Ländern in Europa, die mit der Zuwanderung eine lange Geschichte und viel Erfahrung haben. Mit mehr als 2,9 Mio. nehmen die älteren Migrant|inn|en bereits einen größeren Umfang an (Statistisches Bundesamt 2019a, 64f.). Von etwa Mitte der 1950er bis Mitte der 1970er Jahre migrierten im Rahmen des Wirtschaftsausschwunges und auf der Grundlage der Anwerbeabkommen circa 9,5 Mio. Arbeitsmigrant|inn|en aus den vor allem ländlichen Regionen der südeuropäischen Staaten und der Türkei in die Bundesrepublik, von denen rund 5,7 Mio. in ihre Heimat zurückkehrten. Zusätzlich sind seit den 1970er Jahren im Rahmen des Familiennachzuges weitere Migrant|inn|en aus den „Anwerbeländern“ und ab Beginn der 1950er Jahre etwa 4,5 Mio. Aussiedler/innen bzw. seit 1993 Spätaussiedler/innen (laut § 4 des Bundesvertriebenengesetzes) aus den osteuropäischen Staaten und der ehemaligen Sowjetunion eingereist (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019, 146; Razum et al. 2008, 12). Die damals größtenteils jungen Zugewanderten haben inzwischen ein hö­heres Alter erreicht und verbringen ihren Lebensabend in Deutschland. Genauso wie die deutsche Mehrheitsbevölkerung unterliegt die Bevölkerung mit Zuwanderungsgeschichte zeitversetzt einen ähnlichen demographischen Wandel. Aufgrund der Annahmen, dass Migrant|inn|en vom Alterungsprozess weniger als die einheimischen Deutschen betroffen und wanderungsbedingt eine fortwährend überwiegend junge Bevölkerung seien, erfuh­ren ältere Migrant|inn|en lange Zeit keine Aufmerksamkeit, obgleich das Thema „Al- ter(n)“ seit den frühen 1990er Jahren in Wissenschaft und Politik anlässlich des fort­schreitenden demographischen Wandels diskutiert wird (Schimany, Rühl und Kohls 2012, 19f.). Diese Annahmen wurden sowohl von der deutschen Mehrheitsgesellschaft als auch von der Bevölkerung mit Zuwanderungserfahrung selbst durch die „Illusion der Rückkehr“ zusätzlich bekräftigt. Das Altern der Arbeitsmigrant|inn|en bzw. die Anwe­senheit der Migrantenpopulationen, die altersbedingt nicht mehr ihre Funktion als Ar­beitskraft erfüllen, war migrationspolitisch nicht vorgesehen (Dietzel-Papakyriakou 1993, 10). Darüber hinaus wurde die Ansicht vertreten, dass es sich bei älteren Menschen mit Zuwanderungserfahrung um eine überwiegend homogene Bevölkerungsgruppe han­delt. Die interne Differenzierung, die ausgeprägte Vielfältigkeit sowie die unterschiedli­che Ressourcenausstattung zeigen jedoch, dass ältere Migrant|inn|en eine sehr heterogene Gruppe sind, die durch migrationsspezifische und alterstypische Lebenslagen geprägt sind (Schimany, Rühl und Kohls 2012, 20). In Hinblick auf die gesellschaftliche und de­mografische Entwicklung, den hohen und weiter ansteigenden Anteil der älteren Mig- rant|inn|en sowohl in Deutschland als auch im Bezirk Berlin-Mitte und die zunehmende Multimorbidität und Ressourcenknappheit hat die alters- und migrationsspezifische Be­trachtung der Gesundheit und des Zugangs zum deutschen Versorgungswesen eine stär­kere positive Akzentuierung in der Gesundheitsforschung erfahren. Diese zumeist vul­nerable Bevölkerungsgruppe bedarf gegebenenfalls besondere Unterstützung und integ­rationspolitische Maßnahmen (BA Mitte 2011, 1ff.), da eine systematische gesundheitli­che Benachteiligung schwerwiegende individuelle und gesellschaftliche Folgen für die

Gesundheit der (bezirklichen) Bevölkerung hätte (Brzoska und Razum 2014, 1896f.).

Trotz dessen erfahren „Ältere Migrant|inn|en“ kaum Aufmerksamkeit in den Statisti­ken und wissenschaftlichen Untersuchungen. Des Weiteren herrscht eine unbefriedigende Situation in der Gesundheitsberichterstattung (GBE) vor. Die GBE beschreibt die gesund­heitliche und soziale Lage sowie die Gesundheitsversorgung und möchte Problemfelder in der Bevölkerung bzw. in gesonderten Zielgruppen aufzeigen. Die Basis der verfügba­ren migrationsspezifischen Daten gilt jedoch als unzureichend und es gibt wenige ver­lässliche Informationen. Zusätzlich gibt es keine Routinedaten zur Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen, die für die GBE verwendet werden können (Butler et al. 2007, 1232ff.). Es ist dringend erforderlich diesem vorherrschenden Informationsdefizit entge­genzuwirken, um einerseits eine Fehl-, Unter- und Überversorgung zu verhindern und andererseits kultursensible gesundheitliche Versorgungsangebote sowie zielgruppenge­rechte Präventions- und Gesundheitsförderungsstrategien entwickeln und bewerten zu können. Aus diesem Grund sind für Handlungsempfehlungen in Bezug auf Planung, Steu­erung und Gestaltung des gesundheitlichen Versorgungssystems Daten und Informatio­nen differenziert nach migrationsspezifischen und sozialen Merkmalen über die Inan­spruchnahme der unterschiedlichen Versorgungs- und Vorsorgeleistungen nötig. Je dif­ferenzierter die Datenbasis und -auswertung ist, desto eher können mit präzisen Maßnah­men soziale, gesundheitliche und migrationsbedingte Ungleichverteilungen von Krank­heitsrisiken, Gesundheitseinflüssen und -chancen sowie Präventionspotenzialen in den richtigen Zielgruppen adressiert werden (Butler et al. 2007, 1234f.).

Die vorliegende Arbeit liefert querschnittliche migrationsspezifische Daten zur aktu­ellen Inanspruchnahme ausgewählter medizinischer Dienstleistungen im Bezirk Berlin- Mitte unter Berücksichtigung wesentlicher Prädiktoren auf der Basis der „LISA-II-Studie - Lebensqualität, Interessen und Selbstständigkeit im Alter“ im Zeitraum von September 2018 bis November 2019.

Im folgenden Kapitel wird der theoretische Hintergrund der Fragestellung bzw. der Hypothesen in Bezug auf Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen und Zuwan­derungserfahrung erläutert. Anschließend wird das methodische Vorgehen verdeutlicht, welches zu den Ergebnissen führt, die im darauffolgenden Schritt der Arbeit vorgestellt werden. In Bezug auf den theoretischen Rahmen werden die Ergebnisse abschließend interpretiert und diskutiert, die Stärken und Limitationen der Arbeit sowie entsprechende Handlungsempfehlungen thematisiert.

2 Theoretischer Hintergrund

Die Inanspruchnahme medizinischer Versorgung wird bereits seit den 1960er Jahren empirisch untersucht und beschreibt den Prozess der Nutzung des medizinischen Versor­gungssystems. Definiert wird Inanspruchnahme von E. Jahn als „jeder Handlungsvollzug eines Anspruchsberechtigten der Krankenkassen, mit dem Gebrauch gemacht wird vom 'Angebot' medizinischer Leistungen im Rahmen der sozialen Krankenversicherung“ (Hauß 1985, 279). Dabei ist die Inanspruchnahme ein Teil des umfangreichen Gesund­heitsverhaltens, das alle Handlungen, Verhaltensweisen und Gewohnheiten umfasst, die im Zusammenhang mit der Gesundheitserhaltung, Gesundheitswiederherstellung und Gesundheitsverbesserung stehen (Thode et al. 2004, 9). Im Gegensatz zur Nachfrage, die den Entscheidungsprozess umfasst und der Inanspruchnahme vorangehen kann, setzt die Inanspruchnahme eine stationäre Aufnahme (erste Hilfe bzw. Notaufnahme in einem Krankenhaus), eine ambulante Arztkonsultation (Haus-, Fach- oder Zahnarzt/-ärztin), das Wahrnehmen von gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen (z.B. Impfungen oder Krebs­früherkennungsuntersuchungen) oder den Erwerb von Arzneimitteln voraus, bezeichnet also die realisierte Nachfrage (Guggisberg und Spycher 2005, 39). Mehr als 90 % der Bevölkerung gehen mindestens einmal im Jahr zu einer Haus- oder Facharztpraxis. Das heißt, ein großer Teil der medizinischen Grundversorgung wird in Deutschland im am­bulanten Sektor geleistet (Rattay et al. 2013, 833; Thode et al. 2005, 296). Insbesondere gilt die Messung der Zahl der Arztkontakte in einem bestimmten Zeitraum als geeigneter Indikator, um die Inanspruchnahme des gesundheitlichen Versorgungssystems zu analy­sieren (Schliwen 2015, 114f.). Die Nutzung des Versorgungssystems ist jedoch keine Ga­rantie für den tatsächlichen Erfolg einer Gesundheitsleistung (z.B. Prävention, Diagnostik und Therapie). Diese kann aus medizinischen oder persönlichen Gründen trotz Kontakt mit dem Versorgungssystem nicht erfolgen (Pfaff und Schrappe 2017, 2ff.).

Die Inanspruchnahmeforschung dient als Grundlage für die regionale Planung von Ge­sundheitsleistungen. Sie zielt auf die Bedarfsgerechtigkeit und die gerechte Verteilung von Versorgungsleistungen sowie auf den erleichterten Zugang zum medizinischen Ver­sorgungssystem ab. Derartige Analysen ermöglichen die Inanspruchnahmequoten zu be­einflussen und zu steuern sowie eine Über- oder Unterversorgung zu verhindern. Des Weiteren können soziale Unterschiede untersucht und Planungsmaterialien zum Beispiel für primärpräventive Maßnahmen in einer bestimmten Region gewonnen werden. An­hand der Untersuchungsdaten können allerdings keine Rückschlüsse auf den individuell vorliegenden Gesundheitsstatus oder auf den tatsächlichen Bedarf gezogen werden, lassen aber Schlussfolgerungen auf Motive, Präferenzen und Einstellungen der Bevölke­rung zu (Andersen, Bormann und Elkeles 1993, 2; Hauß 1985, 279f.).

Laut Andersen (1963, 364) gilt eine ausschließlich demographisch-deskriptive Ana­lyse der Versorgungsnutzung als unzureichende Informationsbasis. Aus diesem Grund konzipierten die sozialwissenschaftlich orientierten Disziplinen entsprechende Verhal­tensmodelle (Guggisberg und Spycher 2005, 27). Andersen und seine Mitarbeiter publi­zierten Ende der 1960er-Jahre/Anfang der 1970er-Jahre ein Verhaltensmodell zur Mo­dellierung der Inanspruchnahme gesundheitsbezogener Versorgungsleistungen, das seit­her stetig weiterentwickelt wird (Andersen 1995, 2ff.; Andersen, Bormann und Elkeles 1993, 26f.). Dieses Bezugsmodell hat sich vielfach als eine der international führenden Theorien zur Beschreibung, Erklärung und Prognose des Inanspruchnahmegeschehens bewährt und wird in Deutschland seit 2001 auch in der Gesundheitsberichterstattung des Bundes verwendet. Eine zentrale Stärke des Verhaltensmodells aus sozialepidemiologi­scher Sicht ist die Möglichkeit, das Inanspruchnahmeverhalten im Gesundheitswesen durch die Spezifikation von Einflussfaktoren zu systematisieren und empirisch abzubil­den, um Diskrepanzen bzw. Equity und Inequity im Zugang sowie in der Nutzung des gesundheitlichen Versorgungssystems aufzuzeigen (Babitsch, Gohl und Lengerke 2012, 2ff.; Lengerke 2013, 1ff.). Das Modell enthält ein breites potentiell vollständiges Spekt­rum von Kategorien zur analytischen Subsumierung gesellschaftlicher und individueller Determinanten, die einen Einfluss auf die Inanspruchnahme haben können (Asadi-Lari, Packham und Gray 2003, 34; McLafferty 2003, 26ff.; Schliwen 2015, 114ff.). Abbildung 1 zeigt eine Wiedergabe des Modells, das nachfolgend erläutert wird.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Health Behavior Model nach Andersen.

Quelle: Andersen 1995, 8 Im Zentrum des Modells befinden sich die Kategorien „Predisposing Characteristics“ (prädisponierende Charakteristiken), „Enabling Resources“ (ermöglichende Ressourcen) und „Need“ (bedarfskonstituierende Faktoren) als Prädiktoren des individuellen Inan­spruchnahmeverhaltens im Gesundheitswesen (Andersen 1995, 7f.).

Unter dem Begriff „Predisposing Characteristics“ fasst Andersen (1995) alle Merk­male einer Person zusammen, die unterschiedliche individuelle Möglichkeiten, Ressour­cen und Ausgangslagen für die Gesundheit, Krankheitsbilder bzw. -häufigkeiten darstel­len und sich so indirekt auf die Inanspruchnahme auswirken. Diese Merkmale gehören in die Bereiche Demographie (Alter, Geschlecht, Familienstand), Sozialstruktur (Bildung, Beruf, sozialer Status) und Health Beliefs (Wissen, Werte, Einstellungen bezüglich Ge­sundheit und Versorgungseinrichtungen) (Andersen 1995, 2).

Die Unterscheidung nach dem Geschlecht offenbart, dass das Inanspruchnahmever­halten im Gesundheitswesen bei Frauen besser ist als bei den Männern (Rattay et al. 2013, 835; Thode et al. 2005, 300; Tille et al. 2017, 58). Biologisch orientierte Ansätze begrün­den die höhere Inanspruchnahme mit den spezifisch weiblichen Körperfunktionen und den damit in Assoziation stehenden gynäkologischen Konsultationen sowie auch mit den objektiv vorherrschenden Morbiditätsunterschieden zu den Männern. Demgegenüber ar­gumentieren rollentheoretische Ansätze mit den geschlechtsspezifischen Unterschieden im Gesundheits- bzw. Krankheitsverhalten und in der Symptomwahrnehmung und -be­wertung (Thode et al. 2004, 27). Zwischen der Inanspruchnahme der beiden Geschlechter und dem Alter besteht jedoch ein U-förmiger Zusammenhang. So nimmt die Inanspruch­nahmequote von Männern und Frauen ab dem 60. Lebensjahr zu und nähert sich im hö­heren Alter an (Thode et al. 2004, 51f., 2005, 304).

Hinsichtlich des Familienstands zeigt sich kein Einfluss auf die Häufigkeit der Ver­sorgungsnutzung (Thode et al. 2004, 53, 2005, 299), sollte aber dennoch beachtet werden, da eine Partnerschaft insbesondere bei älteren Menschen zu den wichtigen sozialen Res­sourcen für positive Bewältigungsstrategien innerhalb und außerhalb des professionellen Versorgungssystems gehört. Ein gegenseitiges Gesundheitsmonitoring könnte sich mög­licherweise auch positiv auf den Gesundheitszustand auswirken (Thode et al. 2004, 30).

Bezüglich der Bildung erhöht ein hoher Bildungsgrad die Inanspruchnahme von Ver­sorgungsleistungen im Vergleich zu einem niedrigen Bildungsgrad (Bremer und Wübker 2013, 19). In der gesundheitsökonomischen Theorie wird argumentiert, dass Personen mit einem hohen Bildungsniveau ein besseres Gesundheitsverhalten und eine höhere Ge­sundheitskompetenz (Health Literacy) haben und somit Gesundheit effizienter „produzieren“ können. Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass gebildetere Indivi­duen um ihre Gesundheit besorgt sind und sich häufiger mit Gesundheitsthemen befassen und außerdem eine stärkere Risikoaversion aufweisen. Aus diesen Gründen sind sie fähig erste Warnsignale des Körpers eher zu erkennen und konsultieren das Gesundheitswesen daher früher (Avitabile, Jappelli und Padula 2008, 9f.; Bremer und Wübker 2012, 10).

Die Differenzierung nach dem Erwerbstatus zeigt, dass erwerbstätige Personen gegen­über Rentner/innen und Arbeitslosen seltener das gesundheitliche Versorgungssystem aufsuchen, weil sie ein geringeres Zeitbudget und eine schlechtere Erreichbarkeit der Ver­sorgungseinrichtungen haben (Thode et al. 2004, 54, 2005, 300f.; Tille et al. 2017, 58).

Bei erster Betrachtung kontraintuitiv kann bezüglich des sozialen Status keine unter­schiedliche Inanspruchnahme zwischen den Schichtzugehörigkeiten festgestellt werden. Der soziale Schichtgradient mit einer vermeintlich höheren Inanspruchnahme in den un­teren Schichten kann auf die in dieser Schicht verhältnismäßig ungünstigeren Gesund­heitsbedingungen bzw. gesundheitlichen Verhaltensweisen und der folglich höheren Morbidität und Mortalität zurückgeführt werden (Thode et al. 2004, 49ff., 2005, 301f.).

Hinsichtlich der Indikatoren für gesundheitsbewusstes Verhalten wie Sport und regel­mäßige körperliche Aktivität, Rauchverhalten sowie Alkoholkonsum kann keine eindeu­tige Wirkungsrichtung des Inanspruchnahmeverhaltens im Gesundheitssystem identifi­ziert werden (Thode et al. 2004, 53). Zum einen haben sportliche Betätigungen positive Effekte auf die Gesundheit, die sich verringernd auf die Nachfrage nach medizinischen Versorgungsleistungen auswirken. Zum anderen können sowohl Sportverletzungen, die durch sportliche Aktivitäten hervorgerufen werden, als auch das gesundheitsbewusstere Verhalten, das in Assoziation mit einer größeren Gesundheitsbesorgnis und stärkeren Ri­sikoaversion steht, die verringerte Nachfrage überkompensieren und eine höhere Inan­spruchnahme induzieren (Guggisberg und Spycher 2005, 57; Thode et al. 2004, 31). Ein hoher Nikotin- und Alkoholkonsum kann einerseits mit einer Verschlechterung des Ge­sundheitszustandes und somit mit einem zunehmenden Bedarf an medizinischen Dienst­leistungen einhergehen, andererseits aufgrund der höheren gesundheitlichen Risikobe­reitschaft zu einer geringeren Inanspruchnahme führen (Thode et al. 2004, 31). Demge­genüber frequentieren adipöse Personen das Gesundheitswesen häufiger als Personen mit einem Body-Mass-Index (BMI) von unter 30 kg/m2, da Adipositas als eine behandlungs­bedürftige Erkrankung interpretiert werden kann (Thode et al. 2004, 73, 2005, 302).

Als „Enabling Resources“ werden die notwendigen Voraussetzungen für die Inan­spruchnahme gesundheitsbezogener Versorgungsleistungen beschrieben. Hierbei wird zwischen personenbezogenen Ressourcen, z.B. Einkommen und Versicherungsschutz, und gemeindebezogenen Ressourcen, z.B. Vorhandensein und Erreichbarkeit von Ver­sorgungseinrichtungen am Wohn- und Arbeitsort, unterschieden (Andersen 1995, 3).

Laut der gesundheitsökonomischen Forschung fragen Personen in den höheren Ein­kommensgruppen nach mehr medizinischen Gesundheitsleistungen nach als Personen in den niedrigeren Einkommensgruppen, da sie verstärkt in ihre Gesundheit investieren. Gleiches gilt für Personen mit höherem Bildungsstand. Weitere Gründe sind die einge­schränkten Handlungsalternativen für das Bewältigungsverhalten aufgrund der kumula­tiven deprivierenden Umstände in den unteren Einkommensschichten, zum Beispiel beim Erwerb von frei verkäuflichen Medikamenten (Cassel 2001, 8; Thode et al. 2004, 29).

Des Weiteren weisen Personen in verdichteten Großstädten eine höhere Nutzung des gesundheitlichen Versorgungssystems auf als Personen in ländlichen Gebieten, wohinge­gen die Arztdichte keinen Einfluss hat. Diese Differenz lässt sich mit der unterschiedlich ausgebauten Verkehrsinfrastruktur bzw. Mobilität sowie auch mit den besonderen Le­bens- und Umweltbedingungen interpretieren (Thode et al. 2004, 52f., 2005, 300f.).

Die privaten Krankenkassen unterscheiden sich sowohl in den Beitragsberechnungen als auch in den erstatteten Leistungsumfängen von den gesetzlichen Krankenkassen, wodurch die Versicherten in verschiedene Anreizstrukturen integriert sind (Thode et al. 2004, 32). Die Unterscheidung nach dem Versicherungsschutz weist jedoch heterogene Tendenzen auf. Laut den Studien von Rattay et al. (2013, 837) und Tille et al. (2017, 58) nehmen privat versicherte Männer und Frauen seltener gesundheitsbezogene Versor­gungsleistungen in Anspruch im Vergleich zu gesetzlich Versicherten, wohingegen Thode et al. (2004, 49, 2005, 299ff.) keinen Unterschied feststellen konnten. Wie beim sozialen Status könnte auch der Einfluss des Versicherungsschutzes auf die Inanspruch­nahme durch die „Need Factors“ erklärt werden, die im Folgenden vorgestellt werden.

Die „Need Factors“ sind die Hauptdeterminanten, welche die Inanspruchnahme medi­zinischer Dienstleistungen direkt beeinflussen. Andersen (1995) unterscheidet dabei zwi­schen dem von der betroffenen Person wahrgenommenen Bedarf einerseits und dem durch professionelles Urteil objektivierten Bedarf andererseits. Dazu zählen unter ande­rem der Schweregrad und die Anzahl der Krankheiten und Symptome im Leben bzw. in den letzten Monaten sowie auch die gesundheitsbezogene Lebensqualität bzw. subjektive Einschätzung des eigenen Gesundheitszustandes im Allgemeinen. Der biologische Be­darf als solcher wird nicht eigens genannt, da er nur wirksam ist, wenn er als solcher vom Arzt/von der Ärztin oder vom Patienten/von der Patientin wahrgenommen wird (Andersen 1995, 3ff.). Die „Need-Factors“ haben den stärksten Einfluss auf das Inan­spruchnahmeverhalten im Gesundheitswesen und steuern dieses in die erwartete Rich­tung. Eine Zunahme des Schweregrades der Behinderung und der Anzahl der Krankheiten führt zu einer höheren Inanspruchnahmequote. Ebenso zeigen Personen mit einem sub­jektiv schlechten Gesundheitszustand eine häufigere Inanspruchnahme der medizinischen Gesundheitsversorgung als Personen mit einem subjektiv guten Gesundheitszustand, wo­bei der Einfluss der körperlichen gegenüber der psychischen Dimension dominiert (Rat­tay et al. 2013, 837f.; Thode et al. 2004, 53f., 2005, 299f.; Tille et al. 2017, 57f.).

Der Kern des Modells enthält außerdem die Komponenten „Outcome“, „Environ­ment“ und „Health Behavior“, die erst später zum Modell hinzugefügt wurden (Andersen 1995, 6ff.). Der Begriff „Outcome“ beschreibt die Resultate der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Sie zeigen sich im subjektiven und objektiven Gesundheitszu­stand einerseits und in der Zufriedenheit mit der Versorgung andererseits. Die Rückkopp­lung vom Outcome zur Bevölkerung und deren Gesundheitsverhalten („Health Beha- vior“) vervollständigt die Einbettung der Inanspruchnahme in den gesamtgesellschaftli­chen Kontext bzw. in das Gesundheitssystem („Environment“). Mithilfe dieser Dynamik können die Resultate und Erfahrungen mit der bisherigen Inanspruchnahme die Notwen­digkeit und Bereitschaft der zukünftigen Inanspruchnahme beeinflussen (Andersen 1995, 6ff.). Da die Rückkopplungsschleifen in einer Querschnittsanalyse schwerlich untersucht werden können, stützt sich die vorliegende Studie hauptsächlich auf den Modellkern, des­sen angeführten Prädiktoren des Inanspruchnahmeverhaltens im Gesundheitswesen - mit Ausnahme von sozialer Status, Wohngebiet und Arzt- bzw. medizinischer Versorgungs­dichte - als Kovariaten in die statistische Modellierung mit aufgenommen wurden.

Um sich der Fragestellung zu nähern, wurde in den theoretischen Vorüberlegungen eine Erörterung wichtiger Aspekte zum Thema Migration sowohl in Deutschland als auch im Bezirk Berlin-Mitte vorgenommen. Anschließend findet eine Darstellung über die ge­sundheitliche Lage der türkischstämmigen Migrationsbevölkerung und der (Spät-) Aus- siedler/innen2 statt und endet mit einer Übersicht über die migrationsspezifischen Verhal­tensweisen bei Krankheit und Gesundheit.

2.1 DieMigrationsbevölkerung in Deutschland

Ein umstrittenes Thema migrationspolitischer Diskussionen bis in die zweite Hälfte der 1990er Jahre war, ob und inwiefern Deutschland ein Einwanderungsland ist. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden Einwanderungen3 eher als Ausnahme angesehen, obwohl die länger werdenden, rechtlich legitimierten Aufenthaltszeiten vieler zugewanderter Fami­lien längst ein anderes Bild boten (Hailbronner 2017, 50). Ein Wandel dieses prägenden Tenors setzte erst gegen Ende der 1990er Jahre ein. Das Umdenken wurde durch den demographischen Wandel und der Notwendigkeit ausgelöst, Fachkräfte aus dem Ausland anzuwerben (Hailbronner 2017, 50ff.). Mit dem wachsenden Anstieg an Zuwanderern und Zuwanderinnen wurde Deutschland nun zu eines der wichtigsten und attraktivsten sowie sozial und kulturell vielfältigsten Einwanderungsländer innerhalb Europas (Bun­desamt für Migration und Flüchtlinge 2019, 6ff.).

Die Bevölkerung in der Bundesrepublik ist in den vergangenen drei Jahrzehnten nur aufgrund von zugewanderten Menschen gewachsen. Ohne Einwanderungen hätte Deutschland ungefähr 71 Mio. statt etwa 81,6 Mio. Menschen bzw. rund 11 Mio. Ein- wohner/innen weniger. Angesichts der älter werdenden autochthonen (nicht zugewander­ten) Bevölkerung hätte eine solche Rückwärtsentwicklung erhebliche Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft (Statistisches Bundesamt 2019a, 63; Medien­dienst Integration 2020, 1). Laut den Ergebnissen des Mikrozensus4 aus dem Jahr 2018 leben derzeit rund 9,9 Mio. Ausländer/innen und etwa 20,8 Mio. Menschen mit Zuwan­derungserfahrung in der Bundesrepublik. Dies entspricht 12,1 % bzw. 25,5 % der Ge­samtbevölkerung des Landes. Dabei ist anzumerken, dass ungefähr 13,5 Mio. (bzw. 64,9 %) Menschen mit Zuwanderungserfahrung selbst nach Deutschland migriert sind (erste Generation mit eigener Zuwanderungserfahrung) und circa 7,3 Mio. (bzw. 35,1 %) bereits in Deutschland geboren wurden (zweite Generation ohne eigene Zuwanderungserfah­rung) (Statistisches Bundesamt 2019a, 63). Da in Zukunft weitere Einwanderungen statt­finden werden, wird die Migrantenbevölkerung weiter zunehmen. Im Zeitraum von 1992 bis 2018 wurden in Deutschland 28,6 Mio. Zuzüge vom Ausland und lediglich 20,9 Mio. Fortzüge aus dem Bundesgebiet registriert. Folglich ergab sich im betrachteten Zeitraum ein positiver Wanderungssaldo von rund 7,8 Mio. Menschen, die nach Deutschland immigrierten (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019, 37). Seither wird intensi­ver über die Themen Migration, Integration, Familiennachzug und Erwerbsmigration po­litisch und gesellschaftlich diskutiert.

Bisher gibt es in Deutschland keine eindeutige und einheitliche Definition und Ab­grenzung für Zuwanderungserfahrung, auch wenn die Begriffe und vor allem detaillierten Zahlen dies suggerieren mögen (Razum, Reeske und Spallek 2011, 15f.). Wie Thor­valdsen (2009, 186ff.) aufzeigt, ist die exakte begriffliche Abgrenzung von Zuwande­rungserfahrung nicht nur mit methodischen Hürden verbunden, sondern führt in der Folge auch zu einem diversen Begriffsverständnis und damit zu verschiedenen Ergebnissen. Verkomplizierend kommen Unterscheidungen nach ein- und beidseitiger Zuwanderungs­erfahrung hinzu, wodurch sich je nach Definition die Gruppengröße und die einbezoge­nen Menschen ändern. Das Konstrukt „Migration“ wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als vorübergehende oder dauerhafte räumliche Verlegung des Lebens­mittelpunktes über eine sozial bedeutsame Entfernung verstanden. Von „Internationaler Migration“ wird gesprochen, wenn dies über Staatsgrenzen hinweg geschieht. Reisen, Pendeln oder Tourismus werden nicht miteingeschlossen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019, 34). Die Gruppe der Migrant|inn|en wird in Deutschland meistens nur anhand der Staatsangehörigkeit definiert. Dabei werden Ausländer/innen und Mig- rant|inn|en gleichgesetzt. Die Differenzierung nach der Nationalität verliert jedoch zuneh­mend an Aussagekraft, da sie aufgrund der Vielfalt des Migrationsgeschehens, der Ein­bürgerungen und des ius soli-Prinzips5 den Stand und die Entwicklung von Migrant|inn|en und ihrer Nachkommen nur noch unzureichend wiedergeben kann. Des Weiteren weist die Definition der Begriffe „Migranten und Migrantinnen“, die implizieren, dass die Per­son selbst gewandert ist und über eigene Zuwanderungserfahrung verfügt, viele Schwie­rigkeiten auf, da bestimmte Migrantengruppen „hinaus definiert“ werden (Razum, Reeske und Spallek 2011, 15f.; Schimany, Rühl und Kohls 2012, 33). Die Definition der Zuwanderungserfahrung bzw. des „Migrationshintergrundes“, die erstmals im Mikrozen­sus 2005 zu finden war und sich im politischen und wissenschaftlichen Diskurs durch­setzte, bezieht aus diesem Grund Menschen, bei denen mindestens ein Elternteil migriert ist und die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt, mit ein, da auch bei ihnen der „Migrationshintergrund noch prägend“ sein kann, schließt aber in Deutschland geborene Menschen der dritten und vierten Migrantengeneration aus. Somit sind auslän­dische Staatsangehörige lediglich eine Teilmenge der Menschen mit Zuwanderungser­fahrung (Statistisches Bundesamt 2019a, 4; Razum et al. 2008, 9; Razum, Reeske und Spallek 2011, 15f.; Schimany, Rühl und Kohls 2012, 33f.). Da sich die Begriffe Migran­ten und Migrantinnen nicht nur auf ausländische Zugewanderte beziehen, sondern auch weitere Bevölkerungsgruppen mit jeweils spezifischem Migrationsbezug inkludieren, werden die Bezeichnungen „Migrant|inn|en“ und „Menschen mit Migrationshintergrund bzw. Zuwanderungserfahrung“ in dieser Arbeit synonym verwendet.

Durch eine Differenzierung nach dem Herkunftsland bzw. der Herkunft der Eltern können Migrant|inn|en in fünf große Gruppen unterteilt werden. Laut dem Statistischen Bundesamt war im Jahr 2018 die türkischstämmige Bevölkerung mit 2,7 Mio. (bzw. 13,0 %) in Deutschland am stärksten vertreten. Die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe waren (Spät-) Aussiedler/innen mit 2,6 Mio. (bzw. 12,5 %). Die drittgrößte Gruppe bildeten die Menschen mit polnischer Zuwanderungserfahrung mit 2,2 Mio. (bzw. 10,6 %). Ihnen folgten Migrant|inn|en aus der Russischen Föderation mit 1,3 Mio. (bzw. 6,8 %) und aus Rumänien mit 965 Tausend (bzw. 4,6 %). Dabei fällt auf, dass die meisten Migrant|inn|en ihre Wurzeln in Europa haben (Statistisches Bundesamt 2019a, 63).

Aus der Differenzierung heraus wird ersichtlich, dass sich Menschen mit Zuwande­rungserfahrung zum einen hinsichtlich soziodemographischer, -ökonomischer und kultu­reller Determinanten und zum anderen bezüglich der eigenen Staatsangehörigkeit, Mig­rationserfahrung, Herkunftsregion, Sprache und Ethnizität unterscheiden (Razum et al. 2008, 12). Darüber hinaus gibt es verschiedene Gründe (Bildung, Arbeitssuche, Armut, Diskriminierung, Vertreibung, Verfolgung, Flucht etc.) und dementsprechend vielfältige Formen der Zuwanderung nach Deutschland. Demzufolge stellen Menschen mit Zuwan­derungserfahrung, so wird in der Literatur betont, eine sehr heterogene Bevölkerungs­gruppe dar, über deren Situation in Deutschland keine verallgemeinernden Aussagen möglich sind (Knipper und Bilgin 2009, 36). Dennoch wird nachfolgend der Versuch unternommen, die soziale und gesundheitliche Lage sowohl für die türkischstämmigen Migrant|inn|en und (Spät-) Aussiedler/innen als auch für die Mehrheit der Menschen mit Zuwanderungserfahrung tendenziell abzubilden, wohl wissend, dass die einzelnen Mig­rantengruppen von einer solchen aggregierten Darstellung wesentlich differieren können.

In der Bevölkerung mit Zuwanderungserfahrung zeigen sich fast immer Abweichun­gen zur Mehrheitsbevölkerung im Zielland. Diese werden ebenfalls in den Alters- und Geschlechtsstrukturen ersichtlich (Razum et al. 2008, 16). Der Altersdurchschnitt von Migrant|inn|en (35,5 Jahre) ist deutlich geringer als der der einheimischen Bevölkerung in Deutschland (47,4 Jahre) (Statistisches Bundesamt 2019a, 66). Demzufolge verjüngt die Zuwanderung nach Deutschland die hier ansässige Bevölkerung und verzögert den für den demografischen Wandel charakteristischen Prozess der Bevölkerungsalterung (Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 65). Der Anteil der Männer in der Bevölke­rung mit Zuwanderungserfahrung ist mit 51,4 % gegenüber 48,9 % in der Bevölkerung ohne Zuwanderungserfahrung ebenfalls höher (Statistisches Bundesamt 2019a, 61). Diese Strukturunterschiede sind auch bei der Bevölkerungsgruppe mit türkischer Zuwan­derungserfahrung zu verzeichnen, deren Zuwanderung ihren Ursprung in der Arbeitskräf­teanwerbung hat. Während dieser Zuwanderung kamen insbesondere junge Männer und später auch der Familiennachzug in die Bundesrepublik Deutschland (Razum et al. 2008, 12f.). Das niedrigere Durchschnittsalter der türkischstämmigen Bevölkerung im Ver­gleich zur autochthonen Bevölkerung ist auf die vergleichsweise hohe Fertilität und dem geringeren Altenanteil zurückzuführen (Reutin und Schott 2013, 13ff.). Bei der Gruppe der (Spät-) Aussiedler/innen fällt der Verjüngungseffekt nicht so stark aus, da sie vorwie­gend mit Familienangehörigen, häufig in einer Drei-Generationen-Konstellation, nach Deutschland kamen und somit nicht nur junge, sondern auch ältere Menschen immigrier­ten. Aufgrund der Einwanderung im Familienverbund gibt es außerdem einen relativ ho­hen Frauenanteil (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019, 148ff.; Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 66). Hierbei muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass die Alters- und Geschlechtsverteilung der (Spät-) Aussiedler/innen ausschließlich zum Einreisezeitpunkt bekannt ist, da sie nach der Einwanderung die deutsche Staatsbürger­schaft erhalten und zur deutschen Gesamtbevölkerung gezählt werden. Deshalb ergibt sich die Problematik, dass diese Bevölkerungsgruppe bei der quantitativen Erfassung in den amtlichen Statistiken nicht mehr als ausländische bzw. separate Gruppe ausgewiesen wird (Brück-Klingberg et al. 2007, 1; Razum et al. 2008, 10).

Deutschland gehört zu den Ländern in Europa, die auf eine lange Zuwanderungsge­schichte zurückblicken können. Daher nehmen die über 60-jährigen älteren Mig- rant|inn|en mit mehr als 2,9 Mio. bzw. einem Anteil von rund 14 % der Bevölkerung mit Zuwanderungserfahrung bereits einen relevanten Umfang an. Die polnischstämmigen Migrant|inn|en sind mit 483 Tausend (bzw. 16,7 %) die größte ältere Bevölkerungsgruppe mit Zuwanderungserfahrung. Ältere russischstämmige und türkischstämmige Mig- rant|inn|en machen mit 320 Tausend (bzw. 11 %) und 283 Tausend (bzw. 9,8 %) die zweit- und drittgrößte Gruppe aus (Statistisches Bundesamt 2019a, 64f.). Zusätzlich offenbaren Modellrechnungen, dass in Zukunft der Anteil der älteren Migrant|inn|en so­wohl in der Bevölkerung mit als auch im Vergleich zur Bevölkerung ohne Zuwande­rungserfahrung deutlich stärker zunehmen wird (Schimany, Rühl und Kohls 2012, 106f.). Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Zum einen zeigt sich seit den 1990er Jahren ein rückläufiger Trend der Geburtenhäufigkeit in der Migrantenbevölkerung, der sich auch weiterhin fortsetzt und tendenziell zu einer Angleichung der Geburtenraten von Migran­tinnen und einheimischen deutschen Frauen auf niedrigem Niveau führen wird. Zum an­deren kann eine zunehmende Lebenserwartung bei Menschen mit Zuwanderungserfah­rung festgestellt werden, sodass sich diese ebenfalls an der Lebenserwartung der Bevöl­kerung ohne Zuwanderungserfahrung angleichen wird (Schimany, Rühl und Kohls 2012, 19). Die Tatsachen, dass die erste Generation von Migrant|inn|en schon längst ein höheres Alter aufweist und die Zahl und der Anteil der älteren Menschen mit Zuwanderungser­fahrung an der Gesamtbevölkerung weiter steigen wird, verdeutlicht die Notwendigkeit sich mit der sozialen und gesundheitlichen Situation dieser Bevölkerungsgruppe ausei­nanderzusetzen.

Die Assoziation zwischen der sozialen Lage und der Gesundheit sowie deren Konse­quenzen sind empirisch hinreichend beschrieben und betreffen sowohl Menschen ohne als auch mit Zuwanderungserfahrung (Hoffmann und Spallek 2018, 346f.; Spallek und Razum 2008, 274ff.). Daher kann die Gesundheit von Migrant|inn|en nicht ohne Betrach­tung der sozialen Lage dargestellt werden. Die Menschen mit Zuwanderungserfahrung in Deutschland weisen im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung häufiger soziale Be­nachteiligungen hinsichtlich der Bildungs- und Ausbildungschancen, des Haushaltsein­kommens, der Wohn- und Arbeitsbedingungen sowie des Arbeitslosigkeits- und Ar­mutsrisikos auf (Hoffmann und Spallek 2018, 346; Spallek und Razum 2008, 274).

Im Sozialbericht bzw. Datenreport 2016 der Bundeszentrale für politische Bildung wurden anhand der Daten des sozioökonomischen Panels6 2013 die sozialen, ökonomi­schen und wohnräumlichen Lebensbedingungen der älteren Bevölkerung mit Zuwande­rungserfahrung dargestellt. Zum einen wurden dabei die türkischstämmigen Mig- rant|inn|en sowohl mit den (Spät-) Aussiedler/innen als auch mit den Deutschen ohne Zu­wanderungserfahrung miteinander verglichen, zum anderen wurde die jüngere Altersgruppe von 50 bis 64 Jahren der älteren Altersgruppe ab 65 Jahren gegenüberge­stellt (Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 69ff.).

Viele, die im Rahmen der Arbeitskräfteanwerbung von der Türkei in die Bundesre­publik gekommen sind, haben ein niedriges Bildungs- und Qualifikationsniveau, das zum Zeitpunkt der Einwanderung für den deutschen Arbeitsmarkt ausreichend war. Von den Menschen mit türkischer Zuwanderungserfahrung haben in der Gruppe der 50- bis 64­Jährigen mehr als 28 % keinen schulischen Abschluss, in der ab dem 65. Lebensjahr sind es nahezu 43 %. Bei den (Spät-) Aussiedler/innen haben in den entsprechenden Alters­gruppen 4,7 % bzw. rund 22 % keinen Schulabschluss. Bei der deutschen Bevölkerung ohne Zuwanderungserfahrung liegen die Vergleichswerte jeweils unter 2 %. Aus diesem Grund ist Analphabetismus keine Seltenheit in der türkischstämmigen Bevölkerung (Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 69).

Die Anteile der Menschen mit türkischer Zuwanderungserfahrung, die keine abge­schlossene Berufsausbildung haben, sind in der Altersgruppe von 50 bis 64 Jahren mit knapp 63 % und in der ab 65 Jahren mit fast 67 % vergleichsweise hoch. Bei den (Spät-) Aussiedler/innen betragen die Anteile in den jeweiligen Altersklassen nahezu 24 % bzw. 45 %. Bei den Deutschen ohne Zuwanderungserfahrung liegen die Werte mit 11,4 % bzw. 26,5 % deutlich niedriger. Eine schulische und berufliche Weiterbildung mit höher qua­lifiziertem Abschluss erfolgte im weiteren Lebensverlauf der Arbeitsmigrant|inn|en of­fenbar nicht, sodass sich viele in einer schwierigen Situation auf dem Arbeitsmarkt be­fanden infolge des Strukturwandels im Beschäftigungssystem mit zunehmendem Arbeits­platzabbau im industriellen Sektor (Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 70).

Entsprechend sind lediglich 51,3 % der 50- bis 64-jährigen türkischstämmigen Mig- rant|inn|en erwerbstätig. Zu beachten ist ebenfalls die hohe Frühverrentungsquote von 27,3 % wegen Erwerbsunfähigkeit. Die schlechten Arbeitsmarktchancen und das hohe Frühverrentungsrisiko zeigen auf, dass sie in dieser Altersklasse nur in geringem Maße in das Berufsleben integriert sind. Gegensätzlich dazu haben in der Altersgruppe von 50 bis 64 Jahren rund 73 % der (Spät-) Aussiedler/innen und circa 72 % der einheimischen Deutschen eine Erwerbstätigkeit und eine vergleichsweise niedrige Frühverrentungs­quote von fast 11 % bzw. 16 % (Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 70f.). Den­noch haben auch (Spät-) Aussiedler/innen trotz des höheren Bildungs- und Qualifikati­onsgrades im Vergleich zu den türkischen Migrant|inn|en erhebliche Probleme bei der Arbeitsmarktintegration, da sie vor allem mit einem (Fach-) Hochschulabschluss para­doxerweise häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen sind als mit oder ohne einer Berufsausbildung. Dies wird damit begründet, dass die im Heimatland erworbenen Bil­dungsabschlüsse offenbar schlecht auf dem deutschen Arbeitsmarkt verwertet werden können und etwaige Sprachbarrieren besonders starke negative Auswirkungen haben (Brück-Klingberg et al. 2007, 3f.).

Für die Generation 65 + sind die Renteneinkommen ein essenzielles finanzielles Fun­dament des Lebens. Somit beziehen in diesem Alter ungefähr 89 % der Menschen mit türkischer Zuwanderungserfahrung Rente, wohingegen nur 88,6 % der (Spät-) Aussied- ler/innen und 88,4 % der einheimischen Deutschen ihren Lebensunterhalt aus einer Rente bestreiten. Trotz des häufigeren Rentenbezugs seitens der (Spät-) Aussiedler/innen und der Arbeitsmigrant|inn|en der ersten Generation sind ihre durchschnittlich erworbenen Rentenansprüche im Ruhestand niedriger im Vergleich zur Bevölkerung ohne Zuwande­rungserfahrung. Die Gründe dafür sind die geringere Zahl an Beitragsjahren, das niedri­gere Arbeitseinkommen, das höhere Arbeitslosigkeitsrisiko und die kürzeren Erwerbsbi­ografien während des Erwerbslebens. Außerdem verursachen die durch spezifische Er­werbsbiografien erworbenen Rentenansprüche wesentliche Ungleichheiten in den Ein­kommensniveaus zwischen den beiden Migrantengruppen (Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 71).

Hinsichtlich der Einkommensstruktur der Haushalte zeigt sich die Abhängigkeit zu den anderen Indikatoren und stellt sich entsprechend ungünstig dar. Die türkischstämmi­gen Migrant|inn|en zwischen 50 und 64 Jahren erzielen ein durchschnittliches monatli­ches Nettoäquivalenzeinkommen7 von 1.444 €, die ab 65 Jahren weisen ein Monatsein­kommen von 1.169 € auf. Die (Spät-) Aussiedler/innen erhalten in den jeweiligen Alters­gruppen ein Einkommen von 1.604 € bzw. 1.257 €. Die autochthonen Deutschen bekom­men im Alter von 50 bis 64 Jahren ein Plus von mehr als 500 € bzw. 300 €, denen ab 65 Jahren stehen mehr als 400 € bzw. 300 € zusätzlich zur Verfügung. Interessant ist zudem eine Gegenüberstellung der höheren Nettoäquivalenzeinkommen der Bevölkerung ohne Zuwanderungserfahrung und der niedrigeren Einkommen der Bevölkerung mit Zuwan­derungserfahrung, dass die Differenz dieser Monatseinkommen bei den Personen ab dem 65. Lebensjahr (269 Euro) geringer ist als bei den 50- bis 64-Jährigen (420 Euro). Ur­sächlich dafür ist allerdings nicht eine Reduktion sozialer Benachteiligung für die älteren Migrant|inn|en, sondern im Grunde die vergleichsweise starke Verringerung der Zahlbeträge beim Übergang vom Erwerbs- zum Alterseinkommen bei den Deutschen ohne Zuwanderungserfahrung (Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 71).

Die Folgen der schlechteren finanziellen Lebenslage der Migrant|inn|en widerspiegeln den zusätzlichen Empfang von Sozialhilfen bzw. Sozialtransfers wie die Grundsicherung im Alter nach SGB XII, auf die 10,4 % der 50- bis 64-jährigen und rund 2 % der über 65­jährigen Menschen mit türkischer Zuwanderungserfahrung zurückgreifen müssen. Trotz des höheren Nettoäquivalenzeinkommens der (Spät-) Aussiedler/innen im Vergleich zu den türkischstämmigen Migrant|inn|en beziehen 12,3 % der 50- bis 64-Jährigen und fast 4 % der über 65-Jährigen Sozialtransfers. Dieser Unterschied in den jeweiligen Alters­klassen könnte unter anderem mit der Unterstützung durch Angehörige erklärt werden, die insbesondere für die Menschen mit türkischer Zuwanderungserfahrung (14,5 % bzw. 6,3 %) bei der Sicherung ihres Lebensunterhalts eine größere Rolle spielt als für die (Spät-) Aussiedler/innen (11,4 % bzw. 5,9 %). Die Vergleichswerte der einheimischen Deutschen in den entsprechenden Altersgruppen befinden sich für die Sozialtransfers bei nur 7,4 % bzw. unter 2 % und für die Unterstützung durch Angehörige bei 10,1 % bzw. 7,6 % (Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 71).

Aufgrund der vorliegenden Einkommenssituation verfügen die türkischstämmige Be­völkerung und die Gruppe der (Spät-) Aussiedler/innen seltener über Wohneigentum (29,2 % bzw. 33,5 %) sowie über eine durchschnittlich geringere Wohnfläche und sind in vielen Fällen auch in ihrer Wohnsituation benachteiligt im Vergleich zur deutschen Mehrheitsbevölkerung (66,1 %). Bewerten lediglich 26 % der Arbeitsmigrant|inn|enund 30 % der (Spät-) Aussiedler/innen ihre Wohnsituation als „sehr gut“, ist dies bei 45 % der einheimischen Deutschen der Fall (Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 71).

Das Armutsrisiko wird durch ein niedriges Bildungsniveau, instabile oder fehlende Erwerbsverhältnisse sowie auch durch eine schlechte finanzielle und materielle Lebens­situation erhöht. Die höchste Armutsgefährdung weisen die Menschen mit türkischer Zu­wanderungserfahrung auf. Für die Altersklasse von 50 bis 64 Jahren liegt die Quote bei 22,7 %, für die ab dem 65. Lebensjahr bei 36,5 %. Bei den (Spät-) Aussiedler/innen sind die Armutsgefährdungsquoten in den jeweiligen Altersgruppen mit 17,6 % bzw. 27,5 % bei vergleichsweise höherem Bildungs- und Ausbildungsniveau, höheren Erwerbsquoten und höherem Einkommen wesentlich geringer. Die Armutsrisiken der gleichaltrigen Be­völkerung ohne Zuwanderungserfahrung sind mit 11,2 % bzw. 12,5 % nur etwa halb so hoch (Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 72).

Die Effekte der unterschiedlichen Lebensbedingungen wirken sich auch auf die Wahrnehmung sozialer Umstände aus. So konnte belegt werden, dass sich jede/r vierte Arbeitsmigrant/in und jede/r sechste (Spät-) Aussiedler/in in hohem Maße um die eigene wirtschaftliche Situation sorgt, wohingegen das innerhalb der Bevölkerung ohne Zuwan­derungserfahrung nur jede siebte Person betrifft (Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 72).

Zusammenfassend zeigen die zurückliegenden Ausführungen, dass sich die Bevölke­rung mit Zuwanderungserfahrung in schlechteren sozialen, ökonomischen und wohn­räumlichen Lebensbedingungen befindet als die Bevölkerung ohne Zuwanderungserfah­rung. Des Weiteren unterscheiden sich die türkischstämmigen Migrant|inn|en von den (Spät-) Aussiedler/innen hinsichtlich des Sozialstatus und der sozialen Situation. Dabei offenbaren die vorliegenden Befunde, dass insbesondere die älteren türkischstämmigen Migrant|inn|en defizitäre Lebenslagen und ein hohes Armutsrisiko aufweisen sowie in nahezu allen Bereichen schlechter gestellt sind. Hierbei ist festzuhalten, dass viele der angeführten Benachteiligungen nicht nur die älteren Menschen mit Zuwanderungserfah­rung der ersten Generation betreffen, sondern auch in den nachfolgenden Generationen Bestand haben (Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 70ff.; Razum et al. 2008, 7).

2.2 DieMigrationsbevölkerung im Bezirk Berlin-Mitte

Mitte bezeichnet einen von den zwölf Verwaltungsbezirken der Metropole Berlin. Zum 31.12.2018 beträgt die gesamte melderechtlich registrierte Bevölkerung in den Ber­liner Bezirken 3.748.148 Einwohner/innen. Dabei bewegt sich die Bevölkerung zwischen circa 243.100 in Spandau und über 407.000 in Pankow. In Mitte wohnen 383.457 Men­schen, dessen Bevölkerungszahl seit 2010 um mehr als 56.000 Menschen gewachsen ist. Dies verdeutlicht, dass die Berliner Bezirke mittlerweile die Größe von mittleren deut­schen Großstädten haben (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2019, 1ff.). Bei der Be­trachtung der Altersstruktur der Bevölkerung zeigen sich bereits die ersten Unterschiede zwischen den Einwohner|inne|n mit und ohne Zuwanderungserfahrung im Bezirk Berlin- Mitte. Hierbei fällt der hohe Anteil der Migrant|inn|en in den Jahrgängen bis zu 60 Jahren und vor allem in den Altersgruppen bis zu 18 Jahren auf. Folglich ist der Altersdurch­schnitt der Bewohner/innen mit Zuwanderungserfahrung deutlich geringer als der der ein­heimischen Bevölkerung. Dennoch ist ein kontinuierlicher Anstieg des Altersdurch­schnitts in der gesamten Bevölkerung von Mitte zu erkennen (BA Mitte 2018, 4f.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Bevölkerung in den Berliner Bezirken nach Migrationsstatus (N = 3.748.148 zum 31.12.2018)

Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2019, Datenpool (eigene Darstellung)

Abbildung 2 zeigt die Bevölkerung in den Berliner Bezirken nach Migrationsstatus zum 31.12.2018 mit einem Umfang von 3.748.148 Menschen. Sie deutet an, dass sich die Situation für die ansässigen Migrant|inn|en in Berlin von Deutschland unterscheidet. Auf­gründ einer Reihe historischer Ereignisse - unter anderem die Isolierung von Westberlin innerhalb der ehemaligen DDR durch die langjährige Teilung Berlins nach dem Zweiten Weltkrieg - entstand eine ungünstige sozialräumliche Verteilung (BA Mitte 2011, 7f.). Somit fällt anhand der demografischen Darstellung des Bezirks Berlin-Mitte auf, dass es zum einen große Unterschiede innerhalb der Berliner Bezirke gibt und zum anderen, dass ein sehr hoher Anteil an Bewohner|inne|n und deren Leben durch eine Migration geprägt wurde. So beträgt der Anteil der Bevölkerung in Mitte mit einer Zuwanderungserfahrung8 53,3%und liegt demnach mehr als dreimal so hoch wie in Treptow-Köpenick mit 16,0 %. Es ist deutlich zu erkennen, dass die meisten Bewohner/innen mit Zuwanderungser­fahrung im Westteil von Berlin wohnen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Bevölkerung mit Zuwanderungserfahrung im Bezirk Berlin-Mitte nach Herkunftsgebiet (N = 204.267 zum 31.12.2018)

Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2019, Datenpool (eigene Darstellung)

Abbildung 3 stellt die Zusammensetzung der Bevölkerung mit Zuwanderungserfah­rung im Bezirk Berlin-Mitte nach Herkunftsgebiet zum Jahresende 2018 darund umfasst insgesamt 204.267 Einwohner/innen. Auffallend sind insbesondere die hohen Anteile der Menschen aus den ursprünglichen EU-15-Ländern und der türkischstämmigen Mig- rant|inn|en. Die 36.826 Einwohner/innen mit türkischer Zuwanderungserfahrung machen 18 % der nichtdeutschen Bevölkerung im Bezirk und fast 10 % der bezirklichen Bevöl­kerung aus. Sie stellen somit die größte und wichtigste einzelne Gruppe von Mig- rant|inn|en im Bezirk Mitte dar. Bürger/innen aus den ehemaligen EU-15-Ländern stehen mit 15 %an zweiter Stelle. Die drittgrößte Gruppe mit circa 13 % stammt aus den arabi­schen Ländern. Den Abschluss bilden die Bewohner/innen, die aus den neuen EU- Ländern (9,6 %), der ehemaligen Sowjetunion (6,8 %), Polen (6,6 %) und dem ehemali­gen Jugoslawien (4,7 %) kommen.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) führte 2008 basierend auf einer Auswertung des Mikrozensus 2005 eine Studie zur wirtschaftlichen Lage der Mig- rant|inn|en in Berlin durch und verglich diese mit anderen deutschen Großstädten (Brenke 2008, 496ff.).Die zentralen Ergebnisse der Studie waren, dass sich die in Berlin lebenden Menschen mit Zuwanderungserfahrung in einer wirtschaftlich schlechteren Lage befin­den als die Bevölkerung ohne Zuwanderungserfahrung und zusätzlich sozial schlechter gestellt sind als Migrant|inn|en in anderen deutschen Großstädten. Diese benachteiligte Situation gilt insbesondere für Einwohner/innen mit Bindungen an die Türkei (Brenke 2008, 499ff.). Die Indikatoren zur Erfassung der sozialen und wirtschaftlichen Lage wa­ren unter anderem der Bildungsabschluss, das berufliche Qualifikationsniveau, die Er­werbstätigkeit und das Haushalteinkommen, die ebenfalls bei der Analyse der sozialen und wirtschaftlichen Situation der Migrant|inn|en im Rahmen des Migrationsberichtes 2011 der Gesundheits- und Sozialberichterstattung im Bezirksamt Berlin-Mitte verwen­det wurden. Die zentralen Aussagen werden im Folgenden vorgestellt.

Hinsichtlich der Schulbildung offenbart sich im Berliner Vergleich, dass im Bezirk Berlin-Mitte ein relativ hoher Anteil der Einwohner/innen ein Abitur (41,2 %), aber auch keinen Schulabschluss (13,3 %) hat. Ein ähnliches Bild zeichnet sich auch bei der Bevöl­kerung mit Zuwanderungserfahrung, wobei der Anteil ohne Schulabschluss bei den Deut­schen mit Zuwanderungserfahrung (19,4 %) und bei den Ausländer|inne|n (31,6 %) im Vergleich zur Bevölkerung ohne Zuwanderungserfahrung (3,0 %) deutlich höher ist (BA Mitte 2011, 24f.). Bei der Betrachtung des Berufsbildungsabschlusses im Berliner Ver­gleich zeigt sich, dass Berlin-Mitte mit 30,9 % stark unterdurchschnittlich liegt. Beim Hochschulabschluss mit 16,9 % befindet sich Mitte über dem Berliner Durchschnitt. Nach Migrationsstatus betrachtet, haben 54,6 % der Deutschen mit Zuwanderungserfah­rung und 67,2 % der Ausländer/innen keine Berufsbildung. Der Anteil ist mehr als zwei­mal so groß wie bei der Gruppe ohne Zuwanderungserfahrung (26,5 %). Zusätzlich liegt der Anteil mit Hochschulabschluss bei den Deutschen mit Zuwanderungserfahrung (15,3 %) und bei den Ausländer|inne|n (13,5 %) unter dem der Nichtmigrant|inn|en (18,9 %) (BA Mitte 2011, 28f.). Bezüglich der Erwerbstätigkeit befindet sich Berlin-Mitte mit 37,8 % im Berliner Vergleich auf den unteren Plätzen. Die Arbeitslosenquote ist mit 15,0 % in der bezirklichen Rangordnung relativ hoch. Der Anteil der Bevölkerung in Mitte, der Arbeitslosengeld I und II bezieht, liegt mit 17,3 % über dem Berliner Durchschnitt, wo­hingegen der Anteil der Bevölkerung, der von Rente oder Pension lebt, mit 18,0 % unter­durchschnittlich ist. Bei der Analyse nach Migrationsstatus fällt die niedrige Erwerbsbe­teiligung von Menschen mit Zuwanderungserfahrung (28,9 %) gegenüber denen ohne Zuwanderungserfahrung auf (45,7 %). Die Arbeitslosenquote bei den ausländischen Ar- beitnehmer|inne|n (26,3 %) ist wesentlich höher als bei den nichtausländischen Arbeit- nehmer|inne|n (16,5 %). Außerdem tritt der niedrige Anteil von Migrant|inn|en gegenüber den Nichtmigrant|inn|en hervor, der den Lebensunterhalt mithilfe von Rente oder Pension bewältigt (7,8 % vs. 27,2 %). Hingegen fällt der Anteil der Einwohner/innen mit Zuwan­derungserfahrung, die Arbeitslosengeld I oder II beziehen, deutlich höher aus (24,8 %) als bei denen ohne Zuwanderungserfahrung (10,6 %) (BA Mitte 2011, 30ff.). Die insgesamt prekäre wirtschaftliche Lage in Berlin-Mitte reflektiert das im Bezirksver­gleich niedrige durchschnittliche Nettoeinkommen von 800 € pro Monat. Die Einwoh- ner/innen in Mitte verdienen monatlich 150 € weniger als in Berlin insgesamt und verfü­gen im Berliner Vergleich am wenigsten. Wie bei den vorherigen Indikatoren sind Mig- rant|inn|en auch hinsichtlich des Nettoeinkommens benachteiligt. Ihnen stehen durch­schnittlich 525 € pro Monat zur Verfügung und damit deutlich weniger als Bewohner/in- nen ohne Zuwanderungserfahrung (925 €). Das niedrige durchschnittliche Nettoeinkom­men der Migrant|inn|en spiegelt die hohe Arbeitslosenquote und niedrige Erwerbsbeteili­gung in dieser Bevölkerungsgruppe wider (BA Mitte 2011, 39f.). Laut den Daten des Sozialstrukturatlas 2013 waren 15,2 % aller Berliner Einwohner/innen armutsgefährdet, wohingegen das Armutsrisiko bei Einwohner|inne|n mit Zuwanderungserfahrung sogar bei 27,2 % lag (GBE Berlin 2013, 18f.).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Berlin-Mitte in vielfacher Hinsicht ein wirtschaftlich und sozial benachteiligter Bezirk ist, obwohl es einige besser gestellte Wohngebiete gibt. Wie bereits im Abschnitt 2.1 erwähnt, sind Menschen mit Zuwande­rungserfahrung sehr heterogen. Dies trifft auch auf den Bezirk Berlin-Mitte zu, in dem nicht nur sozial benachteiligte Migrant|inn|en mit niedrigen oder fehlenden Bildungs- und Ausbildungsabschlüssen leben, sondern auch gut etablierte und integrierte Mig- rant|inn|en, deren Lebenssituation kaum von der Bevölkerung ohne Zuwanderungserfah­rung zu unterscheiden ist (BA Mitte 2011, 1).

2.3 Die gesundheitliche Lage derMigrationsbevölkerung

Migration bzw. Zuwanderungserfahrung beeinflusst die Gesundheit von Menschen so­wohl positiv als auch negativ. Obwohl Migrant|inn|en teilweise erhöhten Gesundheitsri­siken ausgesetzt sind, unterscheidet sich die Bandbreite der Krankheiten nicht signifikant von denen der einheimischen Deutschen. Trotz ihres niedrigeren sozioökonomischen Sta­tus lässt sich im Allgemeinen sagen, dass Menschen mit Zuwanderungserfahrung keinen schlechteren Gesundheitsstatus aufweisen und im Vergleich zur deutschen Bevölkerung ohne Zuwanderungserfahrung sogar über Morbiditäts- und Mortalitätsvorteile verfügen (Knipper und Bilgin 2009, 34; Razum et al. 2008, 31ff.). Auch wenn chronisch-degene- rative Krankheiten ebenso bei Migrant|inn|en zu den häufigsten Todesursachen zählen, ist die Mortalitätsrate bei Krebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen geringer als bei der Mehrheitsgesellschaft der Bundesrepublik (GBE Bund 2017, 1). Bei der Betrachtung der Krankenquoten9 kann Ähnliches festgestellt werden. Erreichte im Jahr 2017 die Quote für die autochthone Gesamtbevölkerung 14,8 %, lag sie für Menschen mit Zuwanderungser­fahrung bei 12,1 % (Statistisches Bundesamt 2019b, 125). Die Schwerbehindertenquoten befinden sich ebenfalls unter denen der einheimischen Gesamtbevölkerung (Razum et al. 2008, 49f.). Die Morbiditäts- und Mortalitätsvorteile sowie die sich unterscheidenden To­desursachenprofile können auch in internationalen sozialepidemiologischen Untersu­chungen festgestellt werden. Diese zeigen für Europa, Kanada und den USA, dass die Morbidität und Mortalität bei erwachsenen Menschen mit Zuwanderungserfahrung un­terschiedlicher Herkunftsländer erheblich geringer sind als bei der Allgemeinbevölkerung des Ziellandes (Razum 2009, 268ff.). Dieser Befund gilt - wie bereits erwähnt - ebenso für einige chronisch-degenerative Krankheiten, wie z.B. Herzkreislauferkrankungen, Atemwegserkrankungen, Diabetes mellitus und bestimmte Krebsarten (Spallek und Razum 2008, 274ff.). Dieses Phänomen ist hauptsächlich auf den Selektionseffekt im Herkunftsland zurückzuführen, dass nur robustere und belastbarere Menschen mit einem überdurchschnittlich guten Gesundheitszustand die Auswanderung auf sich nehmen. Die­ser Zusammenhang wird in der Epidemiologie als „Healthy-Migrant-Effekt“ bezeichnet und wird durch das wirtschaftliche Gefälle und die räumliche Distanz bestimmt. Er kann zumindest in der ersten Einwanderergeneration über viele Jahre bestehen bleiben und er­schwert somit die Interpretation von Gesundheitsdaten (Razum et al. 2008, 131; Schi- many, Rühl und Kohls 2012, 224). Darüber hinaus soll aber auch der „Healthy-Migrant- Effekt“ einerseits durch den „Salmon Bias“ und andererseits durch den „Late-Entry-Bias“ verstärkt werden, die vorliegen, wenn ältere und/oder für Krankheiten anfälligere Mig- rant|inn|en wieder in ihr Herkunftsland remigrieren. Infolgedessen können die Morbidi- täts- und Mortalitätskennziffern der Migrant|inn|en systematisch verzerrt werden, da sie nicht mehr von den deutschen Statistiken und in Studienpopulationen erfasst werden kön­nen (Spallek und Razum 2008, 277f.).

Aus diesem Grund wurde das klassische Konzept des „Healthy-Migrant-Effekts“ um das Erklärungsmodell des „gesundheitlichen Übergangs“ (Health transition) erweitert. Hier wird Migration aus einem ärmeren in ein wohlhabenderes Land als gesundheitlicher Übergang interpretiert (Spallek und Razum 2008, 278f.). Die durch den „Healthy-

Migrant-Effekt“ beschriebenen Morbiditäts- und Mortalitätsvorteile der Migrant|inn|en verschwinden kontinuierlich mit zunehmender Aufenthaltsdauer aufgrund des fortschrei­tenden Lebensalters, der Adaption an die vorherrschenden Umwelteinflüsse und Lebens­weisen sowie der kumulativen Gesundheitsbelastungen im Zielland (Okken, Spallek und Razum 2008, 404). Dadurch verringern sich die Unterschiede in den Krankheitsrisiken zur einheimischen Bevölkerung, insbesondere bei chronischen nichtübertragbaren Er­krankungen wie z.B. Diabetes Mellitus, oder nehmen bei bestimmten Krebsarten in der Bevölkerung mit Zuwanderungserfahrung sogar stärker zu (Knipper und Bilgin 2009, 35f.). Trotz der besseren hygienischen Bedingungen und medizinischen Behandlungs­möglichkeiten in Deutschland zeigt sich bei Migrant|inn|en ein erhöhtes Risiko für andere Krankheitsarten. Dies gilt vor allem für Müttersterblichkeit und Infektionskrankheiten wie HIV und Tuberkulose (Razum et al. 2008, 38ff.), aber auch für psychische Leiden wie z.B. Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen und psychosomatische Be­schwerden (Razum et al. 2008, 59f.; Spallek und Razum 2008, 271f.). Außerdem sind Migrant|inn|en häufiger von Arbeitsunfällen aufgrund starker physischer Beanspruchung betroffen (Spallek und Razum 2008, 273f.). Bedingt durch diese Belastungen leiden sie in viel stärkerem Maße an rheumatischen Erkrankungen und chronischen Lungenkrank­heiten (Razum et al. 2008, 100f.).

2.3.1 Die Morbidität und Mortalität von türkischstämmigen Migrant|inn|en

Die vorangegangene Darstellung der gesundheitlichen Lage von Menschen mit Zu­wanderungserfahrung stimmt im Wesentlichen auch mit den vorliegenden Befunden zur Morbidität und Mortalität von türkischstämmigen Migrant|inn|en überein.

Entsprechend des sozioökonomischen Panels für die Jahre 1984, 1994 und 2002 schät­zen türkischstämmige Migrant|inn|en mit fortschreitendem Alter ihren gegenwärtigen Gesundheitszustand als unzufriedener ein als einheimische Deutsche. Dies trifft insbe­sondere auf die Altersgruppen von 40 bis 64 Jahren und ab 65 Jahren sowie auf beide Geschlechter zu (Razum et al. 2008, 51). Seit den 1980er Jahren zeigt sich eine zuneh­mende Häufigkeit an Herz-Kreislauf-Krankheiten, Diabetes mellitus und Virushepatitis (Knipper und Bilgin 2009, 36f.; Razum et al. 2008, 38ff.). Die erhöhte Häufigkeit von Herzerkrankungen wird unter anderem mit Rauchverhalten, steigendem Fleischkonsum und pathologischen Blutcholesterinwerten erklärt. Diese epidemiologischen Befunde gel­ten aber als umstritten (Knipper und Bilgin 2009, 41f.). Die Ursachen für die zunehmende Häufigkeit von Diabetes mellitus sind vor allem Veränderungen im Lebensstil und 24 geringe körperliche Aktivität in Verbindung mit einer wenig vielseitigen, aber kohlen­hydratreichen Ernährung (Knipper und Bilgin 2009, 42). Die erhöhte Prävalenz der He- patitis-B-Infektion wurde durch epidemiologische Erhebungen belegt, obwohl Deutsch­land hinsichtlich dieser Virusinfektionskrankheit zu den Niedrigendemiegebieten gehört (Marschall et al. 2005, 2755). Der höhere Anteil an Infektionen beruht zum einen auf der höheren Häufigkeit des Virus in den Ländern Osteuropas sowie in der Türkei (insbeson­dere in Ostanatolien) und zum anderen auf der rasanteren Ausbreitung des Virus in der schon hier lebenden türkischstämmigen Bevölkerung (Knipper und Bilgin 2009, 42; Mar­schall et al. 2005, 2754f.; Razum et al. 2008, 41).

Besonders ältere Menschen mit türkischer Zuwanderungserfahrung, die als Arbeits­kräfte nach Deutschland kamen, weisen einen im Vergleich zur gleichaltrigen deutschen Bevölkerung ohne Zuwanderungserfahrung erheblich schlechteren Gesundheitszustand auf (Ulusoy und Gräßel 2010, 331f.). Sie sind dem Risiko chronischer Krankheiten, wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes Mellitus und Schlaganfall, zehn Jahre früher aus­gesetzt und zeigen eine höhere Prävalenz. Frauen dieser Bevölkerungsgruppe leiden über­durchschnittlich häufig an psychosomatischen Erkrankungen und schwerwiegenden ge­sundheitlichen Beeinträchtigungen (Ulusoy und Gräßel 2010, 331f.). Der schlechtere Ge­sundheitsstatus der älteren türkischstämmigen Arbeitnehmer/innen, der auch durch kör­perlich schwere und gesundheitsschädigende Akkord- und Schichtarbeit hervorgerufen wurde, ist ebenfalls in den Rentenstatistiken zu sehen, da sie signifikant häufiger und frühzeitiger infolge chronisch-degenerativer Krankheiten und gesundheitlicher Ver­schleißerscheinungen aus dem Berufsleben ausscheiden als autochthone deutsche Arbeit- nehmer/innen (Brzoska und Razum 2009, 151ff.; Razum et al. 2008, 47).

2.3.2 Die Morbidität und Mortalität von (Spät-) Aussiedler|inne|n

Im Vergleich zur deutschen und zur türkischstämmigen Bevölkerung ist die Mortalität bei (Spät-) Aussiedler/innen geringer (Becher et al. 2007, A1656f.; Knipper und Bilgin 2009, 36). Dies gilt sowohl für Herz-Kreislauf-Krankheiten als auch für Krebserkrankun­gen, wobei diese Bevölkerungsgruppe ein erhöhtes Risiko für Lungen- und Magenkrebs hat und häufiger den typischen Risikofaktoren wie geringe körperliche Aktivität, Adipo­sitas, hohe Blutfettwerte und Rauchen dieser Outcomes ausgesetzt ist (Knipper und Bilgin 2009, 9; Kyobutungi et al. 2006, 2582f.). Gegensätzlich dazu wird die Häufigkeit von Suiziden und Todesfällen aufgrund von zu hohem Alkohol- und Drogenkonsum als höher eingeschätzt (Becher et al. 2007, A1659f.; Knipper und Bilgin 2009, 43).

Hinsichtlich der Morbidität bei (Spät-) Aussiedler/innen zählen Zahn-, Infektions- und Magen-Darm-Erkrankungen sowie auch Herz-Kreislauf-Krankheiten und Unterleibsbe­schwerden zu den am häufigsten auftretenden Erkrankungen (Knipper und Bilgin 2009, 45ff.; Wittig et al. 2004, 88). Außerdem erkranken sie häufiger an Infektionskrankheiten wie Tuberkulose und Hepatitis als die einheimische deutsche Bevölkerung (Razum et al. 2008, 38ff.). Zudem haben umfassende Übersichtsstudien gezeigt, dass (Spät-) Aussied- ler/innen zur „Risikogruppe für psychische Erkrankungen“ gehören. Dies trifft vor allem auf diejenigen zu, die in den 1990er Jahren nach Deutschland einreisten (Knipper und Bilgin 2009, 44; Kornischka und Agelink 2007, A2511f.; Kornischka et al. 2008, 61ff.). Insbesondere haben (Spät-) Aussiedler/innen mit polnischer Herkunft eine besonders hohe Chance an psychischen Erkrankungen zu leiden im Vergleich zu anderen osteuro­päischen Ländern (Blomstedt, Johansson und Sundquist 2007, 8; Bayard-Burfield, Sundquist und Johansson 2001, 660ff.).

Bei der Betrachtung des subjektiven Gesundheitszustandes zeigen sich unterschiedli­che und interessante Befunde. Laut des sozioökonomischen Panels im Jahr 1995 sind (Spät-) Aussiedler/innen mit ihrer Gesundheit zufriedener als die autochthone deutsche Bevölkerung. Jedoch nahm fünf Jahre später bei der Befragung im Jahr 2000 die Zufrie­denheit ab und sank unter das Niveau der deutschen Vergleichsgruppe (Ronellenfitsch und Razum 2004, 3ff.). Aparicio et al. (2005, 110ff.) können diese Befunde aber nur teil­weise bestätigen. Bezeichnen (Spät-) Aussiedler/innen ihren Gesundheitszustand eben­falls als weniger gut bzw. schlecht, fiel deren Einschätzung umso negativer aus, je kürzer die Aufenthaltsdauer in Deutschland war. Auch den Untersuchungen von Merbach et al. (2003) zufolge geben (Spät-) Aussiedler/innen eine subjektiv schlechtere Gesundheit an als die deutsche Mehrheitsbevölkerung. Hierbei klagen (Spät-) Aussiedler/innen häufiger über gesundheitliche Beschwerden wie Kopfschmerzen, Erschöpfbarkeit, Glieder­schmerzen und Schwächegefühl als die einheimischen Deutschen, die in ihrer Häufigkeit mit dem Alter zunehmen (Merbach et al. 2003, 23ff.). Diese gesundheitlichen Beeinträch­tigungen sind eine Ausdrucksform der psychosomatischen Reaktionen und entstehen der Literatur zufolge durch den Migrations- und Akkulturationsprozess (Aparicio et al. 2005, 114; Wittig et al. 2004, 91).

2.4 Einflüsse auf den Gesundheitszustand von Migrant|inn|en

Das Lebenslaufmodell, welches die vorherigen Modelle des „Healthy-Migrant-Ef- fekts“ und des „gesundheitlichen Übergangs“ inhaltlich um die Lebenslaufperspektive ergänzt, stellt gesundheitliche Expositionen über die gesamte Lebensspanne hinweg als Determinanten für die Gesundheit dar, die sich akut oder erst im späteren Lebenslauf sowohl positiv als auch negativ auf gesundheitliche Outcomes (z.B. Mortalität, Inzidenz- raten, Gesundheitsstatus) auswirken können (Spallek und Razum 2008, 282ff.). Laut Spallek und Razum (2007, 452) lassen sich diese Faktoren in drei wesentliche Aspekte zusammenfassen: Bedingungen im Herkunftsland, Bedingungen während des Migrati­onsprozesses und Bedingungen im Zielland. In allen drei Aspekten können Menschen mit Zuwanderungserfahrung anderen Expositionen ausgesetzt sein als die Bevölkerung ohne Zuwanderungserfahrung, was die besondere gesundheitliche Lage von Migrant|inn|en mit begründet.

Zu den Bedingungen im Herkunftsland gehören unter anderem eine geringe Verfüg­barkeit und Qualität medizinischer Gesundheitsversorgung, schlechte Hygiene- und Le­bensbedingungen, anderes Gesundheits- und Ernährungsverhalten, höhere Prävalenzen spezifischer Infektionskrankheiten, aber auch Gewalt, Folter und Krieg (Spallek und Razum 2007, 452).

Unter den Bedingungen während des Migrationsprozesses zählen Rassismus, Hunger, Gewalt, schwierige Akkulturationsprozesse sowie Entwurzelung und Trennung von der Familie. Insbesondere Letztere stellen in Verbindung mit einer risikoreichen Reise in das Zielland eine hohe psychosoziale Stressbelastung dar und können zu psychischen Störun­gen führen (Razum und Spallek 2009, 4; Spallek und Razum 2007, 452, 2008, 283).

Hinsichtlich der Bedingungen im Zielland muss zwischen den Bedingungen kurz nach der Migration und denen, die noch Jahre nach der Migration andauern und generations­übergreifend sind, unterschieden werden. In die erste Kategorie können Fremdheitsge­fühl, Rassismus, unsicherer Aufenthaltsstatus, Arbeitsplatzunsicherheit, Trennung von der Familie sowie Sprach- und Informationsdefizite einbezogen werden. Hingegen sind ein niedriger sozialer Status oder sogar Statusverlust, Diskriminierung und erschwerte Akkulturationsbedingungen sowie auch Umweltfaktoren, wie z.B. höhere Sicherheit, bessere Hygiene und ein „besseres“ Gesundheitssystem, sofern dieses für Menschen mit Zuwanderungserfahrung zugänglich ist, in die zweite Kategorie einzuordnen (Spallek und Razum 2007, 452, 2008, 283).

[...]


1 Da der Terminus „Menschen mit Migrationshintergrund“ vor allem in den Medien oft mit einem negativen Beiklang verwendet wird, wurde im Bezirksamt Berlin-Mitte entschieden, auf die Verwendung dieser Ter­minologie zu verzichten. In dieser Arbeit wird stattdessen „Menschen mit Zuwanderungserfahrung“ ver­wendet (BA Mitte 2018, 13).

2 Zugewanderte Aussiedler/innen und Spätaussiedler/innen sind deutschstämmige Volkszugehörige, die aus einem (ehemaligen) Ostblockstaat in die Bundesrepublik Deutschland migrierten. Menschen mit pol­nischer und russischer Zuwanderungserfahrung werden jedoch nicht ausschließlich von (Spät-) Aussied- ler|inne|n repräsentiert, da sie eine sehr heterogene Bevölkerungsgruppe sind, die beispielsweise auch jüdi­sche Eingewanderte, sogenannte Kontingentflüchtlinge, umfasst (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019, 114ff.; Worbs et al. 2013, 21ff.). Identifizierte Befunde beziehen sich dennoch vorrangig auf (Spät-) Aussiedler/innen und stehen im Fokus des nachfolgenden Theorieteils.

3 Die Begriffe „Einwanderung“ und „Zuwanderung“ werden aufgrund marginaler Bedeutungsunterschiede synonym verwendet (Razum et al. 2008, 9).

4 Der Mikrozensus bezeichnet eine repräsentative Befragung der amtlichen Statistik über die Bevölkerung und den Arbeitsmarkt in Deutschland und wird jährlich bei einem Prozent der Privathaushalte durchgeführt (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019, 60).

5 Das ius soli-Prinzip (auch Geburtsort- oder Territorialprinzip) beschreibt die seit dem 1. Januar 2000 gel­tende Regelung, wonach Kinder ausländischer Eltern unter den Voraussetzungen des § 4 Abs. 3 StAG neben der ausländischen automatisch auch die deutsche Staatsangehörigkeit mit der Geburt erwerben (Bun­desamt für Migration und Flüchtlinge 2019, 218f.).

6 Das sozioökonomische Panel (SOEP) ist eine repräsentative Längsschnittbefragung zu Themen wie Haus­haltszusammensetzung, Bildung, Berufsbiografie, Einkommen, Gesundheit sowie Zufriedenheit von rund 14.000 Privathaushalten und etwa 30.000 Personen in Deutschland (einschließlich Ausländern mit Wohn­sitz in Deutschland, Neueingewanderten und Flüchtlingen), das seit 1984 mit demselben randomisierten Personen-Panel jährlich wiederholt wird (Britzke und Schupp 2018, 28).

7 Das Nettoäquivalenzeinkommen ist eine fiktive Rechengröße und stellt ein Pro-Kopf-Einkommen dar, das die Art des Haushaltes und das Haushaltsnettoeinkommen berücksichtigt, um das Wohlstandsniveau von Haushalten unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung vergleichen zu können (Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 170).

8 Die Bevölkerung mit Zuwanderungserfahrung setzt sich aus „Ausländer/innen“ und „Deutsche mit Zu­wanderungserfahrung“ zusammen. Der Terminus „Deutsche mit Zuwanderungserfahrung“ impliziert, dass die Lebenssituation dieser Personengruppe trotz deutscher Staatsangehörigkeit immer noch durch die Mig­ration oder die der Eltern geprägt ist (BA Mitte 2011, 3).

9 Die Krankenquote ist ein Indikator für den allgemeinen Gesundheitszustand und wird seit 2005 in einem Abstand von vier Jahren im Rahmen des Mikrozensus erhoben. Sie ermittelt, ob innerhalb der letzten vier Wochen vor der Befragung eine Krankheit vorlag. Eine befragte Person wird als krank kategorisiert, wenn sie ihre Alltagstätigkeiten nicht mehr ausüben konnte (Engels et al. 2011, 121).

Ende der Leseprobe aus 121 Seiten

Details

Titel
Medizinische Dienstleistungen und ihre Inanspruchnahme durch ältere Menschen mit Migrationshintergrund
Untertitel
Eine Querschnittsstudie anhand der LISA-II-Daten 2019 im Bezirk Berlin-Mitte
Hochschule
Technische Universität Chemnitz
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
121
Katalognummer
V1184528
ISBN (eBook)
9783346617873
ISBN (Buch)
9783346617880
Sprache
Deutsch
Schlagworte
medizinische Dientleistungen, Hausarzt, Facharzt, Inanspruchnahme, ältere Menschen, Migrationshintergrund, Berlin, Berlin-Mitte, Gesundheitsberichterstattung, Querschnittsstudie
Arbeit zitieren
David Reißig (Autor:in), 2020, Medizinische Dienstleistungen und ihre Inanspruchnahme durch ältere Menschen mit Migrationshintergrund, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1184528

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