Alles hängt irgendwie mit Allem zusammen! Ein kritischer Essay im Hinblick auf ein Unterrichtsvideo von Herzig und Nicolas


Essay, 2015

12 Seiten, Note: 8


Leseprobe


Der vorliegende Essay befasst sich mit einem Unterrichtsvideo von Bardo Herzig und Michael Nicolas, welches den Deutschunterricht einer 11.Klasse zeigt. Auf der Grundlage eines Seminars zum professionellen Lehrerhandeln sollen einige Leitfragen mit Blick auf das Video beantwortet werden. Der Essay gliedert sich wie folgt: Zunächst wird beschrieben, was im Video zu sehen ist, dann wird es im Hinblick auf die Fragen analysiert und interpretiert. Zum Schluss wird ein ausführliches Fazit gezogen.

Da Menschen subjektive Theoretiker sind (vgl. Plien, Christian: Handout subjektive Theorien, S.155 f.), hängt eine Interpretation stark von den Sozialisationsprozessen, Theoriekenntnissen, Meinungen und Einstellung mit Blick auf Schule und Unterricht derjenigen Person ab, die sie verfasst. Um trotz der Deutungsvielfalt die Wissenschaftlichkeit des Aufsatzes zu sichern, liste ich nachfolgend einige provokante Thesen und Grundüberlegungen auf, die den Schreibprozess begleitet haben, aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Allgemeingültigkeit erheben:

Der gezeigte Unterricht wurde schlecht vorbereitet, die Sachanalyse wurde nicht ordentlich durchgeführt. Diese These kann nicht nachgewiesen werden, da keiner die Lehrerin bei der Planung beobachtet hat. Der gehaltene Unterricht spricht aber dafür, dass es so ist.

Der Hoch- und Tiefstatus wird von der Lehrerin unangemessen verkörpert. Wann welcher Status angemessen ist, ist eine Frage, die man demnach beantwortet, wie man Autorität als solcher gegenübersteht ,welches Bild vom Schüler-Lehrer-Verhältnis zugrunde liegt und auch davon, wie man neuen, offenen Unterrichtsformen gegenübersteht.

Im Unterrichtsvideo überholt das Schülerwissen das Lehrerwissen. Ich behaupte, dass das grundsätzlich kein Problem ist, problematisch finde ich nur, wie die Lehrerin mit der Situation umgeht. Man kann hier sicher auch die (veraltete) Position vertreten, dass der Lehrer immer mehr wissen muss, als der Schüler. Ausgehend von meiner persönlichen Erfahrung am Montessori-Campus in Friedberg und der Kenntnis zahlreicher Studien, die sich mit Reformpädagogik befassen und ihre Wirksamkeit nachgewiesen haben, vertretene ich die alternative Position.

Wir benötigen eine Reform im Ausbildungssystem deutscher Lehrer. Auch hier beziehe ich mich auf meine Montessori-Erfahrung und auf die PISA-Ergebnisse der skandinavischen Länder. Die Vorstellung von einem eigenständig denken- und handelnden Schülersubjekt und dem Ziel einer Erziehung zu Mündigkeit und Partizipation sind maßgebliche Vorstellungen, die den Schreibprozess beeinflusst haben, auch vor dem Hintergrund der kritischen Theorie von Adorno Horkheimer und dem obersten Ziel, "dass Auschwitz nicht noch einmal sei" (Adorno, Theodor W.: Erziehung nach Auschwitz, S.155 ff.). Ich denke, dass gerade die Beschäftigung mit Kunst zu diesem Bildungsziele beitragen kann und Kunstunterricht als fächerübergreifende Aufgabe sich nicht mit der Einschränkung eines Stundenrasters verwirklichen lässt. Weiterhin beziehe ich mich auf Nora Sternfelds Überlegungen zum Zusammenhang von Pädagogik, Philosophie und Politik (Sternfeld, Nora: Verlernen vermitteln/ Dies.: Das pädagogische Unverhältnis) und auf die Kritik an der Zerstückelung der Lernzeit von Professor Ludwig Duncker (Duncker, Ludwig: Theorie der Schule und des Unterrichts, S.40-49).

Zuletzt sei noch darauf hingewiesen, dass eine Videoaufzeichnung die Wahrnehmung verfälscht. Zum einen können die Stimme durch technische Begebenheiten stark verfälscht sein, weshalb auf die Stimme, die beim professionellen Lehrerhandeln eine wichtige Rolle spielt, nicht eingegangen wird. Eine weitere Verfälschung der Situation ergibt sich daraus, dass durch die Kameraführung immer ein bestimmter Fokus gelegt wird und bestimmte Aspekte nicht gezeigt werden. Das Nichtgezeigte ist somit zum blinden Fleck dieser Schriftleistung prädestiniert.

In der Videosequenz ist der Einstieg in eine Unterrichtsstunde im Fach Deutsch zum Thema „Erörterung“ in einer 11. Klasse eines beruflichen Gymnasiums dargestellt. Die Lehrerin möchte in der Erarbeitungsphase, die sich an den Einstieg anschließt, anhand einer „Werbegrafik“ von Olivier Toscani mit den Schülerinnen und Schülern die Frage erörtern, wie weit Werbung gehen darf (vgl. Herzig, Bardo/ Nicolas, Michael: "Irgendwie hängt alles mit allem zusammen, 28 s). Der Übergang in die Erarbeitung gestaltet sich aufgrund von Kommunikationsproblemen zwischen Schülern, Lehrerin und der Werbegrafik als problematisch, da vom vorgesehenen Stundenverlauf abgewichen werden muss.

Schon die Abbildung der „Werbeanzeige“ sorgt für Probleme, da sie sehr unscharf zu sehen ist und damit den Charakter der Grafik nicht authentisch widerzugeben vermag (vgl.a.a.O., 12 s-28s) . Es wird nicht klar, ob dies auf die Qualität der Folie oder einen mangelhaften Zustand des Overheadprojektors zurückzuführen ist, in jedem Fall hätte es aber geholfen, den Medieneinsatz vorher auszuprobieren. Es wird sehr deutlich, dass die Lehrerin dies nicht vorher getan hat, da sie ihr Erstaunen über die schlechte Qualität nicht verbirgt, indem sie ständig die Folie am Projektor richtet und sich auch bei den Schülern häufiger entschuldigt (vgl.a.a.O., 12 s-25 s). Dadurch rutscht sie vom Hochstatus in den Tiefstatus (vgl. Plien, Christian: Handout Hoch- und Tiefstatus). In ihrer Nervosität spricht sie auch häufiger zur Wand als zu den Schülern, obwohl sie die Schülerinnen und Schüler mit dem Personalpronomen „euch“ anspricht (vgl. Herzig, Bardo/ Nicolas, Michael: "Irgendwie hängt alles mit allem zusammen!", 0-12s). Dieser Widerspruch von verbaler und nonverbaler Kommunikation sorgt bei den Jugendlichen für sichtbare Verwirrung (vgl.a.a.O., 1 min 4s - 1 min 6s). Die Lehrerin weist darauf hin, dass es sich um die Werbung einer bekannten Firma handelt, woraufhin einer der Schüler anmerkt, dass er nicht weiß, was das mit Werbung zu tun haben soll und interpretiert die Grafik schon, indem er die genannten Farben auf der Grafik als „Hautfarben“(vgl.a.a.O., 1 min 20 s-1 min 24s) bezeichnet . Dann folgt ein „Lehrerecho“ (vgl. a.a.O., 1 min 9s), d.h. sie wiederholt das vom Schüler Gesagte und fragt ihre Schüler dann nach weiteren Assoziationen zu der Werbung, ohne weiter auf die Schülermeinung einzugehen. Sie versucht, das „Frage-Antwort-Spiel“ zu spielen, um eine bestimmte Antwort zu bekommen, und wertet auf dem Weg Schülermeinungen, die nicht mit ihre eigenen übereinstimmen, ab. Die Schülerinnen und Schüler sind sich jedoch einig, dass es sich weniger um Werbung als vielmehr um eine (künstlerische) Thematisierung von Rassismus handelt (vgl.a.a.O., 1 min 30 s-7min). Die Lehrerin nimmt die Meinung ihrer Schülerinnen und Schüler nicht an, sondern will nach wie vor eine bestimmte Antwort hören, nämlich die Assoziation, die sie als Erstes hatte. Dabei unterstellt sie implizit, die Schülerinnen und Schüler hätten dieselbe Assoziation gehabt, bevor einer der Schüler das Thema Rassismus ansprach. Zwischendurch beschreibt die Lehrerin immer mal, was zu sehen ist („drei Herzen“, „drei Adjektive“), die Schülerinnen und Schüler sind aber permanent bei der Bildaussage, was die Lehrerin zwar feststellt (vgl.a.a.O., 2 min 45s-2 min 56 s), aber nicht unterbindet. Dann wird die gegensätzliche Meinungen offenbart, nämlich die Werbung sei gegen den Rassismus (vgl.a.a.O., 2 min 38s-2min 45s). Die Lehrerin reagiert verwirrt (vgl.a.a.O., 2 min 37s-2min 45s) und verliert aufgrund dieser Verwirrung die Kontrolle über ihren Unterricht, was ihr sichtlich widerstrebt (vgl.a.a.O., 2 min 50 s-2 min 56s). Die Lehrerin fragt dann, was für eine Firma United Colors of Benetton denn sei und lenkt damit wieder den Unterricht (vgl. a.a.O.,2 min 57 s-3 min) (Hochstatus). Ein Schüler beantwortet die Frage nüchtern mit „‘ne Modefirma“ (vgl.a.a.O.3 min-3min 4s). Sie legt ihm daraufhin ihre eigene erste Assoziation in den Mund, nämlich „Findest du also unvollständig!“ (vgl.a.a.O.,3 min 4s). Spätestens hier wird deutlich, dass Schüler und Lehrer völlig unterschiedliche Meinungen über den Unterrichtsgegenstand haben und die Lehrerin grundsätzlich eine bestimmte Antwort, nämlich ihre eigene, hören will. Alternativen duldet sie nur widerwillig. Sie geht davon aus, dass es sich tatsächlich um Werbung handelt und die Werbung eben dadurch, dass das beworbene Produkt – nämlich die Mode – fehlt bzw. durch Aufschrift der Farben nur in abstrakter Form präsentiert ist, für den Kunden interessant wird. Die Schüler beharren darauf, dass es in der Grafik um Rassismus geht (vgl.a.a.O.,3 min 14s-4min). Zum Ende der „Einstiegsphase“ hin gibt sie zu, sie habe „das“ geplant – wobei unklar bleibt, worauf sie mit dem Relativum verweist (Welche Aspekte der Grafik wollte sie angesprochen haben und auf welche Interpretation wollte sie hinaus?) - um über die Möglichkeiten und Grenzen von Werbung zu diskutieren (vgl.a.a.O.,4 min 3s -4 min 10s). Sie ist sich mit den Schülern zwar einig, dass es sich um eine provokative Anzeige handelt, beschreibt dann aber völlig aus dem Zusammenhang gerissen und ohne dass eine Intention dahinter deutlich wird andere Werbungen der Firma (vgl..a.O., 4 min 10s-5 min 20 s). Sie verhaspelt sich dabei oft und benutzt häufig Füllwörter, wodurch sie einen Tiefstatus bekommt (vgl.Plien, Christian: Handout Hoch und Tiefstatus). Die Lehrperson möchte dann von der Einstiegsphase in die Erarbeitungsphase überleiten, indem sie folgenden Impuls gibt: „Ich möchte jetzt mit euch erörtern, wie weit Werbung gehen darf!“ (vgl. Herzig, Bardo/ Nicolas, Michael: "Irgendwie hängt alles mit allem zusammen!", 5min 21s-5 min 26s). Eine Schülerin meldet sich dann und sagt, sie wolle lieber über Rassismus reden (vgl.a.a.O., 5 min 39s-6 min). Die Lehrerin überlegt laut und verhaspelt sich dabei öfter (vgl.a.a.O., 6 min -7 min) (Tiefstatus), gibt dann aber nach und es kommt zu einer Verlaufsabweichung aufgrund unerwarteter Schülerreaktionen.

Ich persönlich stehe unserem Schulsystem eher kritisch gegenüber und bevorzuge das skandinavische System. Zum einen sehe ich es nicht als notwendig an, dass der Lehrer vermittelt und alle dasselbe in derselben Zeit lernen, zum zweiten sehe ich die autoritäre Lehrerposition bzw. Autorität grundsätzlich als zweischneidiges Schwert an und zum dritten bin ich der Auffassung, dass eine Schule, in der es überwiegend um das Kognitive geht von der Vorstellung eines allseits gebildeten Menschen doch recht weit entfernt ist.

[...]

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Alles hängt irgendwie mit Allem zusammen! Ein kritischer Essay im Hinblick auf ein Unterrichtsvideo von Herzig und Nicolas
Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen  (Germanistik)
Veranstaltung
Selbstdarstellung und Kommunikation im Unterricht gestalten durch szenische Übungen. Ein Praxisseminar
Note
8
Autor
Jahr
2015
Seiten
12
Katalognummer
V1184657
ISBN (eBook)
9783346606174
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Professionelles Lehrerhandeln, szenische Übungen in der Lehrerausbildung, Unterrichtsmitschnitt analysieren, Kommunikation, Kommunikationsmodelle, Friedemann Schulz von Thun, Paul Watzlawick, Kommunikationsprobleme im Unterricht, Hochstatus und Tiefstatus, Analyse einer Unterrichtssequenz, Verlaufsabweichung, Unterricht beobachten
Arbeit zitieren
Jennifer Lauscher (Autor:in), 2015, Alles hängt irgendwie mit Allem zusammen! Ein kritischer Essay im Hinblick auf ein Unterrichtsvideo von Herzig und Nicolas, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1184657

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