Kooperation von Schule und Jugendhilfe im Kontext von Ganztagsschule. Mit Praxisbeispielen


Masterarbeit, 2020

83 Seiten, Note: 1,8


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Ganztagsschule
2.1 Definition Ganztagsschule
2.2 Rechtliche Strukturen der Ganztagsschule
2.3 FormenderGanztagsschule
2.4 Entwicklung der Ganztaggschule
2.5 Bildungschancen in der Ganztagsschule
2.6 Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen

3. Die Jugendhilfe
3.1 Definition: Jugendhilfe
3.2 Rechtliche Strukturen der Jugendhilfe
3.3 Grundsätze der Jugendhilfe
3.4 Institutionen derJugendhilfe

4. Kooperation von Schule und Jugendhilfe
4.1 Begriffsklärung: Kooperation
4.2 Rechtliche Strukturen der Kooperation
4.3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede
4.3.1 Gegenwartsbezogene Unterschiede TI
4.3.2 Die Geschichte der Schule und Jugendhilfe
4.4 Anlässe zur Kooperation
4.5 FormenderKooperation
4.6 ProblemeinderKooperation
4.7 Erfolgreiche Kooperation
4.8 Multiprofessionelle Kooperation

5. Praxisbeispielefür gelungenes Ganztagsschulkonzept

6. Empirische Daten
6.1 QuantitativeVerbreitung
6.2 StEG - Studie zur Entwicklung von Ganztagsschule
6.3 Ergebnisse zur multiprofessionellen Kooperation
6.4 Professionelle Kooperation von unterschiedlichen Berufskulturen an Ganztagsschulen - ProKoop

7. Diskussion.

Literaturverzeichnis

Abbildungen

Tabellen

Anhang

1. Einleitung

Durch die Einführung der Ganztagsschulen, die in Deutschland nach dem sogenannten PISA-Schock an Dynamik gewann, wurde die Jugendhilfe innerhalb der Schule wichtiger, weil die Kinder und Jugendliche mehr Zeit in der Schule verbringen, als sie es von jeher taten. Dies führt dazu, dass die Schule mehr dennje zu einer wichtigen Sozialisationsinstanz im Leben der jungen Menschen wird. Die Schulen sind jedoch auf die Probleme, die das soziale Miteinander von pluralen Interessen, unterschiedlicher Herkunft, Kultur, Religion und ökonomischer Ausstattung mit sich bringt, nicht eingestellt. Um diese Lage zu beherr­schen, benötigen die Schulen Unterstützung. In den Planungen eines kooperativen Miteinan­ders müssen die Umwelt und das Gemeinwesen der Schule berücksichtigt werden. Dafür braucht es Akteure, die verstärkt auf die Probleme im Schulalltag eingehen, um für das Wohl der Schülerinnen und Schüler zu sorgen. Hierbei wird immer die Jugendhilfe als Akteurin ins Spiel gebracht (Rausch, Berndt, 2012).

Um die Begriffe „Ganztagsschule“ und „Jugendhilfe“ verwenden zu können, wird zu Beginn dieser Arbeit die Struktur und die Entwicklung beider Institutionen erarbeitet. Danach können bereits Unterschiede und Gemeinsamkeiten hervorgehoben werden, weil gemein­same Wurzeln, unterschiedliche Geschichte und je eigene Rechtsgrundlagen aufeinander­treffen (Henschel, Krüger, Schmitt, & Stange, 2009). Außerdem wird die Entwicklung der Ganztagsschule und der Jugendhilfe näher betrachtet, um relevante Veränderungen anführen zu können. Denn diese Entwicklung ist durch ein öffentliches und politisches Interesse be­stimmt worden, das von weiterführender Relevanz sein kann. Dies wurde durch das 4-Mil- liarden-Euro-Bundesprogramm für die Bundesländer bzw. Kommunen deutlich, das bis zum Jahr 2007 für den Ausbau von Ganztagsschulen bereitgestellt wurde. Darüber hinaus besteht für diese Thematik Aufmerksamkeit seitens der Wissenschaft und der pädagogischen Praxis. Nach der PISA-Studie im Jahre 2000 wurde das Interesse zu den Ganztagsschulen zur Diskussion gebracht, weil die deutschen Schülerinnen und Schüler unter dem OECD-Durch- schnitt lagen (Bettmer F. , Maykus, Prüß, & Richter, 2007).

Daraus ergibt sich das Ziel dieser Arbeit, die Kooperation zwischen der Schule und der Ju­gendhilfe als Möglichkeit zu nutzen, um Wege zu finden, Bildungsmöglichkeiten zu öffnen. Konkret wird in dieser Arbeit folgende Forschungsfrage untersucht:

Inwiefern können durch die Kooperation von Schule und Jugendhilfe Bildungsmög­lichkeiten geöffnet werden?

Nachdem zuerst untersucht wird, wie die Ganztagsschule und die Jugendhilfe sich ent­wickelt haben und wie sie aufgebaut sind, werden im weiteren Verlauf die Kooperations­möglichkeiten zwischen beiden Akteuren untersucht. Zunächst wird die Ganztagsschule mit ihrer Definition, ihren rechtlichen Strukturen, den Formen der Entwicklung, den Bildungs­chancen und den Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen vorgestellt. Anschließend wird die Jugendhilfe dargestellt, ebenfalls zu Beginn mit ihrer Definition, ihren rechtlichen Strukturen und dann zu ihren Grundsätzen und in der Frage, welche Institutionen die Jugendhilfe bilden. Danach wird die Kooperation beider betrachtet, indem sie definiert und in ihren rechtlichen Strukturen untersucht wird. Welche Kooperationsformen, Anlässe und Probleme der Kooperation bekannt sind, wird ebenfalls erarbeitet. Dort stellt sich die Frage, wie eine Kooperation erfolgreich sein kann. Zudem werden mehrere empirische Befunde einbezogen, um festzustellen, wie der Forschungsstand in diesem Bereich ausfällt und ob Fortschritte bzw. Verbesserungen erkennbar sind. Sowohl der Forschungsstand zur Ganz­tagsschule an sich als auch Befunde zur Kooperation zwischen beiden Instanzen werden untersucht, um mit diesen Ergebnissen eine Diskussion zu führen. Die Arbeit wird mit einem Fazit abgeschlossen. Nachdem die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst worden sind, die Forschungsfrage wird beantwortet.

2. Die Ganztagsschule

Die Ganztagsschule fristete in Deutschland ungeachtet der Gesamtschuldiskussion der 1970er Jahre im internationalen Vergleich ein Schattendasein. Mit den schlechten Ergebnis­sen der ersten PISA-Studien wurde das Interesse an ihnen wieder entfacht. Die Diskussion um diese Ergebnisse traf auf einen demographischen Wandel mit immer deutlicher werden­dem Bedarf vieler Eltern nach einer Betreuung ihrerjüngeren Kinder und auf eine sich ent­wickelnde Kultur der Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe (Coelen & Otto, 2008a) Die Ganztagsschule war im 19. Jahrhundert eine übliche Form von Schule. Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich die Form der Halbtagsschule durch. Danach gab es bereits in der Weimarer Republik Formen der Schule, diejener der Ganztagsschule ähnlich waren, mit pädagogischen Ansätzen, die Ganztagsschulen forderten. Hier war es geplant, dass die erkannten Mängel des Schulsystems reduziert werden sollen. Es war eine pädagogische Ab­sicht, ein Gegenmodell zur Halbtagsschule zu gestalten, als es gegen Ende der 1960er Jahre, um zur Herstellung von Chancengleichheit beizutragen, vom Deutschen Bildungsrat emp­fohlen wurde. Jedoch blieb diese Diskussion aufgrund der Ähnlichkeit mit dem sozialisti­schen Schulmodell der DDR kontrovers. Während die meisten europäischen und auch Län­der außerhalb Europas sich vom System der Halbtagsschule abwendeten, blieb es in Deutschland bestehen. Mit Hoffnungen auf Veränderungen stieg das Interesse an Ganztags­schulen zum Ende des 20. Jahrhunderts. Die Umstellung auf eine Ganztagsschule soll nun­mehr eine Leistungssteigerung der Schülerinnen und Schüler bewirken, den Unterricht effektiver machen, eine Betreuung am Nachmittag versichern; damit sollen zugleich Mög­lichkeiten geschaffen werden, die Jugendhilfe und die Schule gleichzustellen, wodurch eine vielfältige Bildungslandschaft in Deutschland geschaffen werden mag. Dabei ist der Begriff „Ganztagsschule“ nicht eindeutig. So entwickelte sich eine Vielfalt von pädagogischen und politischen Intentionen. Es wird in den nächsten Abschnitten ein Überblick über die Ent­wicklung der Ganztagsschule gegeben. Als erstes wird sich des Gegenstands „Ganztags­schule“ und der verwendeten Begriffe, der aktuellen Modelle und pädagogischer sowie po­litischer Intentionen vergewissert. Danach werden einzelne Schwerpunkte in der Entwick­lung der Ganztagsschule thematisiert, sowohl die Aspekte aus der Perspektive der Schule als auch seitens der Jugendhilfe (Bettmer F. , Maykus, Prüß, & Richter, 2007).

2.1 Definition Ganztagsschule

Es ist zwar eine große Vielfalt an Ganztagsschulen vorhanden, doch gibt es einige Defini­tionsvorschläge, die helfen könnten, sie näher zu kategorisieren. Die UNESCO unterscheidet zwischen „Offener Schule“, „Ganztagsschule“ und „Tagesheimschule“. Die Offene Schule bietet Ganztagsangebote im Anschluss an den regulär bekannten Vormittagsunterricht. Während dessen vermischen die Ganztagsschule und die Tagesheimschule Vor- und Nach­mittagsangebote. Der Unterschied zur Tagesheimschule liegt im Angebot der längeren Be­treuungszeit (Holtappels H., 2006).

Der Ganztagsschulverband sieht die Ganztags- als eine Schule, die Aufgaben der Erziehung und des Unterrichts am Vor- und Nachmittag erledigt. Eine hohe Priorität besitzt das An­fertigen von Hausaufgaben während dieser Zeit. Dieser Verband hat Voraussetzungen formuliert, die erfüllt werden müssen, damit von einer Ganztagsschule gesprochen werden darf. Die Schülerinnen und Schüler müssen mindestens vier Tage und jeweils sieben Zeit­stunden anwesend sein und ein Mittagessen muss angeboten werden. Zwischen den Akti­vitäten am Vor- und Nachmittag muss ein Zusammenhang bestehen. Die alternative Gestal­tung des Unterrichts hat in Form von Projektarbeiten und Organisationsgruppen für Ange­botsgestaltungen unter der Aufsicht der Schulleitung stattzufmden (Appel, 2004a).

Die Kultusministerkonferenz (KMK) verfasste eine präzise Definition und formulierte drei Kriterien. Für die Schülerinnen und Schüler muss an mindestens drei Tagen in der Woche ganztägiger Unterricht stattfinden, wobei mindestens sieben Zeitstunden vorgeschrieben sind. Dazu ist das Anbieten eines Mittagessens verpflichtend und alle Nachmittagsangebote müssen von der Schulleitung überprüft werden (KMK, 2006).

Nachdem die Definition der Ganztagsschule benannt wurde, werden im nächsten Kapitel die rechtlichen Strukturen der Ganztagsschule aufgegriffen.

2.2 Rechtliche Strukturen der Ganztagsschule

Durch die Einführung der Ganztagsschule, vor allem wegen des einsetzenden Fördermittel­wesens, entstand ein Bedarf nach einer gesetzlichen Regelung (Richter, 2005, Bumke, 2005, Guckelberger, 2006, Broosch, 2007). Generell musste der Gesetzgeber die Regeln in der Schule, die in die Grundrechte der Schülerinnen und Schüler und deren Eltern eingreifen, durch ein Parlamentsgesetz eigenständig regeln. Dies wird nach der Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts bestimmt. Alternativ kann der Gesetzgeber die Regierung oder die zuständigen Minister oder Ministerinnen zum Beschluss einer Rechtsverordnung bevollmächtigen (BVerfGE 34, 165; 41, 251; 45, 400; 47, 46; 58, 257). Die wichtigsten getroffenen Regelungen müssen letztlich im Gesetz des Parlaments enthalten sein. Die rest­lichen Entscheidungen werden der Verwaltungsverordnung übergeben. Die Beschlüsse des Ministeriums und Regelungen durch die Verwaltungsverordnungen sind für die Anforde­rung des Gesetzesvorbehalts nicht ausreichend (Richter, 2008).

In der Regel sind die Kommunen Träger der Ganztagsschulen. Nach dem vermehrten Auf­kommen der Ganztagsschulen änderten sich die Träger nicht. So fällt der Beschluss über das Einrichten einer Ganztagsschule in den Kommunen, er bleibt gleichzeitig von einer Geneh­migung der Schulaufsichtsbehörde abhängig (§913 Schulgesetz NRW). In Rheinland-Pfalz wurde beispielsweise auf die staatliche Mitwirkung bei der Widmung von Ganztagsschulen verzichtet und dies den Kommunen selbst überlassen (Wunder, 2006).

Darüber hinaus wird vom Gesetzgeber vorgegeben, dass dem Einrichten einer Ganztags­schule durch einen repräsentativen Teil der Schule zugestimmt werden soll. Im normalen Fall ist das eine Schulkonferenz (§ 9II, III Schulgesetz NRW). Eine weitere Möglichkeit ist, dass der Gesetzgeber die Entscheidung der Schulaufsicht anvertraut und die Schulen bei der Entscheidung mitwirken. Diese Variante ist in Berlin in Betracht gezogen worden. Auf der Grundlage einer Abstimmung der Mehrheit der Schulkonferenz kann die Schule einen An­trag auf die Einrichtung einer Ganztagsschule stellen. Die Schulkonferenz hat hierbei ein Anhörungsrecht durch die Schulbehörde (§ 76 III Nr. 3 Schulgesetz Berlin). Es soll die Ein­richtung einer Ganztagsschule sowohl die Interessen der Schülerinnen und Schüler als auch der Eltern betreffen, woraus folgt, dass die Schulkonferenz einbezogen wird. Die Lehrkräfte haben keine Entscheidungsautorität über die Einrichtung einer Ganztagsschule, obwohl ihre Interessen wichtig sind. Auch für die übrigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wie päda­gogische Fachkräfte oder der Hausmeister/die Hausmeisterin ist keine Mitbestimmung vor­gesehen. Letzteres wird damit begründet, dass dies eine organisatorische Maßnahme sei und keine personelle oder soziale (Richter, 2008).

2.3 Formen der Ganztagsschule

In ihren Grundstrukturen hat sich die Ganztaggschule mittlerweile weitgehend ausdifferen­ziert. Das bedeutet, dass keine uniforme Ganztagsschule in Deutschland existiert. Beispiels­weise gibt es neben dem Begriff der Ganztagsschule Bezeichnungen wie „ganztägig arbei­tende Schulen“, „Schulen mit pädagogischer Mittagsbetreuung“ (Kultusministerium Hes­sen), „Formen von Ganztagsangeboten“ (Kultusministerkonferenz), „Ganztagsschulen in Angebotsform“ (Rheinland-Pfalz), „offene Ganztagsschule“ (NRW) oder „Ganztagsorgani­sationen“ (Coelen, 2006).

In der Ganztagsschule verbringen Schülerinnen und Schüler mehr Zeit als in Schulen mit einem Halbtagssystem. Dies haben die verschiedenen Modelle der Ganztagsschule gemein­sam. Sie unterscheiden sich in Inhalten und Strukturen der Organisation. Die Zeiten werden unterschiedlich genutzt. Dazu können folgende Beispiele gegeben werden: Die Angebote über den Vormittagsunterricht hinaus können sich unterscheiden, genauso wie die Instituti­onen, die diese Angebote unterstützten, zum Beispiel die Schule selbst oder andere Träger, namentlich die Jugendhilfe, die Volkshochschule oder Sportvereine. Ob aktiv beteiligte Mit­arbeitende oder ehrenamtliche Helferinnen und Helfer angestellt sind, ist ein weiteres Merk­mal. Außerdem ist die Häufigkeit der Angebote und deren Nutzung durch Gruppen von Schülerinnen und Schülern ein weiteres Unterscheidungsmerkmal (Bettmer F., Maykus, Prüß, & Richter, 2007)

Die KMK unterscheidet genauer zwischen Ganztagsschule und Formen von Ganztagsange­boten, weil es mehrere Variationen von Ganztagsangeboten gibt, was dazu führt, dass die Definition der KMK auf konkrete Institutionen nicht immer zutrifft. Die Kultusministerkon­ferenz unterscheidet zwischen drei Formen:

1. In der vollgebundenen Form der Ganztagsschule sind drei Tage in der Woche mit mindestens sieben Zeitstunden für alle Schülerinnen und Schüler verpflichtend.
2. Die zweite ist die teilweise gebundene Form, in der diese Verpflichtung nur für bestimmte Klassen oder Jahrgänge gilt.
3. In der dritten, der offenen Form, können die Schülerinnen und Schüler freiwillig das Angebot der Ganztagsschule nutzen.

Fraglich ist, woran Ganztagsangebote erkannt bzw. von Ganztagsschulen abgegrenzt werden können. Es gibt dafür zwei Unterscheidungsmerkmale:

1. Der Fokus bei Ganztagsangeboten liegt bei der Betreuung statt auf der Beschulung.
2. Die Ganztagsangebote werden nicht von der Schulleitung kontrolliert bzw. sie stehen in keiner Verbindung zur Schulleitung.

Die zeitlichen Bedingungen werden zwar erfüllt, aber es besteht aber nicht die Pflicht, von der Schulleitung überprüft zu werden (KMK, 2006).

Nachdem alle beschriebenen Konzepte und Merkmale von Ganztagsschulen und Ganztags­angeboten betrachtet wurden, können sie in vier Punkten unterschieden werden:

1. Der erste zentrale Aspekt, der die beiden voneinander unterscheidet, ist das Ausmaß der verpflichtenden Teilnahme. Wenn ein Ganztagsangebot für alle Schülerinnen und Schüler einer Klasse oder einer Jahrgangsstufe verbindlich ist, stehen noch mehr Räume zur Gestaltung des Unterrichts und der Angebote zur Verfügung. Bei einem Konzept hingegen, in dem sich einzelne Schülerinnen und Schüler ihre Angebote freiwillig aussuchen können, ist dies nicht der Fall. Bei Jahrgangsstufen oder Klas­sen, also ganzen Gruppen, können die Angebote mit dem Unterricht verknüpft werden. Somit sind bei offenen Ganztagsangeboten die Möglichkeiten, den Unter­richt am Vormittag mit den Angeboten am Nachmittag zu verknüpfen, limitierter als in der vollgebundenen Form der Ganztagsschule.
2. Der zweite Punkt ist mit dem ersten verknüpft und unterscheidet ein integratives und additives Konzept. In diesem Fall bedeutet integrativ, die Ingetration von nicht-un­terrichtlichen Inhalten in unterrichtliche und umgekehrt. Hingegen bedeutet additiv, dass beide Teile im Konzept der Ganztagsschule unverknüpft nebeneinander bleiben.
3. Das dritte Unterscheidungsmerkmal ist die Frage, wer die nicht-unterrichtlichen Angebote übernimmt. Diese können sowohl von der Schule selbst als auch von au­ßerschulischen Vereinen oder Verbänden übernommen werden.
4. Der vierte und letzte Aspekt bezieht sich auf den Ort, an dem die Angebote statt­finden sollen, der auf dem Schulgelände, im Schulgebäude oder an einem außer­schulischen Ort, z.B. einem Jugendzentrum, einer Sportanlage oder einem Verein gelegen sein kann.
Hier sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass Ganztagsschule und Ganztagsangebote vom Zusammenspiel dieser Strukturierungselemente geprägt werden (Oelerich, 2007).

Trotz der Heterogenität und der verschiedenen Grundstrukturen in der Organisation können gemeinsame Ziele und Aufgaben der Ganztagsschulen benannt werden. Es handelt sich um die folgenden:

- Die Förderung der Schülerinnen und Schüler in ihren schulischen Fähigkeiten und auch in darüber hinausgehenden Kompetenzen sollte intensiviert werden.
- Die wählbaren Angebote sollen über den Unterricht hinausgehen, beispielsweise sollen kulturell-musische Angebote wählbar sein.
- Es sollen Möglichkeiten geboten werden, die Freizeit gestalten zu können.
- Angebote zum sozialen Lernen, z.B. im Zusammenhang mit dem gemeinsamen Leben in der Schule, sollten angeboten werden.
- Eine stärkere Teilnahme an der Gestaltung des Schullebens seitens der Schülerinnen und Schüler sollte stattfinden.
- Weitere professionelle Pädagoginnen und Pädagogen sollten in den Schulalltag einbezogen werden.
- In den Schulalltag und in den Unterricht sollten unterschiedliche Lernformen eingeplant werden
- Eine zuverlässige und strukturierte Betreuung der Schülerinnen und Schüler außer­halb des Unterrichts sollte angeboten werden.
- Zuletzt sollten die Schulen mit anderen Trägern aus dem Bildungs- und Sozial­bereich kooperieren.

Es wird deutlich, dass trotz der Unterschiede in den Schwerpunkten die Ganztagsschulen bzw. Ganztagsangebote ihre Grundaufgaben in der Erziehung, Betreuung und Bildung sehen. Je nach Interesse und Ausgangslage wird der Schwerpunkt auf eine oder auch auf mehrere der oben genannten Positionen gelegt (Oelerich, 2007).

Es wurde, wird die Gesamtschulkontroverse der 1970er Jahre hinzugezählt, über Jahrzehnte der Ausbau von Ganztagsschulsystemen im politischen Kontext diskutiert. Zu den poli­tischen Begründungen der Gegenwart gibt es zwei Kontexte: den bildungspolitischen und den sozialpolitischen Kontext. In der bildungspolitischen Argumentation werden Ganz­tagsschulen als eine Chance gesehen, die Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler zu fördern und zu steigern, was hier im Gegensatz zur Halbtagsschule effektiver funk­tionieren soll. Außerdem sollen dieje eigenen Ausgangsbedingungen der Schülerinnen und Schüler für die Bildung und das Lernen in der Schule weitgehend ausgeglichen werden. Des Weiteren wird der Ausbau als eine Möglichkeit gesehen, die schulische Entwicklung zu fördern. Es wird zu einer Bildungsreform angeregt. Zuletzt soll durch den Ausbau ein Bildungssystem geschaffen werden, das schulübergreifend ist und gleichzeitig den Ausbau facettenreicher Bildungslandschaften fördert. In der sozialpolitischen Argumentation da­gegen steht ein ganztägiges Angebot der Betreuung der Schülerinnen und Schüler im Vordergrund. Der Grund hierfür ist die zunehmende Notwendigkeit einer gesichterten Betreuung, um das Familienleben und die Berufstätigkeit von beiden Elternteilen zu ermöglichen und zu gewährleisten. Die bildungs- und sozialpolitische Argumentation überschneidet sich in dem Punkt, dass die Erziehung von Kindern und Jugendlichen durch Ganztagsschulen und Ganztagsangeboten gestärkt werden soll. Dabei sollen beispielsweise das soziale Lernen, die Gesundheitsprävention und Medienerziehung etc. im Fokus stehen. Jedoch ist keine dieser Argumentationen neu. Neu ist die intensive Betonung des Ausbaus von Ganztagsschulen bzw. Ganztagsangeboten und dass diese unter dem Gesichtspunkt einer gewünschten Leistungssteigerung der Schülerinnen und Schüler betrachtet wird. Au­ßerdem gibt es eine deutliche Priorität in vielen Bundesländern, dass die Betreuung von Kindern und Jugendlichen an den Kontext Schule und nicht an den Kontext Jugendhilfe anknüpfen soll (Merchel, 2005).

2.4 Entwicklung der Ganztaggschule

Daraus resultiert, dass die Entwicklung der Ganztagsschule näher betrachtet werden sollte. In den folgenden Abschnitten werden zentrale Themen, die eine wichtige Bedeutung in der Entwicklung der Ganztagsschule, der politischen und der wissenschaftlichen Auseinander­setzung zu ihr besitzen, behandelt. Es wird Schulen, die von einem Halbtags- auf ein Ganz­tagssystem umstellen, besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass größere Zeitressourcen notwendig sind. Doch diese Zeit dient nicht als Verlängerung des Halbtagsunterrichts. Sie sind wichtig für Veränderungen, ob das Konzept offen oder gebunden ist, ist insoweit irrelevant. Neben den Pausen und dem Unterricht werden nicht­unterrichtliche Zeiten, in Form von frei gestaltbarer Zeit oder beispielsweise als Zeit für Sport und Kulturangebote, geplant und verfügbar gemacht. Ein Mittagessen ist vorgesehen. Diese Punkte sind zwar Veränderungen, müssenjedoch das Prinzip der Schule an sich nicht verändern. Es sind potentielle Ergänzungen zum klassischen Unterricht. Somit werden Mög­lichkeiten geschaffen, den klassischen Unterricht aufzufrischen, indem beispielweise die Zeiten neu strukturiert werden. Wichtig ist, dass diese Auffrischung sich den pädagogisch­didaktischen Vorgaben und Handlungen anpassen muss und nicht umgekehrt. Die Änderung der Rhythmisierung ist auf das schulische Lernen bezogen. Beispielsweise wird der 45-Mi- nuten-Takt abgelöst, um längere Lemphasen einzubauen (Kolbe, Rabenstein, & Reh, 2006). Bei einer großen Veränderung des Unterrichts sind die in 2.1 genannten Ideen der Ganztags­schuldiskussion relevant, z. B. die Integration der Lebenswelt von Schülerinnen und Schüler in die Schule und in den Unterricht. Doch die Einführung von Ganztagsschulen und Ganz­tagsangeboten verändert den Unterricht nicht automatisch, weil er auch von didaktischen Entscheidungen abhängig ist. Eine weitere Art der Veränderung betrifft das Personal. Es kommen neue Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an die Schulen, unter ihnen auch solche, die anderen pädagogischen Fachrichtungen folgen als die Lehrkräfte. Aufgrund der verlängerten Zeit, die die Schülerinnen und Schüler in der Schule verbringen, steigt die Verantwortung der Institution. Somit verändert sich nicht zuletzt die Beziehung zwischen der Schule und den Eltern der Schülerinnen und Schüler. Die Veränderung der Schulen durch die Einfüh­rung von Ganztagsschulen wird damit deutlich. Wie diese sich entwickeln, kann mit Hilfe von zwei Modellen beschrieben werden:

- Das erste Modell der Ganztagsschule ist vergleichbar mit dem einer klassischen Halbtagsschule, das um Betreuungs-, Förder- und Freizeitangebote erweitert wird.
- Das andere Modell beschreibt eine Schule, die von Grund auf in ihren Strukturen verändert wird, beispielsweise in der didaktischen Orientierung, den zeitlichen Strukturen und der Verknüpfung von Unterricht mit weiteren Angeboten.

Es ist zu beachten, dass die Entwicklung kein unabhängig sich vollziehender Prozess ist. Sie ist verknüpft mit der Modernisierung des Schulsystems, in dem die Bildungsstandards ein­geführt worden sind (Jürgens, 2006). Daraus folgt, dass auch Ganztagsschulen gefordert sind, einen gewissen Standard an Leistungen zu erreichen. Es ist dies eines von mehreren wichtigen Zielen dahin, mit der Entwicklung von Ganztagsschulen die Leistungen von Schü­lerinnen und Schüler zu verbessern. Die Relevanz dieses Ziels rückte mit dem schlechten Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler in internationalen Leistungstests immer mehr in den Vordergrund. Die weiteren Aufgaben, wie die Betreuung, das Mittagsessen oder Freizeitangebote werden nicht ignoriert. Sie werden nunmehr als „Fürsorge“ beschrieben und dazu dienen, ein positives Klima zu schaffen, um dadurch das Lernen der Schülerinnen und Schüler zu fördern (Rekus, 2005). In die Entwicklung der Ganztagsschule wird die Ju­gendhilfe einbezogen, um mit ihren Institutionen zu kooperieren. Was die Jugendhilfe ist und wie sie aufgebaut ist, wird im nächsten Kapitel näher erläutert.

2.5 Bildungschancen in der Ganztagsschule

Eine allgemeine Erwartung an die Schule ist es, dass sie Schülerinnen und Schüler sowohl Wissen als auch Können vermittelt (Prüß, 2008). Zudem soll sie dazu beitragen, dass die Kinder und Jugendlichen wichtige Verhaltensweisen entwickeln (MBWK, 2006). Eine gute Schule ergibt sich durch eine Ausbildung zur Selbst- und Sozialkompetenz, die mit der Aus­bildung der Methoden- und Fachkompetenz verknüpft werden soll. Die gebundene Ganz­tagsschule besitzt die Möglichkeit, die Ausbildung dieser Kompetenzen zu vermitteln, weil diese Art von Schule mehr Raum und Zeit, neue Inhalte und Unterrichtkonzepte, aber auch über entsprechendes Personal verfügen sollte.

Mittlerweile wird an die neue Schule der Anspruch gestellt, gleichzeitig ein Raum zum Auf­bau von kognitiven Fähigkeiten, zur Entwicklung von demokratischen Verhaltensweisen und ein Raum zum Schutz vor Gefährdungen und zur sicheren Unterstützung zu sein. Mit der Entwicklung der gesellschaftlichen, familiären und schulischen Bedingungen kann die Schule im klassischen Sinne diese Bedingungen nicht erfüllen. Das hat zur Folge, dass die Ganztagsschule als eine Bildungsinstitution Dimensionen der Bildung, Betreuung und Er­ziehung in Betracht ziehen muss. Die gebundene Ganztagsschule ermöglicht hierbei ein neues pädagogisches und didaktisches Vorgehen, das einerseits den Vor- und Nachmittag miteinander verknüpft, andererseits in der gezielten individuellen Nutzung durch alle Schü­lerinnen und Schüler besteht (Prüß, 2008). Dabei ergeben sich folgende potenzielle Faktoren der Arbeit an Ganztagsschulen für die Förderung der Entwicklung der Schülerinnen und Schüler:

- Förderung der individuellen Neigungen, Talente und Interessen mit Hilfe von geziel­ten außerunterrichtlichen Angeboten
- Erweiterung der Angebote individueller Förderung, die über die übliche Hausaufga­benbetreuung und Hausaufgabenhilfe hinausgeht
- Gestaltung eines Unterrichts, der die verschiedenen Fächer miteinander verbindet
- Weiterentwicklung von Projektarbeit und Verbindung von Unterricht mit Projekten
- Entwicklung von Erfahrungs- und Lemfeldern durch die Verknüpfung vom Alltag, dem Leben und der gesellschaftlichen Realität
- Erwerb von Kompetenzen und Eigenschaften, die für die Lebensbewältigung und Integration in die moderne Gesellschaft erforderlich sein können, beispielsweise die Förderung des Selbstbewusstseins, Übernahme von Verantwortung, Eigeninitiative oder auch soziale Kompetenzen
- Möglichkeiten zur Partizipation und Mitbestimmung im Unterricht und in der Schule (Holtappels, Klieme, Rauschenbach, Stecher, 2007; Lipski, 2007).

Unter Förderung wird in diesem Sinne das gezielte Unterstützen von Personen verstanden, hier der Schülerinnen und Schüler. Im klassischen Sinne bezieht sich die Förderung auf Kin­der und Jugendliche mit speziellem Förderbedarf, z. B. bei Lernschwierigkeiten oder Mig­rationshintergrund. In den Schulen wird dazu mit zusätzlichen Lernunterstützungen in Form von Förderkursen oder Förderunterricht Hilfe angeboten (Fischer, Mönks, Grindel, 2004). Doch eine weitere Diskussion bezieht sich im schulischen Kontext auf die individuelle För­derung von größeren Zielgruppen, z. B. Schülerinnen und Schüler mit Lernbehinderungen, jungem Migrationshintergrund oder Hochbegabung (Fischer, Westphal, Fischer-Ontrup, 2009). Hilbert Meyer sagt, dass individuelle Förderung bedeute, jeder Schülerin undjedem Schüler die Chance zu geben, ihr bzw. sein motorisches, intellektuel­les, emotionales und soziales Potenzial umfassend zu entwickeln und sie bzw. ihn dabei durch geeignete Maßnahmen zu unterstützen (Meyer, 2007).

Dazu sollten Situationen zum Lernen geschaffen werden, in denen Schülerinnen und Schüler mit individuellem Förderbedarf und/oder individuellen Lem- schwerpunktenihre Stärkenentfaltenundihre Schwächenkompensierenkönnen“ (ebd.).

Die individuelle Förderung bedarf somit einer anpassenden Änderung der schulischen För­derangebote an die Förderbedürfnisse der Schülerinnen und Schüler. In der Ganztagsschule kann durch passende Unterrichtsformen und -inhalte diese Förderung erreicht werden. Be­sonders durch zusätzliche Angebote mit pädagogischen Kooperationspartnern kann die in­dividuelle Förderung berücksichtigt werden. Um die individuellen Begabungen und das Po­tenzial ihrer einzelnen Schülerinnen und Schüler zu fördern, ist in der Zukunft der Ganz­tagsschule ein vielseitiges Förderprogramm notwendig, das sich nicht auf die bloße intellek­tuelle Leistungsfähigkeit konzentriert (Fischer & Ludwig, 2009).

Diese geplanten und erkannten Potenziale sind wichtig für die positive Entwicklung der Ganztagsschule im Hinblick auf ihre Ziele der Bildung, Erziehung und Betreuung. Ein wei­terer wichtiger Faktor ist es, die Bedürfnisse der Kinder- und Jugendlichen zu berücksichti­gen, die die Ganztagsschule besuchen sollen.

2.6 Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen

Obwohl die bereits genannten Argumente und Gründe für die Ganztagsschule eindeutig po­sitiv wirken, sind formulieren sie zunächst primär Belange von Erwachsenen oder gesell­schaftlicher Konstellationen. Die Kinder und Jugendlichen sind indes die wichtigsten Per­sonen in der Schule, was voraussetzt, dass ihre Bedürfnisse vorjenen der relevanten Inten­tionen der Sozialisation, der Erziehung, des Lernens oder der wichtigen Vorbereitung auf das Leben stehen (Appel, 2004), auch soweit sie sich nicht mit diesen decken sollten.

Wenn eine Ganztagsschule den Anspruch hat, kinder- undjugendgerecht zu handeln, ist es unumgänglich, sich mit den Schülerinnen und Schüler intensiv zu beschäftigen. Es muss gefragt werden, mit wem, wie, unter welchen Bedingungen und mit welchen Interessensbe­reichen die Schülerinnen und Schüler sich in der Ganztagsschule auf das Miteinander ein­lassen sollen. Dies sind die Hauptfragen, weil das Vernachlässigen des Bezugs zu den Kin­dern und Jugendlichen und ihre Einordnung in ein vorgeplantes System mit Zeiteinheiten, unpassenden Erfahrungsräumen und Angeboten, dafür sorgen müsste, dass sie ihre Jugend­zeit verlieren würden. Neben der wichtigen räumlichen Ausstattung, die zur Ganztagsschul­konzeption zählen sollte, muss mit der Zeit der Kinder und Jugendlichen verantwortungsvoll umgegangen werden. Um einen Überblick zu geben, werden die wichtigsten Kinder- und Jugendbedürfnisse aufgelistet (Appel, 2009a):

- Bedürfnis nach Entfaltung der persönlichen Fähigkeiten
- Wunsch nach kreativer Betätigung
- Bedürfnis nach Mitteilung
- Wunsch nach diversen sozialen Beziehungen.
- Bedürfnis des Kontaktes zum anderen Geschlecht bzw. des erotischen/sexuellen Co­ming-outs injeder denkbaren und legalen Konstellation
- Bedürfnis nach Spaß und Abwechslung
- Suche nach neuen Möglichkeiten und Bereichen des Lernens
- Entwickeln von Mitgestaltung und Mitverantwortung
- Erleben der eigenen Individualität
- Bedürfnis nach der Technikerfahrung und Interesse an Medien
- Wunsch nach Unbeschwertheit und Zwangslosigkeit
- Suche nach emotionaler Sicherheit und Geborgenheit
- Wunsch nach Aktivitäten und Bewegung
- Befreiung von Stress und Hektik
- Entwickeln eines Gruppengefühls
- Bedürfnis nach Selbstbesinnung, Selbstreflexion und Identitätsfindung
- Gelegenheiten für Lebensgenuss (z. B. Musik, Tanzen, Essen)

Es fällt auf, dass diese Bedürfnisse nicht schulfachbezogene Lemgegenstände sind, sondern altersbezogene Lebens- und Lembedürfnisse. Auch wenn die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen von den Erwachsenen akzeptiert werden, bedeutet dies nicht, dass ihnen sämt­lich im gleichen Ausmaß nachgegangen wird. Das Problem besteht darin, dass die Erwach­senen, also die Lehrkräfte und Eltern, aber auch entscheidende Träger in der Gesellschaft, die Bedürfnisse mit einer anderen Gewichtung betrachten. Darüber hinaus formulieren sie von ihnen wichtiger eingeschätzte Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungsbedürfnisse, letzt­lich auch die Nützlichkeit am Faktormarkt Arbeit, die nicht mit allen Bedürfnissen der Kin­der und Jugendlichen übereinstimmen können. Schließlich werden viele der aufgeführten

Bedürfnisse seitens der Erwachsenen als verzichtbar, nachrangig oder gar in moralischer Hinsicht fragwürdig eingeordnet (Appel, 2009b).

3. Die Jugendhilfe

Seit ihrer Entstehung in den 1920er Jahren haben sich die Jugendhilfe und die Schule unab­hängig voneinander entwickelt. Spätestens mit der PISA-Diskussion wurde wieder intensi­ver eine Zusammenarbeit angestrebt. Zu fragen ist zunächst, was ist die Jugendhilfe ist.

3.1 Definition: Jugendhilfe

Die Jugendhilfe wird als der Bereich der Erziehung gesehen, der die Ansprüche der Erzie­hung vonjungen Menschen aufnimmt, die nicht durch die Eltern oder seitens der schulischen und beruflichen Bildung gesichert werden können oder die durch deren Versagen entstehen. Außerdem besitzt sie eigene Formen der Organisation und Arbeitsmethoden sowie Verant­wortung. Es arbeiten Fachkräfte mit spezifischer Ausbildung (Münder, 1996). Seit den 1980er Jahren lassen sich die Prinzipien der Jugendhilfe wie folgt festhalten: Leistung statt Eingriff, Flexibilität statt Bürokratie und auch Prävention statt Reaktion (BMJFFG, 1990).

3.2 Rechtliche Strukturen der Jugendhilfe

Im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) sind die rechtlichen Strukturen der Jugendhilfe zu finden. Dieses Gesetz ist als achtes Buch in das Sozialgesetzbuch (SGB VIII) integriert worden, weshalb auch die allgemeinen Grundsätze des Sozialgesetzbuches für die Jugend­hilfe wichtig sind. Im Vergleich zum älteren Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG), das bis 1990 in Kraft war, formuliert das KJHG keine eigenen zwingenden Maßnahmen der Jugendhilfe gegenüber Sorgeberechtigten oder nicht Volljährigen. Jedoch ist die Durchführung einer Unterbringung als Hilfe zur Erziehung möglich. Außerdem ist die Jugendhilfe auch für see­lisch behinderte Kinder und Jugendliche und für junge Volljährige zuständig (Krüger &

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Rechtliche Strukturen der Jugendhilfe - die äußere Einbindung (Henschel, Krüger, Schmitt, & Stange, 2009). 16

Wie aus Abbildung 1 zu erkennen ist, ist das Kinder- und Jugendhilfegesetz sowohl mit dem

Sozialgesetzbuch X im Verwaltungsverfahren, dem Sozialgesetzbuch I im allgemeinem Teil, im Grundgesetz, Artikel 6, 20 und 74, und mit den Landesausführungsgesetzen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Rechtliche Strukturen des KJHG - innere Strukturen. (Henschel, Krüger, Schmitt, & Stange, 2009).

In Abbildung 2 ist zu erkennen, welche rechtlichen Leistungen und Aufgaben im Kompe- tenzberreich der Jugendhilfe liegen. Ihre Grundsätze werden im Folgenden näher beschrieben.

3.3 Grundsätze der Jugendhilfe

Die zentrale Aufgabe der Jugendhilfe besteht darin, den jungen Menschen das Recht auf eine fördernde Entwicklung und Erziehung sicherzustellen. Eine weitere Aufgabe ist eine Kontrolle der Eltern, die sich ihrer Verantwortung in der Erziehung nicht hinreichend be­wusst sind. Darüber hinaus soll sowohl den Familien als auch den jungen Menschen eine familien- und kinderfreundliche Umwelt geschaffen bzw. aufrechterhalten werden. Die Leistungen werden regelmäßig von freien Trägem wie Jugendverbänden, die Kosten von öffentlichen Jugendhilfeträgem übernommen, die auch mit der Schule und der Schulverwal­tung Zusammenarbeiten müssen (Henschel, Krüger, Schmitt, & Stange, 2009)

Seit Jahrzehnten nimmt die Individualisierung der Lebensführung zu, eine Pluralisierung von Lebensverhältnissen findet statt. Damit sind folgende Punkte verbunden:

- Auflösung von Orientierungs- und Handlungsperspektiven
- Grundsätzliche Normen und Werte werden in Frage gestellt.
- Familiäre Lebensformen verändern sich.
- Bedeutung der Familie als Mitverantwortliche und als Sozialisationsinstanz für die Integration nimmt ab.

Somit ist es eine weitere wichtige Aufgabe der Jugendhilfe, die Kinder und Jugendlichen dahingehend zu fördern und zu unterstützen, sich in die ständig verändernde Welt positiv integrieren zu können. Dies führte dazu, dass die Jugendhilfe in den vergangenen Jahren mehrere Handlungsfelder schuf, um auf verschiedene Zielgruppen und Probleme eingehen zu können. Diese Handlungsfelder werden beispielsweise durch Trägergruppen oder Selbst­hilfegruppen betreut (BMJFFG, 1990). Doch eine klassische soziale Unterscheidung von Kindern und Jugendlichen, um diese den Handlungsfeldern oder Zielgruppen zuordnen zu können, ist nicht mehr möglich. Aufgrund von demografischen Entwicklungen, regionalen Zugehörigkeiten, unterschiedlichen Förderungen in Form von Kinder- und Wohngeld, räum­licher Versorgung in Bezug auf die Kosten in den regionalen Ballungszentren werden die Lebenslagen der Kinder und Jugendlichen beeinflusst. Es können keine bestimmten Aussa­gen für Altersgruppen gemacht werden, weil diese in einer Region zutreffen, in einer ande­ren wiederum nicht. Dieser Prozess der Differenzierung ist eher strukturell geprägt. Neben ihr wird ein Prozess deutlich, der als Individualisierung der Lebensführung bezeichnet wird. Folgende Bereiche sollen in ihrer Bedeutung zugenommen haben:

- Jugend als selbstständige Lebensphase
- Freizeit- und Arbeitsverhalten
- Bezugsgruppen
- Einstellungen zu Partnerschaften
- EheundFamilie

Bereits im achten Jugendbericht des Bundesministeriums für Frauen und Jugend (1990) wur­den Strukturmaxime beschrieben, die auch in den aktuellen Jugendberichten erwähnt und zitiert werden (BMJFFG, 1990, BMFSFJ, 2014). Diese lauten folgendermaßen:

- Prävention
- Dezentralisierung/Regionalisierung der Leistungsangebote
- Orientierung im Alltag in den institutionellen Settings und in den Methoden
Zugänglichkeit im Alltag
Situationsbezogenheit Ganzheitlichkeit
- Integration - Normierung
- Partizipation
- Lebensweltorientierung

Damit sind Standards benannt, an denen sich die Jugendhilfe messen lassen muss. Insbeson­dere der öffentliche Träger der Jugendhilfe, das Jugendamt, muss sich an diesen ausrichten, weil er sonst sein Handeln begründen müsste und somit unter Begründungsdruck geraten würde. Diese Standards gelten für alle Träger. Zudem besitzt die Jugendhilfe eine doppelte Aufgabe. Auf der einen Seite muss sie die Interessen von Kindern und Jugendlichen vertre­ten, bei Problemen in der Erziehung und Entwicklung beraten und bei anderweitigen Prob­lemen pädagogische Hilfe anbieten. Auf der anderen Seite muss sie Kontrollaufgaben über­nehmen. Diese Aufgaben werden in §8 SGB VIII beschrieben (Krüger & Zimmermann, 2009). Das Jugendamt kann diese Aufgaben nicht alleine übernehmen. Wie die Jugendhilfe unterteilt wird, soll das nachfolgende Kapitel beschreiben.

3.4 Institutionen der Jugendhilfe

Es sind einige Institutionen, die die Aufgaben der Jugendhilfe übernehmen. Sie können in öffentliche und freie Träger unterteilt werden. Die folgende Abbildung gibt einen Überblick zu dieser Thematik.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Träger der Jugendhilfe (Henschel, Krüger, Schmitt, & Stange, 2009).

Dazu sollte erwähnt werden, dass öffentliche Träger als Behörden arbeiten, die ihre Auf­gaben aufgrund einer rechtlichen Vorschrift erfüllen. Ein Zugang zu ihnen ist der Allge­meinheit erlaubt. Freie Träger hingegen dürfen ihre Aufgaben eigenständig bestimmen. Ein Zugang für Dritte wird nur erlaubt, wenn dies gewollt oder von der öffentlichen Hand verlangt wird. Die öffentlichen Träger werden noch weiter in überörtliche und örtliche Träger unterteilt. Die überörtliche Träger richten ein Landesjugendamt ein, während örtliche Träger ein Jugendamt zu führen haben. Beide sind in Bezug auf ihre Strukturen untypisch für eine Behörde. Sie setzen sich zusammen aus einer Verwaltung des Jugendamtes und dem Jugendhilfeausschuss. Außerdem sind die Jugendhilfeträger frei, aber mit der Zeit bilden sich ähnliche Strukturen in den Kommunen, welche bei folgender Abbildung deutlich wird:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Abteilungen der Jugendhilfe (Henschel, Krüger, Schmitt, & Stange, 2009).

Nach Reformen in der Verwaltung wurden Jugendämter in ihren Fachbereichen verändert oder sie bilden mit dem ehemaligen Sozialamt einen Fachbereich. Im rechtlichen Sinne bleibt das Jugendamt bestehen, wird nun aber Fachbereich gennant.

[...]

Ende der Leseprobe aus 83 Seiten

Details

Titel
Kooperation von Schule und Jugendhilfe im Kontext von Ganztagsschule. Mit Praxisbeispielen
Hochschule
Universität Duisburg-Essen
Note
1,8
Autor
Jahr
2020
Seiten
83
Katalognummer
V1184769
ISBN (eBook)
9783346616609
ISBN (Buch)
9783346616616
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schule Jugendhilfe Kooperation Bildungswissenschaften
Arbeit zitieren
Muhammed Ucar (Autor:in), 2020, Kooperation von Schule und Jugendhilfe im Kontext von Ganztagsschule. Mit Praxisbeispielen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1184769

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