Alter und HIV/AIDS - Existenzsicherung, Moralität und Rollenwandel im Mwanga District Nordtansanias


Magisterarbeit, 2008

80 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Danksagung

I Einleitung
1. Zielsetzung und Fragestellung
2. Aufbau der Arbeit und allgemeine Anmerkungen
3. Forschungsstand und Quellenlage
3.1 Ethnologische Forschung zum Thema HIV/AIDS
3.2 Ethnologische Alternsforschung und Gerontologie
3.3 Quellenlage und Literatur
4. Theorien zu Rollen und Status alter Menschen
4.1 Theorien zur Kontinuität von Rollen im Alter
4.2 Theorien zum Status alter Menschen

II Grundlagen der Feldforschung in Mwanga
1. Forschungssituation
2. Ort der Feldforschung: Mwanga
3. Auswahl der Informanten und Zusammensetzung des Samples
4. Methodik

III Ethnographische und regionale Rahmenbedingungen und soziale Transformationsprozesse
1. HIV/AIDS
1.1 HIV/Aids in Mwanga bzw. Tansania – Zahlen und Fakten
1.2 HIV-Infektionen im Alter und andere gesundheitliche Aspekte
1.3 Alte Menschen in der Entwicklungszusammenarbeit und AIDS-Politik
AIDS-Politik Tansanias
Alte Menschen in der AIDS-Politik und Entwicklungszusammenarbeit
2. „Alt sein“ bei den Pare
2.1 Definition von Alter und „mzee“
2.2 Traditionelle Rollen alter Menschen und deren Wandel
Politische Rolle
Beraterfunktion und juristische Rolle
Wirtschaftliche Rolle
Familiäre Rollen
Religiöse Rolle
Pädagogische Rolle
Kontinuität oder Rückzug?
2.3 Status alter Menschen bei den Pare
2.4 Staatliche Vorsorge und moderne Vorsorgesysteme
2.5 Traditionelle Systeme der Alterssicherung
Fürsorgeverpflichtung der Kinder – die „filial obligation“
Patrilokalität
Polygynie und serielle Polygamie
Levirat/Witwenerbe und Erbschaft
Clansystem
Die Rolle der Großfamilie

IV Einfluss von HIV/Aids auf das Leben alter Menschen
1. Existenzsicherung
1.1 Zusätzliche finanzielle Belastungen
Pflege von AIDS-Patienten
Beerdigungen
Versorgung der Waisenkinder
1.2 AIDS und traditionelle Existenzsicherungssysteme
AIDS und Existenzsicherungsmechanismen der Kernfamilie
AIDS und die Rolle der Großfamilie
1.3 Innovationen, Lösungsstrategien und die Rolle moderner Institutionen
Einkommensgenerierende Aktivitäten
Beerdigungsvereine
„Unconditional Cash Transfer“ und die staatliche Verantwortung
Internationale Entwicklungszusammenarbeit und NROs
Christliche Institutionen
Muslimische Institutionen
2. Rollenwandel
2.1 Wandel elternspezifischer Rollen
2.2 Wandel der Großelternrolle
Aus Spaß wird Ernst – Wandel der Autorität
Die pädagogische Rolle: Großeltern als Aufklärer?
Großeltern als Versorger
2.3 Wandel der außerfamiliären Rollen
Rollenwandel durch Isolation
Übertragung familiärer Rollen auf außerfamiliäre Kontakte
3. HIV/AIDS, Alter und Moralität
3.1 Fürsorge: Moralische Verpflichtung, Egoismus oder Altruismus?
AIDS und Fürsorgeverpflichtungen als Eltern
Verantwortungen bei Versorgung der Enkelkinder
Individualismus versus Familismus
Fazit: Grundlagen für Fürsorge
3.2 Moral, Schuld und Bestrafung
Schuld ist das Fremde?
Schuld in der eigenen Gesellschaft
Sanktionen und Lösungsvorschläge
3.3 Moral und Stigmatisierung

V Zusammenfassung
1. Existenzsicherung
2. Rollenwandel
3. Moralität
4. Fazit

VI Literaturverzeichnis

VII Anhang
Anhang A: Tansania, Kilimanjaro Region und der Mwanga Distrikt
Anhang B: Informantenverzeichnis
Anhang C: Tabellen und Grafiken

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Danksagung

Ich danke Herrn Prof. Dr. Bollig für die Betreuung dieser Arbeit, die ich stets als konstruktiv, freundlich und motivierend empfand. Ebenso bin ich allen Menschen in Mwanga zu Dank verpflichtet, die mich bei meiner Feldforschung unterstützt haben (bzw. mir ein zweites Zuhause gegeben haben), allen voran meinen Informanten, aber auch meinem Übersetzer Nasibu, Wilson Kivuyo, Mama Halima, Anna von KIWAMWAKU, Mama Rahimu, Mama Leyla, Fatuma und Grace Msafiri.

Ganz besonders möchte ich mich bei Carmen Blenke bedanken, meiner Mitleidenden, Nebensitzerin, Motivationstrainerin, Korrekturleserin und amüsanten Gesprächspartnerin in den vielen Pausen in der Bibliothek. Des weiteren bin ich Olga Prede und Katrin Schneider für die sorgfältige und schnelle Korrektur von Herzen dankbar. Besonderer Dank gilt außerdem Dirk Donakowski für seelische und moralische Unterstützung, das Aushalten meiner Launen, Aufmunterungen, Korrekturlesen und die besten Latte Macchiato der Welt.

Rückblickend auf mein Studium danke ich außerdem meiner Mutter und meinen Großeltern für ihre Unterstützung. Besonders danke ich meinem Vater, dem ich diese Arbeit widmen möchte.

I Einleitung

Die Welt wird immer älter: Der Fakt der demografischen Alterung ist heute hinlänglich bekannt und wird vielfach diskutiert, Auswirkungen analysiert und nach Lösungen gesucht. Weniger bekannt ist, dass auch die sogenannten „Entwicklungsländer“ von diesem Prozess betroffen sind. Während man heute in Afrika davon ausgeht, dass 3,1% der Bevölkerung über 60 Jahre alt ist, prognostiziert United Nations (UN) bis zum Jahr 2050 einen Anstieg auf 11,4% (UN/ESA 2007:9). Für Ostafrika im Speziellen wird in der Zeit von 1980 bis 2050 ein Anstieg der Menschen über 75 Jahren um 434% erwartet (Apt 2001:1).

Aus diesem Grunde verwundert es nicht, dass alte Menschen in den Entwicklungsländern immer mehr in das Blickfeld von Politik und Forschung rücken, primär mit dem Fokus auf materielle Altersversorgung und Armut. Während der wachstumsorientierten Entwicklungspolitik der 1970er Jahre wurde noch angenommen, dass allgemeine wirtschaftliche Entwicklung automatisch auch alte Menschen erreiche. Außerdem ging man davon aus, dass traditionelle Versorgungssysteme in der Lage seien, das Problem der Altersversorgung aufzufangen und familiäre Lösungen zu finden (Jensen 1998:185). In Zeiten der demografischen Alterung aber auch von niedrigen Wachstumsraten und veränderten Familienstrukturen ist es allerdings heute fraglich, inwieweit Traditionen noch greifen und ob die Versorgung der Senioren noch gewährleistet ist.

AIDS – ein Thema, das im Gegensatz zur demografischen Alterung meist direkt mit Afrika verknüpft wird – wirkt in dieser Problematik wie ein Katalysator: Zum einen verstärkt diese Pandemie die gesellschaftliche Alterung, sie greift zum anderen Familienstrukturen zusätzlich an und löst allgemeinen gesellschaftlichen Wandel aus. Armut, AIDS, Alter – Themen die in Bezug auf Afrika nicht weiter getrennt betrachtet werden können.

Die vorliegende Arbeit beschreibt auf Basis einer Feldforschung die Situation und das Leben alter Menschen im Kontext von AIDS exemplarisch für den Mwanga Distrikt im Norden Tansanias. Dabei sollen allerdings nicht nur die materielle Versorgung und Altersarmut Beachtung finden, vielmehr wird einen Schritt weiter gegangen: Es wird aufgezeigt, dass AIDS das Leben, das Denken und das Verhalten alter Menschen auf den unterschiedlichsten Ebenen beeinflusst.

1. Zielsetzung und Fragestellung

Im Sinne einer explorativen Studie war die Feldforschung sehr breit und von der Fragestellung her flexibel angelegt. Im Nachhinein wurden die aussagekräftigsten Ergebnisse unter den drei Schlagworten 'Existenzsicherung', 'Rollenwandel' und 'Moralität' zusammengefasst. Diese drei Themengebiete beschreiben die drei Ebenen, auf der sich die Untersuchung bewegt:

a) Welchen Einfluss hat AIDS auf das Überleben/auf die Versorgung älterer Menschen? Auf dieser Ebene liegt der Fokus auf der materiellen Versorgung, also auf der Befriedigung der Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Gesundheit. Hiervon abgeleitet ist ein Ziel,
die zusätzlichen Belastungen alter Menschen durch AIDS zu analysieren. Darauf aufbauend sollen die existierenden traditionellen Systeme der Alterssicherung untersucht werden, ob sie die zusätzlichen Belastungen tragen können oder ob andere (neue) Institutionen diese Aufgabe übernehmen können/müssen.
b) Welchen Einfluss hat AIDS auf das soziale Netzwerk alter Menschen? Wandeln sich Beziehungen und ihre Rolle im sozialen Umfeld? Hierfür wurde sowohl untersucht, welche Rollen durch AIDS an Bedeutung verlieren, als auch welche neue Rollen alte Menschen annehmen.
c) Welche Vorstellungen, Werte und Normen bestimmen das Verhalten und Denken alter Menschen im Kontext von AIDS? Dabei stehen zum einen die Fürsorgebeziehungen im Mittelpunkt und die Frage, welche Moralvorstellungen ihnen zu Grunde liegen und ob hier Wandel zu beobachten ist. Zum anderen soll die moralische Beurteilung von AIDS durch die Senioren beleuchtet sowie deren Lösungsstrategien aufgezeigt werden.

Das Thema „Alter und AIDS“ ist komplex und die einzelnen Aspekte sind kaum von einander zu trennen. Diese Arbeit hat keinen Anspruch auf erschöpfende Behandlung der jeweiligen Fragen, sie soll Tendenzen und grundlegende Zusammenhänge aufzeigen und Ansatzpunkte für weitere, tiefer gehende Forschung oder Untersuchungen liefern.

Wichtig ist, dass die Senioren in Mwanga nicht in ihrer Opferrolle beschrieben werden sollen, sondern als Akteure, die agieren, reagieren und zu Innovationen fähig sind. Im Sinne eines akteurszentrierten Ansatzes war der Ausgangspunkt dieser Arbeit das Alltagsleben und die persönliche Perspektive der Interviewpartner.

2. Aufbau der Arbeit und allgemeine Anmerkungen

Die vorliegende Arbeit besteht aus vier großen Themenblöcken. Der erste Teil führt in die Fragestellung ein und beleuchtet die bisherige Behandlung des Themas in der Literatur und Wissenschaft. Außerdem sollen hier theoretische Bezugspunkte erörtert werden. Im zweiten Kapitel wird der Ablauf und die Methodik der Datenerhebung skizziert sowie das strukturelle Umfeld der Feldforschung beschrieben. Der Ort der Feldforschung (Mwanga/Tansania) wird porträtiert und sowohl positive als auch negative Einflüsse auf die Datenerhebung dargelegt.

Das dritte Kapitel basiert bereits zu weiten Teilen auf den erhobenen Daten und betrachtet die beiden Themenblöcke 'AIDS' und 'Alter' separat voneinander und legt damit den Grundstein für die weitere Analyse. Relevante Aspekte beider Bereiche werden beschrieben und kultureller und gesellschaftlicher Wandel wird verdeutlicht.

Das vierte Kapitel bildet den Hauptteil und führt die beiden Themenblöcke 'AIDS' und 'Alter' schließlich zusammen. Auf Basis der in Kapitel II dargestellten kulturellen Rahmenbedingungen wird der Einfluss von HIV/AIDS auf das Leben alter Menschen bewertet.

In der Literatur und im Alltag wird oft nicht zwischen den Begriffen HIV und AIDS getrennt. Auch in der vorliegenden Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit an einigen Stellen nicht differenziert. Wo eine klare Unterscheidung nötig schien, ist dies ausreichend verdeutlicht.

Ebenfalls aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei allgemeinen Personenbezeichnungen jeweils nur die männliche Form verwendet. Diese soll als Kurzform für beide Geschlechter verstanden werden.

3. Forschungsstand und Quellenlage

Die Verknüpfung von HIV/AIDS mit dem Thema Alter ist in der ethnologischen Forschung noch nicht sehr prominent. Beide Bereiche für sich stellen jedoch klassische und gängige Themenkreise der Ethnologie dar.

3.1 Ethnologische Forschung zum Thema HIV/AIDS

Unzählige Organisationen, Projekte, Wissenschaftler und Politiker beschäftigen sich mit den verschiedensten Aspekten und Auswirkungen der globalen AIDS-Epidemie. Nachfolgend wird dargelegt, welchen besonderen Beitrag die Ethnologie im HIV/AIDS-Bereich leistet und welche Stärken und Schwächen die ethnologische Forschung diesbezüglich aufweist.

AIDS ist sowohl aufgrund der Verbreitungswege als auch der Auswirkungen eng mit Kultur verknüpft. Ethnologen verstehen sich als 'Übersetzer' kultureller Aspekte sowie lokalen Wissens und durch die Betonung der emischen Sichtweise und durch den Fokus auf die Mikroebene ist die Ethnologie eine wichtige Ergänzung des allgemeinen Diskurses über HIV/AIDS (Heald 2004:Online1). Die Methoden und Vorgehensweisen der Ethnologie eignen sich in besonderem Maße zur Erhebung bestimmter AIDS-spezifischer Daten, denn sie verfügen über ein ausreichendes Maß an Sensibilität und Flexibilität, um trotz der Tabuisierung des Themas eine Nähe zu den Menschen herstellen zu können.2 Zweifelsohne bereiten Methoden wie die Teilnehmende Beobachtung bei einem derart sensiblen Thema auch viele Schwierigkeiten. Viele Aspekte von HIV/AIDS sind in einem äußerst intimen Kontext angesiedelt. Eine wirkliche

„Teilnahme“ ist daher meist nicht möglich oder stellt den Forscher vor große persönliche Herausforderungen (siehe hierzu Erfahrungsbericht von Dilger 2005:85-91).

Genau genommen wäre es notwendig, zwischen Beiträgen der Ethnologie zur AIDS-Politik und zur AIDS-Grundlagenforschung zu differenzieren, da die jeweiligen Ansprüche und Zielsetzungen sehr verschieden sind. Im Falle von AIDS ist diese Unterscheidung aber oft nicht zu treffen, da AIDS von Anfang an eine „hoch politisierte Krankheit“ (Heald 2004:Online1) war und daher viele Forschungen politisch motiviert sind.

Spätestens seit der Gründung des Joint United Nations Programme on HIV/AIDS (UNAIDS) im Jahr 1995 legt die Politik den Fokus auf lokal vorhandene Strukturen und Kulturen und setzt auf Partizipation und Mitbestimmung der lokalen Bevölkerung („ bottom-up- Ansatz“, Heald 2003:210). Somit müssten ethnologische Forschungen im Grunde zunehmend Berücksichtigung finden. Dennoch, so bemängelt die Ethnologin Suzette Heald, haben Ethnologen „nur eine zu vernachlässigende Rolle bei der Formulierung von AIDS-Politiken gespielt und sind in dem Netzwerk der Interessengruppen und Herrschaftsagenturen unterrepräsentiert“ (Heald 2004:Online1). In der vorliegenden Arbeit fehlt der Raum, um erschöpfend zu analysieren, ob ethnologische Forschung die notwendige Relevanz erfährt oder nicht. An dieser Stelle sei nur angemerkt, dass sich aus einer potenziellen engen Verknüpfung ethnologischer Forschung mit der Politik Vor- und Nachteile ergeben. Einerseits könnten sich neue Finanzierungsmöglichkeiten für ethnologische Studien eröffnen: Internationale Organisationen oder auch nationale Entscheidungsträger könnten vermehrt Ethnologen mit ihren Studien beauftragen. Andererseits liegt hier die Gefahr eines potenziellen Verlustes der Neutralität und Objektivität des Forschers. Politische Studien dienen meist der Policy- oder Programmbildung, wodurch ein besonderer Einfluss auf den Ethnologen ausgeübt werden könnte. Er könnte seine Daten damit nicht vorrangig zur eigenen Theoriebildung sondern zur Durchsetzung bestimmter Ziele und zur Formulierung von Handlungsanweisungen „ausnutzen“ (Dilger 2005:91).3

Ungeachtet der Relevanz der Ethnologie für die Policy-Bildung existiert inzwischen ein breites Spektrum an Grundlagenforschung. Da diese meist nicht schnellen Ergebnissen verpflichtet ist, sind hier längerfristige Datenerhebungen und zeitintensive Methoden wie die Teilnehmende Beobachtung möglich (Heald 2003:218).4 Studien über AIDS ziehen sich durch alle Teilbereiche der Ethnologie, allen voran aber durch die Medizinanthropologie. Inzwischen gibt es eine Vielzahl an unabhängigen ethnologischen Publikationen zu verschiedenen kulturellen Aspekten der Epidemie: Gender und Sexualität (z.B. Schoepf 1995,1997; Baylies/Bujra 2000), Migration und Modernität (Gronemeyer 2005) und Stigmatisierung (Deacon 2005), um nur wenige zu nennen.

3.2 Ethnologische Alternsforschung und Gerontologie

Alter und Generationen sind grundlegende Aspekte jeder Kultur. Daher ist Alter seit jeher ein zentraler Gegenstand der ethnologischen Forschung und Theorie – meist jedoch im Kontext von umfassenden Ethnographien oder unter bestimmten Gesichtspunkten wie Seniorität, Machtverteilung, Herrschaft oder Altersklassensysteme (Marzi 1998:14ff). In der traditionellen ethnologischen Altersforschung wurde die Lebensphase des Alters nicht betont, der Blick war weniger auf das Alter selbst gerichtet, als auf den gesellschaftsstrukturierenden Aspekt der Altersstufen (Marzi 1990:18, Elwert 1994:261).

In den 1940ern institutionalisierte sich in Deutschland unabhängig von der Ethnologie die interdisziplinäre Wissenschaft der Gerontologie, auch Alternswissenschaft genannt.5 Diese breit angelegte Wissenschaft beschäftigt sich mit den körperlichen, psychischen, sozioökonomischen, sozialpolitischen und auch den kulturellen Aspekten des Alterns und des Altseins (Baltes/Mittelstraß 1994:ix). Trotz der kulturellen Dimension wurden Ethnologen zunächst nicht integriert, da die Bedeutung der Ethnologie für die Gerontologie als „marginal“ eingestuft wurde (Marzi:1998:16). Denn das Interesse der Gerontologie beschränkte sich zunächst auf Länder, in denen eine demographische Alterung der Gesellschaft zu erkennen war (ebd.:17), die Ethnologie dagegen legte den Fokus zu diesem Zeitpunkt größtenteils noch auf die „exotischeren“ Kulturen und Länder, deren Alterspyramiden bis dato der klassischen Form entsprachen (ebd:14).6

Erst mit der aufkommenden Modernisierungshypothese (s. Kapitel I-4.2) in den 1970ern wuchs in der allgemeinen Alternsforschung das Interesse an den sogenannten „Ländern der Dritten Welt“. Der interkulturelle Vergleich wurde populär und Gerontologen griffen vermehrt auf ethnologisches Material zurück. Dabei wurde Kritik an der Ethnologie laut, da die existierenden ethnologischen Arbeiten zu wenig quantitative Daten zur Lebenssituation alter Menschen bereitstellten. Qualitative Methoden galten als unwissenschaftlich und nicht geeignet zur Policybildung oder zur Akquisition von Forschungsgeldern (Rubinstein 1990:3).

Als Reaktion hierauf entstand in den 1980er Jahren eine neue Ethnologie des Alters. Durch neue Studien sollte der Wert der ethnologischen Methoden für die Altersforschung aufgezeigt werden. Zunächst stand hier die materielle Alterssicherung im Vordergrund, später dann das tatsächliche Alltagsleben alter Menschen sowie ihre Lebenserfahrungen und -geschichten. Außerdem versuchten Ethnologen sich den unterschiedlichen Alterskonzeptionen und -definitionen verschiedener Kulturen anzunähern (Marzi 1998:18). Die Bedeutung der Ethnologie für die Gerontologie wird seither zunehmend anerkannt:

„Anthropologists are playing an increasing and increasingly vital role in the study of later life, not only because the event of graying is planet wide, international and cross-cultural, but also because of the increasing recognition of the significance of culture and cultural differences in human life.“ (Rubinstein 1990:1).

Ethnologische Forschungen über das Alter und die Lebenswelt alter Menschen sind nun zahlreicher als früher und beschränken sich nicht mehr auf „small scale, non-western cultures“ (Rubinstein 1990:2). Ethnologische Altersstudien beschäftigen sich heute mit Alter und Modernisierung, Medizin, dem Einfluss verschiedener Umgebungen wie Altersheime, der Bedeutung der Pensionierung, Hilfe und Pflege, Alter und Ethnizität, Geschlechterrollen im Alter und vielem mehr (Rubinstein 1990:4). Es scheint allerdings immer noch große Lücken und enormen Forschungsbedarf zu geben. Der Einfluss von HIV/AIDS auf das Leben alter Menschen ist eines von vielen Themenfeldern rund um das Alter, die bisher unzureichend erforscht wurden.

3.3 Quellenlage und Literatur

Wie bereits ausgeführt gibt es bereits zahlreiche ethnologische Studien und Publikationen, die die Themenfelder HIV/AIDS und Alter separat behandeln. Es mangelt jedoch aktuell an ethnologisch-wissenschaftlichen Texten, welche die beiden Themenbereiche mit Fokus auf Tansania zusammenführen.

Die meisten Publikationen, die vorrangig die Aspekte 'HIV/AIDS' und 'Alter' in Bezug zueinander setzen, stammen von Organisationen wie HelpAge International (HAI), der Weltgesundheits- organisation (WHO) oder den United Nations (UN). Dies sind keine ethnologischen Arbeiten im eigentlichen Sinn, da sie anwendungsorientiert sind und somit eher der Policybildung als der wissenschaftlichen Beschreibung dienen. Ungeachtet dessen sind auch diese Quellen für die Recherche sehr hilfreich und sind in die vorliegende Arbeit eingeflossen.

Ethnologische Arbeiten zu HIV/AIDS und Alter sind spärlicher: Als Autoren exemplarisch zu nennen sind Martha Ainsworth und Julia Dayton (zahlreiche gemeinsame Publikationen von 2001-2005), James Kakooza (2005), Alun Williams (2001, 2003) und M. Ferreira (2002, 2004).

Da sich keine der eben genannten ethnologischen Publikationen über AIDS und Alter explizit auf Tansania bezieht wurde hier ergänzend auf allgemeine Publikationen über HIV/AIDS in Tansania zurückgegriffen. Hervorzuheben sind die Arbeiten von Hansjörg Dilger (1999, 2004, 2005), die eine wichtige Säule der Literaturarbeit dieser Arbeit darstellen: Er beleuchtet die sozialen Aspekte der HIV/AIDS-Epidemie in Tansania, mit besonderem Blick auf Moralität und die Bevölkerungsgruppe der Luo7 mit dem Ziel, „die Diskurse über AIDS auf die gesellschaftliche Wirklichkeit“ zu beziehen (Luig 1999:i).

Außerdem relevant für die Literaturarbeit und zur Vorbereitung der Forschung waren unter anderem Publikationen über Altern in Afrika (Hiltrud Marzi 1990, 2002; Cowgill 1986; Albert/Catell 1994), Fürsorgebeziehungen in Afrika (Aboderin 2006), den Einfluss von AIDS auf afrikanische Familien (Ankrah 1993, Kilbride/kilbride 1990) und traditionelle Alterssicherungs- systeme in Afrika (Catell 1993).

4. Theorien zu Rollen und Status alter Menschen

Mit der steigenden Popularität der Gerontologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden verschiedene Theorien aufgestellt, die allgemein beschreiben sollen, wie und ob sich Rollen, Status und Aktivitäten der Menschen im Alter ändern. Bisher wurde der Themenkomplex HIV/AIDS in der Literatur noch kaum in einem dieser theoretischen Rahmen betrachtet. Viele Aspekte dieser Arbeit, wie zum Beispiel die Untersuchung der Existenzsicherung, der Fürsorgebeziehungen oder des Rollenwandels sind durchaus mit diesen Theorien zu verknüpfen, in ihnen zu verorten bzw. wären gegebenenfalls sogar geeignet diese in Frage zu stellen. Primäres Ziel der vorliegenden Arbeit soll es indes nicht sein, die erhobenen Daten in Bezug zu diesen verschiedenen Alterstheorien zu setzen. Sie seien hier aber kurz erwähnt, da in den entsprechenden Abschnitten der folgenden Kapitel einige Denkanstöße in diese theoretischen Richtungen gegeben werden.

4.1 Theorien zur Kontinuität von Rollen im Alter

Die ersten eigenständigen soziologischen Alterstheorien wurden in den 1960ern in den USA konzipiert (Marzi 1990:12) und behandeln die Frage, inwieweit im Alter Rollen und Aufgaben beibehalten werden (theories of engagement). Die Disengagement Theory of Aging beispielsweise geht auf Cumming und Henry zurück mit der Kernaussage: „Aging is an inevitable mutual withdrawal or disengagement, resulting in decreased interaction between the aging person and others in the social system he belongs to.“ (Cumming/Henry 1961:14). Cumming und Henry gingen davon aus, dass sich alte Menschen zwangsläufig aus dem sozialen Leben zurückziehen, ihre bisherigen Rollen abgeben, als langsame Vorbereitung auf den totalen Rückzug, den Tod (Cowgill 1986:5). Diesen Prozess sehen Cumming und Henry als universell an:

„This theory is intended to apply to the aging process, in all societies, although the initiation of the process may vary from culture to culture, as may pattern of the process itself. (...) in traditional cultures in which the old are valued for their wisdom, it may well be that the aging person openly initiates the process; in primitive (sic!), and especially in impoverished cultures, he may resist the process until it is forced upon him.“ (Cumming/Henry 1961:15).

Andere Theoretiker widersprachen dieser Annahme eines universellen Rückzugs, wie etwa Havighurst, Neugarten und Tobin (1986), die diesem Modell die Kontinuitätstheorie (Activity Theory) entgegenstellten. Sie betonten die Weiterführung der sozialen Aktivitäten alter Menschen und die Kontinuität von Rollen. Die Aktivitätstheorie verneint also einen grundsätzlichen Rückzug im Alter: „Nicht Alter per se, sondern lediglich ein schlechter Gesundheitszustand begründe einen Rückzug aus vorangegangenen Beschäftigungen.“ (Marzi 1990:15).

4.2 Theorien zum Status alter Menschen

Während die theories of engagement das Maß an aktiver Teilnahme in der Gesellschaft als Kern haben, suchten andere Theorien nach Erklärungsmodellen für den unterschiedlichen Status alter Menschen in verschiedenen Gesellschaften. Die bereits erwähnte Modernisierungstheorie der 1970er von Holmes und Cowgill8 besagt, dass der Status alter Menschen mit zunehmender Modernisierung der Gesellschaft abnimmt und damit auch die Sicherheit der Alten in der Gesellschaft in Gefahr gerät (Marzi 1990:73). Dieser Ansatz geht aus strukturfunktionalistischer Perspektive von einer zwangsläufigen linearen Entwicklung von

„traditionell“ hin zu „modern“ aus (Aboderin 2006:28) und sieht die Situation in heutigen

„modernen“ Gesellschaften als verlässliche Vorhersage für die Entwicklungsländer, was in der Wissenschaft bereits seit Ende der 1960er kritisiert und widerlegt wurde (ebd.:8).

Maxwell und Silverman (1970) knüpften den Status alter Menschen an das Maß der Kontrolle über Informationsquellen in einer Gesellschaft: „(...) the esteem in which the aged are held in a given society varies directly with the degree of control they maintain over the society's informational resources.“ (Maxwell/Silverman 1970:381, zitiert nach Marzi 1990:25). Die Kontrolle über die für das soziokulturelle System relevanten Informationen resultiert nach Maxwell und Silverman allerdings auch in einer gewissen Aktivität: Je mehr die Alten wissen, was für die ganze Gruppe unerlässlich ist, desto mehr partizipieren sie auch an gemeinschaftlichen Aktivitäten (Marzi 1990:25ff).

Die Theoretiker Press und McKool (1972) wählten wiederum einen anderen Ansatz: Sie sehen den Status der Seniorengeneration angelegt in der Art der Sozialstruktur einer Gesellschaft. Dabei berufen sie sich auf strukturale Determinanten welche von Cowgill aufgestellt wurden und formulieren hieraus sechs eigene Determinanten, welche den Status alter Menschen bestimmen: Hohe sozioökonomische Homogenität, Rollen mit Verantwortung, Kontinuität des Lebenszyklus, Kontrolle über Güter, Ausübung wichtiger Aktivitäten und die Bedeutung der Großfamilie (Marzi 1990:31ff).

II Grundlagen der Feldforschung in Mwanga

Diese Arbeit basiert vorwiegend auf Daten, welche im Rahmen einer Feldforschung im Mwanga-Distrikt in Nordtansania erhoben wurden. Nachfolgend wird dargelegt, welche strukturellen Voraussetzungen vor Ort gegeben waren und welche Faktoren die Forschung förderten, verzögerten und beeinflussten. Mwanga als Ort der Forschung soll kurz charakterisiert und außerdem das methodische Vorgehen erläutert werden.

1. Forschungssituation

Die Feldforschung wurde von Mitte Juni bis Mitte September 2007 durchgeführt. Mwanga, der Ort der Feldforschung (s. II.2), war von früheren Aufenthalten bekannt, weshalb auf viele Kontakte zurückgegriffen werden konnte. Vor allem die Mitarbeiterinnen der ortsansässigen Nichtregierungsorganisation (NRO) KIWAMWAKU9 unterstützen die Arbeit maßgeblich.

Im Vorfeld existierten Zweifel bezüglich der Offenheit und der Bereitschaft der Interviewpartner, was sich als unbegründet erwies: Die meisten Gesprächspartner waren trotz des heiklen Themas sehr offen und freuten sich darüber, dass sie als Informanten ausgewählt wurden. Nachdem die erste Unsicherheit überwunden war, antworteten fast alle Befragten ausführlich auf Fragen zum Thema AIDS und ihrem privaten und familiären Leben. Trotz des Tabuthemas Sexualität und der Anwesenheit eines lokalen, männlichen Übersetzers, gaben auch die Frauen sehr intime Details preis. Darauf stützt sich die Einschätzung, dass die gegebenen Informationen verlässlich sind. Hilfreich war es hierfür sicherlich, dass die Interviewpartner nicht über ihre eigene Sexualität sprechen mussten.

Häufig war es für die Informanten der erste intensive Kontakt mit einer Europäerin und man begegnete mir sehr interessiert und neugierig. Oftmals war es anfangs nötig, meinen Status als unabhängige Person zu verdeutlichen und klarzustellen, dass ich für keinerlei Organisation arbeite und mit meiner Arbeit keine Aufnahme in ein Hilfsprogramm verbunden ist. Dies schmälerte aber nicht die Bereitschaft mit mir zu reden und es wurde keine andere Gegenleistung erwartet, als dass ich selber Fragen beantworte.10 Mein sozialer Status als unverheiratete Frau ohne Kinder wurde oft mit Verwunderung und einem gewissen Amüsement aufgenommen, stellte aber kein Hindernis dar.

Einige strukturelle Faktoren wirkten sich negativ bzw. beschränkend auf die Arbeit aus: So war es zum Beispiel kaum möglich, Informanten weit weg der einzigen geteerten Straße aufzusuchen, da es dort nur wenig öffentliche Verkehrsmittel gab. Somit war das Untersuchungsgebiet aufgrund der mangelnden Infrastruktur auf die Siedlungen nahe der Hauptstraße begrenzt. Ein weiterer hemmender Faktor war ein länger andauernder Stromausfall in der Region, der die Kommunikation und Terminabsprachen erschwerte und meine Gesprächspartner zwang, einige ihrer Arbeiten, die sie sonst abends bei elektrischem Licht erledigten, auf den Tag zu verteilen, weswegen sie weniger Zeit für Interviews hatten.

Darüber hinaus brachte die Thematik HIV/AIDS zusätzliche Probleme mit sich: Todesfälle ließen Informanten abspringen. Gleich mehrere meiner Informanten waren auf derselben Beerdigung eingeladen und konnten aufgrund der traditionellen Trauerzeit erst zwei Wochen später wieder Interviews geben. Manchmal ließ es außerdem der Gesundheitszustand der an AIDS erkrankten Verwandten, aber auch der der alten Menschen selbst für einige Zeit nicht zu, längere Gespräche zu führen.

2. Ort der Feldforschung: Mwanga

Mwanga liegt am Fuße der nördlichen Pareberge im Nordosten Tansanias in der Kilimanjaro- Region. Man unterscheidet zwischen der Stadt Mwanga und dem Distrikt Mwanga11. Die Stadt Mwanga ist mit ca. 12 400 Einwohnern eine klassische Kleinstadt und Verwaltungssitz des gleichnamigen Distrikts mit ca. 115 620 Einwohnern (Population and Housing Cencus 2002: Online12). Mit zwei Banken, einem großen Markt, Anschluss an die Teerstraße und fünf weiterbildenden Schulen ist Mwanga ein wichtiges wirtschaftliches und soziales Zentrum in der Region.

Der Distrikt Mwanga besteht aus fünf Divisionen und 58 einzelnen Dörfern. Strukturell kann man den Distrikt in folgende zwei Zonen einteilen: Das Flachland entlang der Teerstraße von Kileo bis Lembeni und die kleinen Bergdörfer in den bis zu 2500 Meter hohen Parebergen (URT 1998:1). Während das Flachland sehr trocken ist und sich nur zum Anbau von Mais, Gemüse und Trocken-Reis eignet, profitiert die Bergbevölkerung von dem feuchten und kühlen Klima über 1000 Meter. Hier wachsen Bananen, Zuckerrohr und vielerlei Gemüse. Dafür mangelt es in den Bergen noch an ausreichender Infrastruktur.

In beiden Vegetationszonen bildet die Landwirtschaft die weitestgehend einzige Einkommensquelle. Geschätzte 80% der Einwohner des Distrikts Mwanga sind Bauern und meist reichen die Erträge nur zum Eigenverbrauch. Es gibt kaum Industrie13 und bis auf wenige Stellen in Administration, Bildung und Gesundheitswesen herrscht der informelle Sektor vor.

Die Region ist von starker Migration gekennzeichnet. Aus Mangel an industrieller Entwicklung wandern immer mehr Arbeitskräfte in die Städte ab. Der Agrarsektor erzielt aufgrund der dichten Bevölkerung und der Klimaveränderung zu niedrige Erträge, um den Nahrungsbedarf der Bevölkerung zu decken (URT 1998:18).

Der Großteil der Bewohner des Mwanga-Distrikts sind Pare. Andere Bevölkerungsgruppen in der Gegend sind unter anderem Chagga und Maasai, die allerdings in der Minderheit sind. Zur genauen ethnischen Zusammensetzung von Mwanga liegen keine Daten vor. Es lässt sich allerdings sagen, dass in den Parebergen nahezu keine andere Ethnie außer den Pare vertreten ist, während entlang der Teerstraße der Anteil der anderen Ethnien höher ist, da sich Mwanga Stadt aufgrund seiner Lage immer mehr zu einem Schmelztiegel verschiedener Gruppen entwickelt.

Die Pare praktizieren eine patrilineale Deszendenzform, heiraten exogam14 und der Wohnort nach der Hochzeit ist traditionell patrilokal. Es liegen keine genauen Zahlen zur religiösen Zusammensetzung vor. Christen und Moslems scheinen sich die Waage zu halten, während im Zentrum Mwangas (dem Forschungsgebiet) der Animismus nur noch wenig Bedeutung hat.

3. Auswahl der Informanten und Zusammensetzung des Samples

Für das Sample der Untersuchung wurden zehn Senioren und ihre Familien als Hauptinformanten nach dem Schneeballpinzip ausgewählt.15 Der erste Kontakt wurde in den meisten Fällen durch eine Mitarbeiterin von KIWAMWAKU hergestellt.

Als Hauptinformanten wurden Personen über 55 Jahre definiert, die sich entweder um einen an AIDS erkrankten Familienangehörigen oder um AIDS-Waisen kümmern, oder dies im vergangenen Jahr getan haben. Diese Personen wurden über einen längeren Zeitraum hinweg intensiv begleitet. Ergänzend wurden als Vergleichsgruppe Interviews mit Senioren geführt, die bisher keinerlei persönlichen Bezug zu HIV/AIDS haben sowie mit Spezialisten (Experteninterviews), die Informationen über die Gesellschaft und Traditionen der Pare geben konnten.

Die Zusammensetzung des Samples hat keinen statistischen Anspruch. Allerdings wurde auf eine repräsentative Verteilung bezüglich der Religionszugehörigkeit sehr großen Wert gelegt. Es ist anzumerken, dass die überdurchschnittliche Repräsentation von Frauen kein Zufall ist, sondern eine stärkere Verantwortung in Fürsorgebeziehungen widerspiegelt.16

Obwohl in Mwanga auch andere Ethnien vertreten sind, beschränkte sich die Untersuchung auf die Gruppe der Pare. In informellen Gesprächen mit Mitgliedern anderer ethnischer Gruppen (Chagga, Maasai) wurde bestätigt, dass die Unterschiede relativ gering sind und vermutlich viele der Ergebnisse übertragbar sind.

Alle Gesprächspartner gehörten entweder der armen Unterschicht oder der ärmeren Mittelschicht an, was der in dieser Gruppe höheren AIDS-Prävalenz gerecht wird. Selbstverständlich gibt es auch in der Mittel- und Oberschicht viele HIV-Infektionen und dadurch einhergehende Veränderungen und Probleme. Da diese Schicht in Tansania (und vor allem in Mwanga) jedoch extrem dünn ist, ist sie nicht repräsentativ für den Hauptteil der Bevölkerung. Kein Hauptinformant hatte eine höhere Schulbildung, einige waren Analphabeten. Niemand verfügte über ein festes Einkommen oder stand in einem festen Arbeitsverhältnis. So wie die meisten Bewohner in Mwanga waren die Interviewpartner hauptsächlich Bauern, die fast ausschließlich Subsistenzwirtschaft betrieben.

4. Methodik

Für eine umfassende Untersuchung der Fragestellung sind sowohl quantitative als auch qualitative Methoden sinnvoll und notwendig. Quantitative Daten sind besser vergleichbar und machen Generalisierungen möglich, wobei die Erhebung allerdings mit viel zeitlichem und personellem Aufwand verbunden ist und daher im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich war. Daher wurden hauptsächlich qualitative Methoden angewandt, die zudem – wie bereits erwähnt (Kapitel I-3.1) – bei einem sensiblen Thema einen einfacheren Zugang zu den Menschen ermöglichen können.

Trotz meiner Suaheli-Kenntnisse wurde ein Übersetzer hinzugezogen, da gerade die älteren Menschen in Mwanga für Ausländer recht schwer zu verstehen sind und statt Suaheli meist Kipare17 sprechen. Es ist anzumerken, dass im Folgenden zwischen Zitaten eigener Übersetzung (wörtlich aus dem Suaheli ins Deutsche) und den Übersetzungen des Dolmetschers (sinngemäß aus dem Kipare/Suaheli ins Englische) unterschieden wird, da letztere oft von der Ausdrucksweise der interviewten Person stark abweichen und eher zusammenfassenden Charakter haben.18

Zu Beginn der Arbeit mit einem Informanten stand die Aufnahme der demographischen Grunddaten wozu die Erhebung einer Genealogie sowie ein biografisches Interview gehörten. Beides diente dem Kennenlernen und besseren Verständnis von später Erzähltem. Meist konnte die Erhebung der Genealogie genutzt werden um die AIDS-Fälle in der Familie anzusprechen und ausfindig zu machen. Der nächste Schritt stellte eine Netzwerkanalyse (Persönliche Netzwerke) dar.19 Ziel war die Untersuchung der Formen von Unterstützung in Zusammenhang mit bestimmten Rollen. Die meisten Informanten hatten allerdings große Probleme mit dem Charakter der Fragen, daher konnten hier nur vereinzelt aussagekräftige Ergebnisse erzielt werden.

Den Hauptteil der Forschung bildeten semi-strukturierte Interviews20, unterteilt in verschiedene Themenblöcke. Die jeweils ca. 1,5-stündigen Interviews wurden auf Tonband aufgenommen und transkribiert. Durch die Zusammenarbeit mit KIWAMWAKU ergab sich häufig die Gelegenheit zu Teilnehmender Beobachtung und informellen Gesprächen mit Betroffenen, Dorfbewohnern oder den Mitarbeiterinnen. Außerdem wohnte ich bei der Familie einer der Mitarbeiterinnen und erhielt so detaillierten Einblick in den Alltag eines tansanischen Haushaltes, den innerfamiliären Beziehungen und Umgangsweisen.

Die Tatsache, dass alle Interviewpartner ausschließlich in ihren eigenen Häusern interviewt wurden, hatte Vor- und Nachteile. Vor allem alte Frauen schienen es nicht gewohnt zu sein, sich weit von ihrem Haus zu entfernen und die Selbstsicherheit im eigenen Heim spiegelte sich in den Interviews wieder. Allerdings war es dadurch schwerer, die zu interviewende Person alleine zu sprechen, denn meist waren Familienangehörige oder Enkelkinder, die eventuell nicht alle Informationen kennen sollten, zuhause. Oft mischten sich Besucher oder Familienangehörige in das Gespräch ein. In seltenen Fällen kamen dadurch sehr interessante Gruppendiskussionen zustande, meist aber hemmte es den eigentlichen Interviewpartner.

III Ethnographische und regionale Rahmenbedingungen und soziale Transformationsprozesse

Ziel dieser Arbeit ist es, die beiden Aspekte 'Alter' und 'HIV/AIDS' in Mwanga miteinander zu verknüpfen um den daraus resultierenden Wandel, die Probleme und mögliche Lösungsstrategien aufzuzeigen. Als Basis hierfür ist es zunächst notwendig, beide Themengebiete in Bezug auf die Pare-Gesellschaft bzw. den Mwanga Distrikt zu beleuchten.

1. HIV/AIDS

Nur wenige Krankheiten sind so eng mit kulturellen und regionalen Gegebenheiten verknüpft wie HIV/AIDS. Gerade durch die enge Koppelung dieser Krankheit mit Sexualität und damit mit Moral muss sie immer im Kontext der jeweiligen Kultur und den lokalen Vorstellungen, Strukturen und Einflüsse betrachtet werden. Im Folgenden werden kurz die relevanten Aspekte von HIV/AIDS im regionalen (tansanischen) und lokalen Kontext (Mwanga/Pare) skizziert.

1.1 HIV/Aids in Mwanga bzw. Tansania – Zahlen und Fakten

Die ersten bekannten AIDS-Fälle Tansanias traten 1983 in der an Uganda grenzenden Kagera- Region im Nordwesten des Landes auf. Heute besonders betroffen sind hoch industrialisierte Gebiete wie Mwanza am Lake Victoria (Dilger 2005:19). Die Kilimanjaro-Region, in welcher der Distrikt Mwanga liegt, ist nach Mbeya und Dar es Salaam die in den letzten Jahren am stärksten betroffene Region Tansanias (URT 2005:7).

Die aktuellsten Zahlen zur Verbreitung des HI-Virus in Tansania stammen aus dem Bericht zur globalen HIV/AIDS-Epidemie 2006 von UNAIDS. Dieser gibt für Tansania eine HIV-Prävalenz von 5,8-7,2% unter den 15-49jährigen an, was bedeutet, dass ca. 1,4 Mio. Tansanier derzeit mit dem Virus leben (UNAIDS 2006:479).21 Im Jahr 2006 haben sich im Distrikt Mwanga 1493 Menschen in offiziellen Institutionen testen lassen (558 Männer, 935 Frauen), wovon 245 Personen (16%) positiv getestet wurden (84 Männer, 161 Frauen) (Ndossi 2007:1).22

Der heterosexuelle Geschlechtsverkehr ist der Hauptübertragungsweg des HI-Virus in Tansania (78,1%). Die restlichen Prozente verteilen sich mit 4,6% auf die Mutter-zu-Kind-Übertragung, 0,5% auf Bluttransfusionen und in 16,5% der Fälle gibt es keine Angaben über die Art der Übertragung (URT 2005:5).

Es wird geschätzt, dass es 2006 über eine Millionen AIDS-Waisen bis 17 Jahre in Tansania gab (HAI 2004:4). Hiervon leben ca. 43% bei ihren Großeltern (Nhongo 2004:3).

1.2 HIV-Infektionen im Alter und andere gesundheitliche Aspekte

Zahlen zu HIV-Infektionsraten werden meist nur bis zu23 einem Alter von 49 Jahren erhoben und vermitteln somit den Eindruck, es gäbe über diese Altersgrenze hinaus keine oder kaum HIV- Infektionen. Im Jahr 2002 wurde geschätzt, dass in Tansania 1,3% der 60 bis 65-jährigen und 0,8% der über 65-jährigen HIV-positiv waren (Msobi et al 2004, zitiert nach HAI 2004:8). Die Vermutung liegt allerdings nahe, dass diese Zahlen nicht der Realität entsprechen. Viele HIV- Infektionen im Alter werden nicht als solche erkannt. Selbst AIDS im Endstadium wird bei Senioren häufig mit anderen altersbedingten Krankheiten verwechselt.24 HIV-Tests werden daher so gut wie nie durchgeführt und die Senioren sehen aus eigenem Antrieb meist keinen Grund für einen Test (CAPS 2000:1).

Doch auch ohne offizielle Zahlen ist davon auszugehen, dass Menschen von über 50 Jahren nicht von jeglichem Infektionsrisiko ausgenommen werden können. Für Senioren gelten die gleichen Infektionswege wie für die Gesamtbevölkerung: Sexueller Kontakt, Bluttransfusionen oder Ansteckung bei der Pflege Kranker.

Wie in vielen Kulturen wird bei den Pare alten Menschen eine aktive Sexualität abgesprochen, das Alter gilt als geschlechtslose Zeit (Ingstad 1997:363). So negierten auch die Gesprächspartner in Mwanga jegliches Risiko einer Eigeninfektion durch sexuelle Aktivitäten. Es lässt sich jedoch schwer nachprüfen, ob dies lediglich eine soziale Norm darstellt, die offene Kommunikation verhindert, oder ob tatsächlich kein Geschlechtsverkehr im Alter stattfindet. Letzteres erscheint unwahrscheinlich in Anbetracht der Berichte Prostituierter im Rahmen einer Untersuchung der Organisation HelpAge Tanzania (HAT): Sie bestätigen die Existenz von vielen älteren Kunden und auch von einer zunehmenden Anzahl alter Frauen in Tansania, die aus Armut ihren Körper verkaufen. Natürlich besteht auch weiterhin das Risiko durch nicht- kommerziellen Geschlechtsverkehr (HAI 2004:9).

Die (fragliche) Negation der sexuellen Aktivität der Senioren hat zur Folge, dass diese als Zielgruppe aus allen Aufklärungsprogrammen ausgeschlossen werden. Die meisten alten Menschen in Tansania sind Analphabeten und können weder Plakate noch Flyer lesen und die optische Aufmachung bzw. die Sprache der Fernseh- oder Radiospots ist auf Jugendliche ausgerichtet. Alte Menschen fühlen sich somit nicht angesprochen und suchen auch aus Eigeninitiative meist keine Informationen (HAI 2004:2).

Auch ohne eigene Infektion hat die hohe HIV-Prävalenz einen negativen Effekt auf die Gesundheit der Senioren. Die Pflege von AIDS-Patienten fordert einen hohen Tribut von den Alten, vor allem von den Frauen. Sie leben in einem ständigen Erschöpfungszustand, da sie eigentlich körperlich nicht mehr in der Lage sind, die Pflege und die zusätzliche Arbeit zu leisten.25 Meist leiden sie unter der enormen psychischen Belastung, wobei deutliche Symptome von Burn-Out und Depression zu erkennen sind (WHO 2002:15). So berichteten viele Informanten, dass sie in der letzten Phase der akuten AIDS-Erkrankung ihrer Kinder von diesen ständig beschimpft und beleidigt wurden. Der Tod und die Trauer um eigene Kinder stellt eine zusätzliche Belastung dar.26

Offiziell ist die Gesundheitsversorgung für Senioren ab 60 Jahren in Tansania kostenlos (HAI 2004:17). In vielen Krankenhäusern wird die Unwissenheit der Senioren diesbezüglich ausgenutzt und die Behandlung in Rechnung gestellt.27 Hinzu kommt, dass eine kostenfreie Behandlung nur möglich ist, wenn bewiesen werden kann, wie alt man ist. Die dafür notwendige Geburtsurkunde besitzen allerdings die wenigsten alten Tansanier. Aus diesem Grunde bleibt die eigene Gesundheit der Senioren oftmals auf der Strecke, wenn sie ihr weniges Bargeld für die medizinische Versorgung der infizierten Kinder oder Enkel ausgeben.

Alte Menschen sind grundsätzlich im tansanischen Gesundheitssystem benachteiligt. Viele ältere Tansanier berichten, dass ihnen in den Gesundheitszentren unfreundlich begegnet wird und ihnen Hilfe oft verwehrt wird (HAI 2005:4). Grund hierfür ist die in Tansania vorherrschende Meinung, dass Medizin nicht an alte Menschen „vergeudet“ werden sollte, da es normal sei, im Alter Beschwerden zu haben. Aufgrund ihrer mangelnden Mobilität haben alte Menschen in Mwanga meist außerdem nur Zugang zu den kleinen Krankenstationen, das nächste Krankenhaus befindet sich in Moshi (mit öffentlichen Verkehrsmitteln ca. 1,5 Stunden entfernt). Lediglich die großen, an Universitäten angebundene Kliniken in Arusha und Dar es Salaam haben eine geriatrische Abteilung. Die wenigsten Ärzte verfügen über eine ausreichende geriatrische Ausbildung (Ferreira 2004:7f, URT 2003:4).

Den traditionellen Heilern wird von den älteren Pare häufig mehr Vertrauen entgegengebracht als den Schulmedizinern. Die traditionelle Medizin scheint laut den Interviewpartnern bei leichten Beschwerden auch gute Heilungsmethoden anbieten zu können. Leider werden gerade ältere Menschen aufgrund ihrer Unwissenheit oft von traditionellen Heilern (allerdings auch von Schulmedizinern) betrogen, indem ihnen sinnlose Medizin oder unwirksamer Schutz gegen HIV/AIDS verkauft wird.28

1.3 Alte Menschen in der Entwicklungszusammenarbeit und AIDS-Politik

Nicht nur die Wissenschaft stellte die Themen 'Alter' und 'HIV/AIDS' erst spät in Zusammenhang, auch in der internationalen und nationalen AIDS-Politik und Entwicklungszusammenarbeit (EZ) werden alte Menschen bis heute wenig berücksichtigt. Erst in den letzten Jahren rückt die Großelterngeneration mehr und mehr ins Zentrum des politischen Interesses.

AIDS-Politik Tansanias

Im Gegensatz zu anderen afrikanischen Staaten hat Tansania früh auf die Bedrohung durch HIV/AIDS reagiert. Bereits 1985, zwei Jahre nach dem Bekanntwerden der ersten AIDS-Fälle in Tansania, gründete die tansanische Regierung zusammen mit dem Global Programme on AIDS (GPA) die National AIDS Task Force, welche 1987 zum National AIDS Control Programme (NACP) wurde und dem Gesundheitsministerium unterstellt war (URT 2001:3). Als erste Maßnahme wurde ein Short Term Plan (1985-1986) erstellt sowie ein erster Medium Term Plan (MTPI 1987-1991), deren primäres Ziel es war, einen Überblick über das Ausmaß der Epidemie zu bekommen sowie erste Präventionsmaßnahmen einzuleiten. Zunächst sah man die Epidemie als reines Gesundheitsproblem an (URT 2001:3).

Man erkannte allerdings, dass dies der Dimension der Bedrohung nicht gerecht wurde und entwickelte mit dem MTP II (1992-1996) einen multisektoralen Ansatz. Damit war die HIV/AIDS- Politik nicht mehr allein dem Gesundheitsministerium unterstellt, alle Sektoren der Gesellschaft wurden in die Verantwortung genommen. Außerdem beinhaltete der MTP II das Prinzip der Dezentralisierung, welche der Einsicht folgte, eine erfolgreiche AIDS-Bekämpfung könne nicht zentral und allein über die Nationalregierung gesteuert werden. Regionale Instanzen und insbesondere auch NROs wurden verstärkt berücksichtigt (Dilger 2005:20).

Der MTP III (1998-2002) bekräftigte diese Ziele in nur leicht abgewandelter Form. Schlagworte waren empowerment, participation und decision-making (URT 2001:4). Selbstkritisch erkannte man allerdings auch Gründe für den Misserfolg der Programme: Nicht ausreichende menschliche und finanzielle Ressourcen, ineffektive Koordination und Mechanismen, inadäquate politische Führung und Verantwortung (URT 2001:3, Dilger 2005:20). Dilger meint erst seit 1999 einen wirklichen Willen zur Umsetzung der Strategiepapiere erkennen zu können, welcher sich in dem „offen erkennbaren Handeln von Politikern aller Ebenen“ (Dilger 2005:20) zeige.

Als Reaktion auf die mangelnden Erfolge wurde AIDS zur nationalen Krise erklärt und gehört seit dem zu der „Top-priority development agenda“ (URT 2001:4). Die Tanzania Commission for AIDS (TACAIDS) wurde im Jahr 2000 gegründet und dient seither als Führungsorgan und Koordinationsinstanz. 2001 wurde schließlich eine National Policy on HIV/AIDS verabschiedet, welche heute die gesetzliche Grundlage für die nationale AIDS-Politik darstellt. Sie garantiert das Recht von HIV-infizierten auf Schutz vor Diskriminierung und betont den Zusammenhang zwischen Armut und HIV (Dilger 2005:21).

Der politische Wille scheint nunmehr vorhanden, dennoch zeigt auch die heutige AIDS-Politik Tansanias viele Schwächen und hält einer genaueren Prüfung nicht stand. Zum Beispiel ist die Zusammenarbeit mit den religiösen Führern mangelhaft29 und die Bevölkerung wird nach wie vor nicht ausreichend informiert: Obwohl seit 1998 Behandlung und Basismedikamente in öffentlichen Krankenhäusern für HIV-Infizierte offiziell kostenlos sind, sind längst nicht alle Betroffenen über dieses Angebot informiert. Selbst wenn sie es sind, werden sie in den Krankenhäusern mit extremer Korruption konfrontiert (Dilger 2005:21, eigene Erhebungen).

Zugute gehalten werden kann der tansanischen Regierung, dass sie diese Schwächen mit mehreren unabhängigen Studien und Untersuchungen zu identifizieren und auszuräumen versucht hat (TACAIDS: Online30). Dies geschieht aber eher unter Druck der internationalen Gemeinschaft bzw. ist „oft auf Außenwirkung und weniger auf innere Kohärenz ausgerichtet“ (Dilger 2005:23). Die AIDS-Politik Tansanias ist heute eng mit der internationalen AIDS-Politik verwoben und stützt sich auf internationale Abkommen, Menschenrechte und die eigene National Policy (URT 2001:11).

Alte Menschen in der AIDS-Politik und Entwicklungszusammenarbeit

Während AIDS in den 1980er Jahren oftmals noch als eine Epidemie des homosexuellen Milieus angesehen wurde, gelangten in den 1990er Jahren die Länder der „Dritten Welt“ mehr und mehr in den Fokus des Interesses (Heald 2003:212). Die Betonung lag zunächst auf Risikominimierung und – daraus resultierend – auf der Definition von Risikogruppen: Als solche galten in Afrika Prostituierte, LKW-Fahrer, Militär und Minenarbeiter (Heald 2003:217). Da alte Menschen nicht als Risikogruppe definiert wurden, fanden sie zunächst weder in nationaler noch in der internationalen AIDS-Politik Beachtung. Mit steigender Prävalenzrate und der Zunahme der Infektionen in der „normalen“ Bevölkerung wuchs das Bewusstsein der internationalen Gemeinschaft, dass eine erfolgreiche AIDS-Politik ganzheitlich, multidisziplinär und multisektoral sein muss (du Guerny 2002:1). Im Jahr 1995 wurde daher ein übergeordnetes Organ ins Leben gerufen, UNAIDS, das seither Maßnahmen global koordiniert und die

Aufgaben von sechs zentralen Agenturen31 zusammen führt (Heald 2004:Online32). United Nations verfügt auch über eine Aging Unit, diese ist nicht direkt in UNAIDS integriert.

Parallel hierzu lenkten in den 1980ern Prognosen über die demographische Alterung der Welt die Aufmerksamkeit auf die Situation der steigenden Anzahl alter Menschen. Aus diesem Grund fand 1982 in Wien die Erste World Assembly on Aging (WAA) mit dem Fokus auf die Existenzsicherung der Senioren weltweit statt. Ergebnis war der International Plan of Action on Aging, welcher eine Förderung von interkultureller Forschung zu Altern und Altsein beinhaltete (Vienna Plan) (Aboderin 2006:4). Gemäß des Vienna Plans war diese Forschung "primarily focused on establishing older peoples's economic, health, social and family support status" (Aboderin 2006:10). Aufbauend auf dieser Forschung fand die darauffolgende World Assembly on Aging 2002 in Madrid statt und endete ebenfalls mit der Formulierung eines Aktionsplans (Madrid International Plan of Action on Aging). In Madrid wurde die Rolle der älteren Generation in der globalen AIDS-Pandemie, ihre Bedeutung für die Pflege der Patienten und die Versorgung der AIDS-Waisen thematisiert (HAI 2003:5).

Inzwischen gibt es noch mehr Deklarationen und Programme, auch mit der Verknüpfung beider Themengebiete: Die UN Declaration of Commitment on HIV/AIDS (2001), aber auch das African Union Policy Framework and Plan of Action on Ageing (2003). Durch die Millennium Goals (2000) i st das Ziel, den HIV-Virus zu stoppen, global verankert worden. Tansania hat all diese Erklärungen unterzeichnet. Zusätzlich dazu entwickelte die tansanische Regierung in den letzten Jahren eigene nationale Erklärungen (Poverty Reduction Policy, National Policy on HIV/AIDS und National Ageing Policy), in denen der Einfluss der AIDS-Epidemie auf die Seniorengeneration Beachtung findet. In der National Strategy for Growth and Reduction of Poverty liegt das besondere Augenmerk auf alten Menschen, Kindern, Frauen und PLWAs (People living with AIDS). Viele Programme und Initiativen sind hier implementiert, sowohl bezüglich der Prävention als auch der Unterstützung Betroffener (HAI 2004:7). Die National Ageing Policy fordert für alte Menschen in Tansania besseren Zugang zu Gesundheitsversorgung, soziale und rechtliche Sicherheit, Beratung und Bildung im Bereich AIDS, Unterstützung bei der Pflege und Einbindung in die Entwicklung von neuen Entwicklungsprogrammen (URT 2003:5ff).

Der politische Rahmen ist demnach gegeben und es mangelt nicht an Absichtserklärungen, die Versorgung, Partizipation und Gesundheit der Senioren zu sichern. Die Herausforderung liegt in der Umsetzung, da in Tansania nach wie vor begrenzte Geldmittel, Korruption, mangelnde Infrastruktur und die Zuweisung von Kompetenzen ein großes Problem darstellen (HAI 2004:7).

[...]


1 Heald: AIDS und Ethnologie in Afrika. URL: http://www.linksnet.de/textsicht.php?id=1288 (12.02.2008).

2 Im Speziellen trifft dies auf die Teilnehmende Beobachtung, bzw. die „dichte Teilnahme“ (Spittler 2001:19) zu. Sie bedeutet nach Spittler nicht nur rein physische Teilnahme, sondern auch soziale Nähe. Soziale Nähe beinhaltet allerdings Empathie, Einfühlungsvermögen und Mitgefühl (Hauser-Schäublin 2003:38) – Attribute welche in anderen Wissenschaften absichtlich ausgeklammert werden, die aber gerade im Umgang mit Themen wie Krankheit, Tod und Trauer relevant sein können.

3 Dilger greift hier eine Diskussion über die Verantwortung der Medizinanthropologie auf. Diskutiert wird, ob wissenschaftliches Arbeiten und praktisches Engagement getrennt werden können bzw. müssen. Siehe hierzu Leslie Butt (2002).

4 Bei Evaluationen oder agency-sponsored researches ist dies selten möglich, hier kommen schnellere Methoden wie das KAP Survey (Assessment of Knowledge, Attitudes, and Practice) zur Anwendung. Heald erkennt den Wert solcher Daten, kritisiert aber den Mangel an Holismus, da die Daten nicht im Gesamtkontext der Gesellschaft interpretiert werden können (Heald 2003:218).

5 Die Herausbildung der Disziplin war ein langsamer Prozess. Wichtige Eckdaten sind die Gründung der Amerikanischen Gesellschaft für Gerontologie (1945), der Internationalen Gesellschaft für Gerontologie (1950) und der Deutsche Gesellschaft für Gerontologie (1967) (Baltes/Baltes 1994:6).

6 „Klassische Form“ meint hier eine tatsächliche Pyramidenform, also Gesellschaften bestehend aus vielen Kindern und wenigen Senioren.

7 Die Luo stammen aus der Mara-Region Westtansanias.

8 Cowgill und Holmes griffen einen Gedanken von Burgess auf, der 1960 bereits eine ähnliche Theorie formulierte, dabei allerdings den Fokus auf westliche Gesellschaften legte (Aboderin 2006:7).

9 KIWAMWAKU (Kikundi cha wanawake Mwanga kupambana na UKIMWI = Vereinigung der Frauen Mwangas im Kampf gegen AIDS) ist eine kleine NRO mit fünf festen Mitarbeiterinnen und einem angegliederten Verein mit ehrenamtlichen Helfern. Sie bieten Beratung für betroffene Familien oder Einzelpersonen, Seminare für bestimmte Zielgruppen und Unterstützung für alleinerziehende Mütter.

10 Hierfür nutzte ich meist ein zusätzliches informelles Treffen am Ende der Zusammenarbeit. Gastgeschenke wurden unabhängig davon erwartet, was aber in Tansania zur normalen Höflichkeit eines Gastes gehört.

11 Soweit nicht weiter spezifiziert bezieht sich der Name Mwanga im Folgenden auf den Distrikt.

12 URL: http://www.tanzania.go.tz/census/censusdb/index.html (21.11.2007).

13 Es gibt im Mwanga-Distrikt eine große Sisalplantage als einzige produzierende Großindustrie im ganzen Gebiet. Arbeitsplätze werden hier größtenteils an Wanderarbeiter aus anderen Regionen Tansanias vergeben.

14 Bestenfalls stammt der Ehepartner aus einem anderen Pare Clan. Keiner der Informanten konnte die genaue Anzahl der Pare-Clans nennen, schätzten deren Zahl aber auf ca. 50. Je nachdem, welchem Clan man angehört, gibt es eine bestimmte Anzahl anderer Clans, die für eine Ehe in Frage kommen.

15 Zur Auswahl der Informanten, Schneeballprinzip, Hauptinformanten/Spezialisten siehe Beer (2003:22f).

16 Hierauf wird in Kapitel IV- 3.1 näher eingegangen.

17 Kipare, die Sprache der Pare, wird auch Asu, Chiasu, Chasu, Athu oder Casu genannt und hat ca. 500 000 Sprecher. Nur 63% aller Kipare-Sprecher sprechen auch Suaheli (Ethnologue 2008: http://www.ethnologue.com/ show_language.asp?code=asa).

18 Zitate eigener Übersetzungen sind Deutsch wiedergegeben, die des Übersetzers in Englisch. Letztere sind zusätzlich gekennzeichnet durch „n.Ü.v. Nasibu M.“ (= nach Übersetzung von Nasibu M.).

19 Zu Netzwerkanalyse siehe Schnegg und Lang „Netzwerkanalyse“ (2006).

20 Zu semi-strukturierten Interviews siehe den Aufsatz „Formen qualitativer ethnologischer Interviews“ von Judith Schlehe (2003).

21 Wie für den Großteil der Entwicklungsländer ist es auch für Tansania fast unmöglich, genaue Daten zu erheben. Das NACP schätzt, dass nur einer von 14 AIDS-Fällen gemeldet wird, und die tatsächliche Verbreitung weitaus höher ausfällt (URT 2004:6). Andererseits gibt Dilger zu bedenken, dass Statistiken heutzutage auch nach oben hin „frisiert“ werden könnten um mehr Gelder aus westlichen Töpfen abzugreifen (Dilger 1999:14).

22 KIWAMWAKU schätzt die HIV-Prävalenz in Mwanga höher ein: Auf 20% unter Männern und 35% unter Frauen (KIWAMWAKU 2003:1).

23 Infektionen von Senioren stellen ein eigenes sehr umfangreiches Problemfeld dar, das in dieser Arbeit allerdings lediglich als Rahmenbedingung betrachtet werden soll.

24 Besonders die mentale Instabilität im späten Stadium von AIDS wird häufig als Altersdemenz diagnostiziert (CAPS 2000:1).

25 In Tansania gilt das Prinzip des Home-based Care. Die Krankenhäuser sind nur unzureichend für die Pflege von AIDS-Patienten ausgestattet. Daher müssen Kranke meist zuhause gepflegt werden.

26 Zum Thema Alte Menschen, HIV und Trauer in Tansania siehe Josien De Klerk (2006).

27 Nach einer Studie von HelpAge International mussten 94% der befragten Senioren ihre letzte Behandlung bezahlen, 30% wussten nicht wie man sich um kostenlose Behandlung bewirbt (HAI 2005:4).

28 Obwohl die Interviewpartner dies für sich verneinten, erzählten sie von Bekannten und Verwandten in den Bergdörfern, welche ihr ganzes Geld für Zauber gegen HIV-Infektionen ihrer Kinder ausgaben.

29 Der Staat propagiert das „ABC“-Modell der Prävention („Abstain, Be Faithful, Condomise“) mit der Kampagne „Ishi“ („Lebe“). Religiöse Gruppierungen, besonders Christen und Muslime, sprechen sich jedoch gegen Kondome aus. Sie befürworten stattdessen nur die Alternativen der Abstinenz sowie der Treue dem Ehepartner gegenüber. Dies stiftet extreme Verwirrung unter den Jugendlichen in Mwanga (Eigene Erhebungen, siehe auch: Dilger 2005:227-233).

30 TACAIDS: About us - Weaknesses in the Current Institutional Framework. URL: http://www.tacaids.go.tz/ about_us/background.php (26.03.2008).

31 WHO, UNDP, UNICEF, UNFPA, UNESCO, Weltbank. Co-Sponsoren sind auch kleinere Organisationen wie das United Nations Office on Drugs and Crime (UNDCP) oder die International Labour Organisation (ILO) (du Guerny 2002:1).

32 Heald: AIDS und Ethnologie in Afrika. URL: http://www.linksnet.de/textsicht.php?id=1288 (12.02.2008).

Ende der Leseprobe aus 80 Seiten

Details

Titel
Alter und HIV/AIDS - Existenzsicherung, Moralität und Rollenwandel im Mwanga District Nordtansanias
Hochschule
Universität zu Köln
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
80
Katalognummer
V118482
ISBN (eBook)
9783640212934
Dateigröße
4652 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Alter, HIV/AIDS, Existenzsicherung, Moralität, Rollenwandel, Mwanga, District, Nordtansanias
Arbeit zitieren
Lena Wilk (Autor:in), 2008, Alter und HIV/AIDS - Existenzsicherung, Moralität und Rollenwandel im Mwanga District Nordtansanias, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/118482

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