Leseprobe
Gliederung
1. Einleitung
2. Selbsthass in der Quelle „Höre, Israel!"
2.1 Theorie: „Selbsthass“
2.2 Quellen Analyse „Höre, Israel!“
3. Fazit
4. Quellenverzeichnis
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: Wenn ihm zum ersten Male voll bewußt wird, daß er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist und keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann.“1
Mit diesen Worten beschrieb der deutsche, jüdische Politiker Walter Rathenau 1911 seine Erfahrungen in der preußischen Armee, in der er 1890/91 gedient hatte. Obwohl im Deutschen Kaiserreich seit der Reichseinigung 1871 offiziell Juden und Christen gleichberechtigt waren, kam es in der Praxis immer wieder zu Diskriminierungen mit antisemitischem Hintergrund. Beispielsweise konnten Juden bis zur Weimarer Republik weder aktive Offiziere noch Reserveoffiziere, Hochschullehrer oder Minister werden, solange sie nicht getauft waren.2 Mit diesen Maßnahmen wollte die Regierung einer „Verjudung“ des Beamtenwesens entgegenwirken.3 In dieser von Antisemitismus geprägten Zeit wuchs der am 29. September 1867 geborene Walter Rathenau als Sohn eines jüdischen Betreibers einer Maschinenfabrik in Berlin auf. Rathenau selbst musste Antisemitismus erfahren, als ihm bei seinerzeit im Militär der Aufstieg zum Offizier verwehrt wurde.4 1897 veröffentlichte er sein erstes literarisches Werk in Form eines Zeitungsartikels mit dem Titel „Höre, Israel!“.5 In diesem äußerst kontroversen Artikel setzte sich Rathenau mit seinem Judentum auseinander und schlussfolgerte, dass die Juden selbst Schuld für den Antisemitismus im Kaiserreich gewesen seien.6 12 Jahre später distanzierte sich Rathenau von diesem Text. Er habe den Artikelin der unglücklichsten Stunde seiner trübsten Zeit(...)“7 verfasst. Nach Veröffentlichung des Artikels verbesserte sich schließlich wieder sein Verhältnis zum Judentum.8 1922 wurde Walther Rathenau aufgrund seiner Religion Opfer eines rechts extremistischen Attentats, während er das Amt des Reichsaußenmister innehatte.9
Doch auch wenn sich Rathenau später von dieser Schrift distanzierte, blieb sie gerade für antisemitische Propaganda interessant.10 Obwohl Rathenau selbst Jude war, ähnelte seine Sprache in dieser Quelle stark antisemitischer Hetze.11 Dieses Verhalten, also jüdischer Antisemitismus, könnte auf kulturellen Selbsthass zurückzuführen sein.
In der Hausarbeit soll das Phänomen des kulturellen Selbsthasses in Bezug auf die Quelle „Höre, Israel!“ untersucht werden. Die konkrete Forschungsfrage lautet also: Inwieweit lässt sich kultureller Selbsthass in der Quelle „Höre, Israel!“ feststellen?
Im ersten Schritt wird das Phänomen des Selbsthasses ausgearbeitet. Es wird dargestellt, was Grundlage für die Entstehung, was zentrale Motive und Aspekte kulturellen Selbsthasses sind. Im folgenden Schritt wird die Quelle „Höre, Israel!“ vor dem Hintergrund des kulturellen Selbsthasses analysiert. Anschließend wird im Fazit die Forschungsfrage beantwortet.
Grundlage für diese Arbeit ist somit die Quelle „Höre, Israel!“ von Walther Rathenau.12 Kultureller Selbsthass und Walther Rathenau wurde in der Forschung bereits viel diskutiert. Peter Löwenberg beschäftigte sich 1979 mit Selbsthass und ging hierbei besonders auf die Psychologie dahinter ein.13 Auch speziell der jüdische Selbsthass ist in der Forschung zum Beispiel von Sander Gilmann behandelt worden. Er liefert eine genaue Beschreibung, wie Selbsthass entsteht.14 Biografische Werke von Walther Rathenau lassen sich nur schwer vollständig auflisten, jedoch ist die Rathenau Biografie von Lothar Gall am aktuellsten.15 Auch die Quelle „Höre, Israel!“ stand schon im Zentrum der Forschung. Zur Quellenanalyse wurde besonders Steffi Baros und Shulamit Volkovs Interpretationen der Quelle genutzt.16
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich diese Hausarbeit mit dem ge- sellschafts-psychologischen Phänomen des Selbsthasses, insbesondere des kulturellen Selbsthasses in der Quelle „Höre, Israel!“ befasst.
2. Selbsthass in der Quelle „Höre, Israel!“
2.1 Theorie: „Selbsthass“
Grundsätzlich wird Selbsthass als Neurose definiert, die durch mangelhafte Assimilierung von Individuen einer Minorität an die sozialen Zwänge, die ihren Minderheitenstatus ausmachen, ausgelöst wird.17 Einfach gesagt ist Selbsthass als Reaktion einer Person in einer unfreundlichen Umgebung zu verstehen, bei der die erhaltene Aggression nach innen gewendet wird.18
Das Phänomen Selbsthass kann in verschieden Formen auftauchen, jedoch wird sich diese Arbeit hauptsächlich mit dem kulturellen Selbsthass auseinandersetzten. Dieser kulturelle Selbsthass tritt bei allen ethnischen Minderheiten auf.19 So gibt es nicht nur den „Jüdischen Selbsthass“, sondern auch zum Beispiel den „Selbsthass der Schwarzen“ oder der „Selbsthass der Homosexuellen“.20 Ausgangspunkt für den kulturellen Selbsthass ist, dass die Mehrheitsgesellschaft die Minderheit als „anders“ empfindet. Die Kategorie der „Andersartigkeit“ entsteht meist aus äußeren Signalen wie Sprache, Kleidung, Gesellschafts- und Hygieneregeln, Geschlecht, Hautfarbe oder Gestalt und führt zur Bildung von Mythen und Stereotypen.21 Diese von der Mehrheitsgesellschaft definierten Mythen und Stereotype können nun von Individuen der Minderheit als Wahrheit aufgefasst werden. Die Wahnbilder der Mehrheit werden somit zur Wirklichkeit von einzelnen Individuen der Minderheit.22 Diese Individuen sehen sich selbst als „anders“ an und wollen von der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert werden. Die Lösung dieses Problems sehen einige
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1 Lothar Gall, Walther Rathenau. Portrait einer Epoche, München 2009.
2 Vgl. PeterBerglar, Walther Rathenau. Ein Leben zwischen Philosophie und Politik, Graz 1987.
3 Vgl. Ebd.
4 Vgl. Clemens Picht, „Er will der Messias der Juden werden". Walther Rathenau zwischen Antisemitismus und jüdischer Prophetie, in: Hans Wilderotter, Walther Rathenau 1867-1922. Die Extreme berühren sich, Berlin 1993, S. 117-128.
5 Vgl. Shulamit Volkov, Walther Rathenau. Ein jüdisches Leben in Deutschland 1867-1922, München 2012.
6 Vgl. Ebd.
7 Wolfgang Brenner, Walther Rathenau. Deutscher und Jude, München 2005.
8 Vgl. Shulamit Volkov, Walther Rathenau. Ein jüdisches Leben in Deutschland 1867-1922.
9 Vgl. Wolfgang Brenner, Walther Rathenau. Deutscher und Jude.
10 Vgl. Clemens Picht, „Er will der Messias der Juden werden", S. 117-128.
11 Vgl. Shulamit Volkov, Walther Rathenau. Ein jüdisches Leben in Deutschland.
12 Siehe dazu: Walther Rathenau, Höre, Israel!, in; Martin Sabrow/ErnstSchulin (Hgg.), Walther Rathenau- Gesamtausgabe I. Walther Rathenau, Schriften der Wilhelminischen Zeit 1885-1914, Düsseldorf 2015, S. 108-130.
13 Vgl. Peter Loewenberg, Antisemitismus und jüdischer Selbsthass. Eine sich wechselseitig verstärkende sozialpsychologische Doppelbeziehung, in: Geschichte und Gesellschaft 5 (1979), S. 455-475.
14 Siehe dazu: Sander Gilmann, Jüdischer Selbsthass. Antisemitismus und die verborgene Sprache derJu- den, Frankfurtam Main 1993.
15 Siehe dazu: Lothar Gall, Walther Rathenau. Portrait einer Epoche.
16 Siehe dazu: Steffi Bahro, „Höre, Israel!" im Netzwerk der Moderne, in; Sven Brömsel/Patrick Küppers/ Clemens Reinhold (Hgg.), Walther Rathenau im Netzwerk der Moderne, Berlin 2014, S. 109-135.; Shulamit Volkov, Walther Rathenau. Ein jüdisches Leben in Deutschland 1867-1922.
17 Vgl. Peter Loewenberg, Antisemitismus und jüdischer Selbsthass. Eine sich wechselseitig verstärkende sozialpsychologische Doppelbeziehung, S. 455-475.
18 Vgl. Ebd.
19 Vgl. Ebd.
20 Vgl. Sander Gilmann, Jüdischer Selbsthass. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden.
21 Vgl. Ebd.
22 Vgl. Ebd