Die gegenwärtigen Prognosen der demografischen Entwicklung als Krisenszenario

Konsequenzen für die Soziale Altenarbeit


Diplomarbeit, 2008

68 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Kapitel I
Einleitung
1. Wissenschaft der Demographie
2. Demographische Entwicklung im globalen Kontext
3. Bevölkerungsentwicklung Europa
3.1 Historischer Rückblick
3.2 Aktuelle Situation

Kapitel II
1. Demographischer Wandel
2. Der Problemdiskurs
2.1 Akteure und Profiteure
2.2 Politik
2.3 Ökonomie/ Wirtschaft
2.3.1 Konzerne
2.3.2 Industrie und Handwerk
2.3.3 Gesundheit und Pflege

Kapitel III
1. Soziale Alten-Arbeit
2. Zur Begriffsbestimmung Alt
2.1 Altenbilder
2.2 Das Konzept der Persönlichen Assistenz
2.2.1 Stationäre Pflegeeinrichtungen
2.2.2 Ambulante Betreuung
3. Soziale Altenarbeit im Kontext des Demographischen Wandels

Zusammenfassung und Ausblick

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Internetquellen

Einleitung

In den vergangenen fünf Jahren wurde der „Demographische Wandel“ immer häufiger öffentlich in einer Form diskutiert, die dem Leser und/oder Fernsehzuschauer den Eindruck vermitteln kann (und vielleicht auch soll), dass die Gesellschaft vor einem unlösbaren Problem steht. Das Problem sind die alten und älteren Menschen, die in den kommenden Jahren die Mehrheit der bundesrepublikanischen Bevölkerung stellen werden. Der Anteil der über 60 Jährigen an der Gesamtbevölkerung wird im Jahr 2050 36 Prozent betragen.

Das entstandene Szenario präsentiert uns eine Zukunftsvision, nach der wir mit fast 100 prozentiger Sicherheit alle dement werden, vergreisen, verarmen und irgendwann sozusagen von der „Bildfläche“ bzw. Landkarte Europas verschwinden werden. Zur Behauptung und Unterstützung dieser These werden Grafiken heran gezogen „von der Pyramide zum Pilz“.

Zahlen sagen nicht viel aus, aber Beschreibungen, Graphiken und Metaphern lassen Bevölkerung sozusagen sichtbar werden. Wie schreibt Thomas Etzemüller: „Der dominierende Bevölkerungsdiskurs verdankt seine Schlagkraft Prozessen des Sehens und ihrer Popularisierung; ohne das Sehen wäre die Bevölkerung nie in die Realität getreten.“ (Etzemüller, 2007, S. 14)

Zum besseren Verständnis der in der Arbeit enthaltenen Grafiken und Daten, beginnt diese mit einer Kurzeinführung in das Thema Demographie. Der Einblick in die Verfahrensweisen bezüglich der Erhebung von Daten sowie das Aufzeigen möglicher Fehlerquellen scheint mir, im Kontext dieser Arbeit, sinnvoll. Die Wissenschaft der Demographie schafft zu allererst die Daten (und Fakten), die der Diskussion um den „Demographischen Wandel“ als Grundlage dienen.

1. Zur Wissenschaft der Demographie

1996 wurden drei Professuren und die beiden einzigen Juniorprofessuren an der Universität Rostock eingerichtet. Die bis zu diesem Zeitpunkt entwickelten demographischen Theorien und Zukunftsprognosen kamen von demographisch forschenden Wissenschaftlern aus anderen Disziplinen (z.B. der Soziologie und Ökonomie, der Medizin, und auch der Rechts- und Geschichtswissenschaft). Im Laufe der vergangenen Jahre hat sich die demographische Forschung zu einer eigenständigen Wissenschaft emanzipiert. (vgl. Barlösius u. a. 2007, S.13-15)

Verfahrensweise und mögliche Fehlerquellen

Notwendige Daten zur Entwicklung der Bevölkerungsstruktur ergeben sich z.B. aus Volkszählungen und Stichproben. Auf Grundlage der genannten Variablen1 und anhand statistischer Methoden und mathethematischer Modelle wird die Bevölkerungsentwicklung prognostiziert. Die Demographie arbeitet mit Statistiken. Statistik, so Bohley, „ist eine bestimmte Art der Information und eine bestimmte Art der Informationsgewinnung.“ (Bohley, 1992, S. 2 )

Eine Statistik ist zuerst das Ergebnis des Zählens und Messens von Dingen und/oder Phänomenen, die wiederholt und zumeist massenhaft auftreten. Eine Voraussetzung für statistische Erhebung und Verarbeitung ist in der Regel das Vorliegen einer Masse; sie steht im Gegensatz zur Information über ein einmaliges, spezifisches Ereignis. Massenphänomene werden zahlenmäßig fest gehalten. Das Typische wird ebenso ermittelt wie das Beachtenswerte und in einem letzten Schritt werden Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten herausgefiltert.

Eine typische Fragestellung ist z.B. die Frage nach der Bevölkerungsstruktur und -zahl in den nächsten 30, 40 und 50 Jahren.

Soziale Phänomene sind gekennzeichnet durch Komplexität, Werthaltig- und Vielschichtigkeit und häufig durch Mehrdeutigkeit. So kann z. B. der Kleiderstil einer Epoche nicht allein durch Länge und Weite der Kleidung und die Häufigkeit bestimmter Farben oder Stoffqualitäten erfasst werden. Hinzu kommt auch die gesellschaftliche Bedeutung des jeweiligen Kleidungsstils, die statistisch nicht messbar ist.

Viele Daten, die sich auf soziale Erscheinungen beziehen, werden über das Medium der Sprache gesammelt. (ebd. 1992, S. 3-4) Hier kann es sehr schnell zu Erhebungsfehlern kommen, zu so genannten „Interviewereffekten“ oder „Zählereffekten“. Sei es dadurch, dass der Interviewer Fragen ungenau formuliert oder auch, dass der Befragte ungenaue oder bewusst falsche Antworten gibt. ( vgl. Neubauer W. u. a. 2002, S. 36) So wird Statistik irreführend.

“Es gibt Lügen, schlimme Lügen und als höchste Steigerungsform statistische Lügen“. (Bohley, 1992, S. 4)

Folglich ist es durchaus auch möglich Statistik zu missbrauchen (z.B. durch das Verdrehen von Fakten) um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen.

Bohley weist darauf hin, dass zu unterscheiden ist zwischen insgesamt 4 möglichen Fehler- bzw. Täuschungsarten.

1. Fälschung der Ausgangsdaten, des Urmaterials oder der Urliste oder aber eine versehentlich falsche Messung oder Zählung. Beispiel (Bsp.): Kriegsstatistiken (eigene Stärke fremde Verluste)
2. Die Wahl einer falschen Verarbeitungsmethode ist ein eher unabsichtlicher Fehler, welcher u. a. auch auf Mangel an statistischem Wissen beruhen kann. Falsches Rechnen und auch die falsche Benutzung einer Verarbeitungsmethode führen zu einem fehlerhaften Ergebnis. (Häufig stellen sich richtig addierte Umfrageergebnisse als falsch heraus, weil die Fragen vom Interviewer unklar bzw. nicht richtig formuliert wurden.)
3. Eine unzulässige Darbietung oder irreführende Interpretation der Ergebnisse führt häufig zu falscher oder zu falsch verstandener Statistik.
4. (Der Statistiker H. C. Lombard untersuchte 1835 insgesamt 8488 Sterbefälle und stellte das Durchschnittsalter der einzelnen Berufe fest. Für Studenten stellte er ein Sterbealter von 20 Jahren fest. Seine Interpretation lautete, dass Studenten früh sterben.) (ebd. 1992, S. 2-3)

Bevölkerungsprognosen verfolgen m. E. immer auch einen politischen Zweck und sind nicht frei von Ideologie. Folglich sollte immer danach gefragt werden, warum eine Prognose aufgestellt wurde und was der/die Autor/en damit bezwecken.

Eine zukünftige Bevölkerung lässt sich meiner Ansicht nach nicht exakt berechnen, denn oft handelt es sich um Berechnungen, die auf Vermutungen der Verfasser beruhen.

Beispiel: In den 30iger Jahren des 20. Jahrhunderts gründeten britische Statistiker und Demographen das „Population Investigation Committee“ mit dem Ziel, die Nation vor einem unmittelbar bevorstehenden Bevölkerungsrückgang warnen zu können. 1936 erschien dann ein Pamphlet mit dem Titel: „The Future of Our Population“, in welchem ein prognostiziert wurde, dass es nach 1950 zu einem Bevölkerungsrückgang kommen würde mit einem gleichzeitigen rapiden Anstieg der über 60jährigen in der Bevölkerung. Weiter hieß es, dass die Bevölkerung Groß Britanniens um 1990 dann auf 20 Millionen Briten gesunken sein werde.

1991 lebten in Groß Britannien allerdings tatsächlich 58 Millionen Menschen.

Der Anteil der über 60jährigen werde, so die Aussage, von 12,4% im Jahr 1935 auf 43,8 % steigen.

Tatsächlich lag der Anteil 1991 bei 20,8%. (vgl. Laslett, 1995, S. 24)

Laslett bezeichnet demographische Prognosen dieser Art im weiteren Text als informierte Ratespiele, bei denen die in jüngerer Vergangenheit und der Gegenwart existierenden Trends in die Zukunft fortgeschrieben werden. Schätzungen, die 20 bis 30 Jahre in die Zukunft reichen enthalten seiner Ansicht nach so viele mögliche Fehler, dass die Daten hinsichtlich ihrer Brauchbarkeit angezweifelt werden dürfen.

2. Demographische Entwicklung im globalen Kontext

Mitte der 80iger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde eine Diskussion ganz populär:

„Zu viele Menschen“? Es war die Diskussion um das Bevölkerungswachstum. „Es unterliegt kein Zweifel mehr, dass wir weltweit vor einer Bevölkerungslawine stehen, deren apokalyptische Ausmaße und Auswirkungen (…) unvorstellbar sind.“ (Haller u. a., 2007, S. 38)

Die globale Überbevölkerung wird heute, 25 Jahre später, nicht sonderlich öffentlich diskutiert und spielt im derzeitigen Bevölkerungsdiskurs wenn überhaupt, dann nur noch eine untergeordnete Rolle. (vgl. ebd., 2007, S. 39).

Diskutiert wird heute unter dem Schlagwort „Demographischer Wandel“ die sich verändernde Bevölkerungsstruktur der hoch entwickelten Industrienationen. Diese Gesellschaften „ergrauen“ und „überaltern“ aufgrund des Zusammentreffens dreier Faktoren:

- Sinkende Fertilitätsraten (Fortpflanzungsverweigerung?)
- Steigende Lebenserwartung (folglich sinkende Mortalitätsrate) und
- Sperrung gegen jede gewichtige Zuwanderung

Vor allem die europäischen Staaten sind von dieser Entwicklung betroffen, ebenso wie Russland, Japan, Südkorea und Taiwan. Auch das bevölkerungsreichste Land der Erde, China, muss sich, aufgrund seiner lang praktizierten Ein-Kind-Politik, mit dem Thema auseinandersetzen.

Eine Ausnahme bilden die USA. Hier wächst die Bevölkerung kontinuierlich aufgrund der hohen Zuwanderung auch nachwuchskräftiger Familien. Das Problem der „Überalterung“ betrifft überwiegend die europastämmigen (weißen) Menschen. Auch diese üben sich in Nachwuchsverzicht.

Zurzeit beträgt die Gesamtweltbevölkerung ca. 6,4 Milliarden Menschen. Ungefähr eine Milliarde Menschen, ca. 17 Prozent, leben in westlichen Nationen. Ungefähr zwei Drittel dieser Staaten weisen insgesamt rückläufige Bevölkerungszahlen auf.

China leidet, trotz einer hohen Bevölkerungszahl (ca. 1,4 Milliarden), an den Folgen der Ein-Kind-Politik. Die Überalterung der Bevölkerung ist hier folglich auf das Handeln der Politik zurückzuführen und künstlich herbei geführt.

2,5 Milliarden Menschen leben derzeit in den Entwicklungsländern mit mittlerem, bis geringem Einkommen und die Anzahl der Menschen steigt kontinuierlich.

In Indien leben etwa eine Milliarde Menschen, in Indonesien sind es 250 Millionen, Brasilien hat eine Einwohnerzahl von ca. 200 Millionen. Pakistans Bevölkerung beträgt 180 Millionen Menschen und auch die Einwohnerzahl Bangladeschs liegt bei 160 Millionen. Nigeria, Mexiko, Philippinen, Vietnam, Ägypten, die Türkei und auch der Iran gehören zu den bevölkerungsreichsten Ländern der Erde. Die Gesundheitsfürsorge lässt das Durchschnittsalter kontinuierlich steigen, die durchschnittliche Lebenserwartung ist jedoch nicht so hoch wie in den Industriestaaten.

Eine Milliarde Menschen leben in unterentwickelten Ländern mit einem sehr niedrigen Pro-Kopf-Einkommen. Ein Ende des Bevölkerungswachstums in Afghanistan, Bangladesh, Burma, Niger, Sambia, Senegal, Somalia, Sudan, Uganda u. a. ist nicht abzusehen.

Die durchschnittliche Lebenserwartung ist in den genannten Ländern niedrig, in einigen sinkt sie aufgrund der hohen Mortalitätsrate, verursacht durch Armut, Unterernährung und AIDS. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen jedoch steigt aufgrund der hohen Fertilitätsrate. (vgl. Kernig , 2006,S. 10-19)

Wir sprechen heute von einem Nord – Süd – Verhältnis und folgendem Prozess:

- „Die Reichen im Norden werden: weniger, älter und noch reicher, und
- die Armen im Süden werden:

mehr, jünger und noch ärmer.“ (Kernig, 2006, S. 12)

Ein entscheidender Faktor hierfür ist sicherlich auch, dass Soziale Sicherungssysteme, wie sie in den westlichen Industrienationen teilweise installiert sind, in den so genannten Ländern der „Dritten Welt“ nicht existieren.

Die Versorgung im Alter ist nur durch eigene Kinder (und Nichten, Neffen u./o. anderen Familienangehörigen) gewährleistet.

Wie zur Zeit der Industrialisierung in Europa, findet auch in den unterentwickelten Ländern und den Entwicklungsländern eine Metropolisierung statt. Während jedoch in Europa die Verstädterung aufgrund der Landflucht nicht nur in die Elendsquartiere hinein sondern auch wieder hinaus führte, ist dies in den Ländern der Dritten Welt nicht der Fall. Es mangelt an allgemeiner Bildung, Industriearbeit und Berufsdifferenzierung und – qualifizierung. Menschen mit geringem bis gar keinem Einkommen2 sind derzeit nicht dazu in der Lage ihre politisch-rechtlichen und die technisch-wirtschaftlichen Vorteile zu nutzen. Es existiert eine so genannte Schattenwirtschaft, die nach Schätzungen in einigen Entwicklungsländern ca. die Hälfte aller wirtschaftlichen Transaktionen ausmacht. Die so im Erwerbsleben stehenden Menschen werden offiziell nicht zur Kenntnis genommen und bleiben Außenseiter. (ebd. S. 18 – 21) Soziale Spannungen zwischen Privilegierten und Unterprivilegierten bauen sich zwangsläufig auf. Die Mehrheit der Regierungen der „Dritten Welt“ sieht zurzeit die Bevölkerungsentwicklung ihrer Länder eher negativ und sieht Bedarf für Familienplanungsprogramme. Diese sollen dazu beitragen, ein Sinken der Fertilitätsrate zu forcieren.

Schon für die Neomalthusianer3 „galt: viel Volk, viel Not.“ (Etzemüller, 2007, S. 14)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten4 5 6

Die Veränderung der globalen Bevölkerungsstruktur findet keine Entsprechung in der Verteilung der wirtschaftlichen Güter, wie aus Abbild 3 erkennbar ist. 21 Prozent aller Produkte, die weltweit im Jahr 2003 produziert und konsumiert wurden, entfallen auf Länder mit mittlerem bis niedrigem Einkommen sowie Indien und China.

79 Prozent des Weltbruttosozialproduktes gehen an 16 Prozent der Weltbevölkerung. Besonders deutlich zeigt sich das Missverhältnis bei dem Produktanteil der US- Amerikaner, die fünf Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, jedoch über fast dreißig Prozent des Weltproduktes verfügen.

Der Weltbevölkerungsanteil Indiens liegt bei 17 Prozent, das Land hat 2 Prozent Anteil am Weltbruttosozialprodukt und die Chinesen stellen ein Fünftel der Weltbevölkerung und liegen bei 4 Prozent Teilhabe. (vgl. Kernig, 2006, S. 21)

3. Bevölkerungsentwicklung Europas

3.1. Historischer Rückblick

Im 18. Jahrhundert begann in Europa die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Bevölkerung. Die Annahme, dass die Bevölkerungszahl im Altertum möglicherweise größer gewesen ist als in der Neuzeit, wurde als These einmal aufgestellt, zu einem strittigen Thema. Ihr Entstehen beruhte auf der Tatsache, dass die Bevölkerung innerhalb Europas durch Kriege, insbesondere den Dreißigjährigen Krieg (1618 - 1648)7, sowie einer hohen Mortalitätsrate aufgrund von Epidemien (z. B. Pocken und Pest, Lepra, Syphilis, Typhus, Blattern) und Hungersnöten um mehr als die Hälfte reduziert wurde. Gestorben wurde nicht an Altersschwäche, sondern an allen möglichen Krankheiten und auch Unglücksfällen.

Vor allem die Pest (schwarzer Tod) war die Massenseuche schlechthin vom 14. bis zum 17. Jahrhundert. Ganze Dörfer starben aus, Tausende und manchmal Zehntausende starben in den Städten. (vgl. Borscheid, 1987, S. 20 – 36)

Im ausgehenden 16. Jahrhundert lag die mittlere Lebenserwartung bei 25 bis 30 Jahren. Hessische Pfarrer der Reformationszeit (1517 Martin Luther, Spaltung der Kirche) wurden älter: 30% = 60 Jahre, ca. 21% = über 70 Jahre, 80 Jahre= ca. 9% und 0,6% konnten über 90 Jahre erwarten. Die Zugehörigkeit zur sozialen Schicht spielte hierbei eine Rolle, denn Adel, Großbauern und Grundherren hatten fast uneingeschränkt Zugang zu allen Nahrungsmitteln.

In der Stadt Genf erreichten im 17. Jahrhundert von 1000 Angehörigen der Oberschicht, des Groß- und mittleren Bürgertums 305 das 60. Lebensjahr. In der Mittelschicht (Kleinbürgertum, Handwerker und qualifizierte Arbeiter) erreichten nur noch 171 Menschen von 1000 das 60. Lebensjahr und in der Unterschicht (unqualifizierte Arbeiter und Handlanger) nur noch 106.

(ebd., 1987, S. 20 – 36)

Das Problem der damaligen Zeit bestand nicht in der Überbevölkerung denn: Die Ressource Mensch war quasi halbiert worden.

Im 18. Jahrhundert, der Zeit des Merkantilismus8, waren bevölkerungspolitische Maßnahmen u. a. die Geburtenförderung, die gesundheitliche Fürsorge bzw. Verbesserung der medizinischen Versorgung und die Forcierung der Einwanderung. Letzteres parallel zu einem Auswanderungsverbot, denn schließlich sollte das Volk sich vermehren und man hegte nicht den Wunsch, die im Lande wohnenden Menschen durch Fremde auszutauschen.9

Die Mortalitätsrate sank während des 19 Jahrhunderts in Europa kontinuierlich. Die Fortschritte in der Medizin führten dazu, dass gefährliche Infektionskrankheiten bekämpft und die Sterblichkeitsrate im Kindheits- und Erwachsenenalter zurückgedrängt wurden. (vgl. Ehmer 1990, S.198) Gegen Ende des Jahrhunderts begann für die gesamte Bevölkerung Mittel- und Westeuropas ein rapides Ansteigen der Lebenserwartung.

Es war das Zeitalter der Industrialisierung.

Vor der Industrialisierung, so erklärt die „Theorie des demographischen Übergang“, wiesen die europäischen Staaten, zur Kompensation der hohen Kindersterblichkeit, eine hohe Fertilitätsrate auf. Die Familien brauchten viele Nachkommen, damit wenigstens einige überlebten. Mit dem Rückgang der Säuglings- und Kleinkindsterblichkeit ging nicht automatisch der Rückgang der Geburtenrate einher. Vielmehr kam es durch das hohe Niveau der Geburtenrate zu einem raschen Anstieg der europäischen Bevölkerung. Es dauerte geraume Zeit, bis eine Anpassung der Menschen an die verbesserten Lebensbedingungen erfolgte. Dies zeigte sich im Rückgang der Anzahl der Geburten und das Verhältnis von Fertilitäts- und Mortalitätsrate stabilisierte sich auf einem niedrigeren Niveau. (vgl. Etzemüller, 2007, S. 43)

Während dieser Zeit des demographischen Übergangs änderten sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen ständig. Die Veränderungen waren so gravierend, dass von Generation zu Generation kaum verlässliche Erfahrungen weiter gegeben werden konnten, da sich die Lebenswelt in einem ständigen Wandel befand. (vgl. Kernig, 2006, S. 48)

Und so stieg die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der Bevölkerung Mittel- und Westeuropas von Mitte des 18. bzw. dem Beginn des 19. Jahrhunderts (die Industrialisierung setzte auf dem europäischen Festland ein) bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts kontinuierlich von 0,44 Prozent auf 0,79 Prozent. (vgl. Herwig in bpb (Hg.), Heft 282)

Die Bevölkerung Großbritanniens (GB) wuchs zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert rasant aufgrund steigender Geburtenraten, besserer hygienischer Verhältnisse und medizinischer Versorgung von 6,7 auf 10,2 Millionen (Mio.) Menschen. 1851 zählte der Staat 21 Mio. Einwohner.10

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzte die Industrialisierung sich auf dem europäischen Festland fort und gegen Ende des Jahrhunderts begann für die gesamte Bevölkerung Mittel- und Westeuropas ein rapides Ansteigen der Lebenserwartung.

Gleichzeitig kam es, nicht nur in der englischen Bevölkerung, zu einem Geburtenrückgang, sondern in allen europäischen Ländern Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts. Dieses Phänomen der sinkenden Mortalitäts- und der Fertilitätsrate bei gleichzeitigem Anstieg der Lebenserwartung hielt ca. 70 Jahre lang an. Der „Babyboom“ der 50iger und 60iger Jahre des 20. Jahrhunderts ist nachweislich auf die Verluste des zweiten Weltkrieges zurückzuführen. Im Verlauf der 70iger Jahre entwickelte sich die Fertilitätsrate rückläufig (es wurden weniger Kinder geboren) und so stieg der Anteil alter Menschen. Der relativ hohe Anteil alter Menschen entwickelte sich folglich aufgrund der verringerten Anzahl von jüngeren Menschen. Die Auswirkungen der sinkenden Mortalitätsrate können eher als gering bezeichnet werden. (vgl. Laslett, 1995, S. 93-94)

3.2 Aktuelle Situation

Der Zusammenhang zwischen Wohlstand und sinkender Geburtenrate wurde bereits erwähnt und zeigt sich deutlich in allen westlich hoch entwickelten Nationen.

In Europa einschließlich der BRD wird von Wissenschaftlern besonders gerne und häufig u. a. die „Fortpflanzungsverweigerung der Baby-Boomer- Generation“ (auch Antibaby-Boomer, da die Generation sich in Nachwuchsverzicht übte) als Ursache für den Bevölkerungsschwund genannt.

In Großbritannien sank die Geburtenrate Ende 1870 und der so genannte „demographische Übergang“ war eingeleitet. Dieser Vorgang ereignete sich auch in allen anderen europäischen Ländern im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Parallel dazu sank die Mortalitätsrate und die Lebenserwartung stieg deutlich an.

Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Fertilitätsrate (1950 -1960), die Kindersterblichkeit ging kontinuierlich zurück und es kam zu Einwanderungen junger Menschen (z. B. aus Indien).

Großbritannien entwickelte sich bis heute zu einem Land mit niedriger Fruchtbarkeitsrate, niedriger Mortalitätsrate und mit niedrigem bis gänzlich fehlendem Wachstum. Die Bevölkerung kann als extrem alt bezeichnet werden.

Dieser Zustand wird sich kurzfristig nicht ändern/ändern lassen, auch nicht durch eine steigende Fertilitätsrate. (vgl. Laslett, 1995, S. 93-97) Die „Alterung“ einer Gesellschaft ist immer auf eine Kombination mehrerer Faktoren zurück zu führen, die national unterschiedlich sind, weshalb es nicht möglich ist, die einzelnen Faktoren (Fertilitäts- und Mortalitätsrate, Zu- und Abwanderung, steigende Lebenserwartung) isoliert zu sehen. Ein besonders wichtiger Punkt ist der zeitliche Aspekt.

„Wie jeder Bevölkerungsprozess verläuft auch die demographische Alterung in langfristigen Zeitmaßstäben: […]„Sie ist vielmehr langfristig bedingt und wirkt sich auch langfristig aus, […]“ (vgl. Mai, 2003, S. 17)

Claus D. Kernig ist der Ansicht, dass folgende fünf Punkte, die während des Übergangsprozesses (hier ist der „Demographische Übergang“ gemeint) von Nation zu Nation unterschiedlich waren:

1. der Zeitpunkt des Beginns,
2. die Dauer des Übergangs,
3. das Profil des Verlauf,
4. die Umstände der Politik und
5. die technischen Voraussetzungen.

Dieser Prozess des Übergangs war für Großbritannien (als Vorreiter der Industrialisierung) am langwierigsten. (vgl. Kernig, 2006, S. 48)

Diejenigen Nationen, in denen die Industrialisierung später einsetzte, profitierten von den veränderten, vor allem auch verbesserten, technischen Veränderungen.11 Die Bevölkerung erlebte die rasanten nationalen Industrialisierungsprozesse als „Umsturz“ allen Althergebrachten. Alte Gewerbe mussten neu entstehenden Industrien weichen. Technische Neuerungen erwarteten neue Verhaltensweisen. „Wanderungen führten vom Land in die Städte. Arbeitsteilung schuf ebenso Reichtum, wie sie Massen in die Armut trieb.“(Kernig). Es entstanden soziale Probleme, die auch für die Politik nicht ohne Konsequenzen blieb. Neue politische Parteien entstanden ebenso wie Gewerkschaften und die modernen Staatswesen formierten sich. (ebd, 2006, S. 49 – 50)

Die „Alterung“ der Bevölkerung ist kein Einzelphänomen sondern betrifft fast alle industriell hoch entwickelten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU).

Insgesamt nimmt die Bevölkerung innerhalb der EU kontinuierlich ab und der Altenanteil (in diesem Kontext die über 60 bis 65 jährigen) sehr stark zu. Dieser Anteil wird im Jahre 2050 (sofern die Situation so bleibt, wie sie sich heute darstellt) in fast allen Staaten ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachen. Schweden, Portugal und die Niederlande zeigen allerdings entgegen dem allgemeinen Trend bereits heute ein Anwachsen ihrer Bevölkerung. (vgl. Mai, 2003, S. 119 - 123)

In Europa insgesamt haben die neuen EU-Mitglieder und Nationen mit überwiegend katholischer Bevölkerung die größten Überalterungsquoten. Geht es aber um ökonomische Potenz, so gehören sie zu den Mächtigen dieser Welt und das trotz niedriger Bevölkerungszahl.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten12 13

Nicht ganz schlüssig ist es, in Bezug auf die BRD, den bevorstehenden Bevölkerungsschwund zu problematisieren. Wie viel Raum braucht ein Volk? Sollte die Einwohnerzahl Deutschlands von zur Zeit 82,5 Millionen im Jahr 2050 auf ca. 75,1 Millionen gesunken sein, wäre die Bundesrepublik noch immer eines der am dichtesten besiedelten Länder der Welt. (vgl. Sozialmagazin, 11, 2006, S. 15)

Die Bevölkerungsentwicklung ist allerdings auch regional unterschiedlich. So werden/sind die neuen Bundesländer aufgrund von „Wanderungsverlusten“ stärker von einer „Überalterung“ betroffen. Langfristig wird sich der Altenquotient (AQ) in diesen Bundesländern deutlich gegenüber dem in den alten Bundesländern verändern bedingt durch eine relativ hohe Abwanderung junger/jüngerer Menschen. Insgesamt sind alle Bundesländer von Wanderungsbewegung betroffen, so dass die Prognosen im Hinblick auf eine zukünftige Bevölkerungsstruktur in Städten und Regionen, Dörfern und Landkreisen unterschiedlich ausfallen. Die Bundesländer Sachsen-Anhalt und Brandenburg werden, laut Berechnungen des Statistischen Bundesamtes, am stärksten von dieser Entwicklung betroffen sein und bis 2050 ca. 30 Prozent ihrer Bevölkerung verlieren. Bayern kann mit einem Bevölkerungswachstum von ca. 1 Prozent rechnen (bedingt vor allem durch den Ballungsraum München) und Hamburg mit einem Anstieg um ca. 3,3 Prozent. (Schröer/Staubhaar, 2007 S. 170-171)

[...]


1 Demographie beschäftigt sich mit der Struktur, Verteilung und Veränderungen von Bevölkerung. Bevölkerungsstrukturen: (Bevölkerungsstruktur verstanden als die Zusammensetzung der Bevölkerung aus Gruppen, die sich durch bestimmte Merkmale (z. B. Alter, Geschlecht, Nationalität etc.) unterscheiden Bevölkerungsbewegungen: nicht nur auf die räumliche Mobilität bezogen sondern auch auf Fertilität (Geburtenrate) und Mortalität (Sterberate) Bevölkerungsentwicklung

2 In der so genannten „Dritten Welt“ verfügen ca. eine Milliarde Menschen über weniger als zwei US- Dollar am Tag (vgl. Layard R., 2005, S. 64)

3 Malthus, Thomas Robert: Der britische Wirtschaftswissenschaftler und Sozialphilosoph lebte von 1766 bis 1834. Malthus war zunächst Pfarrer; seit 1805 Professor für Geschichte und politische Ökonomie. Er wurde vor allem durch seine pessimistische Bevölkerungslehre bekannt. In seiner Streitschrift "Versuch über das Bevölkerungsgesetz" führte er das menschliche Elend seiner Zeit auf das Anwachsen der Bevölkerung zurück, die stets die Tendenz zeige, stärker als der Nahrungsmittelspielraum zu wachsen. Sein Buch, das schon zu seinen Lebzeiten in zahlreichen Auflagen erschien, erregte beträchtliches Aufsehen.

4 Abb. 1 Quelle: Prof. Dr. Claus D. Kernig Im Wesentlichen vollzieht sich das Bevölkerungswachstum in den sog. Entwicklungsländern. Für die hoch entwickelten Industrienationen geht die Wachstumsphase, die mit der Industrialisierung begann, zu Ende.

5 Abb. 2 Quelle: Prof. Dr. Claus D. Kernig ,

6 Abb. 3 Quelle: Prof. Dr. Claus D. Kernig,

7 Der dreißigjährige Krieg war kein Krieg, der sich kontinuierlich über dreißig Jahre hinzog. Die Zeit von 1618 bis 1648 wurde von mindestens 13 Kriegen und zehn Friedensbeschlüssen bestimmt. In den 70iger Jahren des 16 Jahrhunderts kam es zudem zu einer heute so genannten „kleinen Eiszeit“, die eisige Winter und feuchte Sommer zur Folge hatte.

8 Merkantilismus: Wirtschaftspolitik im Zeitalter des Absolutismus, die den Außenhandel u. damit die Industrie förderte, um den nationalen Reichtum u. die Macht des Staates zu vergrößern (vgl. Duden)

9 URL: HYPERLINK: http://www.bpb.de/publikationen/OLHVTI,3,0,Historische_Entwicklung_der_Weltbevlkerung.html , Stand , 22.02.2008

10 URL:HYPERLINK:http://www.wissen.de/wde/generator/wissen/ressorts/geschichte/epochen/Neuze it/index,page=2450284.html, Stand 20.11.2007

11 Die Ursprünge der „industriellen Revolution“ liegen in Großbritannien. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begannen die Neuerungen in der Textilbranche („spinning-jenny“), dem Bergbau und dem Hüttenwesen (z. B. Dampfmaschine). Bahn brechend war die Erfindung der Eisenbahn. Ein rascher Aufschwung des Bergbaus und der Schwerindustrie setzte ein. (vgl. Ehmer, 1990, S. 198)

12 Abb. 4 vgl.: Prof. Dr. Claus D. Kernig, Rot = Gesamtbevölkerung in Millionen

13 Abb. 5 Quelle: Prof. Dr. Claus D. Kernig 1950 – 2050. Der Lebenslauf der geburtenstarken Jahrgänge bis ins Rentenalter lässt sich so verfolgen ebenso wie die Einkerbungen von frühen Einflussfaktoren (2. Weltkrieg) erkennbar sind. Erkennbar auch, dass der Nachwuchsmangel sich bereits in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zeigt und die Bevölkerung zur Überalterung tendiert.

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Details

Titel
Die gegenwärtigen Prognosen der demografischen Entwicklung als Krisenszenario
Untertitel
Konsequenzen für die Soziale Altenarbeit
Hochschule
Evangelische Hochschule Darmstadt, ehem. Evangelische Fachhochschule Darmstadt
Note
2
Autor
Jahr
2008
Seiten
68
Katalognummer
V118563
ISBN (eBook)
9783640213528
Dateigröße
1304 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Prognosen, Entwicklung, Krisenszenario
Arbeit zitieren
Diplom-Sozialpädagogin Elisabeth Frieling-Fedder (Autor:in), 2008, Die gegenwärtigen Prognosen der demografischen Entwicklung als Krisenszenario, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/118563

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