Geschichte und Wahrheit

Johan Huizingas Kritik an der Verfälschung der Geschichtswissenschaft Anfang des 20. Jahrhunderts


Hausarbeit, 2008

14 Seiten, Note: 2.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Verfälschung der Geschichtswissenschaft in drei „Formen“
2.1 Anpassung der Geschichtswissenschaft an die Soziologie
2.2 Historische Belletristik als „parfümierte Geschichte“
2.3 „Knechtschaft“ der Geschichtswissenschaft

3. Die Aufgabe der Geschichtswissenschaft nach Huizinga

4. Zusammenfassung

5. Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Einzig das völlig ehrliche Bedürfnis, die Vergangenheit so gut als möglich zu verstehen, ohne Beimischung eigenen Geistes, macht ein Werk zur Historie. Die Eingebung, die uns das Urteil fällen läßt, darf einzig getragen sein durch die unbedingte Überzeugung: so muß es gewesen sein.[1]

Der Methodenstreit der 1890er Jahre, der wegen der bis dahin von der Mehrheit vertretenen Meinung radikal abweichenden Geschichtsauffassung Karl Lamprechts entbrannt war, hatte im Bereich der Geschichtsforschung eine Zweiteilung der wissenschaftlichen Ansicht darüber, wie die historische Arbeit in Zukunft zu verrichten sei, zur Folge. Auf der einen Seite gab es die Anhänger der traditionellen Geschichtsschreibung, die seit Leopold von Ranke einen stärkeren Quellenbezug mit Drang zur Objektivität verlangten. Rankes Leitsatz, Geschichte zu schreiben „wie sie eigentlich gewesen“[2], sollte hierfür als Grundmotivation zur Forschung dienen. Zudem war Geschichtsschreibung bislang wegen Wissenschaftlern wie Treitschke stark politisch und national-geschichtlich orientiert. Auf der anderen Seite gab es Historiker, die es für notwendig hielten, das Aufgabenfeld der Geschichte zu erweitern. Lamprecht bot mit seiner naturwissenschaftlich-kulturgeschichtlichen Auffassung eine Alternative, die einen Nährboden für neue Zweige in der Geschichtswissen-schaft bot.

Zweige wie Kulturgeschichte oder Wirtschafts- und Sozialgeschichte hatten insbesondere in der Zwischenkriegszeit einen Auftrieb erfahren. Mit den Annales d’histoire sociale gaben die Franzosen Marc Bloch und Lucien Febvre ein Werk heraus, das die wissenschaftliche Methodik in Frankreich von Grund auf verändern sollte.[3] Aber nicht nur in Europa, auch in den Vereinigten Staaten von Amerika wollte man etwas Neues durch die Geschichtsschreibung bewirken. Eine Bewegung, die auf der Columbia University in New York ins Leben geweckt wurde, war die New History.[4] In Frankreich, den USA und in Italien erfuhr die Geschichtsforschung eine Annäherung zur Soziologie, meist durch Soziologen, die Kultur- oder Sozialgeschichte betrieben. Nicht nur Wissenschaftler interessierten sich an der Geschichtsschreibung, sondern auch die Allgemeinheit zeigte seit dem 19. Jahrhundert ein stetig steigendes Interesse an historischen Büchern. Die hohen Verkaufszahlen an historischer Belletristik verleiteten immer mehr Historiker zu einem eher literarischen und weniger kritischen Schreibstil. Das Übel für die Geschichtsschreibung ging jedoch von der absichtlichen Verfälschung der Geschichte für politische Zwecke aus, ganz besonders vom nationalsozialistischen Regime im Deutschen Reich mit Werken wie Der Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts von Alfred Rosenberg.[5]

Vom 23. bis zum 27. Juli 1934 hielt Johan Huizinga vier Vorträge an der Internationalen Sommer-Universität in Santander. Er sollte eine Bilanz über die Entwicklung der Geschichte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts aufstellen.[6] Huizingas vierter Vortrag ist in Geschichte und Kultur mit dem Titel Der Wert der Historie[7] versehen. Dessen Inhalte lassen sich wie folgt gliedern: Einleitende Fragen (S. 85-86), das Geschichtsbild in der modernen Gesellschaft (S. 86), Argumentation für den Wert detaillierter Studien als Vorstudien (S. 87), der Gegensatz Historismus – Antihistorismus (S. 87-91), Aufgabe der Geschichtswissenschaft (S. 91-105).[8] Der letzte Gliederungspunkt bildet die Grundlage für diese Arbeit.

Johan Huizinga kritisierte zunächst die schematische Einteilung der Geschichtswissenschaft in Ernst Bernheims Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie[9], die eine Entwicklung von einer „referierenden“ Geschichte, über eine „lehrhafte“, zu einer „entwickelnden“ Geschichte darstellt. Die Kritik Huizingas war die Trennung dieser Begriffe voneinander. Für ihn bildeten diese Begriffe drei „Momente“ der Geschichte, die immer zuträfen, und Anfang des 20. Jahrhunderts eine „Übertreibung“ in drei „Formen“ erfahren hatten.[10]

Die folgende Arbeit soll die Verfälschung der Geschichtswissenschaft Anfang des 20. Jahrhunderts anhand Johan Huizingas Vortrag über den „Wert der Historie“, den er vermeintlich am 27. Juli 1934 an der Internationalen Sommer-Universität in Santander hielt, darstellen. Als Quelle für Huizingas Vortrag wird im Folgenden die deutsche Übersetzung aus Geschichte und Kultur, herausgegeben von Kurt Köster, verwendet.

2. Die Verfälschung der Geschichtswissenschaft in drei „Formen“

2.1 Anpassung der Geschichtswissenschaft an die Soziologie

In den 1910ern entstand in den USA der Ausdruck New History[11]. Dieser wurde zum ersten Mal vom Historiker und Soziologen J. H. Robinson gebraucht. Robinson war der Meinung, dass die Erkenntnis unumgänglich sei, dass die Geschichtswissenschaft eines der vielen Möglichkeiten darstellt, die Menschheit zu studieren. Um dieses hochgesteckte Ziel erreichen zu können, müsse man mit verschiedenen Bereichen der Sozialwissenschaften, d. h. mit Anthropologen, Wirtschaftswissenschaftlern, Psychologen und Soziologen zusammenarbeiten.[12]

1925 lieferte Harry Elmer Barnes mit The New History and the Social Studies in Anlehnung an Robinsons The New History aus dem Jahre 1912 ein Werk, das für ziemlichen Aufruhr sorgte. Barnes polemisierte gegen Historiker der „Alten Schule“ und forderte eine Rundumerneuerung der Geschichts-forschung.[13] Die Forschung solle sich nicht mit herausragenden Individuen befassen, sondern ihr Augenmerk auf ganze Gruppen lenken. Statt seltene Ereignisse festzuhalten, sollten Trends herausgearbeitet werden. Geisteswissenschaftliche Ansätze zur Geschichtsforschung wurden von Barnes kritisiert. Das führte dazu, dass sein Buch von vielen Geschichtswissen-schaftlern größtenteils negativ rezensiert wurde.[14]

Huizinga gab in seinem vierten Vortrag, den er am 27. Juli 1934 vor der Internationalen Sommer-Universität in Santander hielt[15], mit wenigen Worten wieder, was Barnes mit der New History bewirken wollte:

[...]


[1] Johan Huizinga: Aufgaben der Kulturgeschichte, in: Wege der Kulturgeschichte. Studien von J. Huizinga, München 1930, S. 7-77, S. 45.

[2] Guntram Schulze-Wegener: Kriegsjahr 1944. Im Großen und im Kleinen, Stuttgart 1995, S. 7.

[3] Philippe Ariès: Zeit und Geschichte, Frankfurt a. M. 1988, S. 239.

[4] James Harvey Robinson: Encyclopædia Britannica 2008. Encyclopædia Britannica Online: http://www.britannica.com/EBchecked/topic/505742/James-Harvey-Robinson (Letzter Abruf 21. 09. 2008).

[5] Günther Franz: Das Geschichtsbild des Nationalsozialismus und die deutsche Geschichts-wissenschaft, in: Geschichte und Geschichtsbewußtsein, Göttingen/Zürich 1981, S. 91-111, S. 93.

[6] Johan Huizinga: Geschichte und Kultur, Stuttgart 1954, S. 18 f.

[7] Der Wert der Historie bildet das vierte Kapitel in „Vier Kapitel über die Entwicklung der Geschichte“ aus dem Sammelwerk Geschichte und Kultur, herausgegeben von Kurt Köster.

[8] Huizinga (1954), Kultur, S. 85-105.

[9] Ernst Bernheim: Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie. Mit Nachweis der wichtigsten Quellen und Hilfsmittel zum Studium der Geschichte, Leipzig 1903.

[10] Johan Huizinga: Der Wert der Historie, in: Geschichte und Kultur. Gesammelte Aufsätze, Stuttgart 1954, S. 85-105, S. 91.

[11] Peter Burke: Was ist Kulturgeschichte?, Frankfurt a. M. 2005, S. 147.

[12] Michael Whelan: James Harvey Robinson. the New History, and the 1916 Social Studies Report, in: The History Teacher 24, 2 (1991), S. 191-202, S.193 ff.

[13] Abbott Payson Usher: The New History and the Social Studies by Harry Elmer Barnes, in: The American Economic Review 15, 4 (1925), S. 736-737, S. 737.

[14] Rezensionen: u. a. F. J. Teggart: The New History and the Social Studies by Harry Elmer Barnes, in: The American Historical Review 31, 2 (1926), S. 297-299; T. V. Smith: The New History and the Social Studies by Harry Elmer Barnes, in: The American Political Science Review 19, 4 (1925), S. 826-827.

[15] Johan Huizinga (1954), Kultur, S. 18.

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Details

Titel
Geschichte und Wahrheit
Untertitel
Johan Huizingas Kritik an der Verfälschung der Geschichtswissenschaft Anfang des 20. Jahrhunderts
Hochschule
Universität Duisburg-Essen
Note
2.0
Autor
Jahr
2008
Seiten
14
Katalognummer
V118569
ISBN (eBook)
9783640218738
ISBN (Buch)
9783640218868
Dateigröße
462 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Geschichte, Wahrheit, Huizinga, Historismus, Johan, Kulturgeschichte, Geschichtstheorie, Geschichtsphilosophie, Geschichtsschreibung
Arbeit zitieren
Ismail Durgut (Autor:in), 2008, Geschichte und Wahrheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/118569

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