Die vorliegende Arbeit stellt eine Verbindung zwischen der sozialen Lebenslage, dem Familiensystem und den Entwicklungsprozessen in der Jugendphase her, die aufgrund der besonderen Herausforderungen der körperlichen Entwicklung sowie der Ablösungs- und Autonomiebestrebungen als besonders vulnerable Lebensphase gilt. Dabei wird am Beispiel von Essstörungen dargestellt, wie das Familiensystem im Zusammenhang mit der sozialen Lage die Entstehung der Erkrankung begünstigen kann.
Soziale Ungleichheit umfasst nicht nur die ungleiche Verteilung von wertvollen Gütern. Vielmehr drückt sie die daraus entstehenden Beeinträchtigungen in diversen Lebensbereichen aus. Soziale Ungleichheit geht immer mit höheren Belastungen und geringeren verfügbaren Ressourcen einher, was die Gesundheitschancen sozial benachteiligter Menschen maßgeblich verschlechtert.
Ein Kind wird regelrecht in eine soziale Lage hineingeboren. Seine Entwicklung ist abhängig von dem Rahmen, den sein Familiensystem und die familiäre soziale Lage ihm bereitstellt. Das Familiensystem kann eine unterstützende Wirkung auf den Entwicklungsprozess nehmen und Belastungen ausgleichen. Jedoch kann die Familie durch destruktive Interaktionsmuster auch zu einer zusätzlichen Belastung werden und den Entwicklungsprozess des Kindes einschränken. Das Wohlbefinden des Kindes beziehungsweise Jugendlichen wird somit nicht nur von der sozialen Lage beeinflusst, sondern auch von der Funktionalität seines Familiensystems.
Inhaltsverzeichnis
Abstract
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Gesundheit und Krankheit
2.1 Die Bedeutung von Gesundheit
2.2 Die Bedeutung von Krankheit
2.3 Die Entstehung von Gesundheit und Krankheit
3 Erscheinungsbilder von Essstörungen
3.1 Anorexia nervosa
3.2 Bulimia nervosa
3.3 Adipositas
3.4 Binge- Eating- Disorder
4 Soziale Lebenslagen und Gesundheit
4.1 Soziale Problematiken
4.2 Soziale Lage und gesundheitliche Ungleichheit
4.2.1 Gesundheitliche Belastungen
4.2.2 Gesundheitsrelevante Bewältigungsressourcen
4.2.3 Gesundheitliche Versorgung
4.2.4 Gesundheitsverhalten
4.2.5 Gesundheitliche Ungleichheit
4.3 Soziale Lage und Ernährung
4.4 Soziale Lage im Jugendalter
5 Das soziale System Familie
5.1 Familienformen und familiäre Beziehungen
5.2 Das Familiensystem in der Jugendphase
5.3 Funktionalität und Dysfunktionalität familiärer Strukturen
5.4 Familiäre Beziehungen unter dem Einfluss sozialer Lebenslagen
6 Die Entstehung von Essstörungen im sozialen Kontext
6.1 Die körperliche Entwicklung im sozialen Kontext
6.2 Familiendynamisches Erklärungsmodell
6.3 Direkte familiäre Faktoren
6.3.1 Esskultur und Essen als Medium
6.3.2 Umgang mit Gewicht und Aussehen
6.4 Indirekte familiäre Faktoren
6.4.1 Normen und Werte
6.4.2 Streitkultur
6.4.3 Ablösungsprozess und Autonomie
6.4.4 Trennung und Verlust eines Elternteils
6.5 Essstörungen als Folge der sozialen und familiären Lage
7 Essstörungen im Kontext der sozialen Arbeit
7.1 Berührungspunkte & Aufgaben der sozialen Arbeit
7.2 Sozialpädagogische Präventionsmöglichkeiten
7.3 Sozialpädagogische Interventionsmöglichkeiten
8 Fazit
Literaturverzeichnis
Abstract
Soziale Ungleichheit umfasst nicht nur die ungleiche Verteilung von wertvollen Gütern. Vielmehr drückt sie die daraus entstehenden Beeinträchtigungen in diversen Lebensbereichen aus. Soziale Ungleichheit geht immer mit höheren Belastungen und geringeren verfügbaren Ressourcen einher, was die Gesundheitschancen der sozial benachteiligten Menschen maßgeblich verschlechtert.
Ein Kind wird regelrecht in eine soziale Lage hineingeboren. Seine Entwicklung ist abhängig von dem Rahmen, den sein Familiensystem und die familiäre soziale Lage ihm bereitstellt. Das Familiensystem kann eine unterstützende Wirkung auf den Entwicklungsprozess nehmen und Belastungen ausgleichen. Jedoch kann die Familie durch destruktive Interaktionsmuster auch zu einer zusätzlichen Belastung werden und den Entwicklungsprozess des Kindes einschränken.
Das Wohlbefinden des Kindes, beziehungsweise Jugendlichen wird somit nicht nur von der sozialen Lage beeinflusst, sondern auch von der Funktionalität seines Familiensystems.
Die vorliegende Arbeit stellt eine Verbindung zwischen der sozialen Lebenslage, dem Familiensystem und der Entwicklungsprozesse in der Jugendphase her, die aufgrund der besonderen Herausforderungen der körperlichen Entwicklung, sowie der Ablösungs- und Autonomiebestrebungen, als besonders vulnerable Lebensphase gilt.
Dabei wird am Beispiel von Essstörungen dargestellt, wie das Familiensystem im Zusammenhang mit der sozialen Lage die Entstehung der Erkrankung begünstigen kann.
1 Einleitung
In der Regel begegnet ein Mensch im Laufe seines Lebens unterschiedlichen, mehr oder weniger gefährlichen Krankheiten. Dementsprechend kennen die meisten Menschen unzählige Krankheitsbilder, jedoch nur eine Gesundheit. Die Gesundheit gilt als das größte Kapital, das ein Mensch besitzen kann. Sie ist das, was den Menschen am Leben hält. Manchmal kann jedoch auch eine Krankheit eine Funktion erfüllen, die den Betroffenen1 subjektiv am Leben hält. So kann eine Essstörung Halt geben und Raum verschaffen, Grenzen setzen oder Trost spenden, wenn die Herausforderungen des Lebens zu groß erscheinen.
Doch warum erkranken Menschen in Folge von Belastungen, während andere gesund bleiben? Welche Faktoren haben Einfluss darauf, welchen Belastungen ein Mensch ausgesetzt ist und ob er diese bewältigen kann? Warum sind einige Jugendliche in ihrem Entwicklungsprozess bereits so stark belastet, dass sie an einer Essstörung erkranken?
Die Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaft sind immer wieder Thema in der Politik. Häufig wird in diesem Zusammenhang von sozialer Ungleichheit oder Chancenungleichheit gesprochen und bezieht sich vor allem auf die ungleiche Verteilung von Einkommen und Bildung innerhalb der Gesellschaft (vgl. Beushausen 2013: S. 187). Auch die soziale Arbeit beschäftigt sich mit dem Thema der sozialen Ungleichheit, denn sie hat als Teil der sozialstaatlichen Dienstleistungen den Auftrag, diese Ungleichheiten auszugleichen.
Diese Arbeit beschäftigt sich mit den ungleichen sozialen Lebenslagen und stellt einen Bezug zu der Gesundheit her. Dabei sollen Faktoren herausgestellt werden, die sich aus der Lebenslage ergeben und Einfluss auf die Gesundheit nehmen. Eine intensive Betrachtung wird sich im Verlauf der Arbeit auf die besondere Bedeutung des sozialen Systems Familie, als Bestandteil der sozialen Lage richten und die Faktoren und Einflüsse der Familie am Beispiel von Essstörungen spezifizieren. Dabei wird sich Analyse des Familiensystems, sowie die Bezugnahme zu der sozialen Arbeit, auf Essstörungen im Jugendalter beschränken. Um eine Verständnisgrundlage zu schaffen, wird sich das zweite Kapitel mit der terminologischen Klärung des Gesundheits- und Krankheitsbegriffes beschäftigen und sich dabei verschiedener Definitionsansätze bedienen. Zudem wird die Entstehung von Gesundheit und Krankheit erläutert und ein Überblick über die möglichen Einflussfaktoren gegeben.
Das dritte Kapitel wird die vier häufigsten Erscheinungsbilder von Essstörungen übersichtlich darstellen und mit den relevanten Informationen eine Grundlage für die spätere Analyse bieten.
Im Anschluss wird sich mit dem vierten Kapitel, ein großer Teil dieser Arbeit den Zusammenhängen zwischen der sozialen Lebenslage und der Gesundheit widmen. Dabei wird die soziale Lage mithilfe eines Erklärungsmodells in einem Wirkgefüge positioniert, um ihre Beziehung zu der gesundheitlichen Ungleichheit darzustellen. In den darauffolgenden Unterkapiteln, werden die unterschiedlichen Wirkfaktoren aus dem Modell vorgestellt und ihre Wirkung unter Einbeziehung verschiedener Untersuchungsergebnisse aufgezeigt. Abschließend werden in diesem Kapitel, zum einen die Ernährung und zum anderen die Jugend, als besondere Lebensphase, mit Blick auf die Einflüsse der sozialen Lage erläutert.
Das fünfte Kapitel widmet sich der besonderen Bedeutung des Familiensystems als wichtige Ressource im Umgang mit Belastungen. Nach einer einführenden Erläuterung des Familienbegriffes, der Familienformen und Beziehungen, wird das Familiensystem im Hinblick auf die altersspezifischen Herausforderungen in der Jugendphase beleuchtet. Darauf aufbauend werden Funktionen und Dysfunktionen der Familie dargestellt und die familiären Beziehungen unter dem Einfluss sozialer Lebenslagen betrachtet.
Im sechsten Kapitel wird dann konkret die Entstehung von Essstörungen im sozialen und familiären Kontext analysiert. Dabei wird unter anderem, der Blick auf die körperliche Entwicklung im Jugendalter gerichtet und mit einem Modell der Zusammenhang zwischen dem Familiensystem und dem Individuum aufgezeigt. Außerdem werden verschiedene Umgangsformen und Interaktionsmuster dargestellt und mit dem Blick auf mögliche Faktoren, welche die Entstehung einer Essstörung begünstigen können, analysiert. Im letzten Teil dieses Kapitels werden Essstörungen als Folge der sozialen oder familiären Lage eingeordnet. Im vorletzten Kapitel werden die Essstörungen im Kontext der sozialen Arbeit betrachtet und Berührungspunkte und Aufgaben zwischen dem Sozialarbeiter und dem Thema Essstörungen dargelegt. Darüber hinaus werden Möglichkeiten aufgezeigt, wie die soziale Arbeit in Bezug auf Essstörungen zum einen präventiv und zum anderen intervenierend tätig werden kann.
Die im Verlauf der Arbeit gesammelten Erkenntnisse werden als Abschluss dieser Arbeit im Fazit zusammenfassend dargestellt.
2 Gesundheit und Krankheit
Um sich im weiteren Verlauf dieser Arbeit mit den Einflüssen von sozialen Faktoren auf die Gesundheit auseinanderzusetzen, macht es Sinn, sich zunächst mit dem Gesundheitsbegriff und seinem Gegenpol, der Krankheit zu beschäftigen.
Gesundheit wird von der Menschheit allgemein als erstrebenswert angesehen und wird häufig mit einem langen Leben assoziiert. Krankheit hingegen wird meist im Zusammenhang mit einer Einschränkung der Lebens- und Arbeitsqualität, oder als Ursache für ein vorzeitiges Lebensende gesehen und wird dementsprechend negativ bewertet (vgl. Bär 2016: S. 20). Mit der Bedeutung von Gesundheit und Krankheit haben sich bereits diverse Wissenschaftler auseinandergesetzt. Dies führte zu dem Ergebnis, dass heute vielfältige Definitionen für den Gesundheits- und Krankheitsbegriff in der Literatur vertreten sind. Bei der Betrachtung der verschiedenen Ansätze wird deutlich, dass es weder für die Gesundheit, noch für die Krankheit eine allgemeingültige, klare Definition gibt. Vielmehr gelten Gesundheit und Krankheit als relative Begriffe, die nur in Abhängigkeit voneinander definiert werden können (vgl. Beushausen 2013: S. 91).
Um einen Überblick darüber zu verschaffen, was Gesundheit und Krankheit bedeuten kann und wie umfangreich insbesondere der Blick auf den Gesundheitsbegriff sein kann, werden in den folgenden Unterkapiteln ausgewählte Definitionsansätze vorgestellt und miteinander verknüpft. Im Anschluss daran, wird die Entstehung von Gesundheit und Krankheit anhand verschiedener Faktoren erläutert.
2.1 Die Bedeutung von Gesundheit
Die Weltgesundheitsorganisation der vereinten Nationen2 definierte 1946 die Gesundheit als „Zustand des völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und körperlichen Gebrechen“ (S. 1315). Gesundheit wird in dieser Definition als ganzheitliches, subjektives Wohlbefinden betrachtet und umfasst mehr als die Abwesenheit von physischen und psychischen Beeinträchtigungen. Die WHO gab mit ihrer Definition den Anstoß für ein Umdenken bei der Betrachtung des Gesundheitsbegriffes. Die klassische biologische Definition der Medizin, die die Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit verstand, wurde somit von einer ganzheitlicheren Betrachtung überholt (vgl. Beushausen 2013: S. 82 ff.). Das subjektive Erleben von Gesundheit gewann neben der objektiven Wahrnehmung von messbaren Kriterien an Bedeutung (vgl. Ders. 2013: S. 85). So definiert auch der Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann (2010) die Gesundheit als: „...Stadium des Gleichgewichts von Risikofaktoren und Schutzfaktoren, das Eintritt, wenn einem Menschen eine Bewältigung sowohl der inneren (körperlichen und psychischen) und äußeren (sozialen und materiellen) Anforderungen gelingt. Gesundheit ist ein Stadium, das einem Menschen Wohlbefinden und Lebensfreude vermittelt“ (S. 146).
Hurrelmann orientiert sich an dem Ansatz der WHO, betont jedoch das Vorliegen von Bedingungsfaktoren, welche den Gesundheitszustand beeinflussen. Als Bedingungsfaktoren nennt Hurrelmann (2006) Risiko- und Schutzfaktoren, sowie innere und äußere Lebensbedingungen (vgl. S. 7). Auf die Risiko- und Schutzfaktoren wird in Kapitel 2.3. bei der Erläuterung der Entstehung von Gesundheit und Krankheit näher eingegangen.
In der Definition von Hurrelmann (2010) wird deutlich, dass die Gesundheit aus einem ständigen Prozess des Ausbalancierens verschiedener Faktoren konstruiert ist und immer im Kontext der Umweltbedingungen betrachtet werden muss (vgl. S. 146 f.). Verknüpft man die beiden aufgeführten Definitionen miteinander, lässt sich die Gesundheit als ein subjektives Erleben von Wohlbefinden zusammenfassen, welches von verschiedenen Faktoren beeinflusst wird.
Das gesundheitliche Wohlbefinden schließt die Dimensionen des physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens mit ein. Das physische Wohlbefinden entwickelt sich, wenn Zufriedenheit mit dem eigenen Körper besteht und keine körperlichen Beschwerden vorliegen (vgl. Quenzel 2015: S.42 f.). Psychisches Wohlbefinden umfasst, neben einer allgemeinen Zufriedenheit und Lebensfreude, die Abwesenheit von psychischen Erkrankungen (vgl. ebd.). Das soziale Wohlbefinden bezieht sich darauf, Vertrauen in andere Menschen zu haben und sich anerkannt und geliebt zu fühlen (vgl. ebd.).
In den Erläuterungen zu den einzelnen Dimensionen wird deutlich, dass die Bewertung von Gesundheit stets mit Blick auf das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Krankheit vollzogen wird.
2.2 Die Bedeutung von Krankheit
Die Bedeutung von Krankheit wird im Vergleich zu dem Gesundheitsbegriff in der Literatur etwas klarer definiert. So wird einer Krankheit grundsätzlich eine Dysfunktionalität, beziehungsweise eine Funktionsstörung zugeschrieben (vgl. Beushausen 2013: S. 93). Ferner können Krankheiten in physischer oder psychischer Form auftreten und die Lebensqualität der Betroffenen bedrohen. Krankheiten können, abhängig von der Art und Schwere der Krankheit, langfristige beeinträchtigende Folgen bis hin zu lebenszeitverkürzenden Auswirkungen haben (vgl. Bär 2016: S. 20).
Hinweise auf eine vorliegende Erkrankung geben Symptome, welche auch als Abweichung von einem Normalzustand bezeichnet werden. Symptome sind beobachtbare Prozesse oder Zustände und weisen auf die Störung einer physischen oder psychischen Funktion hin (vgl. Beushausen 2013: S. 92 f.).
Als krank gelten sowohl physiologische, wie auch psychische Abweichungen von einem angenommenen Normalzustand. Über den Schwellenwert dieses Normalzustandes muss zu einem bestimmten Zeitpunkt Einigkeit in einer Gesellschaft herrschen, um Abweichungen erkennen zu können (vgl. ebd.).
Die Gesellschaft hat folglich großen Einfluss darauf, welche Merkmale als Krankheit angesehen werden und welche als normal betrachtet werden. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass die Definition einer Krankheit auch interessengeleitet sein kann. So ist zum Beispiel die Pharmaindustrie an einer Ausweitung des Krankheitsbegriffes interessiert, weil es dem Markt der Medikamentenhersteller zugutekommt. Eine Ausweitung des Krankheitsbegriffes kann zum Beispiel entstehen, wenn Phänomene wie Haarausfall medikalisiert werden und der Gesellschaft über die Medien und Ärzte kommuniziert wird, dass es sich um eine behandlungsbedürftige Funktionsstörung handelt (vgl. Ders. S. 98). Die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit können sich somit verschieben und neu gezogen werden (vgl. Ders. S. 7). Im deutschen Gesundheitswesen galt beispielhaft eine Alkoholsucht lange als persönliches Versagen des Betroffenen und nicht von jeher als Krankheit. Erst im Jahr 1968 wurde Alkoholismus vom Bundessozialgericht als Krankheit anerkannt und als behandlungsbedürftig bewertet (vgl. Schott & Tölle 2006: S. 347).
Damit aus einer Abweichung eine anerkannte, behandlungsbedürftige Krankheit wird, ist außerdem eine Etikettierung durch den Ärztestand notwendig. So ist im deutschen Gesundheitssystem der Ärztestand für die Stellung einer Diagnose zuständig. Für die Diagnose einer Krankheit gelten in Deutschland einheitliche, krankheitsspezifische Diagnosekriterien. Durch die Stellung einer Diagnose kann der Arzt die Leistungspflicht der Krankenversicherung auslösen (vgl. Klotter 2014: S. 99 f., Beushausen 2013: S. 92). Im Zusammenhang mit dem Gesundheitssystem stellt Krankheit also auch einen rechtlichen Zweckbegriff dar.
Bei der Diagnose einer Krankheit werden sowohl das subjektive Erleben des Betroffenen, wie auch die objektive wissenschaftliche Beurteilung berücksichtigt (vgl. Gerok et al. S. 5).
Das subjektive Empfinden und der objektive Befund können dabei voneinander abweichen. So kann sich ein Mensch subjektiv gesund fühlen, aber objektiv liegt ein Befund für eine bestehende Krankheit vor, oder andersherum (vgl. Beushausen 2013: S. 93). Die Diskrepanz zwischen der subjektiven und der objektiven Bewertung kann zum einen aufgrund dessen bestehen, dass sich der Mensch funktionell in keiner Weise eingeschränkt fühlt und sich daher als gesund erlebt. Die andere Variante entsteht, wenn die subjektiv wahrgenommenen körperlichen Beschwerden sich nicht auf eine organische Ursache zurückführen lassen und wird auch als somatoforme Störung bezeichnet (vgl. Ders. S. 102).
Folglich ist die Diagnose und Definition von Krankheiten dadurch gekennzeichnet, dass verschiedene Wahrnehmungen miteinander in Einklang gebracht werden müssen, was durch Diskrepanzen zwischen subjektivem und objektivem Erleben und variablen Grenzen des Krankheitsbegriffs erschwert wird (vgl. Ders. S. 97 f.). Einigkeit herrscht jedoch darüber, dass eine Krankheit mehr als das Eindringen eines Krankheitserregers in den Organismus darstellt und die Folge von körperlichen oder psychischen Belastungen sein kann (vgl. Klotter 2014: S. 91).
2.3 Die Entstehung von Gesundheit und Krankheit
Gesundheit und Krankheit sind nie unabhängig voneinander zu betrachten, denn sie bedingen sich wechselseitig. Wie in Kapitel 2.1. und 2.2. bereits deutlich wird, kann Gesundheit nur in Zusammenhang mit der An- oder Abwesenheit von Krankheit bewertet werden. Krankheit wiederum kann nur in Referenz zu einem Normalzustand, beziehungsweise einem Zustand der Nicht- Krankheit definiert werden (vgl. Beushausen 2013: S. 91).
Der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky (1997) geht in seinem Gesundheitsmodell der Sa- lutogenese davon aus, dass der Mensch nie vollständig gesund oder krank sein kann, so lange er am Leben ist (vgl. S. 23). Laut Antonovsky bewegt sich der Mensch permanent in einem fortlaufenden Prozess zwischen den beiden Polen Gesundheit und Krankheit (vgl. ebd).
In dem Modell der Salutogenese ist die Ausprägung des Kohärenzgefühls maßgeblich für die Erhaltung von Gesundheit und den Umgang mit Belastungen, denen ein Mensch im Laufe seines Lebens ausgesetzt ist (vgl. Antonovsky 1997: S. 34 f.).
Das Kohärenzgefühl setzt sich aus den Komponenten Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit zusammen. Die Verstehbarkeit bezieht sich darauf, Ereignisse in der inneren und äußeren Welt auf einer kognitiven Ebene als erklärbar und vorhersehbar wahrzunehmen.
Handhabbarkeit bedeutet, dass Herausforderungen als bewältigbar erlebt werden und geeignete Ressourcen für die Bewältigung zur Verfügung stehen. Als dritte Komponente bezieht sich die Bedeutsamkeit auf eine motivationale Ebene und meint, dass Ereignisse und Herausforderungen als sinnvoll betrachtet werden. Da die Bedeutsamkeit dem eigenen Leben Sinnhaftigkeit verleiht, gilt sie als die wichtigste Komponente des Kohärenzgefühls (vgl. Antonovsky 1997: S. 35 f.). Zusammenfassend geht Antonovsky also davon aus, dass die Entstehung von Gesundheit damit zusammenhängt, mit welcher Haltung ein Individuum der Welt begegnet (vgl. ebd.).
Ähnlich wie Hurrelmann in seiner Definition von Gesundheit (s. Kap. 2.1.), weist Antonovsky in seinem Modell auf die Bedeutsamkeit von Herausforderungen und Ressourcen in Bezug auf die Erhaltung von Gesundheit hin. Hurrelmann (2010) bezeichnet diese als Risiko- und Schutzfaktoren (vgl. S. 146). Risikofaktoren gelten als proaktiv pathogene Faktoren, die die Entstehung von Krankheiten begünstigen. Als Schutzfaktoren hingegen werden reaktiv protektive Faktoren bezeichnet, welche der Krankheit begünstigenden Wirkung der Risikofaktoren entgegensteuern (vgl. Beushausen 2013: S. 89). Risiko- und Schutzfaktoren erscheinen sowohl in Form von äußeren, wie auch inneren Faktoren und wirken wechselseitig aufeinander ein. Die äußeren Faktoren umfassen unter anderem förderliche oder abträgliche Umwelt- und Arbeitsbedingungen, gesellschaftspolitische Faktoren, wie das Vorhandensein einer gesetzlichen Krankenversicherung, sowie die Verfügbarkeit von natürlichen Ressourcen. Darüber hinaus gehören kulturelle Faktoren, die sich in der Esskultur und im Umgang mit Gesundheit und Krankheit widerspiegeln zu den äußeren Faktoren. Auch die sozialen und ökonomischen Faktoren, wie die Auswirkungen einer bestimmten sozialen Lage, das (Nicht-) Vorhandensein von sozialer Unterstützung, sowie die medizinischen Versorgungsmöglichkeiten, sind Beispiele für äußere Faktoren die vor Krankheit schützen, oder sie begünstigen können (vgl. Klotter 2014: S.107 ff.).
Zu den inneren Risiko- und Schutzfaktoren gehören zum einen die genetische Ausstattung und zum anderen psychologische Faktoren und Konstellationen, welche das Individuum für die Entstehung von Krankheiten anfällig oder es davor schützen können (vgl. Ders. S.110). Das Individuum ist den genannten Faktoren jedoch nicht hilflos ausgeliefert, sondern gestaltet seine Gesundheit durch gesundheitsförderliches oder -schädlichen Verhalten aktiv mit (vgl. Bandura 2001: S. 1 ff.). Beispiele für gesundheitsförderliches Verhalten sind eine ausgewogene Ernährung, regelmäßige Bewegung und eine angemessene Körperhygiene. Zu gesundheitsschädlichem Verhalten zählen hingegen das Konsumieren von Tabak, übermäßiger
Alkoholkonsum, eine unregelmäßige, einseitige Ernährung, sowie ein Mangel an Bewegung.
Das Gesundheitsverhalten wird wiederum über einen Lernprozess entwickelt und wird dabei von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Das Gesundheitsverhalten wird in Kapitel 4. im Zusammenhang mit der sozialen Lage, sowie verschiedenen Risiko- und Schutzfaktoren als Einflussfaktoren näher erläutert (s. Kap. 4.).
3 Erscheinungsbilder von Essstörungen
In diesem Kapitel wird die Komplexität von Gesundheit und Krankheit am Beispiel von Essstörungen verdeutlicht. Zunächst werden dazu allgemeine Informationen zu der Erkrankung dargelegt, die in den anschließenden Unterkapiteln anhand bestimmter Krankheitsbilder spezifiziert werden. Dabei werden die vier Erscheinungsformen von Essstörungen vorgestellt, die am weitesten verbreitet sind. Auf die Darstellung weiterer, atypischen Krankheitsbilder wird verzichtet, da es den Umfang dieser Arbeit überschreiten würde.
Essstörungen wurden nicht immer als Krankheit bezeichnet. So galt Übergewicht in früheren Zeiten, die durch Angst vor dem Verhungern aufgrund mangelnder Nahrungsmittel geprägt waren, als Indikator für Wohlstand und Macht (vgl. Klotter 2014: S. 101). Heute gilt Übergewicht hingegen als gesundheitsschädigend und die Betroffenen werden häufig als unfähig, sich selbst zu mäßigen und zu kontrollieren, angesehen (vgl. ebd.).
Wie bereits in Kapitel 2.2. angesprochen, wird aus einer Abweichung erst eine behandlungs- bedürftige Krankheit, wenn sie als solche Etikettiert wird (s. Kap. 2.2.).
So führte erst die Veränderung der diagnostischen Kriterien dazu, dass eine Person heute ab einem bestimmten Body- Maß- Index als übergewichtig und behandlungsbedürftig gilt (vgl. Klotter 2014: S. 110). Der Body- Maß- Index3 dient dem Ärztestand, neben weiteren Krite- rien, für die Diagnose von Essstörungen. Der BMI wird mit der folgenden Formel berechnet: (vgl. Biesalski et al. 1999: S. 249).
In Abhängigkeit von der Größe des BMIs findet eine Einteilung in Untergewicht, Normalgewicht, Übergewicht oder Adipositas statt (vgl. Ders. S. 102). Bei Kindern und Jugendlichen finden alters- und geschlechtsspezifische Einflüsse in Form von populationsspezifischen Referenzwerten Berücksichtigung bei der Bewertung des BMIs (vgl. Ders. S. 102 f.). Essstörungen treten in verschiedenen Formen auf und finden ihren Beginn typischerweise im Jugendalter oder im frühen Erwachsenenalter (vgl. Jacobi, Paul und Thiel 2004: S.11). Essstörungen gelten als psychosomatische Krankheit mit Suchtcharakter und können unterschiedliche Symptome und Auswirkungen annehmen (vgl. Richter 2006: S. 33 f.). Dennoch haben die Störungen eins gemeinsam: Das Thema Essen steht im Mittelpunkt des Alltags der Betroffenen (vgl. Beushausen 2013: S. 211). Ähnlich wie bei einer Suchtkrankheit kommt es bei einer Essstörung im Verlauf häufig zu einer Dosissteigerung. Abhängig von der Essstörung wird die Nahrungsaufnahme, das selbstinduzierte Erbrechen, oder das Hungern gesteigert (vgl. ebd.). Die Betroffenen versuchen die Symptome ihrer Essstörung meist zu verheimlichen und verleugnen, dass sie erkrankt sind (vgl. ebd.).
In den folgenden Unterkapiteln werden die Erscheinungsbilder der Anorexia nervosa, der Bulimia nervosa, der Adipositas und der Binge- Eating- Disorder vorgestellt. Im Hinblick auf das Thema dieser Arbeit werden die Folgen und die Epidemiologien der Erkrankungen nur verkürzt dargestellt. Auf die möglichen Ursachen von Essstörungen wird im späteren Verlauf dieser Arbeit im Zusammenhang mit familiären und sozialen Einflussfaktoren eingegangen (s. Kap. 6.).
3.1 Anorexia nervosa
Das Erscheinungsbild der Anorexia nervosa4 ist durch ein bestehendes, selbst herbeigeführtes Untergewicht der Betroffenen geprägt. In den aktuellen Diagnosekriterien nach ICD- 105 liegt das Körpergewicht bei einer vorhandenen Anorexia nervosa mindestens 15% unter dem zu erwartenden Gewicht, oder es ist ein BMI von 17,5 oder weniger vorhanden (vgl. Dilling, Mombour und Schmidt 2008: S. 216 ff.).
Bei der Anorexia nervosa wird das niedrige Körpergewicht und der damit verbundene Gewichtsverlust selbst induziert. Körperliche Erkrankungen müssen somit als Ursache für das Untergewicht ausgeschlossen sein (vgl. Cuntz & Hillert 2000: S. 49).
In der Medizin wird die Anorexia nervosa in zwei Formen differenziert, die sich hinsichtlich der angewandten Methoden zur Gewichtsreduktion unterscheiden.
Betroffene, die an der restriktiven Form der Anorexie erkrankt sind, leiten die Gewichtsabnahme durch eine starke Einschränkung der Nahrungsmittel und der Nahrungsmenge, die sie zu sich nehmen, her (vgl. Habermas 2002: S. 848). Die Aufnahme von kalorienreichen Lebensmitteln wird vermieden und die Gesamtnahrungsmenge wird reduziert (vgl. Jacobi et al. 2004: S. 3).
Bei der bulimischen Form wenden die Betroffenen aktive Maßnahmen zur Reduktion ihres Körpergewichtes an. Als aktive Maßnahmen gelten das selbstinduzierte Erbrechen, sowie die Anwendung von Abführmitteln (vgl. Habermas 2002: S. 848).
Um die Gewichtsabnahme zu unterstützen tritt bei beiden Formen der Anorexie eine gesteigerte körperliche Aktivität oder andere Maßnahmen, wie zum Beispiel herbeigeführtes Frieren, auf, mit dem Ziel, möglichst viele Kalorien zu verbrennen (vgl. Cuntz & Hillert 2000: S. 49). Die gesteigerte körperliche Aktivität kann dabei Ausmaße von exzessiver sportlicher Betätigung annehmen (vgl. Ders. S. 52).
Die Gewichtsreduktion wird von einer massiven Angst vor einer Zunahme angetrieben und die Betroffenen setzen sich selbst eine sehr niedrige Gewichtsschwelle (vgl. Klotter 2014: S. 139). Betroffene empfinden sich trotz des objektiv vorliegendem, meist starkem Untergewicht als zu dick und leiden unter einer Störung der Körperwahrnehmung in Bezug auf das Gewicht, der Körperform und der Größe (vgl. Stahr, Barb- Priebe und Schulz 1998: S. 24). Neben dem niedrigen Körpergewicht werden die daraus resultierenden körperlichen Folgen und die damit einhergehende gesundheitliche Bedrohung von den Erkrankten verleugnet (vgl. Habermas 2002: S. 848).
Körperliche Folgen der dauerhaften Mangelernährung können unter Anderem Kreislaufregulationsprobleme, Verdauungs- und Herzrhythmusstörungen, sowie hormonelle Störungen und Osteoporose sein (vgl. Cuntz & Hillert 2000: S. 63 f.). Häufig tritt die Anorexia nervosa in Verbindung mit Depressionen, Zwängen und Ängsten auf, wobei umstritten ist, ob diese als Folgen oder als Ursachen der Anorexie zu betrachten sind (vgl. Ders. S. 57). Dies sind nur Beispiele aus einer Fülle möglicher physiologischer Folgen und soll darauf hinweisen, dass die Anorexia nervosa kurz- und langfristige gesundheitliche Konsequenzen haben kann und lebensbedrohliche Ausmaße annehmen kann (vgl. Habermas 2002: S. 849).
Nach dem anfänglichen Wunsch ein wenig abzunehmen, folgt bei den Betroffenen ein Verselbstständigungsprozess des Diätverhaltens (vgl. Klotter 2014: S.142). Die Betroffenen beschäftigen sich gedanklich ständig mit Essen, dem Zählen von Kalorien und Strategien zur Gewichtsreduktion und werden von einer anhaltenden Angst vor einer Gewichtszunahme begleitet (vgl. Cuntz & Hillert 2000: S. 51).
Nach außen hin versuchen Betroffene jedoch ihr tatsächliches Körpergewicht und die geringe Nahrungsaufnahme zu verheimlichen, indem sie zum Beispiel gemeinsame Mahlzeiten vermeiden oder betont langsam essen (vgl. Habermas 2002: S. 849, Cuntz & Hillert 2000: S. 52). In Folge der permanenten Beschäftigung mit den genannten Themen und der Vermeidung des Essens in Gesellschaft, reduzieren sich die sozialen Kontakte der Betroffen meist stark. Dies kann bis hin zur einer vollständigen sozialen Isolation führen (vgl. Cuntz & Hillert 2000: S. 52).
Die Anorexia nervosa gilt als Krankheit, die hauptsächlich in den Industrieländern auftritt und wird häufig in Verbindung mit dem heute vorherrschenden, extrem schlanken Schönheitsideal gebracht (vgl. Klotter 2014: S. 137). Das Schlankheitsideal gilt als Mitauslöser der Anorexie, da die Betroffenen ihren Selbstwert stark über ihre Figur definieren und meist perfektionistisch darauf streben, die Anforderungen anderer, beziehungsweise der Gesellschaft, zu erfüllen (vgl. Cuntz & Hillert 2000: S.51, Klotter 2014: S. 140, 142). Von der Anorexia nervosa sind überwiegend Frauen betroffen. Meist tritt die Erkrankung bereits im Jugendalter mit Beginn der Pubertät oder im jungen Erwachsenenalter auf (vgl. Klotter 2014: S. 140).
3.2 Bulimia nervosa
Das äußere Erscheinungsbild der Bulimia nervosa6 ist meist unauffällig, da die Symptomatik heimlich ausgelebt wird. Das Gewicht der Betroffenen liegt häufig im Normalbereich, typisch für die Erkrankung sind jedoch hohe Gewichtsschwankungen, die bis zu 20 kg betragen können (vgl. Stahr et al. 1998: S. 41).
Ähnlich wie bei der Anorexia nervosa leiden an Bulimie Erkrankte unter einer starken Angst vor einer Gewichtszunahme und dem Gefühl, zu dick zu sein (s. Kap. 3.1.). Betroffene streben danach, die in unserer Gesellschaft herrschende Schlankheitsnorm zu erfüllen und gründen ihr Selbstwertgefühl meist ausschließlich auf ihre Figur (vgl. Klotter 2014: S. 125, 131). Um dies zu erreichen, versuchen die Betroffenen, wie auch bei der Anorexia nervosa, ihr Essverhalten stark zu kontrollieren und schränken sich hinsichtlich erlaubter Nahrungsmittel und -menge stark ein (s. Kap. 3.1., vgl. Klotter 2014: S. 125). So besteht in der Vorgeschichte eines Bulimie- Betroffenen oftmals eine Episode der Anorexie (vgl. Jacobi et al. 2004: S. 6). In Folge des kontrollierten Diätversuchs entstehen Heißhungerattacken, die wiederum zu Essanfällen führen. Als Essanfall gilt der Konsum großer Nahrungsmengen innerhalb kurzer Zeit, bei der größere Mengen verzehrt werden, als die meisten Menschen innerhalb der Zeit und unter den entsprechenden Umständen konsumieren würden (vgl. Jacobi et al. 2004: S. 5). Im Anschluss an den Essanfall, wird versucht, der gefürchteten Gewichtszunahme mit Hilfe verschiedener Verhaltensweisen entgegenzuwirken. In den ICD- 10 Diagnosekriterien werden als mögliche gegenregulatorische Maßnahmen das selbstinduzierte Erbrechen, Hungerperioden, der Missbrauch von Abführmitteln und die Anwendung von Appetitzüglern oder Schilddrüsenpräparaten aufgeführt (vgl. Ders. S. 6). Bei den Essanfällen werden hochkalorische, süße und fetthaltige Speisen bevorzugt, da sie zum einen während der Diät meist nicht erlaubt sind und weil sie zum anderen das Abführen oder Erbrechen erleichtern (vgl. Cuntz & Hillert 2000: S. 69).
Bei den Betroffenen entwickelt sich ein Teufelskreis aus kontrolliertem Essverhalten, Heißhungeranfällen mit Essattacken und gegenregulatorischen Maßnahmen aus Angst vor einer Gewichtszunahme (vgl. Klotter 2014: S. 132). Die Essanfälle werden dabei oft zu einem geplanten, regelmäßigen Bestandteil des Tagesablaufs, der durch entsprechende Einkäufe und Lebensmittelhortung vorbereitet wird (vgl. Cuntz & Hillert 2000: S. 69). Die Diagnose der Bulimia nervosa wird bei dem Auftreten von mindestens zwei Essanfällen pro Woche, die mit kompensatorischen Maßnahmen verbunden sind und über einen Zeitraum von drei Monaten fortbestehen, gestellt (vgl. Jacobi et al. 2004: S. 7).
Betroffene empfinden während der Essanfälle meist das Gefühl, die Kontrolle über die konsumierte Nahrungsmenge zu verlieren (vgl. Cuntz & Hillert 2000: S. 66). Dabei können auch subjektive Essanfälle, bei denen kleinere Nahrungsmengen aufgenommen werden, die einem normalen Maß entsprechen, von Kompensationsmaßnahmen gefolgt sein (vgl. Jacobi et al. 2004: S. 5).
Aus Scham finden die Essanfälle und das anschließende Kompensieren, zum Beispiel durch selbstherbeigeführtes Erbrechen heimlich statt, was eine soziale Isolation zur Folge haben kann (vgl. Klotter 2014: S. 129). Neben den sozialen Auswirkungen, kommt es auch bei der Bulimia nervosa zu körperlichen Folgen und einer Beeinträchtigung der Gesundheit. Durch den anhaltenden Nährstoffmangel leiden die Betroffenen zum Beispiel häufig unter Müdigkeit, einer Störung der hormonellen Regulation, Konzentrationsstörungen und einer depressiven Stimmung (vgl. Cuntz & Hillert 2000: S. 69, 78 f.). Gesundheitsschäden resultieren bei dieser Essstörung jedoch vor allem durch das häufige Erbrechen. Das regelmäßige Erbrechen kann zu Verätzungen und Entzündungen der unteren Speiseröhre führen und greift den Zahnschmelz an (vgl. Cuntz & Hillert 2000: S. 79). Außerdem führen das Erbrechen und der Missbrauch von Abführmitteln zu dem Verlust von Flüssigkeit und Salzen (vgl. ebd.). Die Bulimia nervosa kann lebensbedrohliche Ausmaße annehmen, wenn der Elektrolythaushalt stark beeinträchtigt wird und der Kaliumwert in Folge des Abführmittelgebrauchs und des Erbrechens sinkt und daraus folgend ein Kaliummangel entsteht. Ein Kaliummangel führt unter anderem zu einer Schwächung der Skelettmuskulatur und erhöht das Risiko für Herzrhythmusstörungen (vgl. Ders. S. 80).
Die Bulimia nervosa setzt einen Lebensmittelüberfluss voraus und ist daher eine typische Krankheit in Industrieländern. Von der Erkrankung Bulimia nervosa ist überwiegend das weibliche Geschlecht betroffen und häufig tritt die Essstörung bereits im Jugendalter auf (vgl. Klotter 2014: S. 128 f.)
3.3 Adipositas
Die Adipositas beschreibt eine über das Normalmaß hinausgehende Zunahme des Fettgewebes (vgl. Ders. S. 101). Adipositas wird über den BMI definiert und in drei Schweregrade unterteilt. Ab einem BMI von 30 handelt es sich um eine Adipositas Grad I. Liegt der BMI zwischen 35 und 39,9, besteht eine Adipositas Grad II. Eine Adipositas Grad III ist bei einem BMI über 40 vorhanden (vgl. Klotter 2014: S. 102). Bei Kindern und Jugendlichen werden alters- und geschlechtsspezifische Referenzwerte bei der Bestimmung einer Adipositas einbezogen (vgl. Ders. S. 103).
Adipositas entsteht in Folge einer über einen langen Zeitraum bestehenden positiven Energiebilanz. Eine positive Energiebilanz wird durch eine den individuellen Energiebedarf überschreitende Nahrungsaufnahme hervorgerufen und führt zu einer Vermehrung der Energiereserven in Form von Fett (vgl. Stahr et al. 1998: S. 26). Betroffene empfinden häufig nur noch ein Hungergefühl und können eine Sättigung hingegen nicht mehr spüren (vgl. Cuntz & Hillert 2000: S. 109 ff.).
Auf Grund des starken Übergewichtes können verschiedene Folgeerkrankungen entstehen. Diabetes mellitus Typ 2, kardiovaskuläre Erkrankungen und eine Verkalkung der Gefäße sind Beispiele für mögliche gesundheitliche Konsequenzen einer Adipositas und können lebenszeitverkürzende Auswirkungen haben (vgl. Klotter 2014: S. 105, Cuntz & Hillert 2000: S. 112). Neben den körperlichen Folgeschäden leiden von Adipositas Betroffene häufig unter sozialen und psychischen Beeinträchtigungen durch Diskriminierung, Mobbing und Depressionen (vgl. Cuntz & Hillert 2000: S. 117). Aufgrund der psychischen Belastungen greifen die Betroffenen häufig verstärkt zur Nahrungsaufnahme, die ihnen ein wenig Trost spendet. So entsteht ein Teufelskreis, der die Entwicklung der Adipositas begünstigt (vgl. ebd.). Adipositas setzt einen Lebensmittelüberschuss voraus und entsteht in Abhängigkeit des Lebensstils und der Essgewohnheiten. Die Verbreitung technischer Hilfsmittel, wie zum Beispiel Rolltreppen und die Abnahme körperlicher Arbeit durch den Einsatz von Maschinen, führt zu einer Zunahme der Bequemlichkeit und einer Reduzierung der körperlichen Aktivitäten. In Kombination mit dem heute vorhandenen Lebensmittelangebot im Überfluss begünstigen die genannten Faktoren die Entstehung einer Adipositas (vgl. Klotter 2014: S. 101). Von Adipositas sind Frauen und Männer gleichermaßen betroffen. Die Essstörung findet häufig schon in der Kindheit oder im Jugendalter ihren Anfang (vgl. Ders. S. 104).
3.4 Binge- Eating- Disorder
Bei der Binge- Eating- Disorder treten wie bei der Bulimia nervosa, regelmäßige Essanfälle auf, bei denen ungewöhnlich große Nahrungsmengen in einem abgrenzbaren Zeitraum konsumiert werden (s. Kap. 3.2., vgl. Ders. S. 146). Abweichend zu der Bulimia nervosa, treten bei dieser Essstörung jedoch keine kompensatorischen Maßnahmen, wie zum Beispiel Erbrechen auf (vgl. ebd.).
Laut den Diagnosekriterien der DSM- IV7 handelt es sich um eine Binge- Eating- Disorder, wenn die Essanfälle an mindestens zwei Tagen pro Woche über einen Zeitraum von sechs Monaten auftreten (vgl. Jacobi et al. 2004: S. 8).
Darüber hinaus müssen für eine Diagnose der Binge- Eating- Disorder mindestens drei der folgenden fünf Merkmale vorliegen: ein deutlich erhöhtes Esstempo, eine Nahrungsaufnahme bis zu einem unangenehmen Völlegefühl, das Essen trotz fehlendem Hungergefühl, das Alleine essen aus Scham über die konsumierte Nahrungsmenge, Ekel- und Schuldgefühle sowie Deprimiertheit aufgrund des übermäßigen Essens (vgl. Ders. S. 9).
Von der Binge- Eating- Disorder- Betroffene sind nicht zwingend übergewichtig oder adipös. Typisch für diese Essstörung sind hingegen starke Gewichtsschwankungen innerhalb kurzer Zeit, da meist ein Wechsel zwischen übermäßigem Essen und Diätversuchen stattfindet (vgl. Klotter 2014: S. 147, Beushausen 2013: S. 210).
Die Betroffenen haben Angst vor einer Gewichtszunahme und setzen sich ständig mit ihrem Gewicht, dem Essen und ihrem äußeren Erscheinungsbild auseinander. Ihr Selbstwertgefühl ist stark abhängig von den Reaktionen Anderer auf ihr Aussehen (vgl. Beushausen 2013: S. 210).
Die Epidemiologie, sowie Folgen und Ursachen der Binge- Eating- Disorder sind bislang nur wenig erforscht und werden daher an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt.
[...]
1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für beiderlei Geschlecht.
2 Die Weltgesundheitsorganisation der vereinten Nationen wird im weiteren Verlauf der Arbeit mit der Bezeichnung WHO abgekürzt.
3 Der Body- Maß- Index wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit mit der Bezeichnung BMI abgekürzt.
4 Für die Anorexia nervosa wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit auch die Bezeichnung Anorexie verwendet.
5 ICD- 10 ist ein internationales Klassifikationssystem der Krankheiten.
6 Die Bulimia nervosa wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit auch als Bulimie bezeichnet.
7 DSM- IV = Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
-
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen.