Im Zentrum dieser Interpretation soll das Problem der Identitätsfindung in Hartmanns "Iwein" stehen. Ich werde damit beginnen, die Prämissen meiner Argumentation darzustellen, um dann auf dieser Grundlage meine Sichtweise illustrieren zu können. Ich isoliere zur Umsetzung meines Anliegens einige Schwerpunkte aus dem umfangreichen Angebot möglicher Aspekte des Romans und kann somit dem Text auch nur auf dieser eingeschränkten Ebene gerecht werden. Mein besonderes Interesse gilt in dieser Arbeit dem nach meiner Meinung dualistischen Aufbau des Textes (Gesellschaftsideal vs. mythologischer Bereich), der Gegenüberstellung beider Pole und den sich aus dieser Konstellation ableitenden Konsequenzen für das Werk als solches.
Mich jâmert wærlîchen, / und hulfez iht, ich woldez clagen, / daz nû bî unseren tagen / selch vreude niemer werden mac / der man ze den ziten pflac. / doch müezen wir ouch nû genesen. / ichn wolde dô niht sîn gewesen, / daz ich nû niht enwære, / dâ uns noch mit ir mære / sô rehte wol wesen sol: dâ tâten in diu werc vil wol. (Vers 48-58)
Mit diesen sowohl klagenden als auch richtungsweisenden Worten beschließt Hartmann von Aue den Prolog zum "Iwein". Die Zeiten großer Heldentaten und deren Ideale seien vergangen; was bliebe, sei allein die Bewahrung einer Erinnerung im literarischen Text. Aus diesem programmatischen Anliegen des Autors resultiert eine Unterordnung des Romans unter funktionelle Aspekte. Ort der Wertediskussion ist das ästhetische Werk, das, auf diese Weise in die Pflicht genommen, eine über die Textebene hinausweisende Interpretation ermöglicht: Nicht das Individualschicksal der einzelnen literarischen Figuren wird in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, sondern vielmehr deren Funktion als personifizierte Wertvorstellung; deren Rolle innerhalb der Möglichkeiten eines künstlerischen ′Programms′. Das gilt selbst dann, wenn, wie im Falle Iweins, der Protagonist am stilisierten Wertideal (vorerst) scheitert und erst im Verlaufe der Handlung (in einem Stil, der an den Typ des Bildungsromans erinnert) in die Lage versetzt wird, diesem gerecht zu werden.
Der Roman beginnt mit einer allgemeinen Sentenz, die die Kernbegriffe des Romans einführt: güete, sælde und êre. Daran schließt sich eine Erklärung an, die darauf zielt, die Erzählung über König Artus unter diese Aspekte unterzuordnen (Verse 4 ff). Die Erwähnung des Artushofes dient demnach als ein Beispiel, eine Illustration, für ein übergreifenderes Ziel. [...]
Inhaltsverzeichnis
- Das Leben - ein Traum - Das Problem der Identitätsfindung in Hartmanns Iwein
- Prämissen und Schwerpunkte
- Der Prolog: Erinnerung an vergangene Zeiten
- Funktionalisierung des Textes
- Artushof und Laudinenbereich als dualistische Gegensätze
- Egalitäre Regeln des Artushofes
- Iweins Wahnsinn: Ein weiteres Motiv
- Die Idealisierung des Artushofes
- Der Laudinenbereich: Ein Ort der Widersprüche
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der Problematik der Identitätsfindung im Roman „Iwein“ von Hartmann von Aue. Der Fokus liegt dabei auf der dualistischen Struktur des Textes, die Gesellschaftsideal und mythologischen Bereich gegenüberstellt. Es wird analysiert, wie diese Gegenüberstellung die Handlung und die Charakterentwicklung beeinflusst.
- Die Funktionalisierung des Textes und seine Bedeutung für die Wertediskussion
- Die Idealisierung des Artushofes und seine Bedeutung für die Ritter
- Die Rolle der Liebe, insbesondere die Beziehung zwischen Iwein und Laudine
- Die Bedeutung der Begriffe „güete“, „sælde“ und „êre“ für die Figuren
- Die Analyse von Iweins Wahnsinn und seinen Ursachen
Zusammenfassung der Kapitel
- Der Prolog von Hartmanns „Iwein“ stellt die Bewahrung der Erinnerung an vergangene Zeiten als Ziel des Romans dar. Die Zeiten der großen Heldentaten seien vergangen, doch die Erinnerung an diese Ideale bleibe im literarischen Text erhalten.
- Die Funktionalisierung des Textes zeigt sich in der Unterordnung des Romans unter bestimmte funktionelle Aspekte. Der Text dient nicht nur der Erzählung eines individuellen Schicksals, sondern auch der Vermittlung von Werten und Idealen. Die Figuren werden als personifizierte Wertvorstellungen dargestellt, die innerhalb eines künstlerischen „Programms“ agieren.
- Der Roman beginnt mit einer Sentenz, die die Kernbegriffe des Romans einführt: „güete“, „sælde“ und „êre“. Diese Begriffe werden im Verlauf des Romans an den Figuren und Handlungen des Artushofes veranschaulicht.
- Der Artushof stellt im Roman ein Ideal von höfischem Benehmen und ritterlichen Tugenden dar. Die Regeln des Artushofes sind nur innerhalb desselben bekannt und führen außerhalb zu Unverständnis. Iweins Wahnsinn wird durch drei Hauptmotive erklärt: Seine Liebe zu Laudine, sein Terminversäumnis und die erlittene öffentliche Schande. Diese Arbeit fügt ein weiteres Motiv hinzu: die Funktionalisierung des Textes.
- Der Laudinenbereich stellt einen in sich widersprüchlichen Bereich dar. Laudine verkörpert das Ideal der „güete“, aber auch ihre eigene Macht und ihre Strenge führen zu Konflikten. Der Laudinenbereich steht im Gegensatz zum idealisierten Artushof und repräsentiert die Komplexität menschlicher Beziehungen.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit dem Roman „Iwein“ von Hartmann von Aue, wobei die Identitätsfindung im Vordergrund steht. Schlüsselbegriffe sind „Funktionalisierung“ des Textes, „Artushof“ als Ort der Werte, „Laudinenbereich“ als Kontrast zum Artushof, „güete“, „sælde“, „êre“, „triuwe“, „Wahnsinn“ und „dualismus“. Der Roman wird in Bezug auf seine Struktur, seine Themen und seine Figuren analysiert.
- Arbeit zitieren
- Jana Kullick (Autor:in), 1996, Das Leben - ein Traum - Das Problem der Identitätsfindung in Hartmanns Iwein, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/11862