Welche Freiheit regelt das Recht?

Zur Rolle transzendentaler Freiheit in Kants Rechtslehre


Seminararbeit, 2021

20 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Kants Theorie der Freiheit

3 Wertteleologische und verbindlichkeitstheoretische Rechtsbegründungen

4 Die epistemische Opazität der Freiheit

5 Ein enigmatischer Rechtsbegriff?

6 Fazit

7 Literaturverzeichnis

Der Begriff der Freiheit ist ein reiner Vernunftbegriff, der eben darum für die theoretische Philosophie transscendent, d. i. ein solcher ist, dem kein angemessenes Beispiel in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann (VI: 221)1

Da aber der Begriff des Rechts als ein reiner, jedoch auf die Praxis (Anwendung auf in der Erfahrung vorkommende Fälle) gestellter Begriff ist, […] so wird der für den ersten Theil der Metaphysik der Sitten allein schickliche Ausdruck sein metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre: weil in Rücksicht auf jene Fälle der Anwendung nur Annäherung zum System, nicht dieses selbst erwartet werden kann (VI: 205)

1 Einleitung

Der Begriff des Rechts scheint unauflöslich mit dem der Freiheit verknüpft zu sein: Wir können eine Handlung offensichtlich nur dann sinnvoll als unrecht bezeichnen, wenn wir auch annehmen dürfen, dass der Täter die Möglichkeit hatte, anders zu handeln. Gleichzeitig ist es alles andere als eindeutig, wie das Verhältnis von Freiheit und Recht genau zu verstehen ist: Rechtsnormen, so scheint es, sollten unabhängig von spezifischen philosophischen Positionen über den freien Willen Gültigkeit beanspruchen können und daher ohne Rekurs auf kontroverse ontologische Annahmen dieser Art formuliert werden. Dieses Spannungsfeld spiegelt sich prägnant in der Rezeption von Kants Rechtslehre wider: Während Vertreter der Trennungsthese bestreiten, dass Kants Rechtsbegriff den transzendentalen Begriff von Freiheit, der seiner Moralphilosophie zu Grunde liegt, zur Voraussetzung hat, wird genau diese These von Verfechtern der Abhängigkeitsthese vehement verteidigt.2

Das Ziel dieser Arbeit ist es, ein Argument zu Gunsten der Trennungsthese zu entwickeln, welches ich das Argument der epistemischen Opazität nennen möchte. Die Vorgehensweise ist hierbei die Folgende: In Abschnitt 2 wird Kants Theorie der Freiheit - so weit wie im Rahmen dieses Aufsatzes möglich – grob umrissen. Anschließend werden zwei prominente Begründungsstrategien vorgestellt, mit denen Vertreter der Abhängigkeitsthese einen Zusammenhang zwischen transzendentaler Freiheit und Rechtsbegriff herstellen, die ich die werteteleologische und die verbindlichkeitstheoretische Rechtsbegründung nennen möchte (Abschnitt 3). Dies soll auf mein Argument vorbereiten, dass ich in Abschnitt 4 in Abgrenzung zu beiden Interpretationen entwickeln werde. In Abschnitt 5 möchte ich mich gegen die potentielle Kritik verteidigen, wonach die hier vertretene Position ein technokratisches und normativ leeres Rechtsverständnis zur Folge hätte. Hierbei werde ich argumentieren, dass nach Kant zwischen der begrifflichen Form und dem bestimmten Inhalt des Rechts unterschieden werden muss, und dass die bloße Form des Rechtsbegriffs für sich genommen niemals die moralische Verbindlichkeit, Gesetzen gehorchen zu müssen, verbürgen kann. Diese kann, so möchte ich zeigen, immer nur im politischen Prozess der inhaltlichen Bestimmung von Recht, d.i. in Rechtssetzung und Gesetzgebung hergestellt werden.

2 Kants Theorie der Freiheit

Kants Theorie der Freiheit ist zweifellos enorm komplex und hat im Laufe seiner Werke eine Vielzahl an Modifizierungen und Nuancierungen durchlebt. Die inzwischen bibliotheksfüllende Sekundärliteratur hierzu steht dieser Komplexität in nichts nach und ist für den Einzelnen nicht länger zu überblicken. Im Folgenden Abschnitt kann und möchte ich dementsprechend nur auf diejenigen Aspekte eingehen, die für mein Argument zentral sind. Nichtsdestotrotz werde ich mich hierbei um eine Darstellung bemühen, die einem Minimalkonsens unter den Interpreten am nächsten kommt und dabei möglichst textgetreu bleibt (des Leseflusses halber finden sich längere Zitate in den Fußnoten). Wo ich über diesen Konsens hinausgehe, werde ich (ebenfalls in Fußnoten) versuchen, meine Gründe hierfür bestmöglich darzutun.

Der Begriff der Freiheit hat für Kant zunächst die weitestgehend unkontroverse Bedeutung, dass der Mensch nicht unmittelbar von sinnlichen Antrieben determiniert ist.3 Wir können uns beispielsweise über kurzfristige Impulse hinwegsetzen, um hierdurch ein übergeordnetes Ziel zu erreichen - so kann ich mich (zumindest manchmal) dazu zwingen, eine Hausarbeit zu schreiben, um meinen Studienabschluss zu erreichen, auch wenn ich eigentlich viel lieber mit Freunden ein Bier trinken würde.4 Diese Art von Freiheit kann also relativ unkontrovers bereits als „durch Erfahrung bewiesen“ (KrV A 802/ B 830) vorausgesetzt werden.5 Durch die bloße Unabhängigkeit von unmittelbarer (Natur) Determinierung in Form von Neigungen ist Freiheit Kant zufolge allerdings bloß negativ bestimmt (VI: 213; 226) – wir können ihr noch kein positives Attribut zuschreiben, mittels dessen wir uns der Wirklichkeit eines Vermögens „eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen“ (KrV A 554 / B 582), welches wir dann auch berechtigterweise „Freiheit“ nennen dürften, eindeutig versichern könnten.6 So können wir beispielsweise nicht mit Gewissheit ausschließen, ob wir, wenn wir uns über unmittelbare sinnliche Antriebe hinwegsetzen, letzten Endes nichtsdestotrotz mittelbar durch solche determiniert sind. Wenn sich etwa herausstellen würde, dass ich bei meinem Bierverzicht letztlich nur von sozialen Erwartungen oder meinem Überlebenstrieb gesteuert worden wäre (denn bekanntlich ist ein Abschluss in Politischer Philosophie gleichbedeutend mit einem blühenden Leben in Ruhm und Reichtum), hätte ich Kant zufolge bloß eine „psychologische“ oder „comparative“ (V: 97) Freiheit.7 Doch eine solche Freiheit würde strenggenommen diesen Namen nicht wirklich verdienen, da sie nicht mehr als die „Freiheit eines Bratenwenders“ wäre, „der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet“ (ebd.).

Eine zufriedenstellende Antwort auf das Problem des freien Willens, das ja Kant zufolge gerade der „eigentliche Stein des Anstoßes für die Philosophie“ (KrV A 448 / B 476) ist, kann ein solch plumper Kompatibilismus (den Kant an dieser Stelle Leibniz zuschreibt) also nicht geben. Hierzu ist ein ungleich stärkerer Begriff von Freiheit erforderlich, den Kant „transzendental“ oder „absolut“ nennt.8 Freiheit in diesem Sinne wäre nach Kant demgegenüber eine „unbedingte Spontaneität“, d.h. ein „Vermögen, einen Zustand, mithin auch eine Reihe von Folgen desselben, schlechthin anzufangen […] d.i. die Kausalität wird schlechthin anfangen, so daß nichts vorhergeht, wodurch diese geschehende Handlung nach beständigen Gesetzen bestimmt sei“ (KrV A 446 / B 474). Nun können wir uns aber der Kritik der reinen Vernunft zufolge jedoch nur der Wirklichkeit solcher Dinge mit Sicherheit gewiss sein, die prinzipiell Gegenstände möglicher Erfahrung (Erscheinungen) sind. Der transzendentale Begriff der Freiheit aber überschreitet, ebenso wie etwa der Begriff Gottes, der Seele oder des Weltganzen, per definitionem jede mögliche Erfahrung, da er außerhalb des Bereichs der kausal durchdeterminierten Erscheinungen liegen müsste. Die Wirklichkeit dieses Begriffs von Freiheit ist also Kant zufolge, wie in der berühmten dritten Antinomie dargestellt, weder beweisbar noch widerlegbar (KrV A 444 / B 472 ff.).

Diese Erkenntnis ist zweifellos erhellend und steht paradigmatisch für die Art von theoretischen Einsichten, die Kant mit der Kritik der reinen Vernunft lieferte. Doch wäre das bereits alles, was Kant zum Thema Freiheit zu sagen gehabt hätte, wäre es wohl kaum zu jahrhundertelang andauernden Diskussionen um seine Freiheitstheorie gekommen. Doch bekanntlich sollte Kant den Begriff der Freiheit wie kaum ein zweiter Philosoph wenige Jahre später zum Mittelpunkt seiner praktischen Philosophie, vor allem seiner Moralphilosophie machen, wo er eine wesentlich stärkere Bedeutung erhalten sollte als die einer rein theoretischen Denkmöglichkeit. Bekanntermaßen handelt es sich hierbei um den Begriff der Autonomie, d.h. der Fähigkeit der Vernunft, sich in Form des kategorischen Imperativs selbst ein moralisches Gesetz zu geben und danach zu handeln.9

[...]


1 Alle Zitate Kants folgen der Akademieausgabe (Bandnummer und Seitenzahl), mit Ausnahme der Kritik der reinen Vernunft (KrV), bei denen sowohl die Seitenzahl der A- als auch der B-Auflage angegeben wird.

2 Die Debatte zwischen Abhängigkeits- und Trennungsthese besteht in der Frage, inwieweit Kants Rechtsphilosophie systematisch unabhängig von seiner Moralphilosophie ist. Während dies klassischerweise verneint wurde, haben in den letzten zwei Jahrzehnten verschiedene Autoren für diese Sichtweise argumentiert: Thomas Pogge (2002) vertritt gegen Rawls die Auffassung, Kants Rechtslehre sei „freestanding“ und nicht „comprehensive“ in dem Sinne, dass sie keine metaphysischen Auffassungen über Autonomie oder das Gute aus seiner Moralphilosophie voraussetze, sondern lediglich voraussetzungsärmere Begriffe von Freiheit oder Person zur Voraussetzung habe. Allen Wood (2002) meint, dass Kants Rechtsprinzip explizit „analytisch“ sei verweise darauf, dass es nicht aus dem kategorischen Imperativ abgeleitet werden könne. Auch Arthur Ripstein (2009) argumentiert gegen die Lesart, die Rechtslehre stelle eine „Anwendung“ (ebd., S. 11) des kategorischen Imperativs dar, sondern beruhe vielmehr auf einer dezidiert nicht-metaphysischen (ebd. S. 41) Konzeption äußerer Freiheit. Für generelle Darstellungen der Debatte sei an dieser Stelle auf Christoph Horn (2014, Kapitel 1) sowie Marcus Willaschek (1997; Willaschek 2009) verwiesen. Die relevanten Vertreter der Abhängigkeitsthese – insbesondere deren Interpretation des Verhältnisses von Freiheits- und Rechtsbegriff - werden unter Abschnitt 3 vorgestellt.

3 „[N]icht bloß das, was reizt, d. i. die Sinne unmittelbar afficirt, bestimmt die menschliche Willkür“ (KrV A 802 / B 830).

4 Kant nennt diese Art der Freiheit in der ersten Kritik praktische Freiheit. Der Terminus hat allerdings für erhebliche Diskussionen innerhalb der Kant-Forschung gesorgt, da Kant zum einen meint, praktische Freiheit könne „durch Erfahrung bewiesen werden“, sie aber andererseits auf der letztlich unbeweisbaren transzendentalen „gründe“ und ohne sie „vertilgt“ würde. Nach Dieter Schönecker lassen sich daher drei unvereinbare Begriffe praktischer Freiheit finden, die ihm zufolge im sog. „Kanonproblem“ münden. An dieser Stelle beziehen wir uns vor allem auf den durch Erfahrung „beweisbaren“, „naturalisierten“ Freiheitsbegriff (Schönecker et al. 2005, 78ff.). Für einen lesenswerten Versuch, Kant in dieser Sache konsistent zu machen, siehe Bojanowski (2009). Um die Schwierigkeiten des Begriffs der praktischen Freiheit zu vermeiden, werde ich aus Gründen, die noch anzuführen sind (siehe nächste Fußnote) hier lediglich von einem negativen Freiheitsbegriff sprechen.

5 Dass Kant auch über eine explizit empirische Handlungs- und Freiheitstheorie verfügt führt etwa Willaschek überzeugend aus (1992, 45ff.).

6 „Denn die Freiheit [...] kennen wir nur als negative Eigenschaft in uns, nämlich durch keine sinnliche Bestimmungsgründe zum Handeln genöthigt zu werden.“ (VI: 226). Das „kennen wir“ lese ich hier als „wissen wir aus Erfahrung“. Ich vertrete hier also, ebenso wie Manfred Baum (2008) oder Julius Ebbinghaus (1968) - letzterer gilt gemeinhin als Vater der Unabhängigkeitsthese - eine Lesart, wonach der Begriff von Freiheit, der durch Erfahrung bewiesen werden kann, und der in der ersten Kritik teilweise „praktische“ Freiheit genannt wird, ein negativer Begriff von Freiheit ist. Nicht alle Interpreten werden hiermit übereinstimmen. So wehrt sich Ludwig vehement gegen derartige Gleichstellungen (Ludwig 2013, S. 295) und meint stattdessen, Kant ließe sich sowohl ein negativer und positiver transzendentaler als auch einen negativer und positiver praktischer Freiheitsbegriff zuschreiben (auch wenn dieser dergleichen an keine Stelle explizit tut). Ich halte diese Interpretation für falsch und denke insbesondere nicht, dass Kant über einen positiven Begriff praktischer Freiheit verfügt – wie Ludwig ja durchaus zugesteht, spricht er selbst auch niemals davon (Ludwig 2013, S. 272). Meine Skepsis beruht auf der folgenden Überlegung: Allein durch das empirisch beweisbare Vermögen, sich mittels Klugheitsregeln über unmittelbare Determinierung hinwegzusetzen (KrV A 802/ B 830, hierzu Ludwig 2013, S. 275), ist noch kein positiver Begriff von Freiheit gewonnen, und zwar weil wir nicht wissen können, ob dieses Vermögen nicht vielmehr selbst lediglich (etwa evolutionspsychologisch) natürlich determiniert ist. Das Vermögen, das für einen positiven Begriff der Freiheit benötigt würde, ist ja ausdrücklich „ein Vermögen […] „eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen, so, daß in ihr selbst nichts anfängt ,sondern sie [die Freiheit, M.S.] als unbedingte Bedingung jeder willkürlichen Handlung, über sich keine der Zeit nach vorhergehende Bedingungen verstattet“ (KrV B 581 / A 553). Weil praktische Freiheit für sich genommen nicht mit Sicherheit von Naturdeterminiertheit unterschieden werden kann, kann sie auch nicht positiv bestimmt werden – hierfür benötigt man den Begriff der transzendentalen Freiheit. In diesem Sinne ist m. E. nach auch Kants Behauptung zu lesen, dass die „Aufhebung der transscendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen“ würde (KrV B 562, ähnlich auch Bojanowski 2009, S. 404). Folgerichtig handelt es sich, so zumindest die hier vertretene These, hierbei um einen negativen Begriff von Freiheit.

7 Denn ich würde hierbei durch „Vorstellungen betrieben (V: 97) bestimmt, in dem Falle durch „Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist“ (KrV A 802/ B 830).

8 Absolute und transzendentale Freiheit verwendet Kant i.d.R. synonym (siehe etwa das „d.i.“ in V: 97).

9 „Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist. […] Allein daß gedachtes Princip der Autonomie das alleinige Princip der Moral sei, läßt sich durch bloße Zergliederung der Begriffe der Sittlichkeit gar wohl darthun. Denn dadurch findet sich, daß ihr Princip ein kategorischer Imperativ sein müsse“ (IV: 440). Neben diesem engen Autonomiebegriff verwendet Kant ihn allerdings auch gelegentlich in weiterer Bedeutung (vgl. Sensen 2015).

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Welche Freiheit regelt das Recht?
Untertitel
Zur Rolle transzendentaler Freiheit in Kants Rechtslehre
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
20
Katalognummer
V1187511
ISBN (eBook)
9783346621948
ISBN (Buch)
9783346621955
Sprache
Deutsch
Schlagworte
welche, freiheit, recht, rolle, kants, rechtslehre
Arbeit zitieren
Maximilian Strietholt (Autor:in), 2021, Welche Freiheit regelt das Recht?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1187511

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