Hystorie - Die Hysterie in einer Geschichte oder Subjektspaltung in André Bretons Nadja


Seminararbeit, 2003

25 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Die Epiphanie und andere Momente einer Subjektspaltung
1.1 Zum Epiphanie-Begriff
1.2 Vom Erzähler-Ich zum erlebenden Ich zum Erzähler-Ich
1.3 Die Figur der Nadja

2. Zum Dialogcharakter des Buches Nadja
2.1 Der Erinnerungsdialog
2.2 Der Hysteriedialog mit seinen zwei Subtypen

3. Schlussbetrachtungen

Quellennachweis

Einleitung

Als Hauptgegenstand dieser Abhandlung soll der Frage nachgegangen werden, in wie weit sich eine Subjektspaltung des Erzählers in André Bretons 1928 erschienenen Buch „Nadja“ nachweisen lässt, die durch plötzliche Erscheinungen, Epiphanien im säkularisiertem Sinne, die hier als auslösende Faktoren dieser Spaltung angesehen werden, hervorgerufen wird. In diesem Zusammenhang liegt es nahe danach zu fragen, ob sich auch eine Spaltung in der Figur der Nadja vollzieht, die von der Person des Protagonisten ausgeht oder ob sie andere Ursachen hat. Ein weiteres Augenmerk soll auf die Erzählinstanz und ihre verschiedenen Ausprägungen gelegt werden. Ein zweiter Gliederungspunkt konzentriert sich auf den Dialogcharakter des Buches, der sich in zwei Haupttypen, dem Erinnerungsdialog und dem Hysteriedialog, niederschlägt. In den Schlussbetrachtungen sollen Anknüpfungspunkte genannt werden, die sich ebenfalls in diese Abhandlung hätten einarbeiten lassen, aber im Rahmen der Arbeit nicht ausreichend untersucht werden konnten.

1. Die Epiphanie und andere Momente einer Subjektspaltung

Bevor näher auf den Epiphanie-Begriff und später auf die verschiedenen Formen einer Subjektspaltung eingegangen wird, sollte im Vorfeld dieser Ausführungen Wert darauf gelegt werden, welchem Gebrauch bestimmte Termini unterliegen.

Als Subjekt werden hier jene Figuren des Buches bezeichnet, die für die Handlung bestimmend sind: das Erzähler-Ich, das erlebende Ich und Nadja. Es kann zwar gesagt werden, dass lediglich das Erzähler-Ich als Subjekt des Textes verstanden werden kann und Nadja sowie das erlebende Ich Objekte des Textes sind, doch können diese trotzdem als Subjekte in dem Sinne gelten, als sie handelnd in Erscheinung treten. Objekte sind sie in der Hinsicht, dass sie Verhandlungsgegenstände des Textes und somit auch des Erzähler-Ichs sind. In den folgenden Punkten wird neben der Epiphanie auch auf andere Momente einer Spaltung, wie unterschiedliche Perspektiven, Bezug genommen. So kann schon im Vorhinein gesagt werden, dass es eine Verschiebung der Perspektiven gibt, die als Index für eine Spaltung von Erzähler-Ich und erlebenden Ich Geltung beansprucht.

1.1 Zum Epiphanie-Begriff

Ohne auf die mehr als zweitausend Jahre zurückreichende Geschichte des Begriffes einzugehen, die Rainer Zaiser in seiner Habilitationsschrift Die Epiphanie in der französischen Literatur[1] hinreichend erläutert, möchte ich gleich auf die wesentlichen Merkmale des Begriffes eingehen, wie sie Zaiser aufzeigt. Er führt folgende Merkmale an, die sich über Jahrhunderte hinweg als konstant im Zusammenhang mit Erlebnissen erwiesen haben, die als Epiphanien beschrieben sind: da wären zum einen ihr Plötzlichkeitscharakter, ihre kurze Dauer und sie ist nicht dem Willen des Subjektes unterworfen, zum anderen ist sie durch eine erhellende Verhüllung gekennzeichnet, die sich vor allem in dem häufigen Gebrauch von Lichtmetaphern manifestiert, und sie gewährt dem Subjekt Einsicht in eine ihm unbekannte Welt, gefolgt von einer durch sie hervorgerufenen Wende im Leben der die Epiphanie erlebenden Person.[2]

Um den Begriff der Epiphanie für diese Abhandlung fruchtbar zu machen, werde ich mich auf das erste Manifest des Surrealismus stützen, in dem Breton durchaus mit Konnotationen und Begrifflichkeiten der Epiphanie operiert, so dass sich hieraus einige interessante Erkenntnisse ergeben werden. Darüber hinaus ziehe ich Walter Benjamins Essay Der Sürrealismus heran, der weiteren Aufschluss darüber geben soll, dass epiphane Vorstellungen im Surrealismus durchaus Verwendung fanden.

Breton geht zunächst auf das Wunderbare, ein konstituierendes Element des Surrealismus, ein und erläutert dessen Bedeutung vor allem für die epischen Literaturgattungen.[3] Mit dem Wunderbaren sieht er eine Leidenschaft verbunden, die dem, leider nicht näher bestimmten, Absoluten nahe steht, das alle exo- und endogenen Zwänge niederreißt und somit einem Buch zu einer besonderen Größe verhilft.[4] Die Literatur des Wunderbaren ist für Breton eine „gegenständliche“[5], gelöst von metaphysischen Instanzen, die in der Welt der Dinge und Menschen verortbar ist. Hier tritt nun Benjamins „profane Erleuchtung“ hinzu, die sich ebenfalls in Dingen und Menschen manifestiert und die in direkter Konkurrenz zur „religiösen Erleuchtung“ steht, die für Benjamin weniger erhaben zu sein scheint; jedenfalls ungeeignet zur Darstellung des Wunderbaren.[6] Ein Kritikpunkt in Benjamins Essay besteht darin, dass er die „profane Erleuchtung“ durch den Surrealismus um keinen Preis „ins feuchte Hinterzimmer des Spiritismus“ gerückt haben möchte, denn er sagt, dass die bedeutendsten Werke des Surrealismus, Aragons Paysan de Paris und Bretons Nadja, die Paradebeispiele für die Darstellung der „profanen Erleuchtung“, in solch „störenden Ausfallerscheinungen“ Schwächen aufzeigen[7]. Doch nun zurück zu Breton, der das Wunderbare als Teil einer „allgemeinen Offenbarung“ begreift, die nur in Einzelteilen dem Betrachter erkennbar wird.[8] In meinem Verständnis ist diese „allgemeine Offenbarung“ der Vorläufer Benjamins „profaner Erleuchtung“, sind doch beide per definitionem an die Welt der Dinge und Menschen gebunden. Hier trifft sich auch die Bretonschen Auffassung der Offenbarung mit der religiös verwurzelten Epiphanie, die immer einen Bezug zur realen Welt aufrechterhält und nie ins rein Transzendente abgleitet.[9] Wie in der sakralen Epiphanie[10] werden in der von Breton dargestellten Offenbarung zwei Welten einander genähert, deren Verschmelzung erst die eigentliche Offenbarung gebiert, die nicht bewusst herbeizuführen ist, sondern sich unter Ausschluss jedwedes vernunftgeleiteten Eingreifens vollzieht.[11] An dieser zufälligen und daher vom Geist unbeeinflussten Zusammenführung zweier konträrer Welten, „hat sich ein besonderes Licht entzündet“, das sich wiederum von der Vernunft erkennen lässt.[12] Als die surrealistische Epiphanie kann demnach dieses „Licht-Phänomen“[13] bezeichnet werden, das sich in die Bilder des Surrealismus, die Ergebnis der Weltenverschmelzung sind, einschreibt, die sich, und hier zitiert Breton Charles Baudelaire, „spontan, tyrannisch anbieten. Er [der Mensch] ist unfähig, sie abzuweisen; denn der Wille ist kraftlos geworden und beherrscht nicht mehr seine Fähigkeiten.“[14]

Aus diesen Darlegungen und Überlegungen lässt sich erkennen, dass es einige Parallelen zwischen der religiös verankerten Epiphanie und der surrealistischen Offenbarung beziehungsweise der „profanen Erleuchtung“ gibt, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: Welt- und Dinggebundenheit, Zusammenführung zweier Wirklichkeiten, die Verwendung von Lichtmetaphern sowie die völlige Ausschaltung eines willengesteuerten Erlebens.

1.2 Vom Erzähler-Ich zum erlebenden Ich zum Erzähler-Ich

„Wer bin ich?“ Dieser Satz soll als Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen dienen, ist er doch einer jener ersten Sätze der Weltliteratur, die eine solche Faszination auszulösen vermögen, der man sich kaum entziehen kann.

Der Eröffnungssatz fordert zunächst einmal vom Individuum die Einnahme einer Perspektive, von der aus es sich selbst betrachten und beurteilen kann; bestimmte Bedingungen drängen es dazu, sei es nun sein Anspruch an Perfektion oder ein anderer Grund. Es muss aber stets etwas sein, mit dem das Individuum unzufrieden ist. Hier setzt die Spaltung ein und liest man weiter, stößt man schon bald auf eine weitere Stelle, an der eine vom Individuum selbst eingenommene Perspektive auf sich selbst, erkennbar wird, indem zu lesen ist: „... Begebenheiten, die mir und mir allein zustoßen, jenseits unzähliger Bewegungen, die ich mich ausführen sehe.“[15] Das Erzähler-Ich nimmt hier eine exponierte Betrachtungsposition ein, um sich von sich selbst zu differenzieren; es baut eine virtuelle Grenze auf, die zwischen sich und sich zu stehen scheint, ein „Glashaus“ (S. 15), wie es das erzählenden Ich formuliert, das aber schon von Anfang an von Rissen durchzogen und vom Zersplittern bedroht ist. Es hofft in seinem Glashaus zu sehen „wer ich bin“ (S. 15), doch sehen ist nicht sein, sondern nur wahrnehmen und nicht verinnerlichen. Besonders deutlich wird die Spaltung in der zitierten Stelle durch die syntaktische Doppelung des Personalpronomens mir.

Eine Fortführung und Erweiterung des „Wer bin ich?“ ist im Vorfeld der Episoden zu lesen, die vor der Begegnung mit Nadja berichtet werden. Jene Ereignisse sollen, sofern es für das Erzähler-Ich möglich ist, „außerhalb seines [des Lebens] organischen Aufbaus“ (S. 16) erfasst werden. Der Betrachtungsfokus liegt hier auf dem Wort außerhalb, welches die Problematik der Spaltung hervortreten lässt, dass nämlich das Ich über sich steht, etwas erkennen möchte (sich selbst?), das ihm verborgen bleibt. Diese Ereignisse stehen nun in einem engen Konnotationsfeld zur Epiphanie, denn die Zufallhaftigkeit der Erlebnisse führt das Ich in eine „verbotene Welt“ (ebd.) ein, deren Merkmale „plötzliche Annäherungen“ (ebd.) und „Blitze“ (ebd.) sind, und durch einen „völlig unerwarteten, einfallsartigen Charakter“ (ebd.) bezeichnet sind. Die Blitze rücken die Ereignisse noch näher an die Epiphanie heran, da sie als Lichtmetaphern gelten, die neben der Plötzlichkeit ebenfalls das Merkmal der Vergänglichkeit tragen.

Wie lässt sich nun hieran die Spaltung des Subjekts nachweisen? Rekapituliert man die vorangegangen Argumente und Textstellen, wird ersichtlich, dass das Erzähler-Ich diese Ereignisse überhaupt nur als epiphane wahrnehmen kann, weil es außerhalb seines Lebens Position bezieht; es sieht sich als Teil von etwas, das es nicht näher bestimmen kann, deshalb die Termini der „verbotenen Welt“ und der „Blitze“, die nur eine vage Ahnung dessen vermitteln können was sich wirklich im Leben des Erzähler-Ichs abspielt. Und dennoch haftet diesen Ereignissen nichts Transzendentes an, denn sie sind verwurzelt in der Welt und somit Teil des „rein Feststellbaren“ (ebd.), ein weiteres Merkmal des tradierten Epiphanie-Begriffes.

Diese ersten Textstellen haben gemeinsam, dass sie alle mit exponierten Perspektiven und Sichtweisen des Erzähler-Ichs auf sich selbst arbeiten. Die folgenden Beispiele zeigen nun eine versuchte Gleichsetzung von Erzähler-Ich und erlebenden Ich.

Eine erste Belegstelle lässt sich in der Vorrede zu den Erlebnissen anführen:

Als Ausgangspunkt wähle ich das Hôtel des Grands Hommes, Place du Panthéon, wo ich gegen 1918 wohnte, und als Etappe das Manoir d’Ango in Varengeville-sur-Mer, wo ich mich, fraglos immer noch derselbe, im August 1927 befinde; [...] (S.18)

[...]


[1] Rainer Zaiser (1995), S. 15-25; ebenso: Klaus Peter Müller (1984), S. 11-16

[2] ebd., S. 24 f.

[3] André Breton, (1924), S. 18 f.

[4] ebd.

[5] ebd.

[6] Walter Benjamin, S. 297

[7] ebd., S. 297 f.

[8] André Breton (1924), S. 20

[9] Rainer Zaiser (1995), S. 17

[10] ebd., S. 16

[11] André Breton (1924), S. 35

[12] ebd.

[13] ebd.

[14] ebd., S. 34

[15] André Breton (1928), S. 10. Im folgenden werden die Seitenzahlen der Zitate aus Nadja in Klammern hinter der jeweiligen zitierten Stelle vermerkt

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Hystorie - Die Hysterie in einer Geschichte oder Subjektspaltung in André Bretons Nadja
Hochschule
Universität Erfurt  (Philosophische Fakultät - Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Heilige, Somnambule und Hysterikerinnen in der europäischen Literatur seit 1800
Note
2,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
25
Katalognummer
V11878
ISBN (eBook)
9783638179232
Dateigröße
581 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Eigentlich entstand diese Arbeit im Rahmen eines Seminar in der Fachrichtung Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft, aber da sie ein französiches Buch zum Thema hat, kann sie auch als romanistische Arbeit gesehen werden. 231 KB
Schlagworte
André Breton, Nadja, Surrealismus, Walter Benjamin, Epiphanie, Hysterie, Subjekt
Arbeit zitieren
Tobias Sichert (Autor:in), 2003, Hystorie - Die Hysterie in einer Geschichte oder Subjektspaltung in André Bretons Nadja, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/11878

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