Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Ursachen, Risikofaktoren und Auswirkungen von Schulabsentismus und schulischen Dropout
3. Interventions- und Präventionsmaßnahmen von Schulabsentismus und schulischen Dropout
4. Schluss
5. Tabellenverzeichnis
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In jeder Stadt sind täglich Jugendliche zu beobachten, die sich während der Schulzeit auf Spielplätzen oder in Parks treffen, Zigaretten rauchen oder andere Drogen konsumieren, obwohl der Besuch der Schule eine wichtige Voraussetzung ist, um in der heutigen Gesellschaft ein integriertes Leben führen zu können (vgl. Ricking/Hagen 2016: 9). Dementsprechend ist das Verhindern von Schulabsentismus neben vielen anderen Aufgaben eine elementare Herausforderung der Schulsozialarbeit und der Schule. Im Rahmen meines Bundesfreiwilligendienstes im Jahr 2018 an einer Hauptschule in meiner Heimatstadt bin ich oft in Kontakt mit SchulschwänzerInnen gekommen. Meiner Meinung nach hat die Schule und die Schulsozialarbeit damals zu wenig unternommen, um dem schulabsenten Verhalten einiger SchülerInnen entgegenzuwirken. Deswegen möchte ich mich im Rahmen dieser Hausarbeit mit Schulabsentismus wissenschaftlich beschäftigen und habe die Schwerpunkte dementsprechend gesetzt.
Schulabsentismus und ein möglicher schulischer Dropout sind komplexe Phänomene mit vielfältigen Einfluss- und Risikofaktoren, schwerwiegenden Auswirkungen für das Individuum und keiner einfachen Lösungen (ebd.). Mehrere Schulleitungen haben im Rahmen der PISA-Tests 2012 angegeben, dass das Lernen an ihrer Schule „bis zu einem gewissen Grad“ oder sogar „sehr“ durch das Schwänzen einzelner Schulstunden oder durch zu spät zum Unterricht kommende SchülerInnen beeinträchtigt wird (vgl. Prenzel et al. 2013: 178). Zudem haben sich zirka acht Prozent der Bevölkerung zwischen 15 und 17 Jahren im Jahr 2006 für einen schulischen Dropout entscheiden (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008: 88). Aufgrund dieser empirischen Befunde ist die Beschäftigung mit den Ursachen, Auswirkungen und Interventions- und Präventionsmaßnahmen von Schulabsentismus und schulischen Dropout heutzutage von besonders großer Relevanz. Wie kommt es zur Entwicklung von schulabsenten Verhalten bis hin zum Dropout? Welche Konsequenzen hat das Fernbleiben von der Schule? Was kann die Schule und die Schulsozialarbeit tun, um solche Entwicklungen zu verhindern beziehungsweise entgegenzuwirken?
„Schulabsentismus umfasst diverse Verhaltensmuster illegitimer Schulversäumnisse multikausaler und langfristiger Genese mit Einflussfaktoren der Familie, der Schule, der Peers, des Milieus und des Individuums, die einhergehen mit weiteren emotionalen und sozialen Entwicklungsrisiken, geringer Bildungspartizipation sowie einer erschwerten beruflichen und gesellschaftlichen Integration und die einer interdisziplinären Prävention und Intervention bedürfen“ (Ricking/Hagen 2016: 18). In der internationalen Fachdiskussion gilt der Dropout als dauerhaftes Fernbleiben eines Lernenden von der Schule mit der Auswirkung des Schulabbruchs durch den Lernenden (vgl. Ricking/Hagen 2016: 47). Der schulische Dropout hat schwerwiegende negative Folgen für das Individuum und die Gesellschaft. Schulabsentismus ist ein Prädiktor für einen möglichen schulischen Dropout (vgl. Hennemann/Hagen/Hillenbrand 2010: 31ff.). Es sind drei Arten von Schulabsentismus zu unterscheiden: das Schulschwänzen, der angstbedingte Schulabsentismus und das elternbedingte Fernbleiben von der Schule (vgl. Seeliger 2016: 26ff.)
Im Rahmen dieser Arbeit werde ich zuerst die Ursachen, Risikofaktoren und Auswirkungen der Phänomene erläutern. Die Risikofaktoren werde ich zu diesem Zweck in einer übersichtlichen Tabelle darstellen und nach den Kategorien Individuum, Familie und Schule ordnen. Anschließend werde ich mögliche Ansätze und Leitlinien der Intervention und Prävention von Schulabsentismus und schulischen Dropout darlegen. Dabei werde ich vor allem die Aufgaben der Schulsozialarbeit in diesem Zusammenhang fokussieren. Den Response-to-Intervention-Ansatz werde ich genauer beschreiben. Zuletzt werde ich im Schlussteil die erarbeiteten Ergebnisse zusammenfassen, die formulierten Leitfragen beantworten und offene Fragen darstellen.
2. Ursachen, Risikofaktoren und Auswirkungen von Schulabsentismus und schulischen Dropout
Schulabsentismus und schulischer Dropout sind facettenreiche Phänomene mit unterschiedlichen Entwicklungsprozessen, Ursachen, Folgen und Intensitäten (vgl. Ricking/Hagen 2016: 18). Es handelt sich um ein komplexes Zusammenspiel zwischen der psycho-sozialen Disposition des Kindes und dessen familiären Interaktions- und Lebensbedingungen, den schulischen Gegebenheiten und den Einfluss der Peers (Tab. 1) (vgl. Seeliger 2016: 34ff.). In diesem Kontext sind die Risikofaktoren sozio-ökonomische, psychische und physische Bedingungen, die die Auftretenswahrscheinlichkeit von Schulabsentismus und schulischen Dropout erhöhen (vgl. Ricking/Hagen 2016: 19). Die kognitiv-emotionalen Verarbeitungsprozesse der Risikofaktoren durch die Kinder spielen eine große Rolle, da die SchülerInnen die einwirkenden Risikofaktoren je nach inneren Bedürfnissen und subjektivem Empfinden anders verarbeiten (vgl. Seeliger 2016: 33). Somit haben die verschiedenen Risikofaktoren auf die SchülerInnen einen unterschiedlich starken Einfluss auf die Entwicklung von Schulabsentismus. Zudem liegt oft eine Multikausalität vor. Das heißt, dass mehrere Bedingungen gleichzeitig auf das Kind einwirken (vgl. Ricking/Hagen 2016: 21). Die Kumulation, Abfolge und Kombination dieser Faktoren ist ebenso ein relevanter Aspekt in der Entstehung von Schulabsentismus und schulischen Dropout (vgl. Ricking/Hagen 2016: 20). Des Weiteren haben die Einflussfaktoren eine altersspezifische Wirkung (vgl. Ricking/Hagen 2016: 64). Beispielsweise wirkt sich die geringe soziale Kontrolle durch die Erziehungsberechtigten des Kindes schon im Vorschulalter auf die Entwicklung von Schulabsentismus und schulischen Dropout aus (vgl. Hennemann/Hagen/Hillenbrand 2010: 34).
Tabelle 1: Mögliche Risikofaktoren für Schulabsentismus und schulischen Dropout (eigene, ergänzte Darstellung nach Ricking/Hagen 2016: 21)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das Schulschwänzen als eine Art des Schulabsentismus ist oft bedingt durch schwierige Familien- und Erziehungslagen (vgl. Seeliger 2016: 35). Die Familien von SchulschwänzerInnen sind oft gekennzeichnet durch eine geringe Unterstützung für die schulische Bildung des Kindes, keine erzieherische Aufsicht und eine Trennung der Eltern (Tab. 1) (vgl. Ricking/Hagen 2016: 24f.). Diese Merkmale sind wiederum bedingt durch Armut, Arbeitslosigkeit, das Leben in einem problembehafteten Stadtteil und eine schul- und bildungsaversive Haltung der Eltern (Tab. 1) (vgl. Ricking/Hagen 2016: 25). Somit kommt es zu Einschränkungen in der Erziehungskompetenz der Eltern (vgl. Seeliger 2016: 35). Für das Kind bedeutet diese Einschränkung der Verlust von bedeutsamen sozialen Netzwerken und das Fehlen einer normativen Orientierung (vgl. Ricking/Hagen 2016: 25). Als bedeutendste Prädiktoren für das Schulschwänzen und einen möglichen Dropout gehören das Schulversagen und die Schulunzufriedenheit (z.B. bedingt durch Langeweile) (Tab. 1) (vgl. Sälzer 2010: 178ff.). Durch das Schulschwänzen entstehen weitere schulische Misserfolge und so entsteht ein Teufelskreis, der durch Resignation, soziale Konflikte, Marginalisierung und letztendlich Meidungsverhalten charakterisiert ist (vgl. Ricking/Hagen 2016: 26). Logischerweise sind gute schulische Leistungen als Schutzfaktor vor Schulschwänzen zu etikettieren (vgl. Ricking 2003: 127f.). Auch die schulischen Gegebenheiten können eine Ursache des Schulschwänzens sein. Zum Beispiel, wenn die Schule es durch ein negatives Schulklima nicht schafft den Schulbesuch der SchülerInnen mit positiven Emotionen zu verbinden (Tab. 1) (vgl. Ricking/Hagen 2016: 27). In diesen Zusammenhang spielen die LehrerInnen und Leistungssituationen eine besonders relevante Rolle (ebd.). Wenn die SchülerInnen permanent ein Feedback des Nicht-Könnens erhalten, wirkt sich das negativ auf ihr Selbstwertgefühl aus und sie weisen diese Rückmeldung deswegen zurück (Tab. 1) (ebd.). Um ihr Selbstwertgefühl zu schützen, meiden die Jugendlichen und Kinder diese Leistungssituationen beziehungsweise die Schule und werten die Bedeutung von Schule bis zur Gleichgültigkeit ab (ebd.). Des Weiteren ist die Gleichaltrigengruppe vor allem bei der Initiierung und Stabilisierung von Schulschwänzen bedeutsam (vgl. Seeliger 2016: 36f.). In einer Hoch-Risiko-Peer-Gruppe, die durch eine schulaversive Einstellung charakterisiert ist, zählen Schulversäumnisse als positiv konnotiertes Merkmal (Tab. 1) (vgl. Ricking/Hagen 2016: 28). Diese ablehnende Einstellung gegenüber der Schule hat negative Auswirkungen auf die MitschülerInnen und Cliquenmitglieder, die auch einen Meidungsdruck der Schule spüren (ebd.). Es findet innerhalb der Peer-Gruppe eine gegenseitige Verstärkung dieser Haltung statt und somit wird die Auftretenswahrscheinlichkeit von schulabsenten Verhalten und einen damit verbundenen möglichen schulischen Dropout erhöht (vgl. Ricking/Hagen 2016: 28f.). An dieser Stelle bleibt ungeklärt, ob Peer-Gruppen mit einer positiven Einstellung gegenüber der Schule die Entwicklung von schulabsenten Verhalten bei einem Peer sogar verhindern können. Delinquenz, Drogenmissbrauch und Aggressivität sind Phänomene, die in Verbindung mit Schulschwänzen auftreten (vgl. Sutphen/Ford/Flaherty 2010: 163ff.). Diese Phänomene sind wiederum Risikofaktoren des Schulabsentismus und folglich entsteht auch hier ein Teufelskreis (Tab. 1). Insgesamt gilt Schulschwänzen für die SchülerInnen als Mittel der psychischen Entlastung von Unsicherheit, Hilflosigkeit, Ängsten und Langeweile (vgl. Ricking/Hagen 2016: 29). Die Kinder und Jugendlichen erhalten durch das Schulschwänzen eine Stärkung des Selbstwertgefühls (vgl. Ricking/Hagen 2016: 30).
Bei der angstbedingten Schulmeidung entwickeln die Kinder aufgrund starker Ängste massive Hemmungen gegenüber der Schule (vgl. Ricking/Hagen 2016: 30f.). Wegen emotionaler oder psychischer Störungen sind die Lernenden depressiv und sozial-unsicher (Tab. 1) (vgl. Chitiyo/Wheeler 2006: 88ff.). Diese Beeinträchtigung prägt sich aus in einer mangelnden sozialen Teilhabe, emotionaler Instabilität und schulischen Leistungsproblemen (vgl. Knollmann/Al-Mouhtasseb/Hebebrand 2009: 438ff.). Bei Jungen kommt es so meistens zu Störungen in der Aufmerksamkeitsregulation und im Sozialverhalten (vgl. Ricking/Hagen 2016: 32). Die Auswirkungen bei den Mädchen sind vor allem Angststörungen und Depressionen (ebd.). Zudem können die von angstbedingter Schulmeidung betroffenen SchülerInnen ihre Eltern manipulieren, distanzieren sich von den Peers und isolieren sich (vgl. Ricking/Hagen 2016: 30). Die Angstzustände, die die Schulmeidung bedingen, können verschieden begründet sein. Der angstbedingte Schulabsentismus wird beispielsweise durch die Kumulation von Versagenserlebnissen, das Erleben von Angst in Schule und soziale Marginalisierung ausgelöst beziehungsweise verstärkt (Tab. 1) (vgl. Weber/Welling/Steins 2012: 25ff.).
Erstens entsteht eine allgemeine Schulangst durch das subjektiv erlebte physische und psychische Bedrohtsein im Kontext der Schule, die Konkurrenz innerhalb der Klasse und den Leistungsdruck mit vielen Kontrollen durch die Lehrkräfte, MitschülerInnen und die Familie (vgl. Stein 2012: 81). Die Schulangst wirkt sich in einer Beeinträchtigung des Wohlbefindens, des Selbstkonzepts und der Leistungsfähigkeit aus (ebd.). Des Weiteren wirkt sich der psychische Druck durch die Angst vor dem Versagen in der Schule oft im körperlichen Unwohlsein aus (vgl. Walter/Döpfner 2009: 157f.). Flucht und Schulmeidung sind die logischen Konsequenzen der Schulangst (vgl. Ricking/Hagen 2016: 34). Wenn die Erziehungsberechtigten einen Schulbesuch ihres Kindes trotz der vorhandenen Angst einfordern, verstärken sich die negativen Effekte und die Angst und die Auswirkungen vergrößern und verstärken sich (vgl. Ricking/Hagen 2016: 35).
Zweitens kann die Angst und Schulmeidung auch durch erlebte Aggressionen und Bullying entstehen (vgl. Ricking/Hagen 2016: 36). Die davon betroffenen SchülerInnen sind entweder bereits Opfer von Aggressionen oder haben Angst ein Opfer zu werden (vgl. Goldstein/Little/Akin-Little 2003: 135f.). Diese Art der Angst ist besonders schwierig, da das Bullying durch SchulsozialarbeiterInnen und Lehrpersonen nur schwer zu erkennen ist (vgl. Ricking/Hagen 2016: 37). Die angstbedingte Schulmeidung durch Aggressionen und Bullying hat schwerwiegende psychische Auswirkungen für die Betroffenen (vgl. Ricking 2003: 126). Die Kinder und Jugendlichen erleben eine Beeinträchtigung des Selbstbewusstseins, psychosomatische Reaktionen (z.B. Appetitlosigkeit), schulische Leistungsprobleme und Motivationsprobleme (ebd.). Diese Effekte sind wiederum Risikofaktoren von schulabsenten Verhalten und können somit zu Schulverweigerung führen (Tab. 1).
Drittens ist die Trennungsangst, die eine Ursache für angstbedingte Schulmeidung sein kann, zu nennen (vgl. Ricking/Hagen 2016: 38). Die Lernenden wollen sich nicht von einer Hauptbezugsperson (v.a. der Mutter) trennen und wollen zuhause bleiben (ebd.). Die SchülerInnen wollen zwar die Schule besuchen, aber die Angst des Verlassens der häuslichen Sicherheit ist für sie nicht erträglich und ein Grund die Schule nicht zu besuchen (vgl. Ricking/Hagen 2016: 38f.). Dieses Phänomen ist bedingt durch ein unsicher-ängstliches Temperament des Kindes und ein überbehütendes Erziehungsverhalten der Erziehungsberechtigten (ebd.). Eine unzureichende Autonomieentwicklung, emotionale Störungen, Depressionen und soziale Phobie sind die Konsequenzen (vgl. Koppe/Ranke 2012: 17). Diese Auswirkungen bedingen erneut das Fernbleiben von der Schule (Tab. 1).
Eine weitere Form von Schulabsentismus ist das Zurückhalten durch die Eltern (vgl. Ricking/Hagen 2016: 41). Hier haben die Eltern meist verschiedene eigennützige Gründe, um dem Kind den Schulbesuch zu verweigern (ebd.). Das Behüten von Geschwistern, die Hilfe im Haushalt, weltanschauliche, religiöse und kulturelle Motive oder eine grundsätzliche ablehnende Einstellung gegenüber der Schule können Gründe des Zurückhaltens sein (ebd.). Wenn die Eltern gesundheitlich eingeschränkt sind, könnten sie ihr Kind auch von der Schule fernhalten, weil sie es daheim als PflegerIn benötigen (vgl. Ricking/Hagen 2016: 42). Das Verbergen von Anzeichen von Kindesmissbrauch und Verwahrlosung beim Kind oder Jugendlichen kann eine weitere Ursache des Zurückhaltens sein (vgl. Schulze/Wittrock 2005 zit. n. Ricking/Hagen 2016: 42). Das Zurückhalten ist für SchulsozialarbeiterInnen und Lehrpersonen fast nicht zu enttarnen, da die Eltern ihre Kinder legitim entschuldigen können (vgl. Ricking/Hagen 2016: 42).
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