Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Jugendkriminalität
2.1 Labeling Approach
2.1.1 Labeling Approach nach Becker
2.1.2 Labeling Approach nach Goffman
2.1.3 Labeling Approach nach Lemert
2.1.4 Labeling Approach nach Sack
2.2 Jugendkriminalität in Verbindung mit Labeling Approach
2.2.1 Beispiel des Labelings in der Jugendkriminalität
3 Fazit
Literaturverzeichnis
In der Hausarbeit wird aus Gründen der Lesbarkeit die männliche Form verwendet. Gemeint sind jedoch alle Geschlechter
1 Einleitung
Das Themenfeld der Jugendkriminalität wird besonders in der Öffentlichkeit regelmäßig und emotionsgeladen diskutiert. Medien berichten oftmals von immer jünger werdenden Tätern, die eine steigende Gewaltbereitschaft und Aggressivität aufweisen. Besonders die 14- bis 17-jährigen Tatverdächtigen geraten in den Fokus und sind laut der Polizeilichen Kriminalstatistik eine stark belastete Personengruppe (vgl. Spiess, 2013, vgl. S.4). Eine Statistik, die zum Thema Jugendkriminalität durch das Bundeskriminalamt erhoben wurde, zeigt, dass im Jahr 2019, 18.434 Jugendliche aufgrund von gefährlicher und schwerer Körperverletzung polizeilich erfasst wurden. 40 Jugendliche wurden angesichts von Mord und weitere 858 Jugendliche wurden anlässlich von gefährlicher und schwerer Körperverletzung polizeilich erfasst (vgl. Statista Research Department, 2020).
Der Labeling Approach, zu Deutsch Etikettierungsansatz, bildet eine wichtige Theorie der Kriminologie und beschäftigt sich mit der Entstehung von Kriminalität. Diese Theorie geht im Kern davon aus, dass kriminelles Verhalten erst durch Definitions- und Zuschreibungsprozesse entstehen kann. Somit entsteht Kriminalität nur, wenn man diese definiert. Die Frage nach den Ursachen für kriminelles Verhalten gerät in den Hintergrund (vgl. Neubacher, 2020, S.116).
Die vorliegende Hausarbeit möchte das Phänomen der Jugendkriminalität in Verbindung mit dem Labeling Approach bringen. Die Forschungsfrage hierbei lautet „Inwiefern lassen sich die verschiedenen Labeling-Perspektiven auf das Phänomen der Jugendkriminalität anwenden?“. Im Folgenden wird zunächst die Jugendkriminalität als Phänomen kurz umrissen und es werden wichtige Charakteristika genannt. Daraufhin folgt eine kompakte Darstellung der verschiedenen Labeling-Perspektiven nach den Theoretikern Becker, Goffman, Lemert und Sack. Um der Forschungsfrage nachzugehen, wird im letzten Schritt eine Verbindung zwischen Phänomen und Theorie geschaffen. Es sollen Möglichkeiten der Anwendung der Theorien verdeutlicht und ein möglicher Erklärungsansatz für die Jugendkriminalität veranschaulicht werden
2 Jugendkriminalität
Der Begriff „Jugend“ als Darstellung einer Lebensphase wurde Ende des 19. Jahrhunderts allgemein verbreitet. Die Bezeichnung soll als ein zentraler Wert für die Gesundheit und Vitalität der Gesellschaft stehen. Jedoch wird der Begriff auch mit Defiziten, Störungen und riskanten Verhaltensweisen in unserer Gesellschaft in Verbindung gebracht. Sobald Jugendliche strafrechtsrelevantes Verhalten aufweisen, erfahren sie große Aufmerksamkeit in den Medien und in der Politik. Massenmedien und polizeiliche Pressemitteilungen thematisieren spezifische Normabweichungen ganz besonders in der Öffentlichkeit. Dadurch wird auch eine gewisse Wahrnehmung von Delikthäufigkeiten produziert. Besonders physische Gewaltanwendungen gegen andere Person werden in den Fokus der Öffentlichkeit genommen. Vergleicht man diese Überrepräsentierung jedoch mit statistisch ermittelten Delikthäufigkeiten, handelt es sich hierbei um eine Verzerrung. Die Wissenschaft kritisiert regelmäßig, dass Fälle massenmedial und politisch generalisiert werden (vgl. Dollinger & Schmidt-Semisch, 2018, S. 3).
Nach der deutschen Strafrechtsordnung ist für die Sanktionierung einer Straftat ein schuldhaftes Verhalten erforderlich. Dem Täter muss es möglich gewesen sein, sich frei für das unrechte Handeln zu entscheiden. Ein junger Mensch lernt diese Fähigkeit erst im Sozialisationsprozess. Bei der staatlichen Reaktion auf Normbrüche muss diese Entwicklung des jungen Menschen berücksichtigt werden. Nach § 19 StGB sind Kinder unter 14 Jahren schuldunfähige Personen, die aus dem Anwendungsbereich des Strafgesetzbuches herausgenommen werden. Außerdem wurde ein Sonderstrafrecht für Jugendliche geschaffen, die sich im Sozialisationsprozess zwischen Kindheit und Erwachsenenstatus befinden (vgl. Laubenthal et al., 2015, S. 1). Jugendkriminalität setzt voraus, dass die Handlung eines Jugendlichen den Merkmalen eines allgemeinen Strafbestandes zugeordnet werden kann. Das Delinquenzverhalten von Jugendlichen unterscheidet sich somit nur aufgrund der Besonderheit der Lebensphase von den anderen Altersgruppen (vgl. Laubenthal et al., 2015, S. 4).
Nun werden einige typische Charakteristika der Jugendkriminalität aufgeführt. Die Delikte der Jugendkriminalität sind meist bagatelhaft. Damit sind leichte, nicht geplante Begehungsformen gemeint. Diese weisen meist eine geringe
Schadenintensität, aber ein hohes Entdeckungsrisiko auf. Des Weiteren sind die Delikte opportunistisch und somit nicht geplant. Sie entstehen durch situative Momente. Aufgrund der häufigen Unprofessionalität sind diese dann leicht zu entdecken. Außerdem sind die Delikte oft ubiquitär. Damit ist gemeint, dass ein- oder mehrfacher Polizeikontakt wegen eines Deliktes für die männliche Bevölkerung als statistisch normal gilt. Auch das Begehen von Delikten im Dunkelfeld ist weit verbreitet. Zuletzt ist Jugendkriminalität episodenhaft, da die Auffälligkeit meist nur eine kurze Zeitspanne andauert. Jugendkriminalität gilt in der Regel nicht als Einstieg in eine häufige und intensive Straffälligkeit. Im Alter nimmt die Tatverdächtigenbelastung meist wieder ab (vgl. Spiess, 2013, S. 20).
2.1 Labeling Approach
Eine Theorie der Kriminalisierung bildet der Labeling Approach (Etikettierungsansatz). Dieser löste Ende der 1960er Jahre in der deutschsprachigen Kriminologie heftige Reaktionen aus, da bisherige Sichtweisen gestürzt wurden und ein Paradigmenwechsel bewirkt wurde. Kennzeichnend für diese Theorie ist, dass nicht nach den Ursachen für ein Verhalten gefragt wird, sondern gefragt wird, wieso ein Verhalten überhaupt als kriminell bezeichnet wird. Das Augenmerk der Theorie liegt auf den Instanzen der formellen Sozialkontrolle. Somit wird die Theorie auch als Reaktionsansatz (Kontrollparadigma) bezeichnet. Die soziale Kontrolle wurde als Ursache der Delinquenz gesehen und nicht mehr als Ergebnis. Wird die Theorie radikal zu Ende gedacht, kann man daraus schließen, dass es keine Kriminalität an für sich gibt. Kriminalität hängt von den Definitionen der Rechtsanwender ab (vgl. Neubacher, 2020, S. 114).
Im Folgenden werden die verschiedenen Perspektiven des Labeling Approachs von den Theoretikern Becker, Goffman, Lemert und Sack vorgestellt.
2.1.1 Labeling Approach nach Becker
Howard S. Becker verschriftlichte in seinem Buch „Oustsiders“ seine Variante des Labeling Approachs. Seiner Meinung nach, erschaffen Gesellschaften abweichendes Verhalten durch das Aufstellen von Regeln. Diese Regeln werden auf bestimmte Menschen angewandt und etikettieren diese als Außenseiter
Abweichendes Verhalten resultiert somit aus der Anwendung von Regeln und entsteht nicht allein aus einer Handlung, die eine Person begeht. Die Regeln werden von bestimmbaren sozialen Gruppen aufgestellt und können sich je nach Gruppe und Gesellschaft unterscheiden. Becker nennt in diesem Zusammenhang zwei Typen von moralischen Unternehmern, welche eng in Verbindung mit Regeln stehen. Typ eins sind die Regelsetzer. Diese sind an den Inhalten der Regeln interessiert und haben das Ziel ein Übel zu korrigieren. Typ zwei sind die Regeldurchsetzer, welche daran interessiert sind aufgetragene Aufgaben durchzusetzen, wie beispielsweise die Polizei (vgl. Wehrheim, 2017, S. 69f.). Eine öffentliche Anklage der Regelverletzung erfolgt laut Becker sozial selektiv. Hierbei spielt zum Beispiel die Klassenzugehörigkeit oder die Hautfarbe einer Person eine große Rolle. Außerdem nennt Becker vier verschiedene Typen von abweichendem Verhalten. Dies sind fälschlich als abweichend beschuldigte Personen, konform als nicht abweichend angesehene Personen, rein abweichende Personen und heimlich abweichende Personen (vgl. Wehrheim, 2017, S. 72).
2.1.2 Labeling Approach nach Goffman
Erving Goffman führt im Jahr 1975 den Begriff des „Stigmas“ ein, um gesellschaftliche Kategorisierungen von Menschen besser fassen zu können. Stigmatisierung beschreibt einen relationalen Prozess, da dieser zwischen zwei Personen stattfindet. Die eine Person, die über eine bestimmte Eigenschaft verfügt und die andere Person, welche in Bezug auf diese Eigenschaft von der Norm abweicht. Somit wird durch die Stigmatisierung keine relative Objektivität erfasst. Eine Person gilt als stigmatisiert, sobald die stigmatisierende Eigenschaft von außen wahrnehmbar ist (diskreditierend) oder wahrgenommen werden könnte (diskreditierbar). Eine weitere Folge muss sein, dass die Person dadurch anders von seinen Mitmenschen behandelt wird (vgl. Knabe, Fischer & Klärner, 2018, S. 168f.). Die Stigma-Theorie von Goffman besagt außerdem, dass durch das erzeugte Stigma die soziale Stellung einer Person infrage gestellt wird und auf das Handeln der Person eingewirkt wird. Es entsteht ein Einschränken der Handlungsmöglichkeiten dieser Person (vgl. Knabe et al., 2018, S. 172).
Das Stigma hat eine kontrollierende Wirkung auf die Handlung der Person, die von diesem betroffen ist. Die betroffene Person ist gezwungen, sich in einer bestimmten Art und Weise zu verhalten, da sie das Stigma nicht ignorieren kann. Hierbei gibt es mehrere Handlungsstrategien, durch welche Einfluss ausgeübt werden kann. Das Stigma-Management beschreibt laut Goffman den Versuch einer Person, die bereits stigmatisiert wurde, Kontrolle zu gewinnen und eine vorteilhaftere Identität aufzubauen. Diese vorteilhaftere Identität wird erzeugt, in dem das Stigma verborgen oder in einer bestimmten Art und Weise eingesetzt wird, um negative Effekte der Enttarnung des Stigmas zu minimieren (vgl. Knabe et al., 2018, S. 172).
Beim Stigma-Management wird in diskreditierter und diskreditierbarer Person (siehe oben) unterschieden. Die diskreditierbare Person weiß nur selbst über ihr Stigma Bescheid und setzt sich mit ihrer persönlichen Identität auseinander. Für sie besteht die Gefahr der Enttarnung des Stigmas. Es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen der Verheimlichung/Verschleierung und der Offenlegung des Stigmas. Bei einer Offenlegung würde es zu Diskreditierung kommen. Personen, die bereits diskreditiert sind, können sich von den Menschen, die nicht von der Stigmatisierung betroffen sind, zurückziehen. Sie können die Stigmatisierung jedoch auch hinnehmen, diese überspielen, abschwächen oder sie betonen, um einen Nutzen draus ziehen zu können. Außerdem gibt es die Möglichkeit, zu versuchen das Makel, welches zum Stigma führte, zu bekämpfen und sich somit den gesellschaftlichen Normalitätsstandards anzunähern. Die vorherrschenden Normalitätsstandards können jedoch auch problematisiert werden, mit dem Ziel, dass die eigene Identität als normal angesehen wird (vgl. Knabe et al., 2018, S. 172f.).
2.1.3 Labeling Approach nach Lemert
Edwin M. Lemert (1912-1996) gilt als eine maßgebliche Gründerfigur des Labeling Approachs. Er ist der Auffassung, dass in der modernen Gesellschaft soziale Kontrolle zur Abweichung führt. Damit wendet er sich gegen die traditionelle Soziologie, welche besagt, dass eine Abweichung erst zu Maßnahmen der sozialen Kontrolle führe. Mit diesem „pro-aktivem“ Modell sozialer Kontrolle drückt er aus, dass abweichendes Verhalten erst durch die soziale Reaktion zustande kommt. Außerdem führt Lemert das Konzept der primären und sekundären Devianz ein (vgl. Anhorn, 2017, S. 80f.). Mit der primären Devianz beschreibt er alltägliches abweichendes Verhalten, welches soziale, kulturelle, psychologische oder physiologische Ursachen haben kann. Die Abweichung ist jedoch noch in das „konforme“ Selbstbild integriert und es gibt keine Folgen für die soziale Rolle oder den sozialen Status der Person. Das abweichende Verhalten bleibt im Bereich der primären Devianz, solange es keinen Anlass für veränderte Statuszuschreibungen oder Grundlage für ein aktiv abweichendes Rollenhandeln gibt. Der Übergang zur sekundären Devianz ist gegeben, wenn es zu gesellschaftlichen Reaktionen kommt. Diese Reaktionen finden in Gestalt der formellen Instanzen statt, wie beispielsweise der Psychiatrie, der Strafjustiz oder des Jugendamts. Daraus folgend entstehen einschneidende Veränderungen im sozialen Status und in der sozialen Rolle einer Person. Die deskreditierten und degradierten Zuschreibungen (Stigmatisierung) können bis hin zu einem Status- und Rollenverlust führen. Auch gesellschaftliche Partizipationschancen werden beeinträchtigt. Betroffene Personen finden laut Lemert in abweichenden Bewältigungstrategien dieser Probleme aussichtsreichere Lösungen für ihre Situation als durch „konformes“ Verhalten. Eine weitere Folge der sekundären Devianz ist die Veränderung des Selbstbildes und der Selbstwahrnehmung der betroffenen Person. Die gesellschaftlichen Rollen- und Statuszuschreibungen werden zum Bestandteil des Selbstbildes des Betroffenen gemacht und somit übernommen (vgl. Anhorn, 2017, S. 84-87).
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