Gattungskonventionen eines Schelmenromans in Bezug auf Abbas Khiders “Ohrfeige”


Facharbeit (Schule), 2021

15 Seiten, Note: USA: B // DE: 2,0

Anonym


Leseprobe


Einleitung

Das Genre des Schelmenromans prägt seit Jahrhunderten als Sonderform die Abenteuerliteratur in Europa. In der Handlung eines Schelmenromans tritt ein peripatetischer Antiheld (Schumann, 1966, p. 469) als Protagonist auf, welcher am Rande der bürgerlichen Gesellschaft steht. Ein Schelmenroman dient dazu, dem Leser zu erläutern, wie sich in einer Krisensituation ein Einzelner aufgrund eines Erlebnisses der Desillusionierung zu einer Person mit schelmischen Eigenschaften wird. Er berichtet von seinem eigenen, oft kümmerlichen Schicksal und entlarvt sogleich auch die Missstände von Autoritäten und Behörden der höheren Gesellschaft (Maria-Eirini, 2018, p. 5).

Der 2016 veröffentlichte Roman “Ohrfeige” schildert die Wutrede des irakischen Geflüchteten genannt Karim Mensy, welcher aufgrund einer Hormonstörung genannt Gynäkomastie und die dadurch entstehende Angst aus seiner Heimatstadt Bagdad flüchtet um nach Paris zu gelangen, jedoch im bayrischen Oberfranken landet. Im Laufe seiner Reise nach Deutschland und zugleich nach seiner Ankunft in Deutschland wird er mit den Missständen der Asylbürokratie konfrontiert und fühlt sich nicht nur als Außenseiter der männlichen Gesellschaft aber auch der europäisch-deutschen Gesellschaft.

Von einigen Literaturkritikern wird der nun vierte Roman, namens “Ohrfeige”, des deutsch-irakischen Schriftstellers Abbas Khider, als ein Werk beschrieben, welches “die uralte europäische Tradition des Schelmenromans wiederbelebt” (Delius, 2017). Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Thematik des Schelmenromans, inwiefern dessen Gattungskonventionen im Werk aufkommen und wie dies von dem Autor beabsichtigt sein könnte. In erster Stelle steht eine grundlegende Zusammenfassung des Werkes und folglich ein Definitionsversuch des Schelmenromans. Im Definitionsversuch wird in Kürze die Entstehungsgeschichte der Schelmenliteratur geschildert und danach bestimmte Gattungskonventionen mit deren beabsichtigten Wirkung umfassend definiert. In den folgenden Abschnitten des Hauptteils werde ich darlegen in welchem Ausmaß sich Abbas Khider an den Gattungskonventionen des Schelmenromans bedient und welche Auswirkungen des Lesers er vermutlich evozieren möchte.

1. Struktur und Zusammenfassung des Romans

Der Roman ist in drei Erzählebenen strukturiert. In der ersten Erzählebene wartet der Protagonist des Romans, Karim Mensy, währenddessen er mit Marihuana berauscht ist, Münchner Apartment eines Freundes auf eine Nachricht von seinem Schlepper, um nach Finnland zu flüchten. Die zweite Erzählebene basiert auf einer Fantasievorstellung; Karim stellt sich vor, dass er zurück in Bayreuth, seinem einstigen Wohnort, in die Ausländerbehörde stürmt und seine Sachbearbeiterin Frau Schulz fesselt, knebelt und ohrfeigt. Er fordert, dass ihm nun endlich jemand zu hören solle. Er ist ausser sich, dass von den deutschen Behörden nicht wie ein Individuum, sondern lediglich wie eine Statistik der Flüchtlingskrise behandelt wurde. Es folgt ein Rückblick auf Karims Leben im Irak, wie er aus Bagdad flieht, wie er statt in Paris aber in Bayern landet und er seitdem über drei lange Jahre im deutschen Bürokratiedschungel (Nossack, 2017). um eine Aufenthaltserlaubnis kämpft nur um schlussendlich abgewiesen zu werden. Die einzelnen, relativ alleinstehenden Geschichten seiner Vergangenheit bilden somit dritte und letzte Erzählebene.

2. Definitionsversuch eines Schelmenromans

Unter Literaturwissenschaftlern gibt es unterschiedliche Ansätze und Grundgedanken hinsichtlich der Definition des Schelmenromans. Inwiefern diese Ansätze sich kreuzen hängt somit aber auch mit den verschiedenen Ländern und Zeitepochen zusammen.

Um feststellen zu können, ob es sich beim Werk “Ohrfeige” von Abbas Khider gegebenenfalls um einen Schelmenroman handelt, gilt vorerst die verschiedenen Definitionsansätze einander gegenüberzustellen und die Gattungsmerkmale zu identifizieren welche auch später mit den Auffälligkeiten in Khiders Werk verglichen werden.

Der Ursprung des Schelmenromans liegt im 16. Jahrhundert Spaniens mit ersten Romanen dieses Genres (Maria-Eirini, 2018, p. 1). Als Klassiker oder auch Vater der pikaresken Romane wird oft die Geschichte von “La vida de Lazarillo del Tormes y de sus fortunas y adversidades” (1554) genannt, dessen Verfasser aber anonym geblieben ist. Im Laufe des 16. Jahrhunderts Spaniens stieg somit die Popularität mit Romanen über gesellschaftskritische, satirische und zugleich abenteuerlustigen Schelme (Prondzinska, 2008, p. 22).

Ein typischer Schelmenroman ist vorab an strukturellen Merkmalen wiederzuerkennen. Die Handlung der Geschichte des Schelms ähnelt einer Episodenstruktur, einer “Kette von mehreren zufälligen

Abenteuern”, die der Protagonist erlebt (Maria-Eirini, 2018, p. 11). Als weiteres essenzielles Merkmal der Struktur ist die Erzähltechnik der Rahmenerzählung in einem Schelmenroman auch häufig vorzufinden. Der Aufbau eines Rahmens für die Geschichte des Schelms erfolgt meist am Anfang des Werks, indem er rückblickend über seine Erlebnisse redet. Es ist die ursprüngliche Erzählzeit welche die Rahmenhandlung ermöglicht. Im Dilemma seines Schicksals bedient sich der Schelm an sarkastischen und satirischen Bemerkungen und verleiht seiner sonst tristen Geschichte eine gewisse Leichtigkeit. Zusätzlich ist zu erwähnen, dass die Satire und Komik des Schelms auch ein Instrument zur Kritik an die Gesellschaft dient. Die Ursache dieser Unzufriedenheit ist des Schelms Rolle des Aussenseiters der generellen Bevölkerung. Oft kommt er in Kontakt mit den höheren Schichten der Gesellschaft, welche er für ihre geheuchelte Moral und Scheinheiligkeit versucht blosszustellen (Maria-Eirini, 2018, p. 3). Unter anderem ist der Schelm, Pikaro genannt, in der Schelmenliteratur insbesondere dafür bekannt, dass er als junger, meist einsamer Mann den unteren, unprivilegierten Schichten der Gesellschaft angehört und sich nach Normalität und einer klaren Identität sehnt.

Bei den folgenden Ausführungen der Gattungskonventionen eines Schelmenromans innerhalb des Romans “Ohrfeige” werde ich mich auf die strukturellen Merkmale sowie das episodenhafte Erzählen und den pseudoautobiographische Erzählcharakter konzentrieren. Anschließend werde ich die Gattungskonvention der Satire, Humor & Gesellschaftskritik und die des Aussenseitertums analysieren und evaluieren.

3. Strukturelle Merkmale eines Schelmenromans in “Ohrfeige”

Zu den strukturellen Merkmalen eines Schelmenromans gehört das episodenhafte Erzählen, welches den gesamten Roman in episoden-ähnliche Kapitel aufteilt. Ein weiteres wichtiges strukturelles Merkmal ist der pseudoautobiographische Erzählcharakter, welcher die Geschichten des Schelms wiedergibt.

3.1 Episodenhaftes Erzählen

Der Roman "Ohrfeige" ist ähnlich anderen Schelmenromanen episodenhaft in eine Rahmenerzählung eingebettet, um die Vielfältigkeit der traumatischen Erlebnisse eines Flüchtlings anzudeuten. Anhand der verschiedenen Kapiteln, welche lose miteinander verbunden sind (Andres, 2008, p. 15) , erzählt Karim von gewissen Zeitpunkten in seinem Leben. Jedes Kapitel hat ein gewisses Thema, sei es Karims erste grosse Liebe namens Hayat, seine Brusterkrankung genannt Gynäkomastie oder wie er von Polizisten aufgegriffen und in eine Zelle gesperrt wird. Insofern sind die Episoden durch ähnliche Themen und Motive lose miteinander verbunden, jedoch nicht unbedingt voneinander beeinflusst. Die Absicht dieser Darstellung von Karims Erlebnissen ist, dass somit dem Leser die entsprechenden Vorfälle von Karims Schicksal und seine Erlebnisse mit deutschen Behörden erläutert werden. Der Schelm wünscht sich Normalität und doch ist er sich bewusst, dass die Taten des Deutschen Staates ihm gegenüber alles andere als recht oder angebracht sind. Das Essentielle an der Episodenstruktur ist, dass sie indirekt dazu dient, dem Leser sein Leid und die Missstände des Asylverfahrens in Deutschland darzulegen.

Obwohl Sprünge in der Zeit in Form von Rückblenden oftmals in den Kapiteln vorkommen, sind stets wieder auftretende Themen zu erkennen, welche die Kontinuität wiederherstellen. Zusammenfassend ist die Anhäufung der Episoden eine Rechtfertigung und Begründung seines invasiven und dreisten Verhaltens in der Anfangsszene.

3.2 Pseudoautobiographischer Erzählcharakter

Vermutlich einer der entscheidendsten strukturellen Gattungskonventionen des Schelmenromans ist der pseudoautobiographischer Erzählcharakter in der Ich-Perspektive.

Der Schelm illustriert, in Form eines erzählendes Ichs, die abenteuerlichen Episoden seines Werdegangs im Format einer fiktiven Autobiographie (Loesch, 2010, p. 2), auch genannt Autofiktion, und steht dabei im absoluten Mittelpunkt. Der Pikaro wird also zum Chronisten und Reporter seines eigenen Schicksals und Kampfes gegen die Autoritäten der höheren Gesellschaft (Schuhmann, 1966, p. 468). Die Problematik bezüglich der Ich-Perspektive liegt erfahrungsgemäß an dem einseitigen Blickwinkel der Erzählung genannt “Froschperspektive”. In der Froschperspektive, gegensätzlich zur Vogelperspektive, wird das Geschehen aus dem niedrigen Blickwinkel des Schelms dargestellt. Die Funktion dessen ist, dass das Erlebte zeit- und realitätsnaher scheint (Budnak, 2010, p. 8).

Jedoch gibt es bei dieser einseitigen Perspektive auch mehrere Nachteile. Zum Einen erhält der Leser nur die Schilderungen des Schelms also die Erzählungen seiner Selbstdarstellung und Vergangenheit (Uhrova, 2004, p. 36). Der Schelm entscheidet frei welche Erlebnisse er in einer Episode preisgibt. Zum Anderen jedoch, bekommt der Leser einen Eindruck davon, wie der Schelm sich selbst und seine Umwelt wahrnimmt und kann somit die Handlungen des Schelm besser nachvollziehen. Man erhält einen Blick hinter die Kulissen und hinter die Fassade der höheren Schichten und Autoritäten der Gesellschaft (Andres, 2008, p. 16).

Die Erzähltechnik des Romans von Abbas Khider gleicht der einer fiktiven Autobiographie, in welcher ein pseudo-autobiographischer Erzählcharakter seine Erfahrungen und Erkenntnisse schildert. Diese Erzählperspektive ist typisch für einen Schelmenroman, da der Protagonist nur die Vorkommnisse erzählt welche er hinsichtlich seiner Entwicklung als bedeutsam empfindet. Karim benutzt die Erzähltechnik des pseudoautobiographischen Ich-Erzählers, um dem Leser, u.a. seiner Sachbearbeiterin Frau Schulz, seine Erlebnisse möglichst wirklichkeitsgetreu darzustellen. Der Erzähler eines Schelmenromans hat eine große Machtposition, denn es kann nie vollständig geschlussfolgert werden, ob die Erzählungen des Schelms der Realität entsprechen.

Wie viele Schelmenromane wird auch “Ohrfeige” in einer pseudoautobiographishen Ich-Perspektive erzählt. Durch Karims Erzählungen, werden dem Leser seine Flucht aus dem Irak, sein Ankommen in Europa und schlussendlich seine Alltagssituationen erläutert. Die Mehrheit des Romans besteht aus Erzählungen und dem Wiedergeben von Erlebnissen, nur vereinzelt aus Szenen mit Dialogen und direkter Rede. Jegliche Gefühle und Gedanken von Karim werden so direkt an den Leser vermittelt somit erhält dieser einen klaren Einblick in das Leben eines Geflüchteten in Deutschland und dessen Wünsche, Träume aber auch Ängste und alltägliche Dilemmas und Problematiken.

Zu den wahrscheinlich für den Leser persönlichsten und intimsten Erzählungen innerhalb des Romans gehören Karims Schilderung seines wahrhaftigen Fluchtgrundes; seine Brusterkrankung der Gynäkomastie. Ein bedeutender Aspekt am Rande ist, dass Karim innerhalb des Buches Frau Schulz als sein Publikum seiner Geschichte betrachtet. Diese Tatsache, dass Karim Frau Schulz adressiert, ist plausibel da die Anfangsszene eine Rahmenhandlung für Karims Erzählung kreiert.“

“Frau Schulz, wir reden zusammen. Ich wollte immer, und Sie haben keine Zeit oder Wille für mich, wenn ich vor Ihrem Zimmer warten. Jetzt endlich ist soweit! Ob Sie wollen oder nicht, wir reden. Aber Deutsch ist schwer für mich und will ich viele Sachen erzählen. Ich muss Arabisch mit Ihnen reden, so kann ich frei reden. Leider!” (S. 10)

Jedoch ist das Adressieren einer anderen Figur im Laufe des ganzen Buches eher untypisch für einen pikaresken Roman. Wie erwähnt wendet der Erzähler sich in einem Schelmenroman normalerweise an den Leser und spricht diesen wiederholt direkt an um die Glaubwürdigkeit und Vertrauen in den Schelm zu prägen. Trotz des Ausweichens dieses Details der Gattungskonvention, hat dieser Entscheid des Autors Khider einen Hintergrund und gezielte Absicht. Der Schelm (Karim) des Romans durchlebt seine Erfahrungen nochmals und hat daher die Möglichkeit die Gesellschaft mit Satire zu beleuchten, da er als rückblickender, erfahrener Erzähler ein viel größeres Verständnis der Gesellschaft entwickelt hat (Kantar, 2016, p. 12).

4. Satire, Humor und Gesellschaftskritik

Bekanntlich hat der Begriff Pikaro nicht nur die Bedeutung eines Schelms, sondern auch die eines Spaßmachers, Narren und Spitzbuben (Prondzinska, 2008). Humor und Komik sind bekanntlich der Gegensatz der Ernstheit und Tragödie. Dazu ist es gerade das typisch Satirische und Sarkastische, was zu der weitaus bedeutendsten Charaktereigenschaft des Schelms dazugehört. Der Humor lenkt ihn ab und befreit ihn für eine kurze Zeit von seinem Schicksal, seinen Ängsten und den Einschüchterungen seiner Umwelt (Prondzinska, 2008).

Humor und Satire gehören zu den am deutlichsten ausgeprägten Stilmitteln welche Khider in “Ohrfeige” benutzt, um einerseits die meist trostlosen Geschichten von Karim, dem sozial-unterprivilegierten Protagonisten, welcher viel Leid und Verzweiflung erlebt, mit Leichtigkeit zu erzählen. Andererseits, werden Satire und Humor, typische Gattungskonventionen eines Schelmenromans, verwendet, um die Doppelmoral der deutschen Behörden und der allgemeinen deutschen Gesellschaft satirisch zu beleuchten (Prondzinska, 2008).

“Khider ist ein Meister darin, existenzielle Verzweiflung in kleinen Momenten absurder und anderer Komik zu spiegeln”, besagt Katharina Granzin, Autorin im Feuilleton der Frankfurter Rundschau zum Werk “Ohrfeige”. Zahlreiche weitere Autoren und Rezensenten lobpreisen Khiders Etablierung der einzigartigen Zusammenfügung des Galgenhumors und der Tragödie innerhalb des Werkes. Obwohl die Geschichte von Karim Mensy in den frühen 2000er Jahren spielt, sind die Erlebnisse des Protagonisten auch das alltägliches Leben für viele Geflüchtete in Deutschland heutzutage. Damit lässt sich schlussfolgern, dass Khider mit diesem Roman beabsichtigt hatte die Missstände der gegenwärtigen Ausländer- und Asylbürokratie zu schildern

Zum Einen nimmt Khider Humor zum Einsatz, wenn Karim körperlich oder psychisch in Verzweiflung steckt. Dieser Einsatz von Witz aufgrund eines Tiefpunktes wird in Karims ersten durchlebten Winter deutlich hervorgehoben:

“Als ich auf dem Flur trat, spürte ich mit voller Wucht diese boshafte europäische Eiseskälte. Wie ein Ungeheuer fiel sie mich an und biss mir in die Knochen. Meine kräftigen Pobacken zitterten wie die einer Samba-Tänzerin” (S. 62)

In Anbetracht des Vergleich seiner vor Kälte zitternden Pobacken und den Pobacken einer Samba-Tänzerin wird die Tatsache, dass er an einer Unterkühlung leidet, somit verharmlost. Durch Vergleiche fröhlicher Freizeitaktivitäten sowie das Tanzen mit der Schüttelfrost aufgrund der Unterkühlung, wird Karims körperliches Leiden im Asylheim dargestellt. Die triste Realität ist es, dass Karim sich keine wärmeren Klamotten leisten kann, jedoch Khider diese Unannehmlichkeit humorvoll zur Geltung bringt, was auf stilistische Merkmale eines Schelmenromans hindeutet, da es typisch für einen Schelmen ist, besonders schwierige Situation mit Humor zu bewältigen.

Weitere satirische Parallelen wie die folgende werden von Khider verwendet um das Verhältnis zwischen den Asylbewerbern und der deutschen Behörden zu charakterisieren.

Es war ein grüner Umschlag. [...] «Oh je, ein grüner Brief. Die Farbe des Propheten Mohammed und der mächtigsten deutschen Behörden.»”(S. 129)

Mit dem provokanten Vergleich des wichtigsten Propheten und Religionsstifter des Islams Mohammed und den deutschen Behörden deutet Khider darauf hin, dass diese sogar eine gleichwertige Macht über die Flüchtlinge haben wie deren eigene Religion. Die Behörden werden als gottgleich, allmächtig und unantastbar dargestellt. In dieser Hinsicht ist die Satire ein Mittel zur Gesellschaftskritik, was eine bedeutende Gattungskonvention des Schelmenromans ausmacht. Die Absicht dieser Gesellschaftskritik in diesem Beispiel ist, dass die Asylbewerber sich den Behörden schon regelrecht unterwerfen.

Khider bedient sich an zahlreichen humorvollen und satirischen Aussagen, welche einerseits eine Bewältigungsstrategie (Hämke, 2018, p. 40) der Flüchtlinge in kritischen Situationen darstellen und andererseits in Form von zynischer Kritik am Asylverfahren das Machtverhältnis zwischen den Behörden und der Flüchtlinge umkehrt. Die Gesellschaftskritik ist jedoch nicht nur an die deutsche Gesellschaft im Roman, sondern auch an die deutsche Gesellschaft der Gegenwart gerichtet. Khider schildert sowohl die sozialen und politischen Herausforderungen eines Flüchtlings als auch die zahlreichen Facetten des herausfordernden Asylverfahrens.

5. Aussenseitertum

Bekannt in der Schelmenliteratur ist der Pikaro insbesondere dafür, dass er als junger, meist einsamer Mann den unteren, unprivilegierten Schichten der Gesellschaft angehört und seine Lebensgeschichte mitsamt seines Schicksals schildert. Doch woher stammt diese Abseits- und Aussenseiterstellung des Pikaros?

Die älteren Pikaros der Schelmenliteratur distanzierten sich gewollt von der allgemeinen Gesellschaft aufgrund moralischer Gründen. Sie hatten die Absicht mit der gewollten anti-sozialen Haltung die Autoritäten höheren Schichten somit noch ausdrücklicher zu verspotten und ihre Falschheit zu entlarven (Schumann, 1966, p. 468). Die modernen Schelme wie sie in Romanen wie “Die Abenteuer des Augie March” (1953) von Saul Bellow oder in dem noch bekannteren “Die Abenteuer des Huckleberry Finn” (1885) von Mark Twain, aufzufinden sind, sind unfreiwillig in dieses Aussenseitermilieu meist hineingeboren. Hinsichtlich ihrer Herkunft werden sie nicht von der Gesellschaft akzeptiert und trotz der Bloßstellung und Entlarvung der geheuchelten Moral der Gesellschaft möchte der moderne Pikaro insgeheim dieser angehören. Er leidet aufgrund der Art wie er als Außenseiter der Gesellschaft behandelt wird und hat den Wunsch nach klarer Identität und Normalität. Aufgrund der daraus resultierenden Verzweiflung ist es auch häufig so, dass der Schelm mit kleineren illegalen und betrügerischen Machenschaften versucht die Regeln der Gesellschaft zu brechen, um sie so leichter durchs Leben zu schlagen (Prondzinska, 2008). Der Schelm wird zu einem Kleinverbrecher, rechtfertigt seine Taten abermals mit der Ungerechtigkeit seiner Umwelt und den herrschenden Autoritäten (Schumann, 1966, p. 474).

Abbas Khider bedient sich in “Ohrfeige” an der Gattungskonvention des Aussenseitertums eines Schelms mit der Figur von Karim Mensy. Somit beabsichtigt er es, die Verzweiflung und Unzufriedenheit von Karim hervorzuheben, welche im ersten Kapitel des Buches am ausgeprägtesten zu erkennen ist. „Ohrfeige“ gleicht hiermit einem typischen Schelmenroman wie Autor Helmut Heidenreich ihn definiert; eine “literarische Rache der verfolgten Außenseiter“. Denn Karim ist Außenseiter gleich zweier

Gesellschaften, die der deutschen Bevölkerung und die der männlichen Gesellschaft, sehnt sich jedoch am meisten nach Akzeptanz und Zugehörigkeit beider Gesellschaften.

Khider schildert Karims Außenseitertum einerseits anhand diverser Aspekte der Integrationsbarrieren, u.a. die Gründe seines Aussenseitertums der deutschen Bevölkerung. Dies ist vor allem zu erkennen an seiner Ankunft in Deutschland, nach welcher er von der Behörden verschoben und von der deutschen Gesellschaft isoliert wird. Er wird erst in einem in Bayreuth und schließlich in Niederhofen in einem untergebracht.

Der Komplex liegt am Stadtrand und war früher wohl mal eine Kaserne, vielleicht aber auch ein Gefängnis oder einen Seuchenhaus.“(S. 59)

Das oben genannte Zitat unterstreicht die Wahrnehmung der Bewohner von deren Heim. Die Tatsache, dass das Heim am Stadtrand und nicht inmitten der Stadt und der Bayreuther Gesellschaft liegt, weist darauf hin, dass Karim nicht am „normalen“, deutschen Alltag teilnehmen kann und wortwörtlich am Rande der Zivilisation lebt. Asylbewerber und Obdachlose werden in Deutschland des Öfteren als Angehörige sozialer Randgruppen angesehen; Leute welche “aufgrund gravierender Benachteiligungen unterschiedlicher Art teilweise vom ,normalen' Leben der Gesellschaft ausgeschlossen sind” (Geißler, 2011, p. 201). Veranlasst durch seine Unterkunft im Asylheim gehört Karim auch diesen Randgruppen an. Er ähnelt damit einem typischen Schelm, da er zu der eher unprivilegierten Schicht der Gesellschaft zählt, sich aber stets nach Normalität und einer klaren Identität inmitten einer Gesellschaft sehnt. Mit den negativen Vergleichen “Gefängnis” und “Seuchenhaus” bringt Khider stilistisch Karims Unbehagen im Heim zur Darstellung. Erneut kommt das Thema der Randgruppen zum Vorschein, da Häftlinge und Seuchenkranke ebenso am Rande der Gesellschaft stehen (oder im Falle der Seuchenkranke, damals standen).

Karim wird nicht nur physisch ein Außenseiter der deutschen Gesellschaft aufgrund seines Wohnortes, sondern auch Aussenseiter auf sprachlicher Ebene. Somit illustriert Khider die Vielfalt der Integrationsbarrieren welche Karim daran hindern sich der deutschen Gesellschaft zugehörig zu fühlen.

“Immer wieder hatte ich Herrn Sepps Worte im Ohr. “Das freut uns, dass Sie die Sprache lernen wollen. Sie müssen aber erst ein Jahr lang arbeiten und Steuern bezahlen. Danach können wir

Ihnen einen Sprachkurs finanzieren”. [...] Nach über zwei Jahren in Deutschland durfte ich nun tatsächlich einen Deutschkurs besuchen.”(S.179)

Anhand dieses Auszuges kann geschlussfolgert werden, dass Karim auf den meisten Ebenen seines Lebens den deutschen Behörden ausgeliefert ist, da es ihm zusätzlich verhindert wird sich sprachlich zu integrieren. Darüber hinaus ist er in keiner Machtposition, etwas gegen sein Außenseitertum zu unternehmen. Die Absicht Karim als hilflosen Einzelnen darzustellen liegt darin, Sympathie und Mitgefühl des Lesers zu erzeugen.

Des Weiteren ist Karim auch Außenseiter der männlichen Gesellschaft. Seine Brusterkrankung der Gynäkomastie, die dazu führt, dass ihm weibliche Brüste wachsen, und die damit verbundene Angst, dass sein Geheimnis aufgedeckt werden könnte, resultieren zu seinem Entscheid der Kriegsdienstverweigerung und die darauf folgende Flucht aus dem Irak.

“Liebe Frau Schulz ich habe meine Heimat verlassen, weil ich davon träumte, ein normaler Mann zu werden. Das ist alles.” (S. 93)

Mit dieser Aussage unterstreicht Khider Karims Verzweiflung als Aussenseiter indem er Karim seinen Wunsch nach einem “normalen” Männerkörper äußern lässt. Sowie der Pikaro in der Schelmenliteratur, sehnt sich Karim lediglich nach Normalität, nach dem Gefühl dazuzugehören und kein Aussenseiter der männlichen Gesellschaft zu sein. Die Absicht dieser Repräsentation ist es, aus der Perspektive eines Außenseiters das Bild einer inhumanen und dem Schelm fremdgewordenen Gesellschaft, die des Iraks, zu zeichnen.

Trotz der Tatsache, dass Karim sich mehr als alles wünscht, kein Außenseiter mehr zu sein, verleiht ihm die Randposition die Macht die Doppelmoral und Scheinheiligkeit der Behörden aufzudecken ohne dafür selbst die Verantwortung seiner Kritik zu tragen.

6. Fazit

In den oberen Abschnitten wurden die gezielte Auswahl an vier Gattungskonventionen des Schelmenromans, definiert und diskutiert. Zusätzlich wurden diese, hinsichtlich auf ihr Auftreten innerhalb des Werkes “Ohrfeige”, im Kontext/Zusammenhang mit Werk demnach analysiert und evaluiert. Trotz der oftmaligen Übertragbarkeit der Gattungskonventionen auf das Werk, stellt sich schlussendlich die Frage, inwiefern man Karim Mensy, den Protagonisten des Werks als Schelmen und das Werk in dessen Gesamtheit in das Genre des Schelmenromans einordnen kann.

Anhand der strukturellen Eigenschaften, des episodenhaften Erzählens und der pseudautobiographischen Ich-Perspektive des Buches und wie sie mit dem Inhalt des Romans interagieren, könnte man die Zugehörigkeit von “Ohrfeige” zu der Gattung der Schelmenromane annehmen. Wichtig ist jedoch nicht nur lediglich die Übereinstimmung dieser Erkennungszeichen, sondern auch deren Absicht. Hinsichtlich der Absicht, erfüllt Abbas Khider auch hier die Erwartungen eines Schelmenromans. Der Erzähler, Karim, schildert seine Geschichte in Form eines rückblickenden-erzählenden Ichs aus der Froschperspektive mit der Absicht das deutsche Asylverfahren aus der Sicht eines unprivilegierten Asylbewerbers am Rande der deutschen Gesellschaft darzustellen. Gut möglich ist, dass Khider diese eher seltene in deutscher Literatur vertretene Perspektive vor allem den deutschen Lesern zu erklären und schildern. Er möchte die Komplexität von Fluchtgründen der Flüchtenden ausdrücken und vor allem den Lesern westlicher Gesellschaft die Missstände des deutschen Asylverfahren aufdecken.

Karim erfüllt so manche Kriterien eines typischen Pikaros. Nichtsdestotrotz muss man in Erwägung ziehen, dass ein Teil des Romans in Karims Fantasie und Marihuana-Rausch stattfindet. Damit ist die Anfangsszene, in welcher Karim seine Sachbearbeiterin Frau Schulz in der Ausländerbehörde fesselt und ohrfeigt ein Ereignis, welches nur in seinem Kopf stattfindet. Er wünscht sich dies im echten Leben tun zu können, da er drei lange Jahre mit dieser Wut, Verzweiflung und Frustration leben musste, doch Karim ist kein aggressiver oder brutaler Mensch, wie der Leser es im Laufe seiner Erlebnisse und Abenteuer herausfindet.

Doch auch mit der Ausnahme dieses Merkmals gleicht Abbas Khiders Roman “Ohrfeige” in vielen Hinsichten einem modernen Schelmenroman. Mit der Darstellung von Karim und seinen Erlebnissen als Asylbewerber in Deutschland will Khider auf die stets vorhandenen Missstände der deutschen Asylbürokratie hinweisen, beleuchtet sie jedoch eher satirisch und mit Galgenhumor als mit direkter, anklagender Kritik.

Referenzen

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Hämke, K. (2018). Gutes Buch kommt selten allein: Das große Lesekreis-Handbuch. Kiepenheuer & Witsch.

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Details

Titel
Gattungskonventionen eines Schelmenromans in Bezug auf Abbas Khiders “Ohrfeige”
Note
USA: B // DE: 2,0
Jahr
2021
Seiten
15
Katalognummer
V1189913
ISBN (eBook)
9783346625663
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schelmenroman, Schelm, Schelmenliteratur, pikaresk, pikaresker Roman, Pikaro, Pikaroroman, Flüchtlingsliteratur, Abbas Khider, Ohrfeige, Extended Essay, IB, International Baccalaureate
Arbeit zitieren
Anonym, 2021, Gattungskonventionen eines Schelmenromans in Bezug auf Abbas Khiders “Ohrfeige”, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1189913

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