Wir und die Anderen - Bedürfnis und Abgrenzung. Lessings Nathan im postkolonialen Blick des Anderen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2022

22 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Über das Wir, die Gleichheit und die Anderen

3. Lessings und Mendelssohns Jerusalem – der richtige falsche Ort
3.1 Der Blick des Anderen im Nathan
3.1.1 Der Tempelherr: Riss im Sein
3.1.2 Der Tempelherr: Cross-cutter

4. Die Familie – ein enges Wir schließt den Konflikt

5. Ausblick und Schluss

6. Literaturverzeichnis

Wir Menschen irren uns vorwärts.1

1. Einleitung

Als der Politologe Bassam Tibi in den 1990er Jahren eine europäische Leitkultur fordert, denkt er an „eine Hausordnung für Menschen aus verschiedenen Kulturen in einem werteorientierten Gemeinwesen.“2 Dass dabei allein der Begriff Leitkultur problematisch ist, da er in der „ersten Silbe Hierarchie voraussetze“3, merkt der damalige Präsident des Zentralrates der Juden, Paul Spiegel, an. Anhand dieses einen Effektes kann die rechtliche und moralische Problematik zwischen der „Integration in Staat und Gesellschaft unzulänglichen, bloßen Duldung der Anwesenheit einer Minderheit und der die kulturelle Identität ihrer Mitglieder nivellierenden Assimilation“4 abgeleitet werden. Die auch postkoloniale Frage, wie Minderheiten und Migranten zwischen den scheinbar bewährten Pfeilern Assimilation und Toleranz in einer Gesellschaft „ein autonomes, politisch und sozial integriertes Leben“5 als mit gleichen Rechten und Pflichten ausgestattete Staatsbürger führen können, ohne ihre eigene kulturelle Identität aufgeben zu müssen oder unter dem Toleranzmantel als Geduldete gestempelt zu werden, diskutierten bereits die Aufklärer seit dem 16. Jahrhundert. Die damals stark philosophisch und literarisch geführte, vor allem religiös motivierte Toleranzdiskussion schlägt dabei leicht „in eine politisch praktische Emanzipationsdebatte“6 um. Denn der Toleranzdiskurs behandelt zum einen „die Frage der persönlichen Haltung gegenüber divergierenden ethischen Überzeugungen“ und zum anderen „die politische Frage der Bedingungen und Möglichkeiten konfliktfreier sozialer Koexistenz.“7 Im Zuge einer zunehmenden Trennung von Staat und Kirche sowie „des Bürgers […] und des Religionsangehörigen“8 plädieren u.a. Pierre Bayle und Voltaire im 16. und 17. Jahrhundert für „die Idee einer minimalen Vernunftreligion als Möglichkeit der Überwindung von Religionsstreitigkeiten, […] die an erster Stelle moralisches Handeln fordert.“9 Ein für die Aufklärung typisches Postulat, das zwar die „Grundsätze einer Moral der Wechselseitigkeit zur Geltung“10 bringt, aber auch einer Vernunft bedarf, die den „Anderen, von uns Verschiedenen in Wirklichkeit“11 betrachtet wie uns selbst. Dabei bleibt die Frage, ob eine solche Vernunftreligion oder eine konsensfordernde Leitkultur realistisches Potenzial haben, kulturelle Differenzen und Konflikte in moralische Anerkennungsprozesse zu transformieren. Der italienische Moralphilosoph Francesco Trincia sieht in der religiösen und moralischen Verpflichtung, den Anderen auf der Grundlage der vorausgesetzten Gleichheit zu begegnen, […] das Risiko von Katastrophen im praktischen Leben […], wenn wir zur Entdeckung gezwungen sind, daß keinerlei Übereinstimmung besteht zwischen moralischer Verpflichtung zu handeln, als ob die Anderen wären wie wir, und des realen Abstands, Unterschieds und auch Konflikts, die uns von den Anderen trennen.12

Die Gleichheit der Menschen ist für Trincia weniger „selbstverständliche Voraussetzung moralischen Handelns [als vielmehr] ein sehr hohes moralisches Ziel“13, das im Umgang mit anderen kulturellen Identitäten lediglich die Fallhöhe steigert, statt Anerkennung zu etablieren. Ein rationaler gemeinsamer Nenner erscheint also notwendig. Doch wie kann er aussehen, wenn er weder die Gleichheit der Menschen noch die Anerkennung einer z.B. vorgegebenen Leitkultur propagieren soll? Indem Trincia die Unterschiede zwischen Menschen im Diskurs über Macht, Vielfalt und citizenship bewusst hervorhebt, reißt er das Fundament eines kulturellen Konsenses insofern ein, als diese erst unser Sein ausmachen. Trincia erkennt, dass wenn aus der Achtung und Duldung Andersdenkender ein Recht auf Anderssein nicht nur im Sinne einer im Gesetz verankerten gleichberechtigten Staatsbürgerschaft werden soll, es in letzter Konsequenz die Erkenntnis braucht, dass der Andere notwendig ist, um selbst Identität erfahren zu können. Ausgehend von der These, dass zunehmend pluralistische Gesellschaften weniger durch gemeinsame Werte, als vielmehr durch geregelte Konflikte14 im Blick des Anderen zusammengehalten werden, ist das Ziel dieser Arbeit, den Blick auf den Menschen insofern zu schärfen, als gezeigt wird, dass ihm das Andere individuell und gesellschaftlich natürlich ist. Dafür werden die Spurenelemente des Anderen in Lessings Nathan15 am Beispiel des Tempelherrn nachgezeichnet und mit Mendelssohns Überlegungen zur Trennung von Staat und Kirche verknüpft, um das Anregungspotenzial des Nathans im Umgang mit Minoritäten und citizenship zu reflektieren. Es wird der Versuch unternommen, zu zeigen, dass Lessing den „Blick für die Präsenz des je Anderen“ insofern vollzieht, als er „aktives Sich Einlassen auf Andersglaubende und Andersdenkende“16 einer utopischen Gleichheit der Menschen vorzieht.

2. Über das Wir, die Gleichheit und die Anderen

Im europäischen Umgang mit Migration zeigt sich, dass der Toleranzbegriff meist unilateral gebraucht wird. Die „Mehrheit kann die Minderheit […] tolerieren [und] biete[t] heuchlerische […] Angebote an, die unter den Migranten zu einer verständlichen Wut führen.“17 Toleranz, vom lateinischen tolerare, d.h. erdulden, ertragen, hat das Problem, dass sie qua Definition „oft mit einer seltsamen Art der Arroganz einher[geht]. Denn tolerieren muss man nur etwas, das man nicht akzeptiert oder als außerhalb des Üblichen erlebt.“18 Jeder Ruf nach Toleranz hat daher etwas Paradoxes an sich, das in deren asymmetrischem Machtverständnis wurzelt. Häufig erlebt „die betreffende Partei die ihr entgegengebrachte Toleranz als einen subtilen Ausdruck von Ungleichheit.“19 Toleranz fördert damit oft das, was sie zu beheben vorgibt. Dieses Phänomen macht deutlich, dass jedes moralische Ziel der Gleichheit als idealistische Theorie der Vernunft etwas Wesentliches im menschlichen Miteinander vergisst: Gefühle. Die Emotionsdynamik von Individuen und gesellschaftlichen Gruppen als auch ihre Triebhaftigkeit darf nicht ausgeklammert werden, wenn Antworten auf Mehrheiten-Minderheiten Verhältnisse und citizenship gesucht werden, was der Psychiater Frank Urbaniok in seinem Buch Darwin schlägt Kant: Über die Schwächen menschlicher Vernunft thematisiert. Wenn das moralische Ziel der Gleichheit als theoretische Vernunftidee lediglich den Toleranzmantel aufspannt und damit Ungleichheit provoziert, aber keine Anerkennungsprozesse generiert, braucht es vielleicht den Versuch, citizenship vom Individuum aus zu denken und das Fremde als den Anderen in den Fokus zu rücken. So wirft Trincia bei seinen politischen und moralischen Überlegungen im Umgang mit Minderheiten und Vielfalt die Begriffe Toleranz und Integration radikal über Bord. Er ist der Überzeugung, „daß der von uns Verschiedene weder toleriert, noch integriert werden muß, weil das, was jeden von uns von jedem anderen unterscheidet, […] nicht nur weder ertragen noch annulliert werden darf, sondern [es] auch nicht kann.“20 Diese Überlegung wirft die Frage auf, was eine Gesellschaft moralisch und rechtlich zusammenhalten soll. Was also ein „ Wir“, wie es der Philosoph Jean-Luc Nancy nennt, überhaupt ausmacht. Wir, ein Wort, das meist als „Personalpronomen, manchmal aber auch als Substantiv“21 gebraucht wird. Wir Studierende. Wir Kinder. Wir Dozierenden. Wir Juden. Wir Christen. Wir Muslime. Wir Musiker. Wir Sportler. Wir Menschen? Ein Wir bildet eine Gemeinschaft mit der „Fähigkeit zu Wir-Intentionalität: Mehrere Menschen können ihren Geist gemeinsam auf Gegenstände, Sachverhalte, Ziele oder Werte richten.“22 Ihr Wir wurzelt offenbar in einem „conscience collective“, dem Bedürfnis „sozialen Handeln[s]“ oder einem „joint will“23. Doch wie konstituiert sich ein Wir ? Für Sartre bildet es sich „nur in den Augen der anderen, und vom Blick der anderen übernehmen wir uns als Wir.“24 In diesem existenzialistischen Verständnis wird der Andere Bedingung für das eigene Sein, denn erst „die Konfrontation mit dem anderen, dem Nicht-Wir“ 25, schweißt uns zum Wir zusammen. Von diesem Gedanken ausgehend dekonstruiert Nancy die Vorstellung, dass die Gesamtheit der Menschen ein Wir sein kann, weil in der absoluten Setzung des Menschseins „der Blick des anderen“26 und damit die notwendige Konfrontation mit demselben für die Identitätsbildung fehlt. Die Idee einer Menschheitsfamilie, die das Menschsein als Selbstwert zum Gradmesser des vernünftigen und guten Miteinanders macht, wird im Gedanken der Notwendigkeit des Anderen problematisch. Doch schon jede Wir-Gruppe innerhalb einer Gesellschaft läuft, wie insbesondere die deutsche Geschichte zeigt, Gefahr, als totalitäre Einheit „dogmatisch festzulegen, was das WIR ausmacht [und] wer zu diesem WIR gehört“27 und somit den Anderen auszuschließen. Solche homogenen Wir -Gruppen verkennen dabei nicht nur, dass ihre Werte nur durch den Anderen existieren, sondern auch, dass sie auf den wackligen Beinen von Individuen stehen, die bei allem Einheitsdenken Unterschiede aufweisen. Sartre definiert fortführend das Wir daher auch als „Pluralität von Subjektivitäten“, als „Vielfalt von Ichs [und] Erfahrungen“28. Dass jedes Wir von Individuen ausgeht, stellte schon Kant heraus, der auf die Notwendigkeit des Anderen für jeden einzelnen Menschen aufmerksam machte. Denn nach Kant ist der Mensch von zwei entgegengesetzten Trieben dominiert, die sowohl das Verhältnis von Individuen untereinander bestimmen als auch jenes zwischen Individuum und gesellschaftlicher Gruppe:

[...]


1 Musil, Robert: Zitat aus dem Roman: Der Mann ohne Eigenschaften.

2 Tibi, Bassam: Ohne Leitkultur kann Europa muslimische Einwanderer nicht integrieren. Neue Zürcher Zeitung. Online Ressource: https://www.nzz.ch/meinung/ohne-leitkultur-kann-europa-muslimische-einwanderer-nicht-integrieren-ld.1567541, 2020. Aufgerufen [01.03.2022].

3 Spiegel, Paul: Die CDU sitzt in der Falle. Die Welt. Online Ressource https://www.welt.de/print-welt/article546695/Die-CDU-sitzt-in-der-Falle.html, 2000. Aufgerufen [01.03.2022].

4 Kaufmann, Matthias: Integration oder Toleranz? Minderheiten als philosophisches Problem. In: demselben. Hg. v. demselben. Freiburg / München: Alber. 2001, S. 11-31.

5 Ebd., S. 12.

6 Berghahn, Klaus: Grenzen der Toleranz. Juden und Christen im Zeitalter der Aufklärung. Köln / Weimar / Wien: Böhlau, 2000. S. 67.

7 Beide: Kaufmann: Integration oder Toleranz? S. 11.

8 Forst, Rainer: Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend. In: «Theorie und Gesellschaft». Hg. von Axel Honneth / Hans Joas / Claus Offe. Frankfurt / New York: Campus, 2000, S. 13.

9 Ebd., S. 14.

10 Ebd.

11 Trincia, Francesco Saverio: Individuelles „Bedürfnis nach den Anderen“, Universalität des Rechts und open citizenship. In: Integration oder Toleranz? Minderheiten als philosophisches Problem. Hg. v. Matthias Kaufmann. Freiburg / München: Alber, 2001. S. 72.

12 Ebd., S. 73.

13 Ebd., S. 73.

14 Vgl.: Heitmeyer, Wilhelm: Riskante Toleranz. In: Toleranz. Vielfalt. Identität. Anerkennung. Hg. v. Alfred Herrhausen Gesellschaft für internationalen Dialog. Frankfurt: Frankfurter Allgemeine Buch, 2002, S. 168.

15 Lessing, Gotthold Ephraim: Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen. Stuttgart: Philipp Reclam, 2000.

16 Beide: Kuschel, Karl-Josef: Zur strategischen Aufwertung des Islam in Lessings Nathan. In: „Es strebe von euch jeder um die Wette“ Lessings Ringparabel – Paradigma für die Verständigung der Religionen heute? Hg. v. Brumlik, Micha. Freiburg: Herder, 2016. S. 155.

17 Heitmeyer: Riskante Toleranz, S. 168.

18 Nassehi, Armin: Das Paradox der Toleranz. In: Toleranz. Vielfalt. Identität. Anerkennung. Hg. v. Alfred Herrhausen Gesellschaft für internationalen Dialog. Frankfurt: Frankfurter Allgemeine Buch, 2002, S. 176.

19 Ebd.

20 Trincia: Bedürfnis nach den Anderen, S. 74.

21 Vašek, Thomas / Hürter, Tobias: Wir sind viele! In Hohe Luft. Für alle, die Lust am denken haben. Ausgabe 5 / 2016, S. 20.

22 Ebd.

23 Alle: Ebd.

24 Ebd., S. 24.

25 Ebd., S. 22.

26 Ebd.

27 Ebd.

28 Beide: Ebd., S. 23.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Wir und die Anderen - Bedürfnis und Abgrenzung. Lessings Nathan im postkolonialen Blick des Anderen
Hochschule
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen
Veranstaltung
Lessing und Mendelssohn in postkolonialistischer Perspektive
Note
1,0
Autor
Jahr
2022
Seiten
22
Katalognummer
V1190977
ISBN (eBook)
9783346629265
ISBN (Buch)
9783346629272
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Fremde Nathan Lessing Jerusalem Mendelssohn Andere Denken
Arbeit zitieren
Julius Rind (Autor:in), 2022, Wir und die Anderen - Bedürfnis und Abgrenzung. Lessings Nathan im postkolonialen Blick des Anderen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1190977

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