Paquito


Klassiker, 2008

22 Seiten

Elisabeth von Heyking (Autor:in)


Leseprobe


Auch die größten Reiche der Welt sind klein, will man sie messen am unermeßlichen Raume. - Paquitos Reich aber war besonders klein. Es bestand nur aus einer offenen Kiste, auf deren einer Seite in halb verwischten, schwarzen Buchstaben die Worte „Pommery Greno“ zu lesen waren. Diese Kiste, die einst ein Schiff über das große Meer nach Mexiko gebracht, und deren Inhalt frohen Wahn spendender Schaum gewesen, war zur Wohnstätte eines Atoms des großen menschlichen Elends geworden; in ihr verbrachte Paquito seine Tage.

Ein verkrüppeltes Kind war Paquito. Eine Zusammensetzung von lauter zu viel und zu wenig; ein völlig mißlungenes Stück des Menschen formenden Töpfers. Zwischen den Schultern saß ihm ein Höcker und seine Brust sprang spitz vor, von den Hüften an aber war überhaupt wenig mehr von Paquito vorhanden - ein Fetzen Decke verhüllte diesen Teil des mißratenen Werkes. Das einzig Schöne an dem ganzen Mißgebilde waren seine Augen. Schwarz und unendlich tief, blickten sie träumerisch, als schauten sie zurück in weite Fernen uralten Unrechts; fragend war oft ihr Ausdruck, als sähen sie ein Rätsel und flehten um eine Antwort, die Befreiung brächte.

Das Rätsel, das die Kinderaugen gewahrten, hieß: Woher, wohin, wozu?

Und hätte es unter den Menschen, die mit Paquito einen der armseligen Höfe der Stadt bewohnten, solche gegeben, denen die äußeren Erscheinungen Anlaß zur Grübelei über Ursache und Endzweck bieten, so wäre des Kindes Anblick so recht dazu angetan gewesen, diese Fragen in ihnen hervorzurufen. Aber Don Eusebio und Donna Guadalupe, Paquitos Onkel und Tante, waren träg veranlagte Menschen, die überhaupt wenig dachten und nie den Wunsch empfunden hatten, dem Rätsel näher zu kommen, das hinter jeder Existenz liegt. Donna Lupe erschien es höchst einfach, woher Paquito gekommen. Er war eben der Sohn ihrer Schwester - und die Geschichte dieser Schwester war auch wiederum höchst einfach.

Die schöne Soledad hatte immer zu jenen gehört, die lieber nachts tanzen, als tags arbeiten, und ihr wehmütiger, die „Einsamkeit“ bedeutender Name war wie ein Hohn auf das lebensfrohe Mädchen, dem es nur in der ausgelassensten Gesellschaft so recht wohl war. Sie lief von Fest zu Fest, oftmals die drei Musikanten begleitend, die im Hof ein finsteres Stübchen bewohnten, über dessen Tür, auf einem Täfelchen, die Worte standen: „Hier kann Musik für Bälle bestellt werden.“ In den heißen, überfüllten Maultierbahnen fuhren sie durch die Mais- und Agavenfelder hinaus nach einem der Vororte, die nach Heiligen benannt sind. Dort in San Pedro, San Lucas, San Angel tanzte Soledad auf dem offenen Marktplatz bei Glockengeläut und Böllerschüssen, in einem wahren Regen von bunten Konfetti, die ihr in Kleidern und Haaren hafteten und nachts, wenn sie sich auszog, noch in Menge zu Boden fielen. - So freute sich Soledad der fliehenden Stunden.

Die ältere, verheiratete Schwester hatte zuerst gezankt und dann die Dinge gehen lassen, wie das so üblich ist bei den indolenten Kindern tropischer Länder, denen die Einsicht, daß sich gegen das Verhängnis nicht ankämpfen läßt, im Blute liegt. So kam, was kommen mußte. An einem heißen, sonnendurchflimmerten Tage, wo Soledad in billigem Putze wieder ausgegangen war, kehrte sie nachts nicht heim. Lupe hatte sich nicht sonderlich darob gegrämt, denn es war der durch viele Schwangerschaften früh Gealterten manchmal erschienen, als schiele Eusebio mehr als nötig nach dem zweiten Bett der Kammer, das die schöne Schwägerin mit ihren sich alljährlich mehrenden kleinen Neffen und Nichten teilte. Ein paar Jahre waren dann vergangen, in denen Soledad, wie eine große Dame angetan, gelegentlich auf der Straße gesehen worden war. Da pochte sie eines Abends an der Schwester Tür. Aber es war nicht mehr die lachende, von Lebensfreude strahlende Soledad, der früher ein jeder gern nachgeschaut, sondern ein stilles, vergrämtes Wesen, das irgendwo draußen in der Welt die Einsamkeit des Leidens kennen gelernt hatte. Sie kauerte sich in eine Ecke, gleich einem abgehetzten Tier, das sich mühsam bis zu einem Schlupfwinkel geschleppt hat und dort zusammenbricht. Auf die mehr neugierigen als vorwurfsvollen Fragen Lupes, die die Schwester nicht ohne Schadenfreude musterte, gab sie nur kurze Auskunft. Nach ein paar Tagen mußte sie sich stöhnend niederlegen; die kleinen Neffen und Nichten wurden aus der dumpfen Kammer hinaus in den Hof geschickt, wie das jedesmal geschah, wenn ihre Mutter in die gleiche Lage kam. Lupe und die Nachbarinnen umstanden Soledads Bett, und unter ihren wohlgemeinten, aber ungeschickten Hilfeleistungen kam, sehr gegen seinen Willen, ein kleines, mißgestaltetes Kind zur Welt, das sich gegen das Leben sträubte, als ahne ihm nichts Gutes davon. Soledad sah das winzige, bucklige Wesen mit dem großen Kopf und den verkrüppelten Beinchen nicht mehr, - ihr, der Schönen, Strahlenden, kostete es das Leben. Sie schlief ein, als der lange, qualvolle Tag zur Neige ging; ein letzter Strahl der Abendsonne stahl sich durch die halboffene Tür und glitt über ihre weiße, feuchte Stirn, als wolle er Abschied nehmen von ihr, die so oft lachend und singend in der Sonne getanzt. „Mit der Soledad wird es nun gleich vorbei sein,“ verkündete, aus der Kammer tretend, Donna Anastasia, die alte fromme Tortillabäckerin, die bei allen Begebenheiten im Leben der Hofbewohner die passenden Gebete herzusagen pflegte. Die drei Musikanten, die gerade im Hof standen, warfen einen scheuen Blick nach der Kammer, in der die Sterbende lag, und erinnerten sich, wie gar oft sie ihr zum Tanz gegeigt; sie lüfteten die spitzen Hüte, bekreuzten sich und schlichen dann, die Instrumente unter dem Sarape, leise davon, bei neuen Festen auszuspielen.

Am nächsten Tag begrub man Soledad. Aber wie im Leben, war ihr Name noch im Tode ein Hohn, denn zu einem eigenen Begräbniswagen langten Don Eusebios Mittel bei weitem nicht, und so wurde sie vom schwarzen Leichenwagen der Allerärmsten abgeholt, der in den ganz frühen, fahlen Morgenstunden durch die leeren Straßen fährt, und in dem Platz für neun Särge ist. In Gesellschaft von acht andern legte sie ihren letzten Weg zur endgültigen Einsamkeit zurück.

Eusebio sowie Don Antonio, der im Hof einen Trödelladen hatte, und die drei Musikanten gaben ihr das Geleit hinauf zum Kirchhof von Dolores; hoch über der Stadt liegt er auf langgestrecktem, von Eukalyptusbäumen umrauschtem Hügel, und von dort oben sieht man über die weite Ebene hinweg bis zu den beiden Bergesriesen, den toten Vulkanen, Popocatepetl und Iztaccihuatl. In der billigsten Abteilung, die auch die größte ist, wo es nur ganz wenige Holzkreuze gibt und die meisten Gräber bloß durch Blechtäfelchen mit Nummer und Datum bezeichnet sind, da ward Soledad eingescharrt. Fünf Jahre Zeit ist dort einem jeden zugemessen, in denen er zu Staub werden muß. Dann nimmt ein neuer Erdengast seinen Platz ein.

„Das Kind eines unbekannten Vaters irgendwo draußen in der weiten Welt und einer Mutter, die oben in Dolores begraben liegt.“ Ja, das wäre so ungefähr Donna Lupes Antwort auf die Frage gewesen, woher der kleine verkrüppelte Paquito gekommen. Und das enthielt auch die Antwort auf die Frage „wohin?“ - wohl auch bald nach Dolores! Blieb nur übrig „wozu?“ - Aber an der Frage scheitern auch Klügere als Donna Lupe.

Als unerwünschtester Gast war Paquito der kinderreichen Tante geblieben. „Der Krüppel lebt doch nicht gar?“ waren ihre begrüßenden Worte gewesen, als sie, nach dem Tod der Schwester, den seltsamen kleinen Neffen zuerst gründlich besah. Anastasia, die dabei stand, prüfte den krummen Rücken, die spitze Brust und zusammengeschrumpften Beine; der schönen Soledad und ihrer Sünden gedenkend, murmelte sie: „und Er wird rächen bis ins dritte und vierte Glied.“ Aber Don Antonio, der hinzugetreten war, meinte: „Diesmal hat sich wohl seine Rache gleich auf einmal erschöpft.“ - „Wär' er nur auch schon oben in Dolores,“ stöhnte die Tante. „Ja,“ sagte Antonio, „nutzloses Papier wird eingestampft, und eine gesprungene Glocke kann man einschmelzen - aber für verpfuschte menschliche Geschöpfe gibt es keine solche Barmherzigkeit.“

[...]

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Paquito
Autor
Jahr
2008
Seiten
22
Katalognummer
V119229
ISBN (eBook)
9783640219629
ISBN (Buch)
9783640227464
Dateigröße
433 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Paquito
Arbeit zitieren
Elisabeth von Heyking (Autor:in), 2008, Paquito, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119229

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Paquito



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden