Im Jahr 1780 verfasste der Medizinstudent Friedrich Schiller während seiner Stuttgarter Akademiezeit die philosophisch-schwärmerische „Theosophie des Julius“. Diese war noch gänzlich unbeeindruckt vom erkenntniskritischen Denken Kants, das erst im Jahr darauf durch die Schrift „Kritik der reinen Vernunft“ die kopernikanische Wende in der Erkenntnisphilosophie einleiten sollte. Erst sechs Jahre später unterzieht Schiller seine „Theosophie des Julius“ im Rahmen eines fingierten Briefwechsels zwischen dem euphorischen Jüngling Julius und seinem älteren Freund Raphael einer erkenntniskritischen Analyse.
Während Kant in seiner 1784 veröffentlichten Abhandlung „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung“ im Einklang mit seiner Erkenntnisphilosophie fordert, dass der Mensch sich aus der Gefangenschaft seines unterjochten, fremdbestimmten Verstandes befreien solle , verfolgt Schiller die moralische und erkenntniskritische Intention, in den „Philosophischen Briefen“, aber auch bereits in seinem 1784 sowohl veröffentlichten als auch uraufgeführten Drama „Kabale und Liebe“ die mit dem freien Denken verbundenen Gefahren aufzudecken. Auf diese Weise sollen Menschen vor den „verborgenen Klippen“ bewahrt werden, „an denen die stolze Vernunft schon gescheitert hat“ .
Nicht nur in den „Philosophischen Briefen“ also thematisiert Schiller die erkenntniskritische Problematik des „Sapere aude“. Auch in seinem Drama „Kabale und Liebe“ entwickelt er ein Bild von den Gefahren einer Geisteshaltung, die die Autonomie und Unbedingtheit des eigenen Geistes über die Bedingtheiten des Lebens anderer hebt und Widersprüche nicht gelten lässt. Der Idealverlauf des die „drei Epochen“ Euphorie, Krise und Heilung umfassenden, erkenntniskritisch durch Raphael begleiteten Entwicklungsprozesses Julius’ besitzt seinen Vorgänger in der dramaturgisch inszenierten Experimentalanordnung des von seiner Liebestheosophie verblendeten Majors Ferdinand. Dessen trotz Widerstände unverminderter Glaube an die Gültigkeit seines Liebesabsolutismus und die Autonomie seines Geistes machen ihn blind für die Hintergründe und Drahtzieher der Kabale sowie für die Pflichten Luises, deren Tod als Fanal der schiller’schen Anklage am aufgeklärten, aber dennoch kritik- und diskursunfähigen Menschen fungiert.
Inhaltsverzeichnis
- Einführung
- Inhaltliche Parallelen und Unterschiede der Liebesphilosophie Julius' und Ferdinands bezogen auf den gemeinsamen theoretischen Hintergrund der Lehren Shaftesburys
- Schillers Entlarvung der Bedingtheit des menschlichen Geistes anhand der skeptizistischen Krise Julius' und der Berechenbarkeit des Liebesabsolutisten Ferdinand
- Julius' Selbstheilungsprozess bzw. die Tragödie Ferdinands als Folgen der Kenntnis bzw. der durch Gefühlsüberschwang bewirkten Unkenntnis von der Fehlbarkeit des menschlichen Geistes
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die erkenntniskritische Perspektive in Friedrich Schillers Werken „Philosophische Briefe“ und „Kabale und Liebe“, insbesondere im Kontext des Wahlspruchs „Sapere aude“. Sie analysiert die Parallelen und Unterschiede in der Liebesphilosophie der Figuren Julius und Ferdinand, beleuchtet die Gefahren ideologischer Verblendung und untersucht die Auswirkungen eines unbedingten Glaubens an die eigene Vernunft.
- Die Liebesphilosophie Julius' und Ferdinands im Vergleich
- Die Gefahren ideologischer Verblendung durch unbedingten Glauben an die eigene Vernunft
- Die Rolle der Erkenntnistheorie in der geistigen Entwicklung von Julius und Ferdinand
- Der Einfluss des Denkens Shaftesburys auf Schillers Figuren
- Die Konfrontation von säkularisierter Liebesreligion und christlicher Orthodoxie
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einführung stellt den erkenntniskritischen Ansatz der Arbeit vor und skizziert die Thematik der „Philosophischen Briefe“ und „Kabale und Liebe“ im Kontext von Schillers Auseinandersetzung mit dem „Sapere aude“. Das erste Kapitel vergleicht die Liebesphilosophie von Julius und Ferdinand, wobei die Gemeinsamkeiten und Unterschiede anhand der Lehren Shaftesburys erläutert werden. Das zweite Kapitel befasst sich mit der skeptizistischen Krise Julius' und der Verblendung Ferdinands, hervorgerufen durch die jeweiligen Umstände und den Einfluss der umgebenden Welt.
Schlüsselwörter
Friedrich Schiller, Sapere aude, Erkenntnistheorie, Liebesphilosophie, „Philosophische Briefe“, „Kabale und Liebe“, Julius, Ferdinand, Shaftesbury, Ideologische Verblendung, Aufklärung, Deismus, Pantheismus.
- Quote paper
- Stephan Onken (Author), 2006, Die Implikationen des Wahlspruchs „Sapere aude“ von Euphorie bis tödlicher Verblendung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119331