Gender variance im sibirischen Schamanismus

"Sie oder Er?"


Referat (Ausarbeitung), 2020

18 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Forschungstradition Berdache und Two-Spirit

3 Steller und Merck über den Schamanismus bei Itel’menen und Čukčen

4 Iochel’son und Bogoraz über den Schamanismus bei Korjaken und Čukčen

5 Die europäischen Rezeptionen von den bei Merck, Steller, Iochel'son und Bogoraz geschilderten Phänomenen

6 Schlussbetrachtungen

7 Quellenverzeichnis

8 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„When a child is born in [the mainstream American culture system of gender], the first thing said is not, “It’s a male,” or, “It’s a female”; what it said is, “It’s a boy,” or, “It’s a girl.” […] In other words, the gender category determined by the recognition of biological, physiological features of morphological sex is the basis of [this system].”1

Jacobs und Lee liefern mit diesem Beispiel der Identifikation des Geschlechtes gleich nach der Geburt ein hervorragendes Beispiel für eine - in der europäischen bzw. euro-amerikanischen Gesellschaft nicht vorhandene - Differenzierung zwischen dem sozialen ( gender ) und dem biologischen ( sex ) Geschlecht. Während sich in einem binären Gender-Rollen-System vorwiegend auf das biologische Geschlecht als Unterscheidungsmerkmal gestützt wird, stand bei den indigenen Völkern Nordamerikas und Sibiriens das gesellschaftliche Geschlecht im Vordergrund. In diesen Systemen multipler Geschlechter, die drei oder vier Gender aufwiesen, wurde das soziale Geschlecht definiert über die Rolle bzw. das Aufgabenfeld, welches eine Person einnahm. Eine Konstruktion von mehr als nur zwei sozialen Geschlechtern und die Möglichkeit des Geschlechterrollenwechsels wird in der ethnologischen Literatur als gender variance bezeichnet.

Aus diesem Grund lohnt es sich, sich in Anbetracht der Einordnung der eigenen Identität innerhalb einer „Welt“ mit einem rein binären Gender-Rollen-System mit einer davon abweichenden Sichtweise zu beschäftigen. Aufgrund der Kürze des Textes sollen an dieser Stelle lediglich das Beispiel der sibirischen Völker im Nordosten Asiens, das Phänomen des „Weibmanns“ bei Čukčen, Itel’menen und Korjaken und der Diskurs europäischer Gelehrter hierüber am Ende des 18. Jahrhunderts sowie zu Beginn des 20. Jahrhunderts diskutiert werden. Es wird keine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Ausformungen und den Abläufen der schamanischen Séancen bzw. Zeremonien erfolgen. Lediglich der Teilaspekt der gender variance im sibirischen Schamanismus soll beleuchtet werden.

Die Ethnologie forderte gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts von ihren Wissenschaftlern2, sich ganz auf die fremde Kultur einzulassen. Die Frage ist jedoch, ob europäische Wissenschaftler, Reisende oder Abenteurer dazu überhaupt in der Lage waren, sich angesichts eines drei- oder gar viergliedrigen Gender-Systems aus ihren eigenen Denkmustern zu lösen. Falls ihnen dies gelang: Wie weit war ihnen dies möglich? Aus welchem Grund war es einigen nur teilweise möglich? Oder konnten sich manche ansonsten unvoreingenommene Forscher gar nicht auf solche sozialen Phänomene einlassen? Ist ein Unterschied zu früheren Expeditionen in der europäischen Rezeption erkennbar? Lässt sich das Erlebte und Wahrgenommene der europäischen Akteure mit dem Konstrukt der gender variance beschreiben?

Zur Beantwortung dieser Fragen können die Berichte von Carl Heinrich Merck und Georg Wilhelm Steller aus dem 18. Jahrhundert sowie die Beschreibungen und Berichte von Vladimir Iochel’son und Vladimir Bogoraz zu Beginn des 20. Jahrhunderts herangezogen werden. Zunächst findet eine Dekonstruktion des Begriffes gender variance statt (2.). Anschließend soll untersucht werden, ob das Phänomen des Geschlechterrollenwechsels in den indigenen Kulturen Sibiriens, welches zu dem Phänomen des Geschlechterrollenwechsels in den indigenen Kulturen Nordamerikas ähnlich ist, mit dem Konstrukt der gender variance beschrieben werden kann. Als Ausgangspunkt werden mehrere Fälle von Geschlechterrollenwechsel im sibirischen Schamanismus aus der älteren wissenschaftlichen Literatur zitiert und ausgeführt (3. und 4.). Nachfolgend findet eine Auseinandersetzung mit den europäischen Rezeptionen von den bei Merck, Steller, Iochel’son und Bogoraz geschilderten Phänomenen statt (5.). Abschließend werden die wichtigsten Ergebnisse dieser Ausarbeitung zusammengefasst, und es wird die Frage beantwortet, ob die entsprechenden Forscher in der Lage waren, bei der Darstellung dieses sozialen Phänomens aus ihrer eigenen Kultur herauszutreten, um das Phänomen des Geschlechtsrollenwechsels verstehen zu können, oder ob sie dies eben nicht vermocht haben. Außerdem soll die Frage beantwortet werden, ob das Konstrukt der gender variance dazu geeignet ist, auf die indigenen Kulturen Sibiriens übertragen werden zu können (6.).

2 Forschungstradition Berdache und Two-Spirit

Die indigenen Völker Sibiriens und Nordamerikas verwendeten unterschiedliche Namen für Menschen, die einen Geschlechtsrollenwechsel vollzogen hatten. Verschiedene amerikanische Forscher versuchten ihrerseits in der Vergangenheit dieses Phänomen in den indigenen Kulturen Nordamerikas mit einem Schlagwort zu umschreiben. Mit dem Sammelbegriff Berdache fassten Ethnologen jede Art Ihnen unbekannten Verhaltens im Bezug auf die Geschlechter in der „Neuen Welt“ zusammen. So wurden etwa ritueller und profaner Transvestismus, homosexuelles Verhalten zwischen zwei Personen, Intersexualität und Hermaphroditismus gleichgesetzt. Ursprünglich wurde mit Berdache in der arabischen Kultur ein männlicher Prostituierter beschrieben. Über die Mauren gelangte der Begriff nach Spanien und verbreitete sich in Europa. Mit der Zeit wurde der Begriff verwendet, um sowohl männlichen als auch weiblichen Geschlechtsrollenwechsel in den indigenen Kulturen Nordamerikas zu beschreiben.3 Auf Konferenzen in Winnipeg, Manitoba gegen Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre entwickelten indigene schwul-lesbische Aktivisten der USA und Kanadas anstelle des bisher verwendeten Begriffs Berdache erstmals die Umschreibung Two-Spirit.4 Hierzu führt Gilbert Herdt wie folgt aus:

“ […] I now use two-spirit instead of berdache […], not because the term is “politically correct” but because it is culturally accurate and meaningful. It is also in keeping with what personhood means to North American Indians themselves, which for an anthropologist is always great import.”5

Zum einen sei Berdache aufgrund der ursprünglichen Bedeutung nicht der politisch korrekte Begriff. Zum anderen sollte bei Ethnographen ein gewisser Respekt vor der Kultur indigener Völker vorhanden sein.

Das Ersetzen des Begriffes Berdache durch den Neologismus Two-Spirit war der Versuch, im westlichen Sinne als Schwule und Lesben lebende Indigene in die Kulturgeschichte der indigenen Völker Nordamerikas hinein zu schreiben. Diese teils homosexuellen und gleichzeitig indigenen Aktivisten behaupteten, sie stünden in der Tradition der seinerzeit pejorativ als Berdache bezeichneten Vertreter indigener Gesellschaften, die einen Geschlechtsrollenwechsel vollzogen hatten. Eine Blüte dieses Forschungsstranges lieferte der von den Navajo im Südwesten der USA abstammende Wesley Thomas. Im Gegensatz zu der in der euro-amerikanischen Gesellschaft vorhandenen Definition einer gemischtgeschlechtlichen Beziehung als heterosexuell (basierend auf dem biologischen Geschlecht) bezeichnet Thomas gemischtgeschlechtliche Beziehungen bei indigenen Völkern - sofern die Partner unterschiedlichen Gendern angehören - als „hetero-gender“ Beziehungen. Analog ersetzt er eine gleichgeschlechtliche (bezogen auf das soziale Geschlecht) Beziehung durch eine „homo-gender“ Beziehung. Dieses entstandene Beziehungssystem visualisiert Thomas in der folgenden Tabelle:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle: Klassifikation sexueller Beziehungen in den indigenen Stammesgesellschaften Nordamerikas6

Durch diesen Forschungsstrang ist auch das Konstrukt gender variance entworfen worden.

Dieser Versuch, im westlichen Sinne als Schwule und Lesben lebende Indigene in die Kulturgeschichte der indigenen Völker Nordamerikas hinein zu schreiben, wird teils bis heute von traditionellen Vertretern der „Tribes“ in den Reservaten abgelehnt. Dabei wird auf die Tatsache verwiesen, dass nicht sexuelles Begehren die Ursache für die Entscheidung, als Berdache leben zu wollen, gewesen sei, sondern die Präferenz für eine bestimmte sozial kodierte gesellschaftliche Tätigkeit.

[...]


1 Jacobs/Lee, Gender Statuses, Gender Features, and Gender/Sex Categories, S. 257f.

2 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte dieser Forschungsansatz von Franz Boas und anderen Kulturrelativisten eine Minderheitsposition innerhalb der Ethnologie dar. Erst im Verlaufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte sich diese grundlegende Prämisse in der Ethnologie - nicht zuletzt dank der Vorreiterrolle von Boas - durch. Auf Franz Boas wird im Rahmen des dritten Kapitels näher eingegangen werden.

3 Vgl. Lang, Geschlechtsrollenwechsel und kulturelle Konstruktionen, S. 143 f.

4 Der Begriff Two-Spirit wurde von homosexuellen Aktivisten aus dem indigenen Volk der Ojibwe in Manitoba zuerst in ihrer Sprache komplett neu konstruiert, anschließend ins Englische übersetzt und schließlich auf den genannten Konferenzen propagiert.

5 Herdt, The Dilemmas of Desire, S. 277 f.

6 Thomas, Navajo Cultural Constructions of Gender and Sexuality, S. 162.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Gender variance im sibirischen Schamanismus
Untertitel
"Sie oder Er?"
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Geschichtswissenschaft. Abteilung für Osteuropäische Geschichte)
Veranstaltung
Sex and Drugs in 'Primitive Society'. Zur Bedeutung von Geschlechterrollen, sexueller Identität, Schamanismus und Rauschmitteln in indigenen Gesellschaften Sibiriens und Nordamerikas.
Note
1,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
18
Katalognummer
V1193949
ISBN (eBook)
9783346635341
ISBN (Buch)
9783346635358
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Kommentar Dozent: "[In seiner schriftlichen Referatsausarbeitung untermauerte] Herr Palutzki [empirisch] das eigens erarbeitete theoretische Konzept mithilfe historischer Quellen zu den sibirischen indigenen Völkern der Itel'menen, Cukcen und Korjaken aus dem 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert in einer besonders bestechenden und erkenntnisfördernden Weise. Dies ist [ihm] nicht zuletzt dank eines hohen sprachlichen Niveaus, eines gut strukturierten Textes und einer stets nachvollziehbarenden Argumentation hervorragend gelungen, weshalb ich seine Arbeit mit ,,sehr gut" (1,0) bewertet habe.
Schlagworte
Geschlechter, Sibirien, Schamanismus, Steller, Merck, Iochel'son, Bogoraz, sex, gender, Weibmann, Geschlechtsrollenwechsel
Arbeit zitieren
Lukas Palutzki (Autor:in), 2020, Gender variance im sibirischen Schamanismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1193949

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