Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Zur Thematik der Volksparteien
2.1 Otto Kirchheimers „Wandel des westeuropäischen Parteiensystems“
2.2 Entwicklung des Begriffs der Volkspartei
3. Methodik
3.1 Qualitative Inhaltsanalyse der Grundsatzprogramme
3.2 Kategorisierung zur Analyse des Volksparteientypus
4. Grüne Politik - eine umweltpolitische Bewegung wird zur Partei
4.1 Entstehungsgeschichte der Grünen und Relevanz grüner Politik
4.2 Die Grundsatzprogramme der Grünen
4.2.1 Das erste Grundsatzprogramm 1980
4.2.2 Das zweite Grundsatzprogramm 2002
4.2.3 Das dritte Grundsatzprogramm 2020
4.3 Bisherige Versuche der Klassifizierung zur Volkspartei
5. Spezifische Analyse des Volksparteienbegriffes im Grundsatzprogramm 2020
5.1 Strukturierte Analyse nach den fünf Dimensionen
5.1.1 Politische Dimension
5.1.2 Gesellschaftliche Dimension
5.1.3 Konzeptionelle Dimension
5.1.4 Kulturelle Dimension
5.1.5 Regierungsfähige Dimension
5.2 Ergebnis der Analyse
6. Fazit
Quellen- und Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Die Partei Bündnis 90/Die Grünen (folglich auch nur als „die Grünen“ bezeichnet) hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte von einer Vereinigung verschiedenster ökologischer Bewegungen zu einer regierungsfähigen und etablierten Partei im deutschen Bundestag entwickelt (vgl. van Hallen 1990: 283 - 303). Über die Jahre durchliefen die Grünen seit der Gründung 1980 verschiedenste Phasen: auf chaotische Anfangsjahre, geprägt von politischer Uneinigkeit, ökologischer Radikalität und fehlender Struktur, folgte in den 1990er Jahren unter dem Kabinett Schröder (1998 - 2005) die erste Regierungsbeteiligung auf Bundesebene und seit 2011 die erste führende Landesregierung mit einem grünen Regierungschef in Baden-Württemberg (vgl. Volmer 2009: 363; vgl. Hörisch / Würster 2017: 15). Zur Bundestagswahl 2021 gab es zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ein sogenanntes Kanzler-Triell, d. h. eine mögliche Kanzlerschaft und somit ein Wahlsieg seitens der Grünen waren damit nicht ausgeschlossen und mit Annalena Baerbock entsandte die Partei eine erste potentielle Kanzlerkandidatin in den Bundeswahlkampf, was in der Historie den klassischen Volksparteien SPD und CDU vorenthalten war (vgl. Mielke 2021: 463).
Deshalb kann unter dieser kurzen Betrachtung, was im Laufe der vorliegenden Arbeit detaillierter in den Fokus gerückt wird, durchaus die Vermutung aufkommen, dass sich die Grünen im Jahr 2021 programmatisch zu einem Typus der Volkspartei entwickelt haben. Die Forschungsfrage, die im weiteren Verlauf analysiert und beantwortet werden soll, lautet demzufolge:
„Inwiefern ist die Partei Bündnis 90/Die Grünen anhand des Grundsatzprogrammes 2020 als Volkspartei zu identifizieren?“
Zur Betrachtung wird im Rahmen der Analyse im Detail das aktuellste Programm aus dem Jahr 2020 analysiert - ergänzend werden die Programme von 1980 und 2002 ebenfalls in Kurzform betrachtet.
Als Methodik dient in der Betrachtungsweise der Grundsatzprogramme die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring, wobei sich die Intensität der Analyse unterscheidet: im Kern der Arbeit steht die Analyse des Grundsatzprogrammes von 2020 und inwiefern die Kriterien des Volksparteitypus, angelehnt an die Definition von Otto Kirchheimer, zutreffen. Die Programme von 1980 und 2002 werden - zwecks Übersichtlichkeit und Nachvollziehbarkeit der Entwicklungsstadien der Partei - zusammenfassend dargestellt.
Ziel ist es, die Grünen in dem politischen Feld der Parteien (nach der Bundestagswahl 2021 neben der SPD, CDU, FDP und AfD als fünfte Partei im Bundestag) programmatisch zutreffend einordnen zu können und damit eine valide Aussagekraft über den aktuellen Parteitypus zu gewinnen.
Die Abfolge dieser Arbeit sieht wie folgt aus: zuerst wird der Begriff der Volkspartei erläutert und dabei auf Otto Kirchheimers „Wandel des westeuropäischen Parteiensystems“ eingegangen, was als Inbegriff des Volksparteitypus angesehen wird (Kapitel 2). Im dritten Kapitel wird die angewandte Methodik und das verwendete Kategoriensystem zur Analyse des Volksparteientypus im Grundsatzprogramm 2020 vorgestellt. Anschließend, nach einem kurzen Rückblick auf die Historie der Partei und den Darstellungen des programmatischen Werdegangs (Kapitel 4), folgt die Untersuchung des Volksparteienbegriffes im aktuellen Grundsatzprogramm: anhand von fünf definierten Dimensionen werden die Kriterien des Parteitypus Volkspartei abgeglichen, um zum Abschluss die aufgestellte Forschungsfrage beantworten zu können.
2. Zur Thematik der Volksparteien
Der Begriff der Volkspartei ist nicht gänzlich unumstritten und klar zu definieren, so gibt es verschiedene Auslegungen der Kriterien, die eine Volkspartei bestimmen und deshalb einer Begriffsklärung bedürfen. Im Folgenden wird zunächst Kirchheimers Arbeit diesbezüglich beleuchtet, welche als grundlegendste Definition des Begriffs Volkspartei gilt (vgl. Hofmann 2004: 51). Im Anschluss werden weitere Strömungen der Be- grifflichkeit betrachtet, um daraus ein bearbeitbares Kategoriensystem für die Analyse des Grundsatzprogrammes 2020 abzuleiten.
2.1 Otto Kirchheimers „Wandel des westeuropäischen Parteiensystems“
In den 1960er Jahren wurde der Begriff der Volkspartei erstmals von Otto Kirchheimer in seinem Artikel „Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems“ (1965) näher klassifiziert, welcher als theoretische Grundlage dieser Arbeit verwendet wird. Kirch- heimer, damals Professor of Government an der Columbia Universität in New York, sah gewisse Parallelen zwischen dem US-amerikanischen und dem deutschen Parteiensystem, da mit den klassischen Großparteien CDU (/ CSU) und SPD ähnliche politische Verhältnisse erschienen, wie es in den Vereinigten Staaten mit der demokratischen und republikanischen Dualität bekannt ist. Kirchheimer beschäftigte sich mit den Wirkungsweisen europäischer Parteien und wie diese entweder erfolgreich oder erfolglos versuchten, die breite Gesellschaft für sich zu gewinnen (er führt Beispiele von Großbritannien im 18. - 19. Jahrhundert und Frankreich um die Französische Revolution an) (vgl. Kirchheimer 1965: 20 - 23). Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Fähigkeit der politischen Integration gelegt, worunter verstanden wird, wie fähig ein politisches System ist, Gruppen, die bislang außerhalb der politischen Erreichbarkeit standen, vollständig miteinzubeziehen (vgl. ebda.: 24). Das damalige deutsche Parteiensystem der Weimarer Republik sah sich am Scheideweg, da drei Parteientypen existierten, die sich gegenseitig blockierten (vgl. ebda.: 26):
- Demokratische Massenintegrationsparteien (klassen- oder konfessionsspezifisch)
- Prinzipielle Oppositionsparteien
- Individuell repräsentierende Parteien
Das Scheitern der damaligen Politik lag an der fehlenden Regierungsfähigkeit aufgrund ausbleibender Kompromisslösungen der drei benannten Parteientypen. Nach dem zweiten Weltkrieg hat sich demnach auch die Parteipolitik verändert: hier sieht Kirchheimer zum ersten Mal das Aufkommen eines Volksparteicharakters - die potentielle Wählerschaft wird nun nicht mehr in soziale Klassen gegliedert, sondern die gesamte gesellschaftliche Breite rückt in den Fokus. Der Wahlerfolg und die Zustimmung der breiten Masse stehen hierbei über jeder ideologischen Programmatik. Ein ausschlaggebender Faktor hinsichtlich des Wahlerfolges stellt die Arbeiterschaft dar: die Programmpunkte einer Volkspartei sollten hierbei so gestaltet sein, dass Differenzen verschiedener Gruppen möglichst übergreifend zufriedenstellend formuliert sind und dabei auch gesellschaftliche Ziele abbilden, die über spezifische Gruppeninteressen hinausgehen - so lassen sich laut Kirchheimer die besten Erfolgsaussichten erzeugen (vgl. ebda.: 27 f.).
Die Entideologisierung sowie die veränderten sozialen Bedingungen formten das politische Feld der Parteien insofern neu, dass ein neuer Typ der Volkspartei entstanden ist:
„Zugleich formt sich die Massenintegrationspartei, die in einer Zeit schärferer Klassenunterschiede und deutlicher erkennbarer Konfessionstrukturen entstanden war, zu einer Allerweltspartei (catch-all party), zu einer echten Volkspartei um“ (ebda.: 27).
Der Typus der Volkspartei ist demnach nicht als sich neu erschaffender Parteityp zu verstehen, sondern unterliegt durchaus einer Entwicklungstypologie über mehrere Stadien hinweg. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Gewinnung von Wählerschaften. Um dies zu erreichen, sollen Millionen Bürger:innen am Wahltag das nötige Vertrauen in die Volkspartei setzen. Die Parteiführung muss darauf bedacht sein, sich den „[...] allgemeinen, standardisierten Erfordernissen [...]“ (Kirchheimer 1965: 34) anzupassen, ohne dabei den eigenen Kern zu verlieren, aber dennoch attraktiv genug im Vergleich zur Konkurrenz zu sein. Auch die Verbindung zu den Interessensverbänden sollen soweit gestaltet sein, dass Anhänger anderer Interessensverbände nicht abgewiesen werden. Diese Berücksichtigung verschiedenster Faktoren und Interessen und die damit einhergehende Vereinigung der Wählerstimmen verschiedenster Milieus vergleicht Kirchheimer mit einem Würfelspiel, da schier unzählige Faktoren für den Wahlerfolg ausschlaggebend sind.
„Diese Aufgabe - über Gruppeninteressen hinauszugehen und eine Vertrauensstellung bei der ganzen Nation zu erwerben - bringt [...] Vorteile, aber gleichzeitig enthüllt sie auch eine Schwäche. Wenn die Partei sich von Sonderinteressen fernhält, vergrößert sie ihre Erfolgsaussichten bei der Wählerschaft, aber es ist unvermeidlich, dass dadurch auch die Intensität der Anhänglichkeit, die sie erwarten kann, sinkt.“ (ebda.: 36).
Darüber hinaus liegt das Interesse der Volksparteien - anders als bei den Massenintegrationsparteien, die auf Veränderungen und Umgestaltung des vorherrschenden politischen Systems abzielten - auf der Machterlangung und der Erlangung der parlamentarischen Mehrheit (vgl. ebda.: 34). Dies bedeutet, dass eine Partei sich auch auf kurzfristige, taktisch-geprägte Programmpunkte beruft, um den maximalen Wahlanteil zu erlangen.
Des Weiteren ist hinsichtlich der Wähleransprache das Medium der Wahl- und Parteiprogramme von besonderer Bedeutung, da hierin das direkte Kommunikationsmittel zwischen Partei und potentieller Wählerschaft besteht und laut Kirchheimer als Werkzeug einer zweckdienlichen Wählerbewegung zu verstehen ist (vgl. Kirchheimer 1965: 27; Kirchheimer 1967: 72). Die Parteibindung an die Wählerschaft soll allerdings einen geringeren Stellenwert besitzen, da so der Einfluss auf Parteientscheidungen in Grenzen gehalten werden kann: „Primäres Kennzeichen der Volkspartei ist das einer professionalisierten Wählerpartei mit geringem Stellenwert der individuellen Mitgliedschaft, und sie verfügt somit nur sekundär über das Kennzeichen einer großen Mitgliederzahl“ (Hofmann 2004: 59). Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass nicht die Anzahl der Mitglieder ein aussagekräftiges Kriterium für den Typus Volkspartei ist, sondern vielmehr können rückläufige Mitgliederzahlen aufgrund der verminderten Geltung des Individuums im Parteiverständnis als Indikator für eine Annäherung an diesen angesehen werden.
Die Programmatik einer Volkspartei ist nur insofern konkret zu formulieren, dass sie nicht im Wahlkampf gegen sich selbst gerichtet werden kann: „Diese Unbestimmtheit gestattet es [.] als Sammelpunkt zu fungieren, von dem aus konkrete Aktionen für eine Vielzahl von Interessengruppen ausgearbeitet werden“ (Kirchheimer 1965: 38). Dies ermöglicht gewisse Freiheiten in der Auslegung der Programmatik während des Wahlkampfes und sorgt darüber hinaus dafür, dass die verschiedenen Interessensgruppen nicht abgestoßen werden, da die Umsetzungen möglichst vage gehalten sind. Die Volkspartei ist demnach überaus bemüht, eine allgemeine Übereinstimmung in der Wählerschaft herzustellen, damit sich keine neuen Gruppierungen abspalten und somit den Wahlanteil reduzieren. Das zentrale Ziel ist und bleibt die Stimmenmaximierung sowie die Regierungsübernahme bzw. -beteiligung bei gleichzeitiger vager und unkonkreter Ausformulierung des Aussagegehalts von Wahlprogrammen und -versprechen (vgl. Hofmann 2004: 58 f.).
Gesetzt dem Erfolg dieser zentralen Ziele - der erfolgreichen Mobilisierung einer großen Wählerschaft zur Durchsetzung der Handlungspräferenzen - rückt dabei eine neue Dimension in den Fokus: die Frage nach der Parteiführung und dem politischen Amt. Die Nominierung dient als Vorstufe zu einem politischen Amt, was wiederum die Aussicht auf reale politische Gestaltung bedeutet (vgl. Kirchheimer 1965: 39). Die Klassifizierung der Volkspartei hinsichtlich der Mitgliederstruktur eröffnet auch hinsichtlich der Parteispitze neue Möglichkeiten. Parteien des Typus der Volkspartei gestalten durch ihre sozial-heterogene Basis sowie der ausbleibenden sozialstrukturellen Spezifizierung neue Möglichkeiten für bisher nicht berücksichtigte Minderheiten, um einen Zugang zu der bestehenden politischen Elite zu erreichen (vgl. Hofmann 2009: 60 / Kirchheimer 1965: 39).
2.2 Entwicklung des Begriffs der Volkspartei
„Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems“ von Otto Kirchheimer hat eine grundlegende Konzeption des Begriffes der Volkspartei vorgelegt, der sich als neuer Parteitypus in der Nachkriegszeit des zweiten Weltkrieges von den bürgerlichen Repräsentationsparteien und konfessionellen Massenintegrationsparteien emanzipierte - bürgerliche Parteien mit individuellen Repräsentationen galten von dort an als Ausnahme (vgl. Mintzel 1984: 98). Kirchheimer benutzte hierbei die Begriffe „Volkspartei“, „Allerweltspartei“ und „catch-all parties“ als Synonym. Alf Mintzel hat hierbei in seinem Werk „Die Volkspartei“ die Beschreibungen Kirchheimers, wie sie obenstehend konzeptionell wiedergegeben sind, in 22 Charakteristika übersetzt (Mintzel 1984: 99 - 103):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Charakteristika einer Volkspartei nach Alf Mintzel (1984: 99 - 103)
Eine Volkspartei stellt sich gegen den Klassenkampf und vereinigt die breite Gesellschaft unter dem Dach einer großen Partei. Der Begriff war von Beginn an ein Kampfbegriff von bürgerlichen Parteien gegen die politische Vertretung einzelner sozialer Klassen oder Schichten (vgl. Mintzel 1984: 23). Das ganze Volk soll normativ durch eine Volkspartei vertreten werden. Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Effekt führte nach den 1930er und -40er Jahren zu einem zusätzlichen Auftrieb, eine neu entstandene Mittelschicht und ein wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit reduzierten Klassenkonflikte und verstärkten den Kern der bestehenden Parteiensysteme (vgl. Baus 2013: 15). Den Schreckensjahren des Nationalsozialismus‘ und den damit verbundenen politischen Strömungen folgte eine Sehnsucht der Gesellschaft nach Veränderungen. Man wandte sich ab von antidemokratischen Ideologien, reine Klasseninteressen verloren an Bedeutung, ein neuer Fokus auf das sogenannte Allgemeinwohl entstand und damit die Grundlage einer Etablierung von einer Volkspartei, die sich dieser neuen politischen Gesinnung annahm (vgl. ebda.: 16). Die Politik war bemüht, die Geister vergangener Tage abzuwerfen und einen neuen Typus der Partei zu rehabilitieren (Der Begriff „Volk“ in Volkspartei wurde nach wie vor stark mit der NS- Zeit in Verbindung gebracht). In den Nachkriegsjahren hat es die CDU mit Konrad Adenauer am deutlichsten geschafft, sich von alten bürgerlichen Mustern zu entfernen und sich auch inhaltlich von den Parteien der Weimarer Republik abzugrenzen, indem man das breite katholische Milieu in den Fokus stellte und zusätzlich den heimatlos gewordenen konservativen Milieus eine neue politische Heimat anbot (vgl. Baus 2013: 17; Mintzel 1984: 29).
„Am Beispiel der CDU lassen sich die Strukturen der Volksparteien gut aufzeigen. Sie war programmatisch nicht beliebig, sondern knüpfte inhaltlich wie auch organisatorisch an ihren konfessionellen Vorläufern an. Allerdings öffnete sie sich neuen Wählerschichten und stärkte somit ihren Einflussraum. Sie sah sich selbst als geborene Regierungspartei“ (ebda.).
Wie sich erkennen lässt, können sich durch eine differenzierte Schwerpunktlegung eine verschiedene Anzahl von Charakteristika definieren lassen (sind es bei Hofmann in Bezug auf Kirchheimer fünf, beschreibt Mintzel beispielsweise 22 (vgl. Hofmann 2004: 56; Mintzel 1984: 99 - 103)). Es gibt diverse Darlegungen, nach denen Volksparteien systematisiert werden können (u. a. Wolinetz 1979; Lösche 1995; Grabow 2000; Dettling 2009), deshalb ist es hierbei - auch hinsichtlich des Umfanges dieser Arbeit - wichtig, eine zutreffende Kategorisierung zur Bearbeitung des Vorhabens auszuwählen. Kirchheimers Beschreibungen dienen allerdings in dieser Arbeit als Grundlage der Klassifikation von Volksparteien, die Anhand des Grundsatzprogrammes 2020 in Bezug auf die Grünen analysiert wird.
Die qualitativen Maßstäbe entfalten sich dabei in verschiedene Dimensionen, deren Merkmale verschiedene Ausprägungen annehmen können und sich somit eine Partei dem Typus der Volkspartei einordnen lässt. Offensichtlich fehlt der Dimensionierung die nötige Trennschärfe (näheres hierzu im Methodik-Kapitel 3). Kirchheimer operationalisierte dabei folgende Volksparteitypusmerkmale:
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Abb. 2: Volksparteitypusmerkmale nach Otto Kirchheimer (Hofmann 2004: 63)
Je nach Auslegung der Perspektive auf den Typus der Volkspartei gibt es diverse Strömungen über die Begrifflichkeit. Während Mintzel (1984) eine eigene Charakteristika aus den Beschreibungen Kirchheimers ableitet und damit eine eigene Definition aufweist, verwenden andere Autoren das analytische Konzept der Volkspartei, um es em- pirisch anhand Parteibetrachtungen anzuwenden. Der größte Kritikpunkt um den Typus Volkspartei ist und bleibt dennoch die begriffliche Vieldeutigkeit (vgl. von Alemann 2000: 110). Denn der Begriff der Volkspartei ist kein analytisch klar definiertes Merkmal, sondern eher „[...] ein positiv besetztes Attribut der Selbstbeschreibung von Parteien im politischen Wettbewerb“ (Eith 2013: 88).
Die unterschiedliche Begriffsdeutung steht allerdings in dieser Arbeit nicht im Fokus, sondern der Versuch, die Parteiprogrammatik der Grünen auf den Charakter einer Volkspartei hin zu analysieren. Daher endet hier die theoretische Umschreibung des Begriffes.
Um die breite theoretische Einbettung des Begriffes der Volkspartei in einen zu bearbeitbaren Rahmen zu rücken, wird im folgenden Methodik-Kapitel versucht, eine Dimensionierung auf Grundlage Kirchheimers Volksparteitypus und aufbauend darauf Mintzels aufgezeigter Charakteristika zu erzeugen. Auf Grundlage dieser Dimensionen wird im Hauptteil dieser Arbeit das Grundsatzprogramm 2020 qualitativ auf die definierten Merkmale einer Volkspartei untersucht.
3. Methodik
Als Methodik dieser Arbeit liegt die qualitative Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring vor. Diese Methodik ist angesichts der zu untersuchenden Programmatik als besonders geeignet anzusehen.
Diese Form der Untersuchung sieht vor, eine Analyse von Material durchzuführen, welches aus einer beliebigen protokollierten Art von Kommunikation (in dieser Arbeit die Grundsatzprogrammatik der Grünen) stammt (vgl. Mayring 2015: 12). Darüber hinaus unterliegt die qualitative Analyse einem Schema expliziter Regeln (dies ist notwendig, damit auch externe Personen die Analyse nachvollziehen und überprüfen können): eine qualitative Inhaltsanalyse ist demnach theoriegeleitet und unterliegt einer klar formulierten Fragestellung, die systematisch beantwortet werden soll (vgl. ebda.: 13). In diesem Fall bezieht sich die theoretische Grundlage auf Kirchheimers Volksparteitypus, anhand dessen die Fragestellung, inwieweit die Grünen in ihrem Grundsatzprogramm 2020 diesem entsprechen, beantwortet werden soll. Grundlegend gibt es zur Analyse von Kommunikationsmitteln drei Formen der Analysetechnik: die Zusammenfassung, die Explikation und die Strukturierung. Diese sind voneinander unabhängige Analysetechniken, welche je nach Forschungsanliegen und Material frei voneinander verwendet werden können und sich folgendermaßen unterscheiden:
Zusammenfassung: Ziel der Analyse ist es, das Material so zu reduzieren, dass die wesentlichen Inhalte erhalten bleiben, durch Abstraktion einen überschaubaren Corpus zu schaffen, der immer noch Abbild des Grundmaterials ist.
Explikation: Ziel der Analyse ist es, zu einzelnen fraglichen Textteilen (Begriffen, Sätzen, ...) zusätzliches Material heranzutragen, das das Verständnis erweitert, das die Textstelle erläutert, erklärt, ausdeutet.
Strukturierung: Ziel der Analyse ist es, bestimmte Aspekte aus dem Material herauszufiltern, unter vorher festgelegten Ordnungskriterien einen Querschnitt durch das Material zu legen oder das Material aufgrund bestimmter Kriterien einzuschätzen.
Abb. 3: Die drei Grundformen des Interpretierens in der qualitativen Inhaltsanalyse (ebda.: 67).
Folgend werden die Techniken Zusammenfassung und Strukturierung in dieser Arbeit angewendet (detaillierter in Kapitel 3). Im Zuge dessen wird die inhaltliche Strukturierung angewandt: „Ziel inhaltlicher Strukturierung ist es, bestimmte Themen, Inhalte, Aspekte aus dem Material herauszufiltern und zusammenzufassen. Welche Inhalte aus dem Material extrahiert werden sollen, wird durch theoriegeleitet entwickelte Kategorien [...] bezeichnet“ (ebda.: 103). Die inhaltliche Strukturierung wird durch verschiedene Dimensionen durchgeführt, die in Kapitel 3.2 erläutert sind.
3.1 Qualitative Inhaltsanalyse der Grundsatzprogramme
Nachfolgend wird in zwei Schritten agiert: zuerst wird kurz auf die Entstehungsgeschichte der Grünen eingegangen, um nachzuvollziehen, aus welcher gesellschaftlichen und politischen Strömung sich die Partei herausentwickelt hat (Kapitel 4.1). Nach einer kurzen Betrachtung bisheriger Klassifizierungsversuche des Volksparteitypus bei den Grünen (Kapitel 4.2) werden die Grundsatzprogramme (1980, 2002 und 2020) mittels einer Zusammenfassung beschrieben (Kapitel 4.3) - das untersuchte Material wird hierbei auf eine Kurzfassung zusammengefasst, um Inhalte und Ausrichtung der Programme im Wesentlichen zu beschreiben und diese so dem / der Leser:in in einer kurzen Fassung darzubieten. Der Blick auf die Programme ist von Bedeutung, um in einer abschließenden Betrachtung die Entwicklungsstadien von einer Protestpartei zu einer möglichen Volkspartei anhand beispielhafter Programmpunkte nachvollziehen zu können. Im Jahr 1993 wurde in Bezug auf die Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik sowie dem Zusammenschluss der Parteien Bündnis 90/Die Grünen ein weiteres Programm veröffentlicht, was allerdings als Erarbeitung eines gemeinsamen Grundkonsenses und nicht als offizielles Grundsatzprogramm anzusehen ist und deshalb in dieser Arbeit keine Berücksichtigung findet (vgl. Kellner 2018). Darüber hinaus wird dadurch ebenfalls ein zeitliches Kontinuitätsprinzip gewährt, da + / - 20 Jahre zwischen den Veröffentlichungszeiträumen der Grundsatzprogramme liegen und dadurch die Entwicklung in gleiche Zyklen unterteilt ist.
Die Grundsatzproramme sind deshalb für die Analyse des Parteitypus der Volkspartei geeignet, da sie die langfristigen Forderungen, grundsätzliche Werte und strategischen Ziele der entsprechenden Partei formulieren und den Kern der Identität einer
Partei definiert: „Das Grundsatzprogramm dient der Selbstfindung einer Partei und legt die leitenden und verpflichtenden Prinzipien fest“ (Ickes 2008: 19). Im Gegensatz zu Wahlprogrammen, die zu jeder Wahl veröffentlicht werden, eine Gültigkeit für die anstehende Legislaturperiode besitzen und auf aktuelle politische Entwicklungen eingehen, lässt sich durch das Grundsatzprogramm die langfristige Entwicklung sowie die grundlegende Ausrichtung über den hier zu betrachteten Zeitverlauf von 40 Jahren in einer konsistenten periodischen Abfolge abbilden.Wie mit den Kategorien konkret verfahren wird, klärt sich in dem folgenden Kapitel.
3.2 Kategorisierung zur Analyse des Volksparteienbegriffes
Den Kategorien unterliegen verschiedene Kriterien, anhand welchen die gefundenen Textstellen inhaltlich strukturiert werden. In diesem Schritt bezieht sich das Kriterium der Untersuchung auf den definierten Volksparteibegriff von Otto Kirchheimer. Aufgrund der breiten Dimensionierung Kirchheimers bietet es sich an, die Dimensionierungen hinsichtlich der Analyse des Grundsatzprogrammes zu spezifizieren, damit die Kategorisierung der Analyse in Bezug auf das ausgewählte Material in einem bearbeitbaren Rahmen gehalten wird. Hierzu waren die 22 Charakteristika nach Alf Mintzel (siehe Abb. 1) hilfreich und maßgebend. Anhand dieser theoretischen Grundlagen wurden zur Analyse des Volksparteicharakters folgende Kategorien beziehungsweise Dimensionen erstellt:
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Abb. 4: Dimensionierung der Volksparteikriterien angelehnt an Kirchheimer (1965) und Mintzel (1984)
Die Unterteilung erfolgt in eine politische, gesellschaftliche, konzeptionelle, kulturelle und regierungsfähige Dimension. Die Dimensionierungen sind deshalb als geeignet zu betrachten, da somit systematisch die Kriterien des Volksparteitypus auf das Grundsatzprogramm angewendet werden können. Hofmann erstellte zwar in Anlehnung an Kirchheimers Arbeit selbst ein Kategoriensystem zur Identifizierung einer Volkspartei (siehe Abb. 2), dies erweist sich aber aufgrund der spezifischen Materialauswahl (Grundsatzprogramm 2020) lediglich als bedingt geeignet. Deshalb wurden die Kriterien nach einem eigenem subjektiven Auswahlverfahren auf die Verwertbarkeit der Analyse eines Grundsatzprogrammes angepasst.
In der Durchführung der Analyse wird jeder Dimension bzw. Kategorie eine farbliche Zuordnung vergeben und damit im Grundsatzprogramm zutreffende Textpassagen zu der jeweiligen Kategorie markiert (Beispiel siehe Abb. 5 und Abb. 6; das gesamte bearbeitete Programm kann auf Nachfrage zur Verfügung gestellt werden). In dem aufgeführten Beispiel wurden die Kategorien politische und gesellschaftliche Dimension zugeordnet. Die politische Dimension umfasst dabei die Abzielung auf den wirtschaftspolitischen Handlungsbereich, der durch die konkrete Forderung einer höheren Kapitalsteuer positive Auswirkungen auf das Steuersystem erzielen soll.
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