Unendliche Plötzlichkeit

Zeit und Zeitlichkeit in Gert Ledigs Roman Vergeltung


Hausarbeit, 2006

15 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Zeitdarstellung und Zeiterleben permanenter Augenblicklichkeit
2.1 Die narrative Dauer - Erzählzeit im Verhältnis zur erzählten Zeit
2.2 Ordnung und Chronologie – die enge Verwebung von Zeit, Raum & Handlung
2.3 Sprachliche Ausformungen – Verben, Adjektive, Adverbien
2.4 Syntaktische Strukturen
2.5 Kurzlebige Gegenwart (Handlung) contra langatmige Vergangenheit (Biographien)
2.6 Uhren, Zeitlosigkeit & temporäre Unorientiertheit

3. Schlussbetrachtungen

4. Literaturverzeichnis

5. Anlagen

1. Einleitung

Betrachtet man die Rezeptionsgeschichte des von Gert Ledig verfassten Romans Vergeltung[1] , ein für mehrere Jahrzehnte vergessenes Werk der frühen Nachkriegsjahre, das erst 1999 durch die veröffentlichten Vorlesungen W.G. Sebalds[2] literarische Würdigung fand, so zeigt sich, dass, heute wie damals, hauptsächlich der Inhalt kontroverse Diskussionen in der Literatur-wissenschaft und in den Feuilletons auslöste, dabei aber weniger die formale Gestaltung und Erzählweise des Werkes Beachtung fanden. Diese Hausarbeit hat nicht den Anspruch eine umfassende narrative Analyse des Werkes darzubieten, sondern konzentriert sich vielmehr auf das konzeptionelle Geschick des Autors und versucht mit stukturalistischen Mitteln die Kunstgriffe dieser schwindelerregenden, den Leser in ständiger Hetzte und Atemlosigkeit haltenden, Erzählung zu entschleiern. Somit gleich zum analytischen Hauptthema, das in einem Roman über einen infernalischen Bombenangriff auf eine Stadt, neben der radikalen Darstellung von Zerstörung, Unmenschlichkeit und Tod, einen zentralen Gesichtpunkt einnimmt und einnehmen muss – es handelt sich hierbei um die Zeit, die sich in den verschiedensten Ausformungen der Narration wieder findet. Nicht nur, dass das der Inhalt des Buches auf einen Zeitraum von 69 Minuten beschränkt wird, in dem sich nahezu Augenblick für Augenblick nacherleben lässt, der Text schafft es ebenfalls die Gefühle der betroffenen Menschen herauszustellen, wobei sich deren psychologische Zeitwahrnehmungen teilweise erheblich von der existierenden Realzeit entfernt. Und so stellt der Roman nicht selten die Frage nach dem Wesen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und begibt sich unausgesprochen auf das Terrain philosophischer und naturwissenschaftlicher Betrachtungen, die im kleinen Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht berücksichtigt werden können. In den folgenden Punkten soll vorwiegend Ledigs literarischer Stil, eine Rhetorik unendlicher Plötzlichkeit, an Beispielen dargestellt und in seiner Wirkungsweise verdeutlicht werden.

2. Zeitdarstellung und Zeiterleben permanenter Augenblicklichkeit

Es soll nun geklärt werden, wie es Ledig gelingt, seine Erzählung in den Zustand permanenter Unruhe zu versetzten und beständig in diesem hastigen Tempo zu halten. In erster Linie kann dafür die narrative Kunstfertigkeit des Autors verantwortlich gemacht werden, welcher auf mehreren Ebenen die Rastlosigkeit und Zerstückelung im Text verankert. Dazu passt er nahezu sein ganzes Erzählmuster dem unablässigen und brutalen Zerstörungsrhythmus von Explosionen an, die den Takt seines Textes vorgeben – der Inhalt wird somit programmatisch für die Form. Nicht nur, dass die Syntax von diesem Schachzug vereinnahmt wird, auch die Gliederung des Romans wird zu einem bedeutenden Stilmittel erhoben. Ledig selbst wirft eine Bombe auf sein Textgebäude, setzt es hinterher fragmentarisch zusammen und bringt es in eine lückenhafte chronologische Reihe. Zur Vervollkommnung der gehetzten Rezeptionsgeschwindigkeit verwendet er die Ausdruckskraft der Wörter und schafft durch die Vermischung aller genannten Mittel eine stets anwesende Unruhe. Die Erzählung an sich ist mehr als nur eine nüchterne Schadensbilanzierung in parataktischen Satzstrukturen, sie ist von vornherein durch ihrer Kongruenz zwischen dem Ereignischarakter einer Bombardierung und den verwendeten narrativen Muster emotional ausgelegt. Die übereinstimmende Grundstimmung ist gekennzeichnet durch die unablässige Plötzlichkeit, die sich auf beiden Seiten wieder findet. Doch wie funktioniert die Zeitlichkeit konkret im Text? Von den abstrahierten Überlegungen ausgehend, sollen nun im Detail die Stilmittel betrachtet und auf ihre Wirkungsweise untersucht werden.

2.1 Die narrative Dauer - Erzählzeit im Verhältnis zur erzählten Zeit

Wie bereits erläutert, schränkt sich der Roman auf einen Handlungszeitraum von 69 Minuten ein, wodurch die Erzählzeit mit fast 180 Seiten ein deutliches Übergewicht gegenüber der erzählten Zeit erhält. Die gesamte Erzählung wird durch diese Relation gedehnt, spielt somit fast im Zeitlupentempo und erlaubt einen „mikroskopischen Blick in die Zeit“[3]. Im Text fehlt es fast gänzlich an expliziten Zeitverweisen, einzige Anhaltspunkte hierfür liefern Prolog und Epilog, die auch den zeitlichen Rahmen der Handlung markieren. Trotz der minutengenauen Anfangszeit des Romans, die in der ersten Zeile mit der Angabe „ Mitteleuropäische Zeit 13.01[4] eine tageszeitliche Bestimmung der Erzählung erlaubt, wird gleichzeitig jeglicher Verweis auf einen Ort oder ein Datum verschwiegen. Diese lassen sich allenfalls über die Handlung einschätzen. Die vorangestellte Angabe, auffällig kursiv vom Text abgegrenzt, beweist durch ihre Präzision den Stellenwert der Zeitlichkeit und evoziert schon eine kurze Handlung ohne große Zeitsprünge. Die Bestätigung dieser Ahnung findet der Leser ebenfalls im Prolog, in dem der Autor bereits rückblickend auf „sechzig Minuten“[5] verweist, von welchen im folgenden Kapiteln berichtet wird. Obwohl das Thema der Zeit oft aufgegriffen wird, fehlt es im gesamten Text fast gänzlich an Uhrzeitangaben und wird erst mit dem Epilog abschließend benannt. Dort findet sich, wie bereits im Prolog kursiv dem Text vorangestellt, die Angabe „ Mitteleuropäische Zeit: 14.10[6]. Diese Uhrzeit setzt den Schlusspunkt. Alles was sich dazwischen abspielt, kann nur über die Handlung assoziiert werden. Relativ am Anfang des Buches kommt es noch zu zwei Zeitangaben[7] innerhalb des Textes, die jedoch nicht besonders hervorgehoben sind, sondern umschrieben im Text angegeben werden. Sie erlauben dem Leser genauer, die erzählten Versatzstücke der Handlung zu ordnen und in Bezug zu anderen Erzählsträngen zu setzten. Auffällig ist, dass diese beiden Zeiten von Uhren, die offensichtlich vorhanden sind, abgelesen werden, doch keine weiteren Angaben darauf folgen.

Die Zeit scheint im Verlauf des Buches ihren messbaren Wert zu verlieren; was zählt ist die Gegenwart – das Überleben von Sekunde zu Sekunde, wobei jegliche Gedanken an Vergangenheit und Zukunft unmöglich scheinen. Die subjektiven Einschätzungen der Protagonisten gleichen Erfahrungen ewiger Höllenqualen, bei denen das Zeitgefühl völlig verloren geht. Geradezu unpassend wirkten die entsprechenden Autorenverweise auf die jeweilige Realzeit, da sie den Leser von emotionalen Erfahrungen zurück in die Wirklichkeit werfen würden.

2.2 Ordnung und Chronologie – die enge Verwebung von Zeit, Raum & Handlung

Der Roman setzt sich, von Prolog und Epilog abgesehen, aus insgesamt 93 Szenen zusammen, die auf dreizehn Kapitel verteilt sind. Eine beständige Hauptfigur gibt es nicht, viel mehr unterschiedliche Charaktere bzw. Personengruppen, die in zwölf Erzählsträngen ungleichen Umfangs eine Stadtbombardierung erleben. Die einzelnen Schicksale werden nicht fortlaufend erzählt, sondern in Fragmenten aneinandergereiht und geschehen, so scheint es, parallel und unabhängig voneinander. Zu einer „vernetzte[n] Struktur“[8] kommt es erst durch die Querverweise auf Ereignisse, die sich in anderen Erzählsträngen zutragen, aber auch in dem zufälligen Aufeinandertreffen bestimmter Protagonisten.

Die zeitliche und räumliche Identität der parallel verlaufenden Einzelerzählungen ergibt sich erst durch die Handlung, da zuvor weder eine detaillierte Einführung in die Charaktere, noch in die jeweiligen Örtlichkeiten erfolgte. Und trotz des unfertigen Mosaikcharakters, sowie zwei Erzählsträngen, die gänzlich unberührt von den anderen Protagonisten bleiben, entsteht eine logisch erschließbare Erzählung, deren einzelne Elemente sich über das Meta-Ereignis Bombenangriff vereinen und sich, in der Zurschaustellung der daraus resultierenden Leiden, gelungen ergänzen. Die Detonation der abgeworfenen Bomben wird zum gemeinsamen Leitmotiv, geradezu zum sinnstiftenden Element der Gesamterzählung für den Leser.

[...]


[1] Ledig, Gerd: Vergeltung. Frankfurt am Main 2004. In weiteren Fußnoten mit „Ledig“ abgekürzt.

[2] Sebald, W.G.: Luftkrieg und Literatur. München 1999.

[3] Radvan, Florian: Kommentar. In: Ledig, Gerd: Vergeltung. Frankfurt am Main 2004, Seite 196. Im Folgenden mit Radvan abgekürzt.

[4] Ledig, S. 11.

[5] Ledig, S. 13.

[6] Ledig, S. 177.

[7] Ledig, S. 19, 47.

[8] Radvan, S.195.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Unendliche Plötzlichkeit
Untertitel
Zeit und Zeitlichkeit in Gert Ledigs Roman Vergeltung
Hochschule
Freie Universität Berlin
Veranstaltung
Berichte aus der Abwurfzone – Ausländische Zeugen des Bombenkrieges
Note
2,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
15
Katalognummer
V119447
ISBN (eBook)
9783640228959
Dateigröße
380 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Unendliche, Plötzlichkeit, Berichte, Abwurfzone, Ausländische, Zeugen, Bombenkrieges, Ledig, Sebald
Arbeit zitieren
Ronny Franz Buth (Autor:in), 2006, Unendliche Plötzlichkeit , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119447

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