Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Untersuchungsgegenstand
2. Definitionen
2.1 Der Versuch einer Definition: Freiheit
2.2 Der Versuch einer Definition: Sicherheit
3. Theorien in Bezug auf Sicherheit und Freiheit
3.1 Thomas Hobbes
3.2 Immanuel Kant
3.3 Jeremy Bentham
3.4 Vergleich der Theorien von Hobbes, Kant und Bentham
4. Der erste Lockdown
5. Das Dilemma des Kontaktverbotes
5.1 Sichtweise des Thomas Hobbes
5.2 Sichtweise des Jeremy Bentham
5.3 Sichtweise des Immanuel Kant
6. Empfehlung des Ethikrates
7. Lösungsansatz: Freiheit und Sicherheit vereinen
8. Möglichkeiten, der Coronakrise moralisch gerecht zu werden
9. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Untersuchungsgegenstand
Am 28. Januar 2020 berichten die deutschen Nachrichten von der Infektion eines Staatsbürgers der Bundesrepublik Deutschland mit der Infektionskrankheit COVID.1 Eine Krankheit, deren Auswirkungen sich zu diesem Zeitpunkt noch kaum ein Zuschauer bewusst ist.
Eine Krankheit, die eine gesellschaftliche und staatliche Krise auslösen wird, wie sie es bisher noch nie gegeben hat. Eine Krankheit, deren Existenz zu einer Spaltung der Gesellschaft führen und die die Politik vor die Aufgabe der moralischen Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit stellen wird.
Die Coronakrise hält bis heute an, und ihr Diskurs reicht weit über die Medizin hinaus. Unter anderem findet auch die Philosophie ihren Platz, muss an politischen Entscheidungen teilhaben und die Lage analysieren. Vertreten durch den Deutschen Ethikrat liegt der Forschungsschwerpunkt in diesem Bereich auf der moralischen Abwägung der politischen Verordnungen im Zuge der Pandemie.2 Immer wieder werfen diese die Frage nach der Verhältnismäßigkeit zwischen Freiheit und Sicherheit auf. Mit diesem Dilemma beschäftigt sich auch die vorliegende Arbeit. Es wird untersucht, recherchiert, hinterfragt, kritisiert.
Nach einer grundlegenden Begriffsbetrachtung von Freiheit und Sicherheit in Kapitel 2 wird deren Verhältnis im Nachfolgenden in Bezug zu den ethischen Handlungsmustern von Thomas Hobbes, Immanuel Kant und Jeremy Bentham gesetzt. Ausgehend von diesen grundlegenden Theorien soll in Kapitel 4 und 5 versucht werden, eine Antwort darauf zu finden, ob der Staat überhaupt in der Lage ist, Sicherheit und Freiheit zu vereinen, oder ob sich diese zu einem gewissen Grad auf natürliche Weise ausschließen. Die Autorin orientiert sich dabei am Praxisbeispiel der Coronapandemie und erläutert das Dilemma zwischen Sicherheit und Freiheit anhand der von der deutschen Regierung beschlossenen Maßnahmen innerhalb des ersten Lockdowns.3
Abschließend wird in Kapitel 6 die dazugehörige Thesenformulierung des Ethikrates betrachtet und ins Verhältnis zu den Ideen von Hobbes, Kant und Bentham gesetzt. Kapitel 7, 8 und 9 bilden den Schluss der Arbeit, in dem ein erneuter Überblick über die bisherigen Ergebnisse gegeben wird, sowie ein eigen entwickelter Lösungsvorschlag der Diskrepanz zwischen Sicherheit und Freiheit in der Coronakrise.
2. Definitionen
2.1 Der Versuch einer Definition: Freiheit
Der Begriff der Freiheit lässt sich anders als naturwissenschaftliche Phänomene nicht eindeutig als gemeingesellschaftlicher Begriff definieren. Dennoch versuchen sich Philosophen und andere Wissenschaftler an einer Definition, die eine Gültigkeit im gesamtgesellschaftlichen Diskurs hat.
Die Freiheit im politischen Sinne nimmt im deutschen Grundgesetz eine elementare Position ein, indem allen deutschen Staatsangehörigen in Artikel 2 folgende Rechte zugesprochen werden:
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.4
Alle Deutschen dürfen also auf ihre eigene Freiheit bestehen. Aber was genau meint ‚Freiheit‘? Laut der Bundeszentrale für politische Bildung ist Freiheit eines der wichtigsten Grund und Menschenrechte.5 Im Kontext dieser Definition werden zwei Bedeutungen unterschieden. Zum einen gibt es die ‚Freiheit von etwas‘ (in anderen Kontexten auch: negative Freiheit), zum anderen ‚die Freiheit für etwas‘ (positive Freiheit). Während bei Ersterer der Fokus auf der Abwesenheit von Zwang und Unterdrückung von außen liegt, geht es bei Zweiterer um ein selbstbestimmtes Leben ohne äußere Abhängigkeit.6
Im Duden werden drei verschiedene Bedeutungen des Wortes ‚Freiheit‘ genannt. Zum einen ist die Rede von einem „Zustand, in dem jemand von bestimmten persönlichen oder gesellschaftlichen, als Zwang oder Last empfundenen Bindungen oder Verpflichtungen frei ist und sich in seinen Entscheidungen o.Ä. nicht [mehr] eingeschränkt fühlt“.7
Zum anderen wird Freiheit beschrieben als die „Möglichkeit, sich frei und ungehindert zu bewegen“.8 Als dritte Definition führt der Duden das „Recht, etwas zu tun; bestimmtes [Vor]recht, das jemandem zusteht oder das er bzw. sie sich nimmt“9 auf. Demnach ist Freiheit vielmehr ein subjektives Gefühl oder Verlangen statt einer eindeutigen Handlungsnorm.
Der Autor André Mercier widmet der Bedeutung von Freiheit einen ganzen Sammelband. In dem selbstverfassten Kapitel „Was bedeutet Freiheit“ schreibt er davon, dass Freiheit ein Gefühl der Grenzentdeckung sei. Schaffe ein Mensch es seine zu jedem Zeitpunkt von außen gegebenen Grenzen anzuerkennen, so könne er sie überwinden und transzendieren. Dieser Theorie liege die eigene Erkenntnis des Unfreiseins zu Grunde. Statt gegen die unüberwindbaren Schranken zu kämpfen, müsse der Mensch erkennen, dass die persönliche Freiheit innerhalb dieser zu finden sei.10
Neben der Unterscheidung von negativer und positiver Freiheit wird insbesondere in der Philosophie eine Grenze zwischen Willens- und Handlungsfreiheit gezogen. Während Philosophen und Philosophinnen sich seit jeher mit der Frage beschäftigen, ob der Mensch einen freien Willen hat oder ob er in allen seinen Entscheidungen determiniert ist, wird in der Wissenschaft heute der Stand vertreten, dass der Mensch grundsätzlich einen freien Willen hat, der jedoch durch äußere Einflüsse mitbestimmt ist.11 Einigkeit herrscht jedoch in Bezug auf die Handlungsfreiheit. Der Mensch ist in seinen Handlungen nur in dem Maße frei, wie ihm von der Natur und durch die Gesetze keine Grenzen aufgezeigt werden. Somit werden auch auf dieser Ebene Handlungsentscheidungen beeinflusst.12
Der Begriff der Freiheit ist zu komplex, um ihn abschließend definieren zu können. Je nach Auffassung bedeutet Freiheit in Bezug auf den Menschen etwas Unterschiedliches. Das allgemeine Grundverständnis von Freiheit scheint dennoch jedem Menschen instinktiv bewusst zu sein.
2.2 Der Versuch einer Definition: Sicherheit
Etymologisch betrachtet leitet sich der Begriff ‚Sicherheit‘ von dem lateinischen Nomen securitas ab. Gemeint war damit vorerst ausschließlich das Verhältnis zwischen Personen und Dingen.13 Zum heutigen Zeitpunkt hat der Begriff eine größere Tragweite und mit der ursprünglichen Ableitung kaum mehr etwas zu tun.
„Die Deutschen haben ein hohes Bedürfnis nach Sicherheit und scheuen das Risiko.“14 So lautete die Erkenntnis einer Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Jahr 2015. Ähnliches erforschte auch der US-Psychologe Abraham Maslow. In seiner Bedürfnispyramide beschäftigte er sich mit der Hierarchisierung menschlicher Bedürfnisse und identifizierte das Verlangen nach Sicherheit an zweiter Stelle.15
Die Bundeszentrale für politische Bildung führt als Definition einen Satz des Autors Nielebock auf, in dem Sicherheit als „Abwesenheit einer existenziellen Bedrohung“ kategorisiert wird. Zusammengesetzt wird der Sicherheitsbegriff für Nielebock aus einem Bedrohten, dessen Werte in Gefahr sind, und aus einer Bedrohung, die über die Mittel verfügt, jene Werte anzugreifen.16 Im gleichen Kontext unterscheidet die Bundeszentrale zwischen objektiver und subjektiver Sicherheit. Für die Autoren Persen und Endreß ist Sicherheit ein soziales Konstrukt.17 Während Person A das Fliegen in einem Flugzeug aus Angst vor dem Risiko scheut, so fühlt sich Person B dabei sicher. Die realexistierenden Sicherheitsbedrohungen würden im Beispiel des Flugzeugabsturzes in Kraft treten, wenn es sich tatsächlich im Absturz befindet, während die subjektiv empfundene Unsicherheit unbegründet sein kann, obwohl sie sich für den Betroffenen real anfühlt. Die zentrale Frage dabei ist jedoch, wann die subjektive Unsicherheit in eine objektive Sicherheitsbedrohung übergeht. Kann man bereits davon sprechen, wenn die Wahrscheinlichkeit eines Flugzeugsabsturzes bei weniger als einem hundertstel Prozent liegt?18
Der Mensch ist also psychologisch betrachtet in der Lage, subjektive Ängste zu entwickeln, die sich mit objektiven Gefahren überschneiden können, aber nicht müssen. Die Aufgabe des Staates in Bezug auf die menschliche Sicherheit ist dabei laut der oben genannten Studie zentral. Er dient demnach als Quelle für das Sicherheitsgefühl der Bürger.19 Eine weitere Studie beweist, dass der Mensch nach einer Sicherheit strebt, die als etwas empfunden wird, was von Menschen – in diesem Fall von Regierung, Justiz und Polizei – hergestellt werden kann.20
Die staatliche Aufgabe der Sicherheitswahrung wird wie die Freiheit im Grundgesetz thematisiert. So heißt es in Art. 13 Abs. 4:
„Zur Abwehr dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit, insbesondere einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr, dürfen technische Mittel zur Überwachung von Wohnungen nur auf Grund richterlicher Anordnung eingesetzt werden. Bei Gefahr im Verzuge kann die Maßnahme auch durch eine andere gesetzlich bestimmte Stelle angeordnet werden; eine richterliche Entscheidung ist unverzüglich nachzuholen.“21
Folglich verspricht der Staat, die Bürger vor Sicherheitsgefahren zu schützen und für die Sicherheit alle notwendigen Maßnahmen zu treffen, solange diese im rechtlichen Rahmen verankert sind.
Wie die zuvor behandelte Freiheit ist auch Sicherheit nicht als eindeutiger Begriff zu fassen. Jedes Individuum hat ein subjektives Verhältnis zum eigenen Zustand der Sicherheit. Zu einem sinngemäß gleichen Schluss kam der Autor Daniel Frei in seinem Werk über politische Sicherheit. Er kritisiert darin die Tatsache, dass der Begriff auf politischer Ebene oftmals ohne Definition verwendet würde. Dabei zitiert er den Politiker Wolfers, der „ungefähr zu wissen meint, was die Leute meinen, wenn sie sich beklagen, die Regierung vernachlässige die nationale Sicherheit“.22
Wie Freiheit und Sicherheit konkret zu verstehen sind, lässt sich somit nicht abschließend feststellen. Jedoch geht aus beiden Betrachtungen hervor, dass der Staat sich der Aufgabe annimmt, den Bürgern beides zu gewährleisten. Laut Gesetz und dem Tonus der verschiedenen Autoren wird eben Genanntes auch weitestgehend verlangt. Fühlen sich die Menschen durch den Staat in ihrer eigenen Sicherheit oder Freiheit hingegen eingeschränkt, so wehren sie sich. Genau dies passierte während der Coronapandemie: Während die einen um ihre gesundheitliche Sicherheit bangten, fühlten sich die anderen in ihren Freiheiten eingeschränkt, weiterhin ihre Familien und Freunde sehen zu können und somit entstand ein Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit.
3. Theorien in Bezug auf Sicherheit und Freiheit
3.1 Thomas Hobbes
Der im Jahr 1588 geborene englische Philosoph Thomas Hobbes beschäftigte sich mit einer negativen Auffassung von Freiheit. Er philosophierte über einen fiktiven Naturzustand, in dem die Menschen ohne staatliche Instanz leben, und zog den Schluss, dass der Mensch in seiner vollkommenen Freiheit nicht gesellschaftswürdig sei. Aus diesem Kontext stammt einer seiner berühmtesten Kommentare: „Außerhalb von Staatswesen herrscht immer ein Krieg eines Jeden gegen Jeden.“23 Nach Hobbes Auffassung ist der Mensch in erster Linie an der Sicherung seiner eigenen Bedürfnisse interessiert und handelt demnach egoistisch und selbstbestimmt.24
Ohne eine leitende Figur genießt der Mensch in seiner Fiktion eine unbegrenzte Freiheit, die er wie folgt definiert:
„Freiheit bedeutet (eigentlich) das Fehlen von Widerstand (mit Widerstand meine ich äußere Hindernisse der Bewegung) und läßt sich nicht weniger auf unvernünftige und unbelebte Dinge als auf vernunftbegabte Geschöpfe anwenden.“25
Er unterscheidet in diesem Kontext Freiheit von fehlender Fähigkeit. So nennt er als Beispiel, dass ein Kranker, der ans Bett gefesselt ist, nicht von fehlender Freiheit sprechen könne. Ihm fehle die Fähigkeit der Bewegung, die er selbst oder andere in diesem Moment nicht beeinflussen können. So definiert Hobbes einen freien Menschen als jemanden, der „nicht daran gehindert wird, Dinge nach seinem Willen zu tun, zu denen er aufgrund seiner Kraft und seines Verstandes fähig ist“.26 Mit dieser Definition schließt Hobbes eine vollkommene Freiheit schlichtweg aus und erkennt die äußeren, übernatürlichen Grenzen, denen der Mensch in bestimmten Situationen unterliegt.
Während der Philosoph Niklas Luhmann behauptet, Sicherheit sei nur eine soziale Fiktion,27 beschäftigte sich Thomas Hobbes ausgiebig mit dem Versuch eines Garanten der Sicherheit einer Gesellschaft. In seinen Überlegungen eines Gesellschaftsvertrages spielt der Staat in diesem Kontext eine zentrale Rolle. Dieser agiere als Instrument zur Garantie von Sicherheit – salus populi (der Sicherheit des Volkes).28 Gleicher Meinung ist der Autor Mazumdar, der Hobbes Sicherheitsauffassung untersuchte und zu dem Schluss kam, dass die Sicherheit „politischer Zweck sei und der Staat eine Schutzeinrichtung, die Sicherheit zu garantieren und herbeizuführen hat“.29 Hobbes Begriff von staatlicher Macht geht jedoch über die alleinige Sicherheitswahrung hinaus. Er war realistisch genug anzuerkennen, dass der, der Macht genug hat, alle zu beschützen, auch die Macht hat, alle zu unterdrücken:
„Nam qui satis habet virium ad omnes protegendos, satis quoque habet ad omnes opprimendos.“30
Da in Hobbes Auffassung eines Naturzustandes die Mitmenschen mitunter diejenigen sind, von denen die größte Gefahr ausgeht,31 tauscht der Bürger innerhalb des Vertrages Teile seiner eigenen Freiheit zum Wohle der Allgemeinheit gegen die gesamtgesellschaftliche Sicherheit ein. Für Hobbes ist Sicherheit dabei nicht nur „die reine Erhaltung des Lebens“32. Er schließt in seine Sicherheitsauffassung auch „alle anderen Annehmlichkeiten des Lebens“33 mit ein, derer sich jeder arbeitende Untertan sicher sein soll. Der Souverän verpflichte sich dazu, alle erfahrbare Ungerechtigkeit seiner Untertanen gegenüber zu verhindern und den Einzelnen durch allgemeine Gesetze vor jeglicher Gefahr auch innerhalb des Volkes zu schützen.34
In Hobbes Kapitel „Von der Freiheit der Untertanen“ gesteht er diesen die Freiheit zu, ihren eigenen Körper zum Erhalt des eigenen Lebens unter allen Gegebenheiten zu verteidigen.35 Der Mensch hat demnach auch unter der Herrschaft des Souveräns die Freiheit, alles für seine eigene Selbsterhaltung Notwendige zu tun.
Zwar kann Hobbes staatliches Verständnis nicht in vollem Umfang auf das heutige Demokratieverständnis übertragen werden, dennoch lassen sich einige seiner Grundgedanken auf die Gegenwart anwenden. So wäre die Regierung, zum Zeitpunkt des ersten Lockdowns, repräsentiert durch Angela Merkel oder im weiteren Sinne die Ministerpräsidenten, der ‚Souverän‘. Dieser kann laut Hobbes bestimmt werden, „wenn die Menschen miteinander vereinbaren, sich einem Menschen oder einer Versammlung von Menschen freiwillig zu unterwerfen, im Vertrauen darauf, dass er sie gegen alle anderen beschützt“36. Die ‚Untertanen‘ wären in diesem Falle die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland und deren Verfassung könnte als gesellschaftlicher Vertrag angesehen werden. Zu unterscheiden ist hierbei jedoch, dass in unserem Demokratieverständnis eine ‚Unterwerfung‘ nicht stattfindet. Durch die Gewaltenteilung in Exekutiven, Legislativen und Judikativen erfolgt in unserem politischen System eine ständige gegenseitige Kontrolle; eine alleinige Macht ist somit nicht gegeben. In Hobbes staatlichem Verständnis unterlagen die Judikativen den Worten des Souveräns,37 während sie in unserer Demokratie unabhängig voneinander die Gesetzgebung der Legislative überprüfen. Während der Souverän in Hobbes Auffassung keinerlei Gesetzen unterliegt,38 ist unsere heutige Demokratie durch die Gleichstellung aller gekennzeichnet. Auf allen politischen und nicht politischen Ebenen herrscht das gleiche Recht; eine tatsächliche Unterwerfung ist somit nicht gegeben.
3.2 Immanuel Kant
Eine andere Auffassung von Freiheit und Sicherheit vertrat der im Jahr 1724 geborene Philosoph Immanuel Kant. Die für die vorliegende Arbeit relevante Freiheitsdefinition erarbeitete Kant in seiner praktischen Philosophie „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785) sowie in „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788). In diesen Werken identifizierte er die Freiheit als Autonomie, gleichzusetzen mit der Selbstbestimmung der Einzelnen. In seiner etwas später erschienenen Rechtsphilosophie konstruierte er seine Gedanken um die Vereinbarkeit der Freiheit der Einzelnen mit den Freiheiten aller unter einem allgemeinen Gesetz.39 Insbesondere letztere Auffassung nimmt eine zentrale Rolle in der vorliegenden Arbeit ein und ist in Bezug auf die Coronapandemie maßgeblich von Bedeutung (vgl. Kap. 8).
Die in der Einleitung angeführte Differenzierung zwischen Handlungs- und Willensfreiheit ist weitestgehend auf Kant zurückzuführen. Dieser bestimmte die Willensfreiheit als das menschliche Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen.40 Damit identifizierte er den Willen als das stärkste Entscheidungsorgan des Menschen und schrieb diesem durch die reine Willensfreiheit eine vollständige Lenkung der eigenen Wünsche, Neigungen und Vorstellungen zu. Kant titulierte den Menschen zudem als ‚Bürger zweier Welten‘ und unterschied zwischen Natur- und Vernunftwesen. Während der Mensch in der Sinneswelt als Naturwesen der Kausalität unterliege und von Lust-Unlust-Gefühlen geleitet sei, sei er als Vernunftwesen durch naturunabhängige Gesetze geprägt. In einer naturübersteigenden Welt agiere der Mensch nicht instrumentalisiert, sondern sei frei von Lust-Unlust-Motivation.41 In Kants Augen ist der Mensch als Vernunftwesen somit vollends frei und damit in der Lage, Kausalitäten zu widerstehen und seine Entscheidungen anhand moralischer Prinzipien zu treffen.42 Zusammenfassend findet Kants Freiheitsbegriff seine Vollkommenheit in der vernunftbegründeten Welt, in der der Mensch fähig ist, Handlungen nicht aufgrund von Kausalitäten hervorzubringen, sondern wo Handlungen aus sich selbst entstehen und somit einen Zweck an sich darstellen.43
„Um deswillen muß ein vernünftiges Wesen sich selbst, als Intelligenz (…) nicht als zur Sinnes-, sondern Verstandeswelt gehörig, ansehen (…) denn unabhängig von bestimmten Ursachen der Sinneswelt (…) ist Freiheit.“44
Der freie Wille des Menschen ist die ausschlaggebende Voraussetzung für jegliche Wert-, Güter- und Normentwicklungen. Demnach ergibt sich die Moralität aus einem guten Willen und dessen Aufgabe, dem Menschen Tugenden aufzugeben.45
Der Mensch ist laut Kant also nur dann frei, wenn er unter der Bedingung des moralischen Gesetzes handelt. In diesem Punkt unterscheidet sich seine Ansicht von Hobbes. Zwar sprechen beide Philosophen von der Möglichkeit einer absoluten Freiheit, jedoch traut Kant den vernunftgeleiteten Menschen innerhalb dieser Freiheit ein gesellschaftliches Zusammenleben zu, während Hobbes in der absoluten Freiheit eine Gefahr sieht.
Gemeingesellschaftlich betrachtet sieht Kant die rechtliche Staatlichkeit als elementare Voraussetzung für die individuelle Freiheit. Zwar spricht er den Menschen als Einzelpersonen die Möglichkeit des guten Handelns zu, verlangt jedoch vom Staat, einen Rahmen dafür zu schaffen. Als Leitmaxime jeglicher Entscheidungen entwickelt er den kategorischen Imperativ:
„Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“46
Auf Grundlage dieser Maxime sollen sowohl die Menschen als Einzelpersonen als auch der Staat Entscheidungen treffen, um ein gemeinschaftliches, gutes Leben zu ermöglichen. Ähnlich wie Hobbes sieht dabei auch Kant die Notwendigkeit eines Gesellschaftsvertrages.47 Neben dem kategorischen Imperativ als Handlungsmaxime stellt er drei Verfassungsprinzipien auf, die für einen solchen Vertrag unabdingbar seien. So nennt er die Freiheit, die Gleichheit und die Autonomie und schreibt dazu:
„Diese Prinzipien sind nicht sowohl Gesetze, die der schon errichtete Staat giebt, sondern nach denen allein eine Staatserrichtung, reinen Vernunfprincipien des äusseren Menschenrechts gemäss, möglich ist.“48
Kants Sicherheitsauffassung wird größtenteils in seiner Abhandlung „Zum ewigen Frieden“ gezeichnet. Der Hauptfokus liegt in diesem Werk jedoch auf der Sicherheit in Bezug auf staatlich organisierte Kriege, sprich Sicherheitsbedrohung durch Gewalt. Dennoch lassen sich einige seiner Thesen auf eine allgemeine Definition von Sicherheit übertragen.
Im Naturzustand erkennt Kant das Konfliktpotenzial zwischen den Menschen. Dieser bedeutet nämlich sowohl für einzelne Menschen als auch für ganze Völker bzw. Staaten nicht nur prinzipielle Konflikthaftigkeit, sondern strukturell bedingte Unsicherheit. Trotz der Fähigkeiten des Verstandes und der Vernunft bedarf es daher eines Regelkonstruktes, vereinigt durch den Staat, um jenem Konfliktpotenzial entgegenzuwirken.49 Der Staat ist also dann für die Sicherheitswahrung zuständig, wenn die Menschen selbst mittels ihrer Vernunft nicht in der Lage dazu sind. Anders als bei Hobbes agiert die staatliche Gewalt jedoch nicht
[...]
1 Öffentlich-rechtlicher Rundfunk 28.01.2020.
2 Deutscher Ethikrat 2020.
3 Der Begriff des „ersten Lockdowns“ meint dabei den Zeitraum vom Januar 2020 bis Juni 2020.
4 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 23.05.1949, §2.
5 Klaus Schubert 2020.
6 Riescher 2010, S. 132.
7 Duden online 2021.
8 Duden online 2021.
9 Duden online 2021.
10 Mercier 1973, 24f.
11 Voigt 2012, S. 27.
12 Voigt 2012, S. 27.
13 Kaufmann 2012, 63,67.
14 Petra Boberg 2017, S. 15.
15 Salewski und Renner 2009, S. 63.
16 Thomas Nielebock 2016.
17 Christian Endreß., Nils Persen 2012
18 Selda Bekar 2021.
19 Petra Boberg 2017, S. 16.
20 Kaufmann 2012, S. 172.
21 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 23.05.1949, §2.
22 Frei 1977, S. 13.
23 Thomas Hobbes 1651, S. 104.
24 Thomas Hobbes 1651, S. 143.
25 Thomas Hobbes 1651, S. 177.
26 Thomas Hobbes 1651, S. 177.
27 Niklas Luhmann 1991, S. 28.
28 Thomas Hobbes 1651, S. 1.
29 Pravu Mazumdar 2012, S. 48.
30 De Cive, Caput VI, 13 (Annotatio)
31 Thomas Hobbes 1651, S. 104.
32 Thomas Hobbes 1651, S. 284.
33 Thomas Hobbes 1651, S. 284.
34 Thomas Hobbes 1651, S. 284.
35 Thomas Hobbes 1651, S. 183.
36 Thomas Hobbes 1651, S. 146.
37 Thomas Hobbes 1651, S. 138.
38 Thomas Hobbes, 1651, S. 137, S. 255.
39 Gierhake 2013, 88 ff.
40 Metzler Lexikon Philosophie 2015.
41 Köck 2019, S. 55.
42 Metzler Lexikon Philosophie 2015.
43 Wuchterl 1998, S. 157.
44 Immanuel Kant 1785, S. 118.
45 Bielefeldt 1990, S. 94.
46 Immanuel Kant 1785, S. 60.
47 Immanuel Kant 1793, S. 40.
48 Immanuel Kant 1793, S. 41.
49 Gierhake 2013, S. 177–179.