Das Dokumentartheater der 20er und 60er Jahre. Ein Vergleich


Hausarbeit, 2021

22 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1 Die dokumentarische Bewegung in der Aufbauphase der Sowjetunion

2 Das Dokumentartheater der 20er Jahre
2.1 Die Bühne der Neue Sachlichkeit als „Schauplatz des gegenwärtigen Lebens“[1]
2.1.1 „Die noch kaum vergangene Zeitgeschichte“[2]
2.2 Piscators Beitrag zum dokumentarischen Theater
2.2.1 Piscators „Politisches Theater“
2.2.2 „Eine phänomenale technische Phantasie hat Wunder geschaffen“[3] - Die Inszenierungen Piscators

3 Das dokumentarische Theater der 60er Jahre
3.1 Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik
3.2 „Die Ermittlung“ – „Ein beklemmend nüchternes Dokumentarstück“[4]
3.2.1 „Ein Theater der Berichterstattung“[5]
3.2.2 Der Mensch als „funktionierende[r] Bestandteil des Apparates“[6]
3.2.3 Der Film als Verfremdungseffekt
3.2.4 Die Ästhetisierung des Stoffes

4 „Auschwitz als gesellschaftlich bestimmtes Ereignis“[7]

Literaturverzeichnis

1 Die dokumentarische Bewegung in der Aufbauphase der Sowjetunion

Die dokumentarische Bewegung der Sowjetunion, welche Mitte der zwanziger Jahre entsteht, wird von Schmidt als „eine organisierte soziale Bewegung zur umfassenden Dokumentation und publizistischen Verarbeitung der konkreten Fakten des [‚]sozialistischen[‘] Aufbaus“8 definiert. Diese umfassende Aufbauarbeit, welche eine rasante Industrialisierung, kulturrevolutionäre Ziele sowie die Zwangskollektivierung mit sich bringt, nimmt mit ihren weitreichenden Folgen auch Einfluss auf die literarische Praxis und deren Methoden, scheinen doch die vorsozialistischen, literarischen Formen und Traditionen nicht mehr zeitgemäß. Die Entwicklung der Bewegung hat ihre Wurzeln bereits in der literarischen Produktion der Bürgerkriegsjahre. Besonders wichtig in diesem Zusammenhangen ist dabei die Arbeit der proletarischen Schriftsteller in Form sogenannter očerki, mit welchen sie die Realität authentisch darstellen sowie sich unmittelbar an ihrem Geschehen beteiligen wollen.9 So verstehen sich viele Schriftsteller dieser Zeit zunehmend als Journalisten, welche das Ziel verfolgen, sich „organisch in die Aufbauarbeit ein[zugliedern] und […] nicht nur die Kunst, das Leben zu konterfeien, sondern auch […] zu verändern[, zu lernen].“10 Demzufolge liegt der operative Charakter der očerki nach Tret’jakov in dieser aktiven Teilnahme am Gesellschaftsleben, welche jedoch zunächst eines Beweises bedarf. Für diesen notwendigen, authentischen Nachweis eignet sich demnach die dokumentarische Methode, mit welcher der Schriftsteller eigene Erfahrungsberichte aufgreifen und sich somit selbst sowie seine Beteiligung am Aufbau legitimieren kann. Neben der journalistischen Arbeitsweise kommen gleichfalls auch wissenschaftliche Darstellungsmethoden zur Anwendung, wobei zum Zweck der Veröffentlichung neuer, wissenschaftlicher Einsichten auf die Dokumentarliteratur zurückgegriffen wird.11

Während in der Epoche des Realismus sowie Naturalismus Einflüsse und Vorbilder aus dem Ausland meist eine radikale Ablehnung seitens Deutschlands erfahren haben, kommt es in der Zeit der Neuen Sachlichkeit zur „partielle[n] Erosion jener Nationalästhetik“12. Demzufolge rückt an die Stelle der „idealistischen Autonomieästhetik“13 sowie des Projekts einer „deutschen Kunst“14, eine nicht unbeachtliche Offenheit gegenüber ausländischen Texten und Modellen, welche als Vorbild für einen der gesellschaftlichen Wirklichkeit entsprechenden, literarischen Umgang fungieren.15 So werden unter anderem auch russische Texte rezipiert, wobei sich das dortige Zusammenspiel aus literarischen, wissenschaftlichen sowie journalistischen Arbeitsmethoden auch in der Epoche der Neuen Sachlichkeit wiederfindet. Diese Entwicklung soll nun im Folgenden geschildet werden, wobei hier der Fokus primär auf dem Regisseur und Intendanten Piscator sowie seinem besonderen Beitrag zum dokumentarischen Theater der 20er Jahre liegen soll. Im Anschluss soll das Dokumentartheater der 60er Jahre zusammen mit seinen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Hintergründen beleuchtet werden. Da unter anderem die Stücke von Weiss als Basis für jede Beschäftigung mit dem deutschen Dokumentartheater der Nachkriegszeit gelten16, soll anschließend exemplarisch anhand des Dramas Weiss‘ „Die Ermittlung“ die Verwendung von Dokumenten in den Dramen der 60er Jahre dargestellt sowie ein Vergleich zu Piscators Zeitstücken gezogen werden.

2 Das Dokumentartheater der 20er Jahre

2.1 Die Bühne der Neue Sachlichkeit als „Schauplatz des gegenwärtigen Lebens“

Die im Expressionismus zum Ausdruck kommende Hoffnung „aus dem Chaos von Krieg und Revolution eine neue gesellschaftliche Ordnung“1718 herbeizuführen, gerät in immer größer werdenden Widerspruch zu der wirtschaftlichen und politischen Situation der damaligen Zeit. Gerade diese daraus resultierende Flucht vor der Wirklichkeit sowie jegliche „Fiktionen erscheinen nicht mehr als Verdichtung, sondern als fadenscheiniger Ersatz des wahren Lebens.“19 Gefordert wird stattdessen eine stärkere Wirklichkeitsorientierung, mithilfe derer man die Gegenwart authentisch und zuverlässig darstellen möchte, da man der Meinung ist, „[n]ichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt […]. Und nichts Sensationelleres gibt es in der Welt als die Zeit, in der man lebt!“20 So rückt an die Stelle der „ekstatische[n] Verkündung abstrakter Wahrheiten“21 die Beschäftigung mit den konkreten ökonomischen und gesellschaftlichen Problemen der Weimarer Republik. Die Revolte gegen die subjektive Kunst des Expressionismus mit ihren abstrahierenden sowie verallgemeinernden Tendenzen und gegen das damals vorherrschende Wertesystem erfolgt zunächst primär durch die Dadaisten. Denn diese halten die Autonomie der Kunst für fiktiv und bewerten die in den expressionistischen Werken zum Ausdruck kommende Sinnlichkeit und Schönheit als „ideologische Konstrukte“22, welche der Wirklichkeit nicht nur widersprechen, sondern sie gleichfalls marginalisieren und ihrer Verbesserung inhibieren. Während die Dadaisten aber die kulturellen Werte vehement ablehnen, entsteht Mitte der 20er Jahre eine Art Gleichgültigkeit, mit der man die Kunst wie Kurt Tucholsky formuliert, zwar als „nicht schädlich“23, aber „maßlos überschätzt“24 beurteilt, da man die Meinung vertritt, dass es notwendig sei, sich zunächst den Problemen der Zeit zu widmen, bevor man sich wieder mit den unbedeutenden, nebensächlichen Fragen der Ästhetik beschäftige.25

Für die literarische Epoche, die dem Expressionismus folgt, wird der Begriff „Neue Sachlichkeit“ geprägt, wobei sie sich in der zweiten Hälfte der 20er Jahre sowohl in der Literatur als auch der Kunst zur vorherrschenden Bewegung etabliert. „Die Bühne soll [nun] Schauplatz des gegenwärtigen Lebens sein“26 und damit mittels Analyse sowie Erkenntnis die nackte Wirklichkeit darstellen. Indem nun die Objektwelt in den Fokus gerät, tritt die Sache beziehungsweise das Leben selbst in den Mittelpunkt, wodurch die „Bühne der Neuen Sachlichkeit mehr eine dokumentierende als eine künstlerische Aufgabe zugewiesen bekommt.“27 In dieser durch Ernüchterung geprägten Zeit entsteht die dramatische Gattung des Zeitstücks, dessen „Gebärde […] aufklärerisch, aufsässig oder revolutionär, die Intention pädagogisch“28 ist. So wird die Wirklichkeit sowohl anhand gegebener Fakten sowie belegbarer, wiedererkennbarer Situationen kritisch analysiert als auch anschließend realistisch dargestellt, um damit auf die Probleme, Fragen und Kontroversen der Zeit aufmerksam zu machen sowie diese radikal bewältigen zu helfen. Nicht mehr die symbolisierenden Verdichtungen, sondern die „Konkretisierung des dargestellten Falles und seiner Kontextualisierung durch spezifische historische und soziale Bedingungen“29 setzt einen emotionalen Impuls an die Zuschauer in Gang. Mittels der bereits im Expressionismus erfolgten Innovationen – wie die endgültige Abschaffung des Guckkastens der bürgerlichen Bühne – kann das Theater der 20er Jahre mithilfe dieser erweiterten technischen sowie formalen, illusionsbrechenden Möglichkeiten, die Wirklichkeit auf eine ganz andere Art und Weise darstellen und somit das Publikum in das Geschehen involvieren, als dies noch im Naturalismus der Fall gewesen ist.30

2.1.1 „Die noch kaum vergangene Zeitgeschichte“

Bezüglich der Themenwahl bevorzugt das Dokumentartheater der Weimarer Republik folglich die noch kaum vergangene Zeitgeschichte.31 Die meisten der Zeitstücke der Neuen Sachlichkeit widmen sich unter anderem Gerichtsprozessen und greifen dabei die damit verbundenen Akten und Prozessberichte auf. In diesen sogenannten Justizdramen werden nicht nur Fehlurteile dargestellt, sondern gleichsam Ermittlungs- sowie Strafmethoden äußerst kritisiert, um somit die Reformbedürftigkeit der Justiz und deren Grundlagen aufzuzeigen.32 Ein weiteres zentrales Thema, das in den Zeitstücken behandelt wird, stellen die sogenannten Antikriegsstücke dar, in denen der „Krieg nicht mehr als mythische Größe, sondern in realen Wirkungen dargestellt“33 wird. Während einige dieser Stücke ganz aktuelle Ereignisse aufgreifen, beziehen sich die meisten von ihnen auf die Weltkriegsstoffe, um somit einen Vergleich zwischen Gegenwart und Vergangenheit ziehen zu können. Gerade den Revolten in der deutschen Marine wird ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit geschenkt, sodass im Jahre 1930 nahezu gleichzeitig drei Stücke dazu erscheinen.34 Die Zeitstückautoren beschäftigen sich darüber hinaus auch mit den Fragen der Erziehung der Jugend sowie der Schule, indem sie die sowohl sexuellen als auch seelischen und sozialen Probleme der Jugendlichen aufgreifen und eine Liberalisierung dieser Bereiche fordern. Stücke der zweiten Hälfte der 20er Jahre widmen sich darüber hinaus auch den technologischen und wirtschaftlichen Aspekten der Zeit sowie deren sozialen Folgen.35

Mit diesen Stoffen wird nicht nur das „Interesse an der Publikation authentischer, zuverlässiger und unmittelbar nützlicher Informationen“36 gedeckt, sondern gleichfalls ein Vorbild zur Nachahmung und Impulse zur Aktivierung der Zuschauer geschaffen. Aufgrund der bereits in den Geschehnissen vorhandenen, in Stationen einteilbaren Handlungsstruktur eignen sich diese ausgesprochen gut für eine Inszenierung, was zum Authentizitätsanspruch des Gegenstands auf der Bühne positiv beiträgt – ebenso wie das Verwenden historischer Quellen.37

[...]


1 Walter Hinck: Das moderne Drama in Deutschland. Vom expressionist. zum dokumentar. Theater. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (1973) (= (Sammlung Vandenhoeck)), S. 62.

2 Matthias Uecker: Wirklichkeit und Literatur. Strategien dokumentarischen Schreibens in der Weimarer Republik. Oxford: Lang 2007, S. 447.

3 Herbert Ihering u. Edith Krull (Hrsg.): Theater in Aktion. Kritiken aus 3 Jahrzehnten ; 1913 - 1933. 1. Aufl. Berlin: Argon-Verl. 1987. S. 284.

4 Klaus Wannemacher: Erwin Piscators Theater gegen das Schweigen. Politisches Theater zwischen den Fronten des Kalten Kriegs (1951 - 1966). Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 2002 u.d.T.: Wannemacher, Klaus: Piscator und die unbewältigte Vergangenheit. Tübingen: Niemeyer 2004 (= Theatron 42), S. 207.

5 Peter Weiss: Rapporte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968 (= Edition Suhrkamp 276), S. 91.

6 Erika Salloch: Peter Weiss' Die Ermittlung. zur Struktur des Dokumentartheaters. Frankfurt am Main: Athenäum-Verl. 1972 (= These 4), S.14.

7 Klaus Harro Hilzinger (Hrsg.): Die Dramaturgie des dokumentarischen Theaters. 1. Aufl. Thübingen: Max Niemeyer 1976 (= Untersuchungen Zur Deutschen Literaturgeschichte 15), S. 94.

8 Wolf-Heinrich Schmidt: Dokumentarliteratur und dokumentarische Bewegung. Zum Verhältnis von Literatur und Journalismus in der Sowjetunion 1925-1935. In: Zeitschrift für Slavische Philologie 55 (1995/96), S. 291.

9 Vgl. ebd., S. 291f.

10 Sergej Michajlovič Tret'jakov: Der Schriftsteller und das sozialistische Dorf. In: Die Arbeit des Schriftstellers. Aufsätze, Reportagen, Porträts. Hrsg. von Heiner Boehncke. Reinbek: Rowohlt 1972 (= Das neue Buch 3), S. 120f.

11 Vgl. Wolf-Heinrich Schmidt: Dokumentarliteratur und dokumentarische Bewegung, S. 297ff.

12 Matthias Uecker: Wirklichkeit und Literatur, S. 74.

13 Ebd., S. 75.

14 Matthias Uecker: Wirklichkeit und Literatur, S. 75.

15 Vgl. ebd.

16 Vgl. Brian Barton: Das Dokumentartheater, S. 51.

17 Walter Hinck: Das moderne Drama in Deutschland, S. 62.

18 Brian Barton: Das Dokumentartheater. Stuttgart: Metzler 1987 (= Sammlung Metzler Realien zur Literatur 232), S. 29.

19 Matthias Uecker: Wirklichkeit und Literatur, S. 82.

20 Kisch, Egon Erwin: Der rasende Reporter. Berlin 1924, S. 10.

21 Brian Barton: Das Dokumentartheater, S. 29.

22 Matthias Uecker: Wirklichkeit und Literatur, S. 80.

23 Kurt Tucholsky u. Mary Gerold-Tucholsky (Hrsg.): Gesammelte Werke. In 10 Bänden. 127. - 131. Tsd. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verl. 1987, S. 423.

24 Ebd.

25 Vgl. ebd.

26 Walter Hinck: Das moderne Drama in Deutschland, S. 62.

27 Ebd., S. 62.

28 Günther Rühle: Theater in unserer Zeit. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976 (= 325), S. 83.

29 Matthias Uecker: Wirklichkeit und Literatur, S. 444.

30 Vgl. Brian Barton: Das Dokumentartheater, S. 30f.

31 Matthias Uecker: Wirklichkeit und Literatur, S. 447.

32 Vgl. Brian Barton: Das Dokumentartheater, S. 36.

33 Walter Hinck: Das moderne Drama in Deutschland, S. 64.

34 Vgl. Matthias Uecker: Wirklichkeit und Literatur, S. 447.

35 Vgl. Brian Barton: Das Dokumentartheater, S. 38.

36 Matthias Uecker: Wirklichkeit und Literatur, S. 69.

37 Vgl. Matthias Uecker: Wirklichkeit und Literatur, S. 448.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Das Dokumentartheater der 20er und 60er Jahre. Ein Vergleich
Hochschule
Universität Regensburg  (Germanistik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2021
Seiten
22
Katalognummer
V1195895
ISBN (eBook)
9783346641069
ISBN (Buch)
9783346641076
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Dokumentartheater, dokumentarische Bewegung, Neue Sachlichkeit, Piscator, dokumentarisches Theater, Inszenierung, Die Ermittlung, Theater, Berichterstattung, Film, Montage, Ästhetisierung, Auschwitz, Dramaturgie, politisches Theater, Peter Weiss
Arbeit zitieren
Selina Kreuzer (Autor:in), 2021, Das Dokumentartheater der 20er und 60er Jahre. Ein Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1195895

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