Aufsuchende Soziale Arbeit und die Verdrängung von Problematisierten aus öffentlichen Räumen


Bachelorarbeit, 2021

64 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

1. Einleitung

2. Rahmenbedingungen

2.1 Neoliberalisierung[6]

2.2 Unternehmerische Stadt

2.3 Ordnungs- und Sicherheitspolitik

2.4 Gesellschaftlicher Diskurs

3. Forschungsstand

3.1 Aufsuchende Soziale Arbeit

3.2 Öffentliche Räume[25]

3.3 Problematisierte[28]

3.4 Verdrängung aus öffentlichen Räumen

4. Kritisch-reflexive Fachlichkeit

4.1 Rollen-Reflexivität

4.1.1 Rollen-reflexive Legitimationsarbeit

4.1.2 Programmbezug

4.1.3 Subjektorientierung

4.1.4 Normative Positionierung

4.2 Politik-Reflexivität

4.2.1 Politische Legitimationsarbeit

4.2.2 Politische Positionierung

4.3 Macht-Reflexivität

4.3.1 Systematische Kontextualisierung

4.3.2 Diskursbezug

4.4 Raum-Reflexivität

4.4.1 Zweifach analytisch-systematische Differenzierung sozialer Räume

4.4.2 Regulierungs-/Interventionsbezug

4.4.3 KlientInnenzentrierte Ortsgestaltung

5. Fazit

Literaturverzeichnis


1. Einleitung

 

Fachkräfte Sozialer Arbeit[1] agieren im strukturell verankerten Spannungsverhältnis des „doppelte[n] Mandat[s]“ (Böhnisch/Lösch 1973: 27, Zusatz von N. P.). Dieser zentrale Rollenkonflikt entsteht aus der Übernahme eines auf Adressierte[2] bezogenen, stellvertretenden Mandats einerseits, sowie einem öffentlich-rechtlichen Mandat sozialer Kontrolle andererseits (vgl. Böhnisch/Lösch 1973: 28). Diese beiden Pole, nämlich Hilfe und Kontrolle, welche die Soziale Arbeit konstituieren, existieren in einer grundlegenden und unaufhebbaren Antinomie[3] (vgl. Thieme 2017: 17). Deshalb muss ortsbezogene und somit auch Aufsuchende Soziale Arbeit sich immer wieder erneut reflektieren und positionieren (vgl. Bareis 2020: 66 f.).

 

Eine sich seit den 1900er Jahren neoliberalisierende Stadtentwicklung zieht Konflikte um öffentliche Räume nach sich (vgl. Wehrheim 2012: 21 ff.), weshalb Kontrolle zunehmend als notwendig erachtet wird (vgl. Marcuse 2003: 89). Demnach scheint soziale Kontrolle für ein friedliches demokratisches Miteinander, sowie Kriminalitäts-/Gewaltprävention und demzufolge für die Verteidigung einer öffentlichen Ordnung eine zentrale Rolle zu spielen (vgl. Body-Gendrot 2000: xx). Jedoch verschiebt sich die ‚Waage von Hilfe und Kontrolle‘ ebenfalls in der Sozialen Arbeit deutlich zur Seite der Kontrolle (vgl. Galuske 2007: 25; Dirks et al. 2015: 58), gleichwohl Hilfe als zentrale und grundlegende Handlungskategorie angeführt wird[4] (vgl. Bock/Thole 2011: 6 f.). Somit hat der bewusste, politisch gewünschte und tolerierte Ausschluss problematisierter Personengruppen in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen (vgl. Kazig et al. 2003: 98). Daraus ergibt sich für Fachkräfte eine schwierige Auseinandersetzung mit den eigenen beruflichen Erwartungshorizonten, was eine beständige innere Reflektion der fachlichen Selbstansprüche sowie der berufsbezogenen Gütekriterien erfordert (vgl. Herriger 2020: 80).

 

Zusätzlich kann zum einen davon ausgegangen werden, dass der Umgang mit gesellschaftlichen Randgruppen stets das politische und (gesamt-)gesellschaftliche Umfeld widerspiegelt (vgl. Boß 2016: 12). Zum anderen sieht sich Soziale Arbeit in jüngster Zeit durch die Erfüllung institutioneller Ansprüche, sowie dem Vollzug gesellschaftlicher Kontroll- und Anpassungsfunktionen[5] (vgl. Hofer 2020: 210), vermehrt mit der Herausforderung ordnungspolitischer Kolonialisierung des Arbeitsfeldes konfrontiert (vgl. Diebäcker 2019: 551). Hieraus kann die Forderung nach einer kritisch-reflexiven Fachlichkeit abgeleitet werden. Diesen Gedanken fortführend ergibt sich folgende Fragestellung: Welche Effekte kann eine kritisch-reflexive Fachlichkeit auf eine Praxis Aufsuchender Sozialer Arbeit haben, die sich in Verdrängungsprozessen von Problematisierten aus öffentlichen Räumen vollzieht?

 

Sich dieser Fragestellung witmend, werden einleitend die Rahmenbedingungen skizziert, innerhalb welcher eine kritisch-reflexive Fachlichkeit diskutiert wird: So vollzieht sich momentan der Prozess der Neoliberalisierung (2.1). Dieser zieht die Entwicklung einer unternehmerischen Stadt (2.2) nach sich, die wiederum die Umsetzung einer adäquaten Ordnungs-/Sicherheitspolitik (2.3) erforderlich macht. Zwecks Legitimation wird ihre Ausführung in gesellschaftlichen Diskursen (2.4) vorbereitet. Im Anschluss an die Rahmenbedingungen werden für Beantwortung der Fragestellung zentrale Begrifflichkeiten hergeleitet und der derzeitige Forschungsstand dargelegt. Hierbei handelt es sich um die Aufsuchende Soziale Arbeit (3.1), öffentliche Räume (3.2), Problematisierte (3.3) und Verdrängung aus öffentlichen Räumen (3.4). Anschließend wird der Versuch einer kritisch-reflexiven Fachlichkeit unternommen (4.). Da Gesellschaften als Herrschaftsinstitutionen verstanden werden können, die ihre Ordnungsansprüche auf unterschiedlichsten Ebenen durchsetzen (vgl. Winkler 2006: 75) und Aspekte der sozialarbeiterischen Rolle und der Politik sowie Macht- und Raumkonstellationen zentrale Aspekte Aufsuchender Sozialer Arbeit darstellen, werden entlang jener vier Unterkategorien Reflexionsfiguren zusammengefasst und ihre möglichen Effekte dargelegt. Die Unterkategorie der Rollen-Reflexivität (4.1) setzt sich aus einer Rollen-reflexiven Legitimationsarbeit (4.1.1), einem Programmbezug (4.1.2), einer Subjektorientierung (4.1.3) und einer normativen Positionierung (4.1.4) zusammen, während die Unterkategorie der politischen Reflexivität (4.2) eine politischen Legitimationsarbeit (4.2.1) und eine politische Positionierung (4.2.2) beinhaltet. Ergänzend hat eine Macht-Reflexivität (4.3) eine systematische Kontextualisierung (4.3.1) sowie einen Diskursbezug (4.3.2) inne, während abschließend die Unterkategorie der Raum-Reflexivität sich aus einer zweifach analytisch-systematischen Differenzierung sozialer Räume (4.4.1), einem Regulierungs-/Interventionsbezug (4.4.2) und einer klientInnenzentrierten Ortsgestaltung (4.4.3) ergibt. Endend wird resümiert, welche Effekte eine kritisch-reflexive Fachlichkeit auf die Praxis Aufsuchender Sozialer Arbeit haben kann (5.).

2. Rahmenbedingungen

 

Aufsuchende Soziale Arbeit vollzieht sich in der Multiskalarität und komplexen Verwobenheit des Städtischen (vgl. Diebäcker 2014: 4). In primär physisch-materiellen Räumen ist sie permanent auf komplexe und unübersichtliche Situationen sowie die Anwesenheit vieler anderer Menschen bezogen (vgl. Diebäcker 2019: 552). Aufgrund dessen erweist sie sich somit in situativen Dynamiken unterschiedlicher Interaktionsgeschehen als unplan-/kontrollierbar (vgl. ebd.). Deshalb werden im Folgenden Rahmenbedingungen skizziert, welche die aufsuchende Praxis mitkonstituieren und für eine situative Dekonstruktion eben jener hilfreich erscheinen.

 

2.1 Neoliberalisierung[6]

 

Neoliberalismus kann als neoklassische Wirtschaftstheorie verstanden werden, die sich auf den Markt als effizientes Steuerungs-, Anreiz- und Sanktionsmechanismus stützt (vgl. Willke 2003: 28). Er zielt auf die Erneuerung von Marktdynamiken und die Stärkung marktwirtschaftlicher Ordnungen durch die Deregulierung, Flexibilisierung und Entfesslung des Marktes ab (vgl. ebd.: 28 f.). Staatliche Regulierung soll durch Markt, Wettbewerb und individuelle Freiheit ersetzt werden (vgl. ebd.).

 

Nach dem zweiten Weltkrieg setzte sich im Westen zunächst der keynesianische, wirtschaftspolitisch gesteuerte Marktkapitalismus durch (vgl. Willke 2003: 31). Öffentliche Investitionen sollten die wirtschaftliche Gesamtnachfrage stützen und somit eine wirtschaftslenkende Funktion einnehmen (vgl. ebd.: 28 ff.). In seiner inhaltlichen Ausgestaltung zielte der fordistisch-keynesianische Wohlfahrtsstaat durch sozialstaatliche Interventionen auf die Schaffung einheitlicher ökonomisch-sozialer Lebensbedingungen ab (vgl. Bettinger 2008: 418). So wurde versucht, durch den Ausbau sozialstaatlicher Sicherungs- und Unterstützungssysteme, Individuen gegenüber den Risiken der vorherrschenden kapitalistischen Gesellschaftsform zu schützen (vgl. ebd.; Anhorn/Bettinger 2002b: 226 f.). Jedoch kollidierten in der globalen Wirtschaftskrise der 1970er Jahre, die als wirtschaftspolitischer Auslöser des neoliberalen Projekts verstanden werden kann (vgl. Willke 2003: 31), wohlfahrtsstaatliche Regulationsweisen zunehmend mit dem Profitinteresse des Kapitals (vgl. Hirsch 1998: 22). Daraufhin entwickelte sich eine bis in die 1990er Jahre beschleunigende Dynamik ökonomischer und sozialer Restrukturierungen (vgl. Anhorn/Bettinger 2002b: 228 f.), wodurch der keynesianische durch einen aktivierenden Sozialstaat ersetzt wurde (vgl. Dahme/Wohlfahrt 2005: 1).

 

Die erste Welle der Neoliberalisierung ging mit Privatisierung, Deregulierung und Rückführung der Staatsquote in Form vom Abbau sozialstaatlicher Ressourcen einher (vgl. Bareis 2020: 59). Parallel zu Einsparungen im öffentlichen Sektor (vgl. Zänker 1994: 211), wurde ein Marktfundamentalismus realisiert, indem sich der Staat aus der Regulierung der ökonomischen Sphäre zunehmend zurückzieht (vgl. Bettinger 2008: 419). In einer zweiten Welle erfolgte die Institutionalisierung von workfare[7], private public partnerships[8], prekären Beschäftigungsverhältnissen, Armutsfeindlichkeit und Punitivität (vgl. Bareis 2020: 59). Demnach sollten besagte marktliche Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung, gepaart mit staatlichen Leistungsanreizen, für wachsendes Wirtschaftswachstum sorgen und die Effektivität sowie Effizienz des Sozialsystems steigern (vgl. Butterwegge 2001: 84). Strukturelle Probleme des Sozialstaats sollen bewältigt werden (vgl. Bettinger 2008: 418), indem der Markt, auch in zuvor abgeschirmten Bereichen[9], eine steuernde Funktion übernimmt, während der ‚Mini-Sozialstaat‘ sich lediglich an den sozialen Grundbedürfnissen der BürgerInnen orientiert (vgl. Zänker 1994: 211). In der Konsequenz haben sich alle gesellschaftlichen Teilbereiche nach Marktgesetzen zu richten (vgl. Butterwegge 2001: 84), sodass Sozialpolitik und Soziale Arbeit dem Primat der Ökonomie untergeordnet werden (vgl. Bettinger 2008: 417 ff.).

 

Besagte Ökonomisierung aller Gesellschaftsbereiche nach dem privatkapitalistischen Marktmodell und die Generalisierung seiner betriebswirtschaftlichen Effizienz- und Konkurrenzmechanismen (vgl. Butterwegge 2002: 82) ruft eine zunehmende soziale Spaltung, sich vergrößernde soziale Ungleichheiten und Risiken, Armut sowie Arbeitslosigkeit hervor (vgl. Bettinger 2008: 417 ff.). Die Logik von workfare und Selbstverantwortlichkeit kombiniert mit einer abnehmenden Bereitstellung von sozialer Infrastruktur erhöht den Druck auf Privatpersonen (vgl. Bareis 2020: 60), sodass mit der neoliberalen Logik der Zwang zur Marktpartizipation einhergeht, dem die Menschen schutzlos ausgeliefert sind (vgl. Butterwegge 2001: 84). Infolgedessen wird sozialpolitische Verantwortung vom Staat an Bedürftige zurückgegeben, welche sich mit eigener Kraft aus ihrer Zwangslage befreien sollen (vgl. ebd.). Auch die Soziale Arbeit hat eine Transformation zur ‚aktivierenden Sozialen Arbeit‘ vollzogen und kann somit als konsequente Fortsetzung einer aktivierenden sozialstaatlichen Politik verstanden werden (vgl. Dahme/Wohlfahrt 2005: 1 f.). Bisher gültige Prinzipien gesellschaftlicher Solidarität weichen der Forderung nach Aktivierung und Effizienz, somit also vorgegebenen Nützlichkeitskriterien, sodass sich in der Konsequenz die Abgabe von sozialstaatlicher Verantwortlichkeit an Privatpersonen vollzieht (vgl. ebd.).

 

„Wer trotzdem weiterhin auf staatliche Leistungen angewiesen bleibt, soll eine konkrete Gegenleistung erbringen […]. Wer dagegen Sozialleistungen ohne Gegenleistung[10] beansprucht, wer nicht „wirklich bedürftig“ ist, der wird neuerdings zunehmend in die Nähe von Delinquenz gerückt […]“ (Dahme/Wohlfahrt 2005: 1).

 

Im Rahmen des Neoliberalismus können jene ‚sozialen Probleme‘ als Einfallstor für ordnungspolitische Manöver verstanden werden, welche die Ausschließung ökonomisch nicht mehr benötigter Bevölkerungsteile legitimieren (vgl. Stehr/Schimpf 2012: 24). Dies macht die Reflexion Sozialer Arbeit vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse erforderlich (vgl. Diebäcker 2019: 551).

 

2.2 Unternehmerische Stadt

 

Eine prägnante Konsequenz der Neoliberalisierung ist die selbstverständliche Adressierung der Stadt[11] als Unternehmen im Wettbewerb mit anderen Städten (vgl. Bareis 2020: 59). Transnationale Unternehmen agieren in einer globalisierten Ökonomie, wodurch Produktions- und Investitionsmöglichkeiten zunehmend mobiler werden, was zu wachsenden wirtschaftlichen Unsicherheiten führt (vgl. Hubbard/Hall 1998: 6). Daher ergreift die unternehmerische Stadtpolitik Maßnahmen, um Kapital im globalen Konkurrenzkampf anzuziehen (vgl. ebd.). Im Sinne einer ‘think global, act local‘-Rhetorik (vgl. ebd.) werden Kommunen und Regionen dazu angehalten, ihr eigenes Wirtschaftswachstum zu forcieren, zu fördern und zu steuern (vgl. Heeg/Rosol 2007: 492 f.), womit das Ziel verfolgt wird global agierendes Kapital zu akkumulieren (vgl. Hubbard/Hall 1998: 2). Harvey drückt es folgendermaßen aus:

 

„[…] the new entrepreneurialism has, as its centerpiece, the notion of a „public-private partnership“ in which a traditional local boosterism is integrated with the use of local governmental power to try and attract external sources of funding, new direct investments, or new employment sources“ (Harvey 1989: 7).

 

Demnach sehen sich Städte mit einem verschärften, den Umständen der voranschreitenden Globalisierung geschuldeten, Standortwettbewerb sowie einer anwachsenden Städtekonkurrenz ausgesetzt (vgl. Heeg/Rosol 2007: 492). Hieraus resultiert, dass der Ausbau des städtischen Potenzials durch Aufwertungsprozesse vorangetrieben wird (vgl. ebd.). Dies soll einerseits durch die Verbesserung von Standortfaktoren[12] und andererseits durch die Betreibung von Imagepolitik erreicht werden (vgl. Mayer 1990: 195 ff.; Hubbard/Hall 1998: 5 ff.). Hierbei werden Differenzen und natur-/kulturräumliche Eigenschaften jeweiliger Orte betont, stilisiert und produziert (vgl. ebd.). Insofern stellen öffentliche Räume strategische Orte dar, an denen Ordnung sichtbar werden soll (vgl. Diebäcker 2020: 29). Sie fungieren also als diskursive Folie der Imageproduktion (vgl. ebd.: 28). Bei besagter Ordnung handelt es sich folglich um öffentliche Ordnung, die, infolge der Durchsetzung und Aufrechterhaltung einer Gesamtheit unterschiedlicher und ungeschriebener Regeln, als geordnetes menschliches Zusammenleben innerhalb eines bestimmten Gebietes verstanden werden kann (vgl. Schümchen 2006: 207).

 

Dieser Logik entsprechend ergibt sich eine Universalisierung der Standortlogik, bei der sämtliche Politikbereiche in die Bewertung der standortpolitischen Positionierung einer Stadt im interkommunalen Wettbewerb einfließen und aufgrund dessen systematisch die Bedürfnisse der Ober-/Mittelschicht auf Kosten einkommensschwacher Haushalte fokussiert (vgl. Schipper 2018a: 148 f.). In Folge einer zwangsläufigen Annäherung des politischen und privatwirtschaftlichen Sektors, kommt es zu einer undurchsichtigen Vermengung der Akteure (vgl. Hubbard/Hall 1998: 9). Aus dieser Konvergenz von politischen und privatwirtschaftlichen Interessen resultiert eine erhöhte Kontrolle der politischen Strukturen durch Geschäftsleute der neuen Bourgeoisie (vgl. Saunders 1979: 324), was den Zugang zur lokalpolitischen Partizipation ungleich gestaltet. Mit der Suggestion, dass die unternehmerische Stadt im Interesse der Allgemeinheit agiere, geht weiterführend eine Postdemokratisierung einher, da sich die Politik in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung nicht mehr nach den Wünschen der breiten BürgerInnenschaft, sondern sich an den vermeintlich unausweichlichen Veränderungszwängen von Globalisierung und Wettbewerb orientiert (vgl. Schipper 2018a: 147 f.). Auf diesem Wege reduziert sich (Kommunal-)Politik auf die alternativlose Anpassung an übergeordnete Sachzwänge, was zum Legitimitätsverlust demokratischer Entscheidungsprozesse führen kann (vgl. ebd., Schipper 2018b). Deshalb muss an dieser Stelle die Frage nach den gesellschaftlichen Machtverhältnissen gestellt werden, die den Sachzwängen innewohnen, weil sie im Interesse Weniger entstandene gesellschaftliche Verhältnisse als natürlich und alternativlos erscheinen lassen (vgl. Schipper 2018a: 149).

 

Beschriebene Modernisierungsprozesse ziehen die Vermehrung von Reichtum in gleichem Maße nach sich wie die Vermehrung von Armut (vgl. Wehrheim 2012: 26). Das Bild gesellschaftlicher Randgruppen und Erscheinungen sozialen Elends stellen sich demnach als abträglich für ein repräsentatives Stadtbild dar, weshalb unerwünschte Personen durch Sicherheits- und Ordnungspolitik aus öffentlichen Räumen verdrängt werden (vgl. Heeg/Rosol 2007: 495; Ronneberger et al. 1999: 151; Schipper 2018b). Die Privatisierung öffentlicher Räume im Rahmen der unternehmerischen Stadt sowie ihre ordnungspolitische Regulierung, die im folgenden Kapitel diskutiert wird, sind zentrale Mechanismen, um unerwünschte Personen aus öffentlichen Räumen zu verdrängen (vgl. Kazig et al. 2003: 98).

 

2.3 Ordnungs- und Sicherheitspolitik

 

Innerhalb der lokalen Staatsapparate hat sich eine neoliberale Sicht auf städtisches Regieren durchgesetzt und erscheint daher gewissermaßen natürlich und alternativlos (vgl. Schipper 2018a: 149), aus welchem Grund sich gegenwärtig Politiken im Namen der Aufwertung und Sicherheit öffentlicher Räume verschränken (vgl. Diebäcker/Wild 2020: 5). Nach einer toleranten Phase in den 1970er und frühen 1980er Jahren nehmen sowohl Kontroll-, als auch Vertreibungsmaßnahmen seit Mitte der 1990er Jahre zu (vgl. Simon 2006: 25). Ebenso expandieren Maßnahmen repressiver Interventionen in städtischen Räumen (vgl. Wehrheim 2012: 53). Soziale Kontrolle wird intensiviert, wobei sich sozialpolitische, sozialarbeiterische, stadtplanerische, ordnungspolitische, polizei- und strafrechtliche Maßnahmen vermengen (vgl. Simon 2006: 25). So werden in öffentlichen Räumen Beziehungen von Normalität und Abweichungen konstruiert, Mehr-/Minderheitsverhältnisse kalkuliert, diskursiv vermittelt und zu Lasten der als abweichend Markierten durchgesetzt, sodass jene Räume als Kristallisationspunkte eines neoliberalen Sicherheitsdispositives verstanden werden können (vgl. Diebäcker 2020: 29 f.). Restriktive Maßnahmen[13] in zentralen Lagen und attraktiven Quartieren verdeutlichen eine Verschränkung ökonomischer Aufwertungsstrategien mit politischen Legitimationsversuchen im Namen innerer Sicherheit (vgl. ebd.). Aufgrund dessen sieht sich Soziale Arbeit mit den Herausforderungen der ordnungspolitischen Kolonialisierung und Instrumentalisierung des Arbeitsfeldes konfrontiert (vgl. Simon 2006: 25).

 

Eine sich globalisierende Welt fördert eine Verbreitung realer Unsicherheiten, in der Identitäten gefährdet werden und Gewissheiten sich verflüchtigen (vgl. Marcuse 2003: 101). Lebensentwürfe, berufliche Werdegänge und soziale Sicherheiten gestalten sich als instabil, sodass die Angst des sozialen Abstiegs in vielen Köpfen der Mittel-/Unterschicht präsent ist (vgl. Wehrheim 2012: 27). In der Konsequenz verlangt es den Menschen zusehends nach Sicherheit (vgl. Simon 2001: 20). Besonders physische Sicherheit, im Sinne körperlicher Unversehrtheit sowie Schutz des Eigentums und der individuellen Freiheit vor bedrohlichen Handlungen Anderer, wird umso vehementer gefordert, wenn soziale Sicherheit, im Sinne sozialer Absicherung und Einbindung, nicht mehr gewährleistet ist (vgl. Wehrheim 2012: 28).

 

Allerdings ist Sicherheit nicht als feststehende Begrifflichkeit zu verstehen, da der objektive und allgemeingültige Sicherheitsbegriff nicht existiert (vgl. Frevel 2016: 6). Es gibt lediglich unterschiedliche Vorstellungen von Sicherheit und welche Vorstellung den aktuellen Diskurs bestimmt, ist abhängig von politischen Machtkonstellationen und mehrheitsgesellschaftlichem Normalitätsempfinden (vgl. Reutlinger 2020: 42). Sprechen Personen von real erlebten oder imaginierten Bedrohungsgefühlen, geht es immer auch um die Ansprüche, die sie an ‚ihren‘ Raum erheben (vgl. Böhnisch 1998: 87). Wenn also Formen der Nutzung und Aneignung öffentlicher Räume vorherrschenden Normalitätserwartungen nicht entsprechen, werden sie als kriminell und gefährlich, als problematische Unsicherheitsfaktoren empfunden (vgl. Stangl et al. 1996: 12 f.; Kemper/Reutlinger 2015: 17 f.).

 

Entsprechend der im vorangegangen skizzierten neoliberalen und stadtunternehmerischen Veränderungen, erhöht sich zum einen der Druck des sozioökonomischen Wettbewerbs auf nationalstaatlicher, regionaler, städtischer, innerstädtischer und lokaler Ebene (vgl. Eick 2011: 300). Zum anderen steigen die Anforderungen an kommunale Regelungs- und Steuerungsinstanzen (vgl. ebd.). Durch Prozesse neoliberaler Globalisierung in Kombination mit nationalstaatlicher Reorganisation werden Entscheidungskompetenzen zunehmend auf sub-/supranationale Ebenen verlagert (vgl. Brenner 2004), wodurch Ordnungs-/Sicherheitspolitiken (re)kommunalisiert werden (vgl. Ronneberger et al. 1999: 152). Während sich alltagspraktisch klare Unterscheidungen der Kategorien Straftat, Ordnungsverstoß oder unanständiges Verhalten zunehmend auflösen und die als ‚unakzeptabel‘ geltenden Verhaltensweisen ansteigen (vgl. Eick 2011: 301), vollzieht sich eine ‚Verpolizeilichung‘ der BürgerInnen (vgl. ebd.: 303). Gesetze werden gemeinschaftlich und proaktiv mit und von BürgerInnen interpretiert, um Eigenverantwortung, Selbstsorge und Zivilcourage in einer ‚neuen Gemeinschaftlichkeit‘ zu fördern, da die Polizei allein nicht mehr für Sicherheit sorgen kann (vgl. ebd.: 301). Demnach liegt im Sinne des Community Policing[14] die Definitionsmacht über (un)problematische Verhaltensweisen auf der Ebene lokal ansässiger Bevölkerungsgruppen (vgl. Eick 2011: 301). Dies kann dahingehend als problematisch verstanden werden, dass der Ruf nach Ordnung und Sicherheit ebenso ein Mittel zur Diskriminierung anderer Bevölkerungsgruppen darstellen kann (vgl. Roller 1998: 26) und sich Macht für gewöhnlich gegen untergeordnete und ausgeschlossene (Personen-)Gruppen richtet (vgl. Hall 2018: 144).

 

Weiterführend wird in kontroversen Debatten über die ‚Versicherheitlichung‘ öffentlicher Räume durch raumgestalterische und nutzungsregulierende Maßnahmen diskutiert (vgl. Klamt 2012: 796). So können öffentliche Räume auf Menschen in zweierlei Weisen verunsichernd wirken: einerseits durch räumliche Bedingungen, wie Unübersichtlichkeit (vgl. Roller 1998: 24) oder Fluchtblockaden, und andererseits durch die Konfrontation mit sozialen Differenzen (vgl. Klamt 2012: 796). Dahingegen kann ein Gefühl der Sicherheit in öffentlichen Räumen durch den Aufenthalt von Menschen hervorgerufen werden (vgl. Kazig et al. 2003: 98). Jedoch halten sich Menschen immer häufiger in geschlossenen Räumen auf, was zur Folge hat, dass diese Innenraumorientierung eine zurückgehende Frequentierung öffentlicher Orte nach sich zieht (vgl. ebd.). Dies wiederum kann Unsicherheitsgefühle und die Angst vor kriminellen Handlungen fördern (vgl. ebd.). Aufgrund dessen wird die Bevölkerung vermehrt mit verräumlichten Sicherheitsstrategien regiert (vgl. Germes 2014: 10). Ebenso werden soziale Phänomene auf räumliche reduziert und auch als solche gehandhabt (vgl. Belina 2007: 224). Demnach werden gegenlenkende Maßnahmen ergriffen, welche nicht die Gründe sozialer Problemlagen fokussieren, sondern lediglich ihren räumlichen Niederschlag beeinflussen, indem ungewollte Erscheinungen sozialer Misslagen konzentriert/zerstreut oder eingehegt/verlagert werden (vgl. ebd.). Marc Diebäcker[15] schreibt dazu:

 

„Die Angst, von dem personalen, erkennbaren, gefährlichen Anderen erfordert staatliche Schutzmaßnahmen vor Situationen der physischen Begegnung im Raum“[16] (Diebäcker 2014: 117 f.).

 

Auf diese Weise kann Politik Handlungsfähigkeit demonstrieren, was sie auf dem Gebiet sozialer Sicherheit nicht vermag (vgl. Wehrheim 2012: 28). Ergänzend stellen verräumlichte Kriminalpolitik und Soziale Arbeit kostengünstige und einfache Methoden dar, um soziale Probleme zu verwalten, ohne dabei einen tatsächlichen Problemlösungsversuch zu unternehmen (vgl. Belina 2007: 224).

 

Dementsprechend werden Sicherheitsräume als Territorien der Normalisierung geschaffen; also als Räume der (Risiko-)Kontrolle von individuellen sowie kollektiven Verhaltensweisen (vgl. Kessl 2017: 241). Um diese Räume einzurichten, werden raumorientierte kriminalpolitische Präventionsstrategien, wie beispielsweise der broken windows-Ansatz oder zero tolerance Politik, genutzt.

 

Der broken windows-Ansatz geht von einer Verbindung von Unordnung und Kriminalität aus, wonach materielle Unordnung[17] soziale Unordnung, also unordentliches Verhalten nach sich zieht (vgl. Kelling/Wilson 1982). Ist demgemäß ein Gebäudefenster zerbrochen und wird an diesem Zustand nichts geändert, signalisiert dies mangelnde Kontrolle und es wird davon ausgegangen, dass es niemanden stört, sodass in kurzer Zeit weitere Gebäudefenster zerbrochen werden. Den Gedanken fortführend wird sich also Kriminalität an Orten etablieren, an denen sich unordentliches soziales Verhalten unkontrolliert vollziehen kann und nicht sanktioniert wird.

 

Die repressive zero tolerance Politik (vgl. Legge 1997: 116) geht auf die Polizeistrategie der 1990er Jahre des ehemaligen New Yorker Bürgermeisters Rudy Giuliani zurück (vgl. Marcuse 2003: 92) und zielt auf die Reduktion objektiver Unsicherheitslagen (vgl. Legge 1997: 110). Mittels ausschließlich polizeilicher Lösungen wird gegen kleinste Ordnungsverstöße vorgegangen (vgl. Wehrheim 2012: 82). In ihrem Kern allerdings zielen diese Raumstrategien lediglich auf die Kriminalisierung substrafrechtlicher Verhaltensweisen[18]  ab, wodurch Gruppen kriminalisiert und somit marginalisiert werden, wenn sie eben jene Verhaltensweisen zeigen bzw. wenn sie ihnen zugeschrieben werden (vgl. Schmincke 2009: 78).

 

So steht die Freihaltung abstrakter Raumausschnitte von Menschen mit bestimmten äußeren Merkmalen ebenso im Zentrum einer verräumlichten Sicherheitspolitik (vgl. Belina 1999: 61 ff.), wie es einen zentralen Aspekt der Polizeiarbeit darstellt, sich in unerwünschter Weise verhaltende Menschen, insbesondere aus stark frequentierten, öffentlichen Räumen mit repräsentativem Charakter, zu vertreiben (vgl. Germes 2014: 12). Somit kümmert sich die Polizei im Kern um die Entstörung einer sich gestört fühlenden Öffentlichkeit (vgl. Geiger 1996: 30). Durch den Einsatz angeblicher Maßnahmen gegen Kriminalität wird soziale Kontrolle über den städtischen Raum etabliert (vgl. Marcuse 2003: 93). Aufgrund dessen übt lokale Kriminalpolitik erheblichen Einfluss auf das Leben von Randgruppen aus (vgl. Simon 2001; Belina 2006).

 

2.4 Gesellschaftlicher Diskurs

 

In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass sich der Gegenstand Sozialer Arbeit diskursiv, über soziale Wirklichkeit konstruierendes sprachvermitteltes Wissen, konstituiert (vgl. Anhorn/Bettinger 2002a: 16). Somit determinieren Diskurse Realität über die in ihren gesellschaftlichen Kontexten tätigen Subjekte (vgl. Jäger 2015: 35). Sie transportieren Wissen als kollektive und individuelle Bewusstseinsinhalte, mit welchen Realität gedeutet und gestaltet wird (vgl. Jäger 2001: 81). Weiterführend ist der Diskurs von hoher Relevanz, da soziale Kontrolle und Machtverhältnisse diskursiv über symbolische Praktiken und Kommunikation vermittelt werden (vgl. Anhorn/Bettinger 2002a: 16). Dadurch prägen sie den Alltag der Subjekte (vgl. Bettinger 2008: 431 f.). In besagten Diskursen wird kontrovers über die ‚Versicherheitlichung‘ öffentlicher Räume diskutiert, wodurch nicht mehr konkrete Taten, sondern abstrakte Raumausschnitte Gegenstand staatlicher Sicherheitspolitik werden (vgl. Belina 1999: 61 ff.). Hierin lässt sich eine diskursive Fokusverschiebung, weg von bestimmten kriminalisierten Phänomenen, hin zu subjektiven Angstempfindungen der Bevölkerung nachzeichnen (vgl. Böhnisch 1998: 82, Ronneberger et al. 1999: 139).

 

Weiterführend können moderne Gesellschaften als Medien-/Informationsgesellschaften angesehen werden (vgl. Winkler 2006: 57; Castells 1997: 102 ff.). Deshalb entsteht bedeutsame politische Öffentlichkeit zunehmend in virtuellen Medien (vgl. Simon 2007: 158; Winkler 2008: 116 f.). Dort tragen Darstellungen von realen oder scheinbaren Kriminalitätsschwerpunkten zur Konstruktion von sogenannten ‚Angsträumen‘ (vgl. Klamt 2012: 796; Wehrheim 2012: 48) sowie zur Verbreitung und Manifestation von Stereotypen bei (vgl. Wehrheim 2012: 31). Zum einen steigt dadurch das Unsicherheitsempfinden der BürgerInnen (vgl. Ronneberger et al. 1999: 176 f.), während zum anderen eine mittels intensiverer Problematisierung diskursiv vorbereitete ordnungspolitische Verdrängung Problematisierter aus öffentlichen Räumen ermöglicht wird (vgl. Diebäcker 2020: 30).

 

Der Kampf um politische Macht und staatliches Handeln ist ein Kampf um Deutungsmacht und die politische, institutionelle und handlungspraktische Durchsetzung dieser Deutungsmacht (vgl. Bettinger 2008: 435 f.), wodurch sie durch sprachvermitteltes Wissen diskursive gesellschaftliche Wirklichkeit herstellt (vgl. ebd.: 420). Normalitätsvorstellungen werden politisch-medial vermittelt und konstruieren auf diese Weise den Diskurs (vgl. Diebäcker 2020: 34), der wiederum soziale Problemlagen konstruiert (vgl. Bettinger 2008: 435) und soziale Gruppen als ‚gefährlich‘ oder ‚deviant‘ definiert, was Kontroll- und Repressionsmaßnahmen gegenüber den Problematisierten legitimiert (vgl. Böhnisch 1998: 86). Wie Marc Diebäcker treffend darlegt:

 

„Indem räumlich lokalisierte Differenzbildungen aufgenommen werden und als Problematisierung des abweichenden Anderen politische Relevanz erfahren, können Figuren von Gefahr, Krise und Risiko diskursiv verstärkt sowie staatliche Praktiken im Sinne von Gesetzesänderungen oder Interventionen in territorialen Räumen legitimiert werden“ (Diebäcker 2014: 116).

 

Demnach werden Verdrängungsprozesse dann initiiert, wenn Verhaltensweisen oder Erscheinungsbilder von Personen nicht dem Werte- und Normsystem der Mehrheitsgesellschaft entsprechen (vgl. Boß 2016: 19). Dadurch werden vermeintlich deviante Mitglieder der Gesellschaft exkludiert, während die Inklusion vermeintlich normaler Gesellschaftsmitglieder gefestigt wird (vgl. Hall 2018: 143 ff.). Somit kann darauf geschlossen werden,

 

„[…] dass die gesellschaftlich gehandelten „sozialen Probleme“ Zurichtungen der sozialen Wirklichkeit darstellten, die auf die gesellschaftlichen Kontrollinstitutionen bezogen waren. Aus dieser […] Perspektive waren folglich „soziale Probleme“ keine neutralen oder objektiven Beschreibungen problematischer Sachverhalte mehr, sondern höchst interessierte und von Moral durchzogene Konstrukte, die sich mit den gesellschaftlichen Macht-, Herrschafts- und Ungleichheitsstrukturen – vor allem über die soziale Selektivität der Problemdiagnosen und den daran anschließenden Kontrollmaßnahmen – wirkmächtig verbanden“ (Stehr/Schimpf 2012: 29).

 

Besagte ‚soziale Probleme‘ dienen demzufolge als Legitimationskategorie für stigmatisierenden und ausschließenden Zugriff auf marginalisierte Personen (vgl. Killian/Rinn 2020: 405).

 

Somit ist es eine Frage der sozialen Position, wie groß oder klein die Chance ist, die Thematisierung von Situationen durchzusetzen (vgl. Winkler 1988: 173), sodass der Diskurs als Ausdruck von Herrschaftsverhältnissen verstanden werden kann (vgl. Berg/Wehrheim 2016: 10). Die den Diskurs bestimmenden Vorstellungen, beispielsweise von Sicherheit, sind abhängig von politischen Machtkonstellationen sowie den mehrheitsgesellschaftlichen respektive ober-/mittelschichtlichen Normalitätsempfindungen (vgl. Reutlinger 2020: 42). Daraus folgt, dass diskursiv problematisierte, kriminalisierte und vormals tolerierte Nutzungsformen öffentlicher Räume erstrebenswerten bourgeoisen Nutzungspräferenzen gegenübergestellt werden, wodurch Verdrängungsakte legitimiert werden (vgl. Diebäcker 2020: 30). Durch diese Gegenüberstellungen werden gesellschaftliche Machtstrukturen reproduziert, indem festgelegt wird, was als normal und was als abweichend gilt; wer innerhalb und wer außerhalb der Gesellschaft steht (vgl. Ronneberger et al. 1999: 177). Auf diese Weise bestätigt sich eine gesellschaftliche Gruppe als ‚Wir‘, denen gegenüber die ‚Anderen‘ stehen (vgl. Benedik 2015: 87), sodass der geführte Diskurs als hegemonial beschrieben werden kann (vgl. Böhnisch 1998: 92). Diskutierende beziehen sich wechselseitig auf den bereits stattfindenden Diskurs und stellen in ihren persönlichen Haltungen, Aussagen und Praxen gesellschaftlichen Konsens her, auf den sich wiederum andere beziehen (vgl. ebd.: 92), sodass der Ausschluss ‚gefährlicher‘ Menschen normalisiert wird (vgl. ebd.: 98).

3. Forschungsstand

 

Um die Frage nach den Effekten einer kritisch-reflexiven Fachlichkeit auf die Praxis Aufsuchender Sozialer Arbeit in der Verdrängung Problematisierter aus öffentlichen Räumen zu beantworten, bedarf es der Darlegung des derzeitigen Standes der Forschung. Dieser wird im Folgenden ebenso skizziert wie zentrale Begrifflichkeiten.

 

3.1 Aufsuchende Soziale Arbeit

 

Unter Aufsuchender Sozialer Arbeit[19] wird das kontinuierliche und gezielte Aufsuchen von Menschen in ihren selbstgewählten Räumen verstanden (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Streetwork/Mobile Jugendarbeit 2018: 8), wobei es sich zumeist um Adressierte handelt, deren Lebenswelt sich mehrheitlich in (halb-)öffentlichen Räumen konstituiert (vgl. ebd.: 3). Die Tätigkeit der Fachkräfte[20] verlagert sich in die Lebenswelten der Adressierten(-gruppe), welche den Ort Sozialer Arbeit somit vorgeben (vgl. Gusy 2020). Dort werden Kontakte zu Personen aufgebaut, die das etablierte Hilfesystem nicht nutzen (vgl. ebd.). Fachkräfte erleben demnach die Lebenswelten ihrer Adressierten in einer Gastrolle und aktualisieren fortlaufend ihre Kenntnisse über diese, um fehlende bzw. mangelnde soziale (Infra-)Strukturen zu erkennen und zu benennen (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Streetwork/Mobile Jugendarbeit 2018: 8). Sie agieren in sogenannten ‚Gehstrukturen‘, indem sie mit ihrem Angebot dorthin gehen, wo Adressierte sich aufhalten (vgl. Höllmüller 2019). In der Regel existieren Arrangements zwischen Einrichtungen und aufsuchender Praxis (vgl. Klose/Steffan 2005: 306), um ergänzende ‚Kommstrukturen‘ in Form von u. a. Kontaktstellen, Beratungsräumen oder Ambulanzen zur Verfügung zu stellen (vgl. Höllmüller 2019). Aufsuchende Soziale Arbeit ist in Programmen der Sucht-, Wohnungslosen-, Jugend- und Drogenhilfe (vgl. Mayrhofer 2012: 180) sowie der milieuspezifischen Arbeit[21] implementiert (vgl. Schneider 1997; Voß 1997).

 

Als klassische und handlungsleitende Arbeitsprinzipien können u. a. Bedürfnis-/Lebensweltorientierung, Parteilichkeit für die Adressierten und Anonymität genannt werden (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Streetwork/Mobile Jugendarbeit 2018: 5 ff.; Klose/Steffan 2005: 308). Demgemäß können Sozialarbeitende als primär den Adressierten und ihren Bedürfnissen, sekundär dem Staat in seiner rechts- und sozialstaatlichen Ausgestaltung und tertiär dem Kodex der Sozialen Arbeit u. a. basierend auf den Menschenrechten verpflichtet verstanden werden (vgl. Howe 2015: 44). Besagte Arbeitsprinzipien helfen bei der Herstellung von sowohl Niederschwelligkeit als auch Lebensweltorientierung und erleichtern den Eingriff in schwer zugängliche soziale Beziehungen (vgl. Diebäcker/Wild 2020: 2 f.). Charakteristika Aufsuchender Sozialer Arbeit sind anvisierte Zielgruppen, Hin-/Suchbewegungen der Fachkräfte, Kontaktaufnahme am Aufenthaltsort der Adressierten sowie Beziehungsetablierung als Grundlage für Unterstützungsleistungen (vgl. Diebäcker 2019: 543). Als Ziel Aufsuchender Sozialer Arbeit kann die Stärkung von Entscheidungs- und Handlungskompetenzen der Adressierten ausgerufen werden, um gesundheitliche Risiken zu minimieren, respektive ihre Verschlechterung zu verhindern (vgl. Gusy 2020).

 

Aufgrund dessen werden psychosoziale und gesundheitsbezogene Angebote als Kernelemente Aufsuchender Sozialer Arbeit an Menschen herangetragen, die von etablierten Versorgungssystemen nicht (mehr) erreicht werden (vgl. ebd.). Demgemäß greifen die wenig formalisierten Settings und Interaktionen Aufsuchender Sozialer Arbeit fließend und dynamisch ineinander, sodass das ‚Eindringen‘ der Fachkraft in ein soziales Gefüge an einem Ort, dem spezifische Normen zugrunde liegen, mit taktisch-kommunikativen Anpassungsleistungen verbunden ist (vgl. Diebäcker 2019: 543 f.). In der Praxis agieren aufsuchend Sozialarbeitende also in kontextspezifischen und situativen Handlungsspielräumen, in denen sie aus der Interaktion mit anderen AkteurInnen Problematisierungen hervorbringen, Ziele definieren, Interventionsanlässe wählen sowie Handlungsstrategien einsetzen (vgl. Killian/Rinn 2020: 406).

 

Der Fachdiskurs Aufsuchender Sozialer Arbeit hat sich in den 2000er Jahren kaum weiterentwickelt (vgl. Diebäcker 2019: 540). Gesellschaftliche Ausgrenzung und die schwierige Erreichbarkeit von Adressierten stellt demnach fachdiskursiv immer noch eine wesentliche Legitimationsfigur für Aufsuchende Soziale Arbeit dar (vgl. Fülbier/Steimle 2002: 596 f.), während raumrelationale Zugänge zwecks gesellschaftlicher Kontextualisierung von alltagsnahen Fallsituationen als hilfreiche Optionen diskutiert werden (vgl. Diebäcker 2019: 552). So positioniert sich Aufsuchende Soziale Arbeit als niederschwelliges Angebot, das die ‚letzte Möglichkeit‘ für Marginalisierte, Ausgeschlossene und Problematisierte darstellt, sozialstaatliche Unterstützungsangebote sowie Ressourcen, in Anspruch zu nehmen (vgl. Diebäcker 2019: 542; Diebäcker/Wild 2020: 1). Im Hinblick auf soziale Inklusion erscheint sie aufgrund ihrer Alltagsnähe, Bildungs-, Vermittlungs- und Versorgungsfunktion unentbehrlich (vgl. Diebäcker 2019: 542). Hingegen werden Standards, der sich zwischen Akzeptanz und Grenzziehung bewegenden Beziehungsverhältnisse, nur selten konkretisiert, womit Ambivalenzen des Tätigwerdens unreflektiert bleiben (vgl. Wild 2013: 230 f.).

 

Ergänzend trägt Aufsuchende Soziale Arbeit durch ihre Lebensweltnähe Kontrollelemente näher an den Alltag der Adressierten heran (vgl. Galuske 2013: 298). Auf diese Weise kann sie sich als staatliche Praxis ihrer strategisch-räumlichen und ordnungspolitischen Einbettung in das Regieren über Sicherheit und soziale (Nah-)Räume nicht entledigen (vgl. Diebäcker 2014: 116 ff.). Soziale Arbeit bearbeitet die „Grenzen des Sichtbaren“ (Dirks et al. 2015: 57) und somit die Frage, was gesellschaftlich existent erscheinen kann und soll, womit sie zu einer (Re)Produzentin öffentlicher Ordnung wird (vgl. ebd.). Christian Reutlinger[22] beschreibt, im Anschluss an Marc Diebäcker, die Rolle Sozialer Arbeit im sozialräumlichen Sinne als Einfügerin abweichender Personen, die durch eine spezifische Form der Beeinflussung räumliche Ordnung herstellt (vgl. Reutlinger 2020: 40). Insofern ließ die fachdiskursive Überbetonung normativer Zielformulierungen[23] vermeintlich kontrollierende und ordnende Anteile Aufsuchender Sozialer Arbeit in den Hintergrund rücken und vernachlässigte komplexe raumregulierende Arrangements (vgl. Diebäcker 2014: 64, 2019: 542).

 

Angebote Aufsuchender Sozialer Arbeit können bezüglich ihres räumlich-territorialen Aufsuchungsmodus differenziert werden. Demnach beziehen sich gebiets-/orts-/raumorientierte Projekte auf größere Gebiete und konkrete Orte, wie Bahnhöfe oder den Straßenstrich (vgl. Diebäcker/Wild 2020: 2; Klose/Steffan 2005: 308). Hierdurch werden ihnen neue Aufgaben im Sinne der Sicherheitsproduktion übertragen (vgl. Diebäcker 2020: 34). Im Zuge dessen trägt Soziale Arbeit zur Aufwertung urbaner Areale bei, wodurch ihre Adressierten nicht als Menschen mit Problemen verstanden werden, sondern zum Problem gemacht werden, solange sie an bestimmten öffentlichen Orten sichtbar sind (vgl. Dirks et al. 2015: 57). Routen- (vgl. Diebäcker/Wild 2020: 2) respektive zielgruppenorientierte Projekte (vgl. Klose/Steffan 2005: 308) hingegen suchen unterschiedliche Gegenden und Treffpunkte in der gesamten Stadt auf (vgl. Diebäcker/Wild 2020: 2). Auf der fachlich-praktischen Ebene ist momentan eine Verschiebung von einer unterstützenden, niederschwelligen AdressatInnenorientierung zu einer Konflikte schlichtenden, territorial-räumlichen Orientierung zu konstatieren, woraus sich eine Vervielfachung der Gruppen ergibt, welche Ansprüche an Sozialarbeitende stellen und sich somit das ‚doppelte Mandat‘ in ein multiples transformiert (vgl. Diebäcker 2019: 551; 2020: 34).

 

Ergänzend kann hier das Konzept der Allparteilichkeit erwähnt werden, das ursprünglich aus systemischen Therapieansätzen stammt und die professionelle beraterische Haltung charakterisiert, sich allen AkteurInnen gleichermaßen empathisch zuzuwenden, Partei für sie zu ergreifen, einzufühlen und dessen Verhalten zu verstehen (vgl. Boeger 2018: 145). Für die Aufsuchende Soziale Arbeit stellt Allparteilichkeit einen Kristallisationspunkt dar, an dem die Verhältnisse von Adressierten und anderen Raumnutzenden verhandelt werden (vgl. Diebäcker 2014: 217). Befürworter des Konzepts betonen ein erkennbares Kommunikationsangebot für jede Person im Raum und der damit verbundenen Offenheit für unterschiedlichste NutzerInnen, woraus ein Dialog zwischen verschiedenen Lebenswelten von Adressierten und Mehrheitsgesellschaften entstehen kann. Ebenso kann Allparteilichkeit als sozialarbeiterische Technik verstanden werden, um mit NutzerInnen öffentlicher Räume in Kontakt zu treten, was wiederum eine Voraussetzung bzw. ein strategisches Element für die Förderung ihrer Ambiguitätstoleranz darstellt. Weiterführend können NutzerInnen durch einen allparteilichen Kontakt in Konfliktlösungs- oder Aushandlungsprozesse eingebunden werden, wodurch Sozialarbeitende in ihrer Außenwirkung nicht als parteiisch, sondern als Fachkräfte mit einer professionellen Offenheit wahrgenommen werden. Somit zielt Allparteilichkeit durch professionell moderierte Aushandlungs-/Vermittlungsprozesse auf eine konsensuale Konfliktlösung (vgl. ebd.). 

Im Kontrast dazu verstehen kritische Stimmen Allparteilichkeit eher als politische Vorgabe, denn als ein fachliches Konzept, und kritisieren ihre Serviceorientierung und Allzuständigkeit. Die beschriebene Offenheit und Neutralität wird als Positionslosigkeit problematisiert, da asymmetrische Machtkonstellationen klare Position(ierung)en erfordern, um die Positionen Marginalisierter nicht zu verschlechtern (vgl. Diebäcker 2014: 217 f.). Demgegenüber steht die Parteilichkeit, die deutlich machen soll, dass aufsuchend Sozialarbeitende sich auf der Seite der Adressierten positionieren, egal, wo diese momentan stehen (vgl. Gillich 2006: 12). Andererseits jedoch wird in einer parteilichen Haltung nicht alles als richtig angesehen, was Adressierte sagen oder tun und sie werden auch nicht bedingungslos unterstützt (vgl. ebd.). Zudem kann es zu Rollenverquerungen kommen, wenn beispielsweise zwei AdressatInnen-Gruppen einen Konflikt miteinander haben, weshalb die Prinzipien der Parteilichkeit stetig hinterfragt werden müssen, damit für Sozialarbeitende und Außenstehende klar bestimmt werden kann, was mit dem Begriff der Parteilichkeit gemeint ist, wie dieser Begriff inhaltlich gefüllt und konkret umgesetzt werden kann (vgl. ebd.).

 

Weiterhin kann Aufsuchende Soziale Arbeit als eine raumrelationale staatliche Praxis verstanden werden, die strategisch eingesetzt wird, um Verhältnisse von Normalität, Abweichung, Ein- und Ausschließung zu bearbeiten (vgl. Diebäcker 2019: 544). In ihrer staatlichen Eingebundenheit muss ihre konstitutive ordnungspolitische Bedeutung immer mitgedacht werden, da sie dazu angehalten ist, vermehrt ordnungspolitische Aufgaben zu übernehmen, also Konflikte zu regeln, sowie Sicherheit und Ordnung herzustellen (vgl. Killian/Rinn 2020: 417; Reutlinger 2020: 44). Demnach verlaufen die meisten ihrer Abgrenzungsversuche zur Ordnungspolitik entlang der lebensweltorientierten Zielgruppenorientierung und der eindeutigen Parteinahme für die Klientel (vgl. Galuske 2013: 298 f.). Als institutionalisierter Teil eines Konflikts, den Problematisierte für ihre Rechte, u. a. auf Raum, führen, kann sich Soziale Arbeit nicht entziehen (vgl. Bareis 2020: 68). Deshalb kann sie sich nicht selbst aus ihrem eigenen Willen heraus damit beauftragen, jenen Konflikt mit und für Adressierte zu führen (vgl. Bareis 2020: 68) und agiert somit durch ihre Reaktion auf Normverstöße als öffentliche Instanz sanfter Kontrolle[24] (vgl. Winkler 2006: 64). Durch ihre aufspürende Interventionsweise identifiziert und problematisiert sie selbst soziale Situationen (vgl. Diebäcker 2019: 544), wodurch gesellschaftliche Verhältnisse durch ihre Kontrollausübung (re)produziert werden (vgl. Thieme 2017: 19). Dementsprechend trägt sie zur Sicherung öffentlicher Ordnung bei (vgl. Mayrhofer 2012: 157) und symbolisiert durch ihre Interventionen abweichendes Verhalten, repräsentiert staatliche Präsenz und vermittelt Konditionen, unter denen sozialstaatliche Hilfen in Anspruch genommen werden können (vgl. Diebäcker 2014: 239 ff.). So blendet Soziale Arbeit in ihrem Selbstverständnis als Menschenrechtsprofession und autonom handelnde, unterstützende und anwaltschaftliche Instanz den strukturellen Widerspruch aus, der sie als Institution erst in Erscheinung treten lässt (vgl. Bareis 2020: 67 f.).

 

3.2 Öffentliche Räume[25]

 

Als Teil der staatlichen Neoliberalisierung (vgl. Belina 2007: 224) hat der sogenannte spatial turn seit seiner diskursiven Einführung 1989 (vgl. Döring/Thielmann 2008: 7) das Raumverständnis der Sozialen Arbeit verändert (vgl. Baum 2018: 21). Räume werden seither als konstitutive Elemente Sozialer Arbeit verstanden (vgl. ebd.; Dirks/Lippelt 2016: 77), sodass ihnen vermehrt Bedeutung zugemessen wird (vgl. Dirks 2012: 179). Jene öffentliche Räume verändern sich durch die skizzierten urbanen Transformationen großstädtischen Lebens (vgl. Diebäcker 2020: 24), wodurch Soziale Arbeit sich in ihrer Praxis immer in spezifischen räumlichen Settings vollzieht (vgl. Dirks/Lippelt 2016: 77). Dementsprechend ist sie auf bestimmte Weise in Räumen verortet, wird von ihnen beeinflusst und bringt selbst räumliche Strukturen hervor (vgl. ebd.). Jedoch sind öffentliche Räume nicht einfach zu definieren (vgl. Klamt 2012: 777), weshalb sie im Zusammenspiel sozialer, rechtlicher, ökonomischer, soziologischer, philosophischer und planerischer Blickwinkel betrachtet werden sollten (vgl. ebd.: 790).

 

Annähernd schlägt Martin Klamt[26] drei Kriterien für die Erfassung einer möglichst großen Bandbreite öffentlicher Räume vor. Erstens benennt er die Zugänglichkeit bzw. Nutzbarkeit des Raums als voraussetzungsvolles, quantitatives Kriterium. Zweitens führt er ein diskursives Kriterium an, nach welchem sich Interaktionsmöglichkeiten zwischen verschiedenen Personen oder zwischen Personen und Raum selbst ergeben müssen. Abschließend stellt das dritte, qualitative Kriterium die Erfahrbarkeit von Heterogenität und unerwartetem öffentlichen Leben (vgl. Klamt 2012:  791).

 

Aktuelle raumsoziologische Ansätze verweisen auf eine relationale Raumperspektive, in welcher Menschen durch ihre alltäglichen Handlungspraxen Räume permanent (re)produzieren (vgl. Reutlinger 2020: 45). Somit werden Räume nicht als starr verstanden, sondern als etwas Dynamisches, Vielschichtiges und Wandelbares, das sich stetig verändert, in Bewegung ist (vgl. Kessl/Reutlinger 2010a; Löw 2018) und worin Macht- und Herrschaftsverhältnisse über Raumkonstitutionen verhandelt werden (vgl. Löw 2018: 45). Ergänzend können Orte als singuläre Schnittpunkte gesellschaftlicher Beziehungen verstanden werden (vgl. Bareis 2020: 65). Diesem Verständnis nach, werden sie nicht als Entitäten, sondern als, sich durch die Interaktionen unterschiedlicher Macht- und Herrschaftsrelationen begründende (vgl. ebd.), Verhandlungsorte (vgl. Massey 2007: 70 f.) begriffen. Öffentliche Räume können deshalb als sozial konstituiert betrachtet werden: Die Gegenständlichkeit von Raum wird als sozial produziert, das Denken über Raum als sozial konstruiert bzw. diskursiv hergestellt verstanden (vgl. Diebäcker 2019: 544). Demgemäß schreibt Christian Reutlinger:

 

„Territorialität und Soziale Prozesse gehören zusammen – erst in ihrem Zusammenspiel kann (Sozialer) Raum begriffen werden“ (Reutlinger 2007: 106).

 

Räume sind dementsprechend Produkte gesellschaftlicher Praxen, produzieren aber gleichzeitig auch gesellschaftliche Realität (vgl. ebd.: 105). Durch das Mitdenken einer zeitlichen Komponente erlangen sie prozessuale Qualität (vgl. ebd.: 106), sodass besagtes Verhältnis von Territorialität und Sozialität ständig aufs Neue ausgehandelt werden muss (vgl. Klamt 2012: 777). Infolgedessen können öffentliche Räume auch als umkämpft verstanden werden, da sie durch den Kampf um Nutzungsrechte verschiedener NutzerInnen mit unterschiedlichen Nutzungsintentionen geprägt sind (vgl. Diebäcker 2020: 24 f.).

 

Alternative Perspektiven beschreiben in Räume eingeschriebene Macht- und Herrschaftsverhältnisse, wonach eine der privilegiertesten Formen der Herrschaftsausübung die Herrschaft über den Raum darstellt und architektonische Räume zu den wichtigsten Komponenten von Machtsymbolik zählen (vgl. Bourdieu 1991: 27 f.). Darüber hinaus können die von AkteurInnen eingenommene Orte, sowie ihre Plätze im angeeigneten physischen Raum, als Indikatoren für ihre Stellung im sozialen Raum verstanden werden (vgl. ebd.: 26). Somit charakterisieren sich AkteurInnen durch Orte, an denen sie situiert sind, über Domizile und durch die Position ihrer Lokalisation im Verhältnis zur Position der Lokalisation anderer AkteurInnen (vgl. ebd.). Die Fähigkeit, Raum durch die Aneignung der in ihm verteilten materiellen oder symbolischen Güter zu dominieren, ist vom jeweiligen ökonomischen, kulturellen oder sozialen Kapital abhängig (vgl. Bourdieu 1991: 30). So hatte die planerische Verantwortung für und Verfügungsgewalt über die städtebauliche Entwicklung, sowie die ihr inne liegende bauliche Konstruktion öffentlicher Räume, über Jahrtausende hinweg die jeweiligen Machteliten inne, sodass die kommunale Infrastruktur entsprechend ihren ästhetischen und ökonomischen Bedürfnissen gestaltetet sind[27] (vgl. Simon 2007: 159). Aufgrund dessen bringen Räume in einer hierarchisierten Gesellschaft immer auch die Hierarchie selbst zum Ausdruck. Durch die dauerhafte Einschreibung sozialer Realitäten in die physische Welt naturalisiert sich besagte Hierarchisierung, sodass aus sozialen Logiken heraus geschaffene Unterschiede den Schein erwecken, natürlichen Ursprungs zu sein (vgl. Bourdieu 1991: 26 f.). Somit spiegeln öffentliche Räume die Verhältnisse sozialer Ex-/Inklusion (vgl. Kazig et al. 2003: 98 ff.) und vermitteln diese Grenzen der Verhandelbarkeit durch ihre Gestaltung und Materialität (vgl. Popp 2006: 110; Wildner 2005: 153 f.), wodurch Hegemonie und Macht symbolisch repräsentiert werden (vgl. Diebäcker 2020: 24 f.).

 

In ihrer Ausgestaltung können öffentliche Räume ebenso vielseitig sein, wie die auf diese Räume projizierten Interessenslagen (vgl. Klamt 2012: 792; Diebäcker 2020: 24), wonach sie als Kristallisationspunkt von Brüchen und Differenzen in städtischen Gesellschaften verstanden werden können (vgl. Klamt 2012: 792). Als gesellschaftlicher Spiegel können sie zum einen als umkämpfte Flächen verstanden werden, auf denen unterschiedliche Nutzungsintentionen aufeinanderprallen und unterschiedliche Lebensstile konkurrieren (vgl. Diebäcker 2020: 24 f.). Oder wie es Henri Lefebvre ausdrückt:

 

„[…] spatial contradictions ‚express‘ conflicts between socio-political interests and forces; it is only in space that such conflicts come effectively into play, and in doing so they become contradictions of space“ (Lefebvre 1991: 365, Hervorh. i. O.).

 

3.3 Problematisierte[28]

 

Mehrheitsgesellschaftliche Normalitätsdefinitionen stellen die Grenze zwischen angemessenem und abweichendem Verhalten in öffentlichen Räumen dar und sind somit als grundlegend für gesellschaftliche Verhaltensregeln anzusehen, deren Verletzung abweichendes Verhalten konstituiert (vgl. Becker 2014: 31). Infolgedessen kristallisiert sich abweichendes Verhalten als „eine Konsequenz der Anwendung von Regeln durch andere“ (ebd.; vgl. Peters/Cremer-Schäfer 1975: 71) heraus. Mit anderen Worten:

 

„Der Mensch mit abweichendem Verhalten ist ein Mensch, auf den diese Bezeichnung erfolgreich angewandt worden ist; abweichendes Verhalten ist Verhalten, das Menschen als solches bezeichnen“ (Becker 2014: 31)[29].

 

Gesellschaftliche Gruppen schaffen somit abweichendes Verhalten (vgl. ebd.), indem sie mittels vorhandener Machtunterschiede (Verhaltens-)Regeln für andere Menschen aufstellen und durchsetzen (vgl. ebd.: 38). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass somit Menschen problematisiert werden, die sich nicht entsprechend mehrheitsgesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen verhalten und jene Mehrheitsgesellschaft somit verunsichern bzw. verängstigen.[30] Demzufolge wird das Verhältnis zwischen dem Individuum und seiner überindividuellen Gruppe problematisch und als gestört erlebt, sodass die Gemeinschaft als erzieherische Instanz handelt, um die als mangelhaft empfundene soziale Gegenwart zu verändern (vgl. Mollenhauer 1987: 61).

 

Die Anwesenheit spezifischer NutzerInnen(gruppen) in den von ihnen genutzten Räumen wird problematisiert, weil sie ein Hindernis für die vorgesehene, den mehrheitsgesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen entsprechende Nutzung jener Räume darstellt (vgl. Dirks/Lippelt 2016: 95). Es entstehen hier Interessenskonflikte zwischen Problematisierten und Vertretern der Mehrheitsgesellschaft durch subjektiv unterschiedliche Raumkonstruktionen/-nutzungsformen[31]. Ohne jedoch jene Problematiken inhaltlich konkret auszugestalten, problematisiert die Gesellschaft auf einem hochabstrakten Niveau und delegiert ihre Bearbeitung an den sozialen Sektor; an Fachpersonal der Sozialen Arbeit (vgl. Winkler 1988: 190 f.). Dies zieht einen Verlust von Lern-/Veränderungsmöglichkeiten und -kapazitäten in der Auseinandersetzung mit Problematisierten im gesellschaftlichen System nach sich (vgl. ebd.: 193 f.). Der Ausschluss aus dominierenden Gesellschaftsbereichen durch eine Bedrohung der Sicherheit richtet sich in der Regel gegen Minderheiten und Unterschichten (vgl. Marcuse 2003: 97 f.), da Menschen ihr Gefühl von Bedrohung bevorzugt am für sie Fremden festmachen (vgl. Luff 2005: 170). Ihre Erwartungsunkonformität wird als Unsicherheitsfaktor wahrgenommen (vgl. Kemper/Reutlinger 2015: 17 f.).

 

3.4 Verdrängung aus öffentlichen Räumen

 

Die Transformation urbaner öffentlicher Räume in zentralen und bedeutenden Lagen ist geprägt von Privatisierung, Kommerzialisierung und Konsumorientierung, sodass öffentliche Räume in zentralen Lagen als Projektionsfläche einer wachsenden globalen Stadt konzipiert und zu einer Erlebniszone transformiert werden, die sich vordergründig an ökonomischen Profit- und Mehrwert orientiert (vgl. Diebäcker 2020: 27). Maßnahmen zur Herstellung innerer Sicherheit kombiniert mit besagten Aufwertungsprozessen führen verstärkt zu einer Welle der sicherheits- und ordnungspolitischen Sanktionierung, Kriminalisierung und Verdrängung unerwünschter Personengruppen aus öffentlichen Räumen, da sie den erwünschten Verhaltens- und Konsumnormen nicht entsprechen (vgl. ebd.).

 

Menschen werden räumlich ausgeschlossen bzw. verdrängt, wenn sie erstens keinen Zutritt zu (physischen) öffentlichen Räumen erhalten, zweitens öffentlicher Räume[32] verwiesen werden, drittens Räume in einer Weise reglementiert/gestaltet sind, dass habituelle Handlungen nicht möglich, respektive verboten sind, oder sie viertens, latent[33] am Betreten gehindert werden (vgl. Wehrheim 2012: 38). Weiterführend werden öffentliche Räume über die Dimensionen Personal (z.B. private Sicherheitsdienste), architektonische Raumgestaltung (z.B. Verdrängungsmöblierung), Technik (z.B. Videoüberwachung) (vgl. Ronneberger et al. 1999: 140; Wehrheim 2012: 57) sowie Recht überwacht, wodurch Ausschluss produziert wird (vgl. Wehrheim 2012: 57) und somit jene Mechanismen immer zusammen betrachtet werden sollten (vgl. ebd.: 127).

 

Im Zuge der Neoliberalisierung werden Räume zunehmend privatisiert, was wesentliche Veränderungen ihrer Rechtsstatus nach sich zieht (vgl. Wehrheim 2012: 62). So werden ehemals öffentliche Räume eigentumsrechtlich an Privatpersonen transferiert, womit ein Hausrecht einhergeht, sodass die Nutzung dieser Räume durch substrafrechtliche Partikularnormen, wie z. B. Hausordnungen, reguliert werden (vgl. ebd.; Ronneberger et al. 1999: 91; Simon 2007: 171). Demnach werden Normierungen vorgenommen, die weit unter strafrechtlich relevanten Tatbeständen ansetzen, wodurch Interventionsmaßnahmen unterhalb der Grenze zur Ordnungswidrigkeit ergriffen werden können (vgl. Wehrheim 2012: 62 f.). Jene werden durch die Dimension des Personals, namentlich also u. a. durch private Sicherheitsdienste, die sich nach den Interessen von Unternehmen und Privatpersonen richten (vgl. Simon 2007: 171), durchgesetzt (vgl. Wehrheim 2012: 71). Sie sind zu bedeutenden Partnern bei er Definition von Devianz und Sicherheit geworden (vgl. Eick 1998: 109), sodass sich die Dichotomie zwischen staatlichem Gewaltmonopol und rechtsstaatlicher Ordnung aufzuheben scheint (vgl. ebd.: 114).

 

Weiterführend nimmt die Bedeutung technischer Überwachung öffentlicher Räume zu (vgl. Wehrheim 2012: 84), wodurch das Ziel des optischen Verschwindens von Verhaltensweisen ‚störender‘ Personen verfolgt wird (vgl. ebd.: 106). Hiermit soll, wie bereits erläutert, politische Handlungsfähigkeit diskursiv suggeriert werden, indem jedoch lediglich soziale Probleme verwaltet werden, ohne ernstzunehmende Problemlösungsversuche zu unternehmen. Die Unsichtbarmachung von Armutserscheinungen in zentralen Bereichen der Stadt stellt einen Schwerpunkt deutscher Kontrollpolitik dar (vgl. Ronneberger et al. 1999: 202), weshalb unerwünschte Gruppen über sicherheits- und ordnungspolitische Sanktionierungen und Kriminalisierungen unsichtbar gemacht werden sollen (vgl. Diebäcker 2020: 27): Beispielsweise zielt die architektonische Neugestaltung städtischen Mobiliars, die bequemes Schlafen auf Bänken verhindert, darauf ab, Obdachlose aus öffentlichen Räumen zu verdrängen (vgl. Kazig et al. 2003: 100). Durch die Überführung Problematisierter in eine nicht-öffentliche Unsichtbarkeit, wird eine ‚exklusive Öffentlichkeit‘ geschaffen (vgl. Dirks et al. 2015: 55). Es werden neue Ausweichräume für Problematisierte geschaffen, sogenannte ‚andere Orte‘[34], die den Aufenthalt Problematisierter in öffentlichen Räumen delegitimieren (vgl. ebd.), sodass die schlichte Abwesenheit/Unsichtbarkeit von beispielsweise Armen, als ‚Lösung‘ für subjektive Unsicherheitsgefühle verstanden werden kann (vgl. Wehrheim 2012: 55). Der Macht- und Kontrolltypus, aus welchem ordnungspolitisch abgesicherte und überwachte Ausschließungsräume geschaffen werden, zielt somit entweder auf die dauerhafte Verbannung Problematisierter oder auf ihre Ausschließung ab (vgl. Ronneberger et al. 1999: 201 f.). Besagte Ausweichräume werden durch Aufwertungsstrategien für Adressierte attraktiv gestaltet[35], wobei darauf geachtet wird, diese nicht ausufernd zu betreiben, um eine überregionale Attraktivität, welche Problematisierte aus anderen Städten anzieht, zu vermeiden (vgl. Künkel 2013: 190).

 

Somit verschiebt sich das Sicherheitsziel, weg von einem komplexen Begriff der sozialen Sicherheit, hin zum Schutz der Inkludierten vor den Exkludierten (vgl. Lindenberg/Schmidt-Semisch 2000: 309). Durch Raumverbote für Unerwünschte sowie Moral- und Sicherheitskampagnen wird der Versuch unternommen, das Verhalten der Menschen in öffentlichen Räumen normativ zu regulieren (vgl. Ronneberger et al. 1999: 201 f.).[36] Als Grundlage der Forderung solcher Maßnahmen, sowie für die Legitimierung neuer Polizeitaktiken und Straf- und Kontrollverschärfungen, wird subjektives Sicherheitsempfinden angeführt (vgl. Böhnisch 1998: 82; Diebäcker 2019: 551). Gerade in Städten treten gesellschaftliche Konflikte besonders konzentriert auf, weshalb sie Gegenstand eines breiten Spektrums an polizeilichen Maßnahmen und Kontrollstrategien zur Herstellung räumlicher Ordnung sind (vgl. Germes 2014: 12) und somit das ‚Polizieren‘ sich als wichtiger Aspekt der Raumproduktion erweist (vgl. ebd.: 14).

Ende der Leseprobe aus 64 Seiten

Details

Titel
Aufsuchende Soziale Arbeit und die Verdrängung von Problematisierten aus öffentlichen Räumen
Hochschule
Universität Duisburg-Essen  (Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2021
Seiten
64
Katalognummer
V1201799
ISBN (eBook)
9783346648617
ISBN (eBook)
9783346648617
ISBN (eBook)
9783346648617
ISBN (Buch)
9783346648624
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Soziale Arbeit, Aufsuchende Soziale Arbeit, Verdrängung, Problematisierte, Öffentliche Räume
Arbeit zitieren
Niklas Pöhnert (Autor:in), 2021, Aufsuchende Soziale Arbeit und die Verdrängung von Problematisierten aus öffentlichen Räumen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1201799

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