Leaving Care. Der Übergang von der Heimerziehung in ein selbstständiges Leben


Bachelorarbeit, 2021

50 Seiten, Note: 1,5

Anonym


Leseprobe

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Aktueller Forschungsstand

2.1 Zentrale Lebensphasen

2.1.1 Lebensphasen im gesellschaftlichen Wandlungsprozess

2.1.2 Jugend

2.1.3 Junges Erwachsenenalter

2.1.4 Entwicklungsaufgaben im jungen Erwachsenenalter

2.2 Kinder- und Jugendhilfe

2.2.1 Hilfen zur Erziehung

2.2.2 Heimerziehung als Hilfe zur Erziehung

2.2.3 Verschiedene Formen der Heimerziehung

2.2.4 Alltag in der Heimerziehung

2.3 Statuspassage Care Leaver*innen

2.3.1 Übergänge aus der Heimerziehung

2.3.2 Übergangsmanagement

2.3.3 Faktoren für einen gelingenden Übergangsprozess

2.3.4 Hildesheimer Übergangsmodell

2.3.5 Erwerben von Selbstständigkeit

2.3.6 Herausforderungen im Schritt der Verselbstständigung für Care Leaver*innen

2.3.7 Beispiele der Alltagsbewältigung der Care Leaver*innen im selbstständigen Leben

2.4 Gesetzliche Rahmenbedingungen der Nachbetreuung für Care Leaver*innen

2.4.1 Anforderungen für die Nachbetreuung

2.4.2 Mögliche Formen der Nachbetreuung

2.5 Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Situation der Care Leaver*innen

2.6 Ausblick in die Zukunft

3. Fazit

Literaturverzeichnis


Abkürzungsverzeichnis

 

KJHG                         -                       Kinder- und Jugendhilfegesetz

SGB VIII                   -                      Achtes Buch Sozialgesetzbuch

VPK                           -                       Landesverband privater Träger der freien

Kinder-, Jugend und Sozialhilfen Nordrhein-

Westfalen e.V.

1. Einleitung

 

Die Soziale Arbeit wird als eine Art von Hilfehandeln aufgefasst und hat somit den Grund und Zweck Hilfe dort zu ermöglichen, wo sie notwendig ist. Das Hilfehandeln ist in verschiedenen menschlichen Alltagswelten und in vielen gesellschaftlichen Risikobereichen zu finden. Ein Mensch, der Hilfe benötigt, ist auch dazu berechtigt, diese Hilfe zu erfahren. Des Weiteren zielt die Soziale Arbeit auf Gerechtigkeit ab. Daher wird sich für einen Nachteilsausgleich und ein funktionierendes Zusammenleben, welches Benachteiligungen bekämpft, eingesetzt. Gerechtigkeit kann nicht immer garantiert werden, die Soziale Arbeit strebt jedoch stets daraufhin (vgl. Schumacher, 2018, S. 57-60). Die Kinder- und Jugendhilfe als ein Element der Sozialen Arbeit beinhaltet zentrale Institutionen in der Lebenslaufgestaltung junger Menschen und kann diese vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter begleiten. Dabei begleitet und unterstützt die Kinder- und Jugendhilfe die jungen Menschen auch in den Bewältigungsaufgaben des Übergangs, die typischerweise im Lebenslauf aufkommen. Dies können insbesondere Übergänge wie der Eintritt in das Schulsystem oder Übergange in das Jugendalter sein (vgl. Köngeter & Zeller, 2013, S. 568). In der vorliegenden Arbeit wird sich speziell mit dem Übergang von Care Leaver*innen aus der Heimerziehung in ein selbstständiges Leben beschäftigt. Diese befinden sich auch in einer Institution der Kinder- und Jugendhilfe. Als Care Leaver*innen werden junge Erwachsene bezeichnet, die sich im Übergang von der stationären Erziehungshilfe zum eigenständigen Leben befinden. Unter der stationären Erziehungshilfe werden Wohngruppen, Erziehungsstellen, Pflegefamilien oder andere Betreuungsformen gefasst. Care Leaver*innen haben es im Vergleich zu ihren Peers (Gleichaltrigen), die in ihrer Herkunftsfamilie aufgewachsen sind, deutlich schwerer diesen Schritt des Übergangs zu gehen. Ihnen stehen nicht die gleichen familiären Beziehungen und Unterstützungsstrukturen zur Verfügung. Somit erfahren sie häufig eine Benachteiligung. Eine weitere Herausforderung für Care Leaver*innen besteht darin, dass sie im Durchschnitt früher den Weg in ein selbstständiges Leben gehen als ihre Peers. Meist mit Erreichen der Volljährigkeit oder unmittelbar danach verlassen Care Leaver*innen das Setting der stationären Hilfe. Somit müssen sie in kurzer Zeit und mit geringen Unterstützungsressourcen ihr Leben selbstständig fortführen. Daher stehen die Anforderungen an Care Leaver*innen im Widerspruch zu den Anforderungen an andere junge Erwachsene in der Gesellschaft (vgl. Sievers, Thomas & Zeller, 2018, S. 9).

 

Die Bewältigung der Jugend- und jungen Erwachsenenphase bringt heutzutage aufgrund von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen viel höhere Anforderungen mit sich als früher. Im Umgang mit den gesellschaftlichen Systemen wie Markt, Schule oder Beruf wird erwartet, dass sich individuelle Strategien für die Integration angeeignet werden. Diese gesellschaftlichen Bereiche und Institutionen erwarten, dass die Mitglieder der Gesellschaft wissen, wie diese genutzt werden. Bewältigungskompetenzen, die hierfür angeeignet werden sollen, hängen oftmals von der sozialen und sozioökonomischen Ausstattung der Familie ab. Auch formelle und informelle Unterstützungsnetze des jungen Menschen können dabei eine Rolle spielen (vgl. Faltermeier, 2017, S. 14).

 

Im Rahmen dieser Bachelorarbeit sollen die genaue Situation und die Herausforderungen in der Bewältigung der jungen Erwachsenenphase der Care Leaver*innen in den Fokus rücken. Aufgrund ihrer erschwerten Ausgangslage liegt das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit darin, zu erfahren, mit welchen Maßnahmen und Unterstützungen den Care Leaver*innen ein guter Start in die Selbstständigkeit ermöglicht werden kann. Daher soll in dieser Bachelorarbeit der folgenden Forschungsfrage nachgegangen werden: „Wie kann der Übergang von Care Leaver*innen aus der Heimerziehung in ein selbstständiges Leben gelingen?“. Das Ziel ist es somit, Faktoren herauszuarbeiten, die sich positiv auf einen gelingenden Übergangsprozess auswirken.

 

In der vorliegenden Bachelorarbeit soll das Themenfeld anhand von Literatur untersucht werden. Somit handelt es sich um eine reine Literaturarbeit, bei welcher relevante Literatur zu der Forschungsfrage gesammelt und sich kritisch mit den Inhalten der Texte auseinandergesetzt wird. Nun soll ein Überblick über die folgenden Inhalte und den Aufbau der Arbeit gegeben werden. Zunächst wird der aktuelle Forschungsstand zu der Forschungsfrage dargestellt, um zu Ende der Arbeit wieder an diesen anknüpfen zu können. In einem nächsten Schritt werden die zentralen Lebensphasen eines Menschen dargestellt, mit einem besonderen Fokus auf die Phase der Jugend und des jungen Erwachsenenalters. Entwicklungsaufgaben und spezifische Herausforderungen, die den jungen Menschen begegnen, werden herausgearbeitet, um diese später in Verbindung mit den Care Leaver*innen bringen zu können. Daraufhin wird das System der Kinder- und Jugendhilfe und die Hilfen zur Erziehung näher erläutert. Da Care Leaver*innen vor ihrem Schritt in die Selbstständigkeit in der Heimerziehung untergebracht waren, soll besonders auf diese Form der Hilfen zur Erziehung eingegangen werden. Danach wird gezielt auf die Zeit des Leaving Cares eingegangen. Dabei wird der Übergangsprozess in die Selbstständigkeit näher beschrieben und Studien zu dem Übergang vorgestellt. Faktoren für einen gelingenden Übergang werden herausgearbeitet und Herausforderungen im Alltag der Care Leaver*innen werden dargestellt. Nach diesem Themenblock wird näher auf mögliche Formen der Nachbetreuung für Care Leaver*innen eingegangen. Folgend wird ein aktueller Bezug zu der Corona-Pandemie und den daraus resultierenden Auswirkungen auf die Care Leaver*innen dargestellt sowie ein Ausblick für die Zukunft gegeben. Abschließend werden alle Erkenntnisse zusammengeführt, um eine mögliche Antwort auf die Forschungsfrage zu erhalten.

2. Aktueller Forschungsstand

 

In diesem Kapitel wird der aktuelle Forschungsstand zu der Frage: „Wie kann der Übergang von Care Leaver*innen aus der Heimerziehung in ein selbstständiges Leben gelingen?“, dargestellt. Die Forschung zu Care Leaver*innen ist in anderen Ländern weit verbreitet und es liegen viele empirische Erkenntnisse zu dem Übergang aus der stationären Jugendhilfe in das Leben danach vor. Es liegen auch einige Beispiele für einen guten Übergangsprozess von Care Leaver*innen und der Unterstützung dieser Menschen vor. In Deutschland findet seit 10 Jahren ein Diskurs um Leaving Care statt. In der Fachpraxis der Kinder- und Jugendhilfe wird dieser Diskurs immer mehr wahrgenommen und auch in konkrete Angebote umgesetzt. Die wissenschaftliche Aufmerksamkeit kommt dadurch zustande, dass Care Leaver*innen viele Herausforderungen auf dem Weg in das Erwachsenenleben begegnen und sie sich oftmals in benachteiligten Lebenslagen im Vergleich zu ihren Peers vorfinden (vgl. Ehlke, 2021, S. 290).

 

Zu dem expliziten Forschungsinteresse zum Gelingen des Übergangs von Care Leaver*innen aus der Heimerziehung in ein selbstständiges Leben, sind bislang in Deutschland wenige veröffentlichte Forschungen bekannt. Forschungsarbeiten zu Übergängen aus der Heimerziehung gewinnen jedoch zunehmend an Bedeutung. Es gibt noch einige unbeantwortete Fragen im Hinblick auf die Dynamiken in Übergangsprozessen sowie Herausforderungen, die den Care Leaver*innen auf diesem Weg begegnen (vgl. Karl, Göbel, Lunz & Herdtle, 2020, S. 5). Die aktuelle Forschung befindet sich in Deutschland somit noch in den Anfängen. Ferner spricht dies für die Aktualität des Themas und macht Forschungen in der Zukunft umso wichtiger, um auch dieses Themenfeld näher gehend zu erschließen. Jedoch beschäftigen sich besonders die Universität Hildesheim und die Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGFH) vermehrt mit der Zeit des Leaving Cares. Im Verlauf der vorliegenden Bachelorarbeit werden einige Studien und Projekte zum Leaving Care vorgestellt. Diese können Hinweise auf Faktoren geben, die einen Übergang der Care Leaver*innen aus der Heimerziehung in das eigenständige Leben positiv beeinflussen. Hierbei handelt es sich um das Projekt „Nach der stationären Erziehungshilfe – Care Leaver in Deutschland“ aus den Jahren 2013 und 2014, welches von der Uni Hildesheim und der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGFH) durchgeführt wurde (vgl. Kapitel 2.3.1). Des Weiteren werden die Erkenntnisse der Studie „Care Leaver – stationäre Jugendhilfe und Nachhaltigkeit“ von dem Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen e. V. (BVkE) in Kooperation mit dem Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) vorgestellt (vgl. Kapitel 2.3.3). Auch auf das Hildesheimer Übergangsmodell, welches am Institut Sozial- und Organisationspädagogik zwischen den Jahren 2017 und 2019 durchgeführt wurde, wird eingegangen (vgl. Kapitel 2.3.4) Zum Themenbereich der Selbstständigkeit folgt eine Studie von Sievers, Thomas und Zeller (vgl. Kapitel 2.3.5). Die Möglichkeiten der Nachbetreuung der Care Leaver*innen werden anhand zweier Projekte nochmals herausgestellt (vgl. Kapitel 2.4.2). Zuletzt wird auch eine Studie des SOS-Kinderdorfs in Bezug auf die Corona-Pandemie und die daraus resultierenden Auswirkungen auf die Care Leaver*innen vorgestellt (vgl. Kapitel 2.5).

 

2.1 Zentrale Lebensphasen

 

Damit der Mensch zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt wird, muss dieser, nach Klaus Hurrelmann, sozialisiert werden. Sozialisation wird als ein Prozess beschrieben, indem sich die biologischen und physiologischen Dispositionen eines Menschen mit der sozialen und physikalischen Umwelt auseinandersetzen. Somit ist die Sozialisation ein wissenschaftliches Konstrukt, welches einen Ausschnitt der Realität wiedergeben soll. Dieser Ausschnitt ist jedoch nicht direkt zu beobachten. In den verschiedenen Lebensphasen des Menschen werden dessen Fähigkeiten und Fertigkeiten verändert und weiterentwickelt, um ein kompetentes Handeln vorzuweisen (vgl. Hurrelmann, 2002, S. 155). Im Folgenden soll nun näher auf die bedeutenden Lebensphasen des Menschen eingegangen werden.

 

Im alltäglichen Sprachgebrauch ist die Unterscheidung zwischen den Lebensphasen eines Menschen immer wiederzufinden. Durch diese Unterscheidung ist es möglich Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Senioren voneinander zu unterscheiden. Festgemacht werden die Lebensphasen anhand von Altersunterteilungen. Von Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen wird gesellschaftlich auch jeweils verschiedenes erwartet. Personen in einer Sozialgruppe werden für die Lebensphase typische Themen und Anforderungen zugesprochen. Kinder kennen somit beispielsweise noch keine gesellschaftlich verbindlichen Regeln. Von Jugendlichen hingegen wird jedoch erwartet, dass sie diese Regeln kennen und infrage stellen (vgl. Schulz, 2018, S. 3f.). Die verschiedenen Kategorien der Lebensphase sind voneinander abhängig. Dadurch kann erst eine klare Unterscheidung entstehen. Jugendliche verkörpern etwa nicht mehr das, was Kinder sind. Sie sind jedoch noch nicht das, was Erwachsene sind. Somit stehen die Kategorien in Relation zueinander (vgl. Schulz, 2018, S. 4).

 

2.1.1 Lebensphasen im gesellschaftlichen Wandlungsprozess

 

Lebensphasen unterliegen einem historischen Wandel. Sie sind weder thematisch noch biologisch feststehende Kategorien und orientieren sich an der jeweiligen Generation (vgl. Schulz, 2018, S. 4). Im Folgenden wird aufgeführt, wie sich von dem Jahr 1900 bis heute, aus Abschnitten des Lebenslaufs neue Lebensphasen herausgebildet haben. Außerdem wird beschrieben, wie diese sich im Laufe der Zeit verändert haben. Hierfür werden vier historische Zeitpunkte gewählt. Dies sind die Jahre 1900, 1950 und 2000. Zusätzlich wird auch eine Prognose für das Jahr 2050 gegeben. Im Jahre 1900 bestand der typische Lebenslauf eines Menschen aus den Phasen des Kindheitsalters und des Erwachsenenalters. Erst um 1950 wurde die Jugendphase und die Phase des Seniorenalters herausgebildet. Sie werden als historisch neue Lebensphasen bezeichnet. Im Jahre 2000 dehnte sich die Jugendphase weiter aus. Auch die Phase des Seniorenalters dehnte sich weiter aus, da die Lebenserwartung der Menschen weiter anstieg. Aufgrund dieser Entwicklung gilt das Erwachsenenalter nun nicht mehr allein als der lebensperspektivische Mittelpunkt der Biografie des Menschen. Für das Jahr 2050 kann prognostiziert werden, dass sich die Jugendphase weiter ausdehnt und sich die Lebensphase des Seniorenalters weiter verlängert. Auch eine neue Lebensphase „Hohes Alter“ könnte sich an das Seniorenalter anschließen (vgl. Hurrelmann & Quenzel, 2016, S. 16).

 

Wird das Leben mit früheren Epochen verglichen, so gibt es weniger streng kontrollierte soziale Vorgaben für den Menschen. Jedoch ist das Leben auch unübersichtlicher geworden. Kinder und Jugendliche haben nun besonders die Möglichkeit, sich entsprechend der Vielfalt der Gesellschaft und den verschiedenen Lebenswelten einzurichten. Sie können eine Persönlichkeitsstruktur bilden, welche sich den schnell verändernden sozialen und kulturellen Bedingungen in der Gesellschaft anpassen kann. Nach Klaus Hurrelmann soll dies auch ähnlich für die anderen Altersgruppen gelten. Es ist wichtig, dass jeder Mensch seinen eigenen Lebensstil festlegen, sowie stetig verändern und weiter entwickeln kann. Hierfür werden eine hohe Flexibilität und Selbststeuerung vorausgesetzt, damit das eigene Handeln beeinflusst werden kann. Klaus Hurrelmann bezeichnet diese Fähigkeit mit dem Begriff „Selbstorganisation“ (vgl. Hurrelmann, 2002, S. 159). Zusammenfassend ist festzustellen, dass sich traditionelle soziale Regeln und Umgangsformen im Vergleich zu früher, abgemildert haben. Somit kann die Lebensgestaltung individueller sein und dem Menschen ist es möglich, sich selbstbestimmter zu verhalten. Es gibt weniger traditionelle, religiöse oder regionale Einschränkungen dabei, als es noch früher gab. Die einzelnen Lebensphasen bieten nun größere Gestaltungsspielräume. Damit gehen hohe Freiheitsgrade in der Definition und der Gestaltung der Lebensphasen einher (vgl. Hurrelmann & Quenzel, 2016, S. 17f.).

 

Im Folgenden wird nun spezifisch auf die Jugend als Lebensphase eingegangen. Charakteristika dieser Lebensphase werden dargestellt.

 

2.1.2 Jugend

 

Mit dem Begriff „Jugend“ werden bestimmte Verhaltensmuster und Eigenschaften in Verbindung gebracht. Jedoch ist dieses Wort sehr vieldeutig und wird in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich verwendet. Im rechtswissenschaftlichen Bereich werden hiermit Menschen in einem Alter ab dem 14. bis zum 18. Lebensjahr bezeichnet. Den Jugendlichen werden aufgrund des Alters besondere rechtliche Bedingungen geboten. Biologisch gesehen ist die Jugend die Zeit der Entwicklung zwischen dem sogenannten puberalen Wachstum und dem Abnehmen des zweiten Gestaltwandels. Hiermit ist gemeint, dass sich die Kopfgröße sowie Arm- und Beinlänge proportional zur Länge des Körpers verändert. Die Psychologie widmet sich in der Jugendphase besonders der emotionalen und kognitiven Entwicklung. Diese verändert sich signifikant in der Zeit der Pubertät. Es kann somit auch zu psychischen Umbrüchen und einer inneren Unausgeglichenheit kommen. In der Soziologie stehen die Auswirkungen der gesellschaftlichen Bedingungen auf die Lebensphase im Vordergrund. Es wird näher betrachtet, welche Rechte und Möglichkeiten sowie Pflichten und Zwänge aus dieser Lebensphase hervorgehen. Aus einer pädagogischen Sicht heraus, werden Voraussetzungen sowie Folgen der Erziehung, Bildung und der Sozialisation von pädagogischen Einrichtungen auf die Jugendlichen näher betrachtet (vgl. Ecarius, Eulenbach, Fuchs & Walgenbach, 2011, S. 13f.).

 

Wie bereits aufgeführt findet eine zeitliche Ausdehnung der Jugendphase statt. Hierfür sind einige Faktoren maßgebend. Zu einem beginnt die Pubertät immer früher und die soziale Phase endet immer später. Außerdem besteht die These, dass sich in dieser Generation bereits viele 15- und 16-Jährige in einigen Bereichen des Lebens wie Erwachsene verhalten und so angesehen werden. Im Gegensatz dazu sind jedoch einige 30- bis 35-Jährige in vielen Bereichen des Lebens vom sozialen Status eines Erwachsenen entfernt (vgl. Abels, 2008, S. 79). Jugendliche in der heutigen Zeit streben sehr früh bestimmte Teilselbstständigkeiten an. Beispielsweise im finanziellen, erotischen, freundesbezogenen oder medialen Bereich. Die ökonomische oder familiäre Selbstständigkeit folgt eher später. Das Ziel des Erwachsenwerden hat im traditionellen Sinne nachgelassen, da Jugendliche den begehrten und geschätzten Jugendstatus meist beibehalten wollen. Die damals noch eher herrschende Hintergrundgewissheit, dass in der Zukunft alles gut werden würde, ist so nicht mehr vorhanden. Jedoch suchen viele Jugendliche nach direkten und umsetzbaren Lösungen für Zukunfts- und Lebensfragen (etwa in Bezug auf die Umweltzerstörung, Armut oder Arbeitslosigkeit). Wertevorstellungen, wie Ordnung, Disziplin, Fleiß, Ehrgeiz und Sicherheit werden bei einigen jungen Menschen immer wichtiger. Eltern und Erzieher haben die Möglichkeit hierbei mitzuwirken, insofern sie dazu in der Lage sind. Die Jugendzeit wird nun nicht mehr nur als Reifungs- und Übergangsphase oder Vorbereitung auf das spätere Leben (zum Beispiel Karriere und Erfolg) gesehen. Vielmehr wird sie auch als eine eigenständige, lustvolle und bereichernde Lebensphase gesehen. Die Lebensphase wird jedoch auch stark durch Medien, Markt, Konsum, Mode, Sport und Musik beeinflusst. Jugendliche, die sich in prekären Lebenssituationen (beispielsweise ohne Aussicht auf eine Lehrstelle oder einen Arbeitsplatz) befinden, haben es jedoch häufig schwer. Sie leben oftmals in permanent unsicheren Überbrückungszuständen (vgl. Ferchhoff, 2013, S. 54ff.).

 

2.1.3 Junges Erwachsenenalter

 

Das Jugendalter ist nicht leicht vom Erwachsenenalter abzugrenzen, da die Grenzen fließend sind. Daher ist es nicht einfach eine feste Reife- oder Altersschwelle für den Übergang festzulegen. Traditionell verbreiteten Vorstellungen im deutschen Kulturkreis zufolge findet der Übergang der Lebensphasen zwischen dem 18. und 21. Lebensjahr statt. Gründe hierfür sind das Ende des körperlichen Wachstums und das Erreichen eins ersten stabilen Stadiums der persönlichen Entwicklung (vgl. Hurrelmann & Quenzel, 2016, S. 34f.). Das junge Erwachsenenalter ist eine entscheidende Lebensphase, die jedoch schwer greifbar ist. Das Erleben dieser Phase ist oftmals schichtabhängig. Für die Durchführung eines Studiums werden etwa finanzielle, kulturelle und soziale Ressourcen benötigt. Gebildete junge Menschen erleben häufig eine ausgedehntere Phase des jungen Erwachsenenalters, da sie eine längere Ausbildung bis hin zur ökonomischen Unabhängigkeit durchlaufen (vgl. Rogge, 2020, S. 5). Junge Erwachsene unterscheidet zum mittleren und späten Erwachsenenalter, dass sie in Bezug auf Beruf, Partnerschaften oder Werte weniger festgelegt sein müssen und somit viele Freiheiten und Möglichkeiten in ihrer Lebensgestaltung haben. Sie weisen mehr Selbstständigkeit im Vergleich zur Jugend auf und haben alle Rechte der Erwachsenen. Trotzdem können sie sich noch im Bildungssystem und ökonomischer Abhängigkeit befinden. Widersprüchlich kann sein, dass junge Erwachsene einem der Jugend ähnlichen Lebensstil führen, sich jedoch gesellschaftlich und der eigenen Erwartung nach als erwachsen sehen (vgl. Rogge, 2020, S. 7).

 

Folgend wird die Theorie des „Emerging adulthood“ kurz umrissen. Jeffrey Jensen Arnett schlug diesen Begriff im Jahr 2000 erstmalig vor. Der Begriff meint den Altersabschnitt vom späten Teenageralter bis zum Alter von Mitte bis Ende 20 (ungefähr 18- bis 25-Jährige). Seine Theorie fand in kurzer Zeit weite Verbreitung in vielen Bereichen, auch neben der Psychologie und konnte sich als neue Denkweise über diesen Altersabschnitt etablieren. Die damals noch vorherrschende Theorie des Lebensverlaufs von Erik Homburger Erikson (1950) entsprach nach Arnetts Vorstellungen nicht mehr den Lebensumständen gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Gründe hierfür waren, dass das Heiratsalter deutlich angestiegen ist und die frühen bis mittleren 20er-Jahre zu einer Zeit häufiger Arbeitsplatzwechsel wurden. Des Weiteren strebten viele Menschen eine postsekundäre Bildung oder Ausbildung an, sowie die sexuellen Sitten veränderten sich erheblich. Der Fokus der jungen Menschen liegt nun nicht allein darauf, sich auf die Rolle des Erwachsenen vorzubereiten. Es sollen stattdessen verschiedene Erfahrungen gesammelt werden und allmählich dauerhafte Entscheidungen in der Liebe und Beruf getroffen werden. Die Theorie des „Emerging adulthood“ sieht somit vor, dass der Übergang zum Erwachsensein nicht nur ein Übergang, sondern auch ein eigener Lebensabschnitt ist. Arnett schlug die folgenden 5 Merkmale dieses Lebensabschnitts vor, welche jedoch nicht als universell angesehen werden sollen. Das Zeitalter des „Emerging adulthood“ soll nach Arnett das Zeitalter der Identitätserforschung, der Instabilität, der Selbstbezogenheit, des Dazwischen-Seins und der Möglichkeiten sein (vgl. Arnett, 2007, S. 68f.).

 

2.1.4 Entwicklungsaufgaben im jungen Erwachsenenalter

 

Junge Erwachsene befinden sich in einem Übergang von der Jugend in das Erwachsenenalter. Aus entwicklungspsychologischer und gesundheitswissenschaftlicher Sicht sind Übergänge kritische Phasen (vgl. Rogge, 2020, S. 1f.). Im Folgenden sollen nun Entwicklungsaufgaben skizziert werden, die einem Menschen im jungen Erwachsenenalter begegnen.

 

Entwicklungsaufgaben sind an das Lebensalter gebundene Anforderungen, die sich typischerweise jedem Individuum im Laufe seines Lebens stellen. Sie ergeben sich durch das Zusammenspiel biologischer Veränderungen des Organismus, Erwartungen und Anforderungen, die aus dem sozialen Umfeld an das Individuum gestellt werden, sowie Erwartungen und Wertvorstellungen seitens des Individuums selbst. (Eschenbeck & Knauf, 2018, S. 24)

 

Somit stellen Entwicklungsaufgaben Anforderungen dar, die vom Individuum zu bewältigen sind. Sind ausreichend Ressourcen und Bewältigungsmöglichkeiten vorhanden, können die Anforderungen gut erfüllt werden. Sobald die Anforderung jedoch größer als die Bewältigungsmöglichkeit ist, kann eine Belastung für das Individuum entstehen. Daraus kann eine Überforderung hervorgehen und Entwicklungsziele können möglicherweise nicht erreicht werden (vgl. Eschenbeck & Knauf, 2018, S. 35).

 

Der Übergang von der Jugendphase in die Erwachsenenphase ist aus psychologischer Sicht nach Hurrelmann und Quenzel erreicht, sobald vier Entwicklungsaufgaben der Jugendphase abgeschlossen sind. Diese werden folgend kurz aufgeführt. Die Entwicklung der intellektuellen und sozialen Fähigkeit sollte stattgefunden haben. Des Weiteren sollte eine Ablösung der emotionalen Abhängigkeit der Eltern erfolgt sein. Im Kontakt- und Freizeitbereich sollte das Individuum eine gewisse Selbstständigkeit der Verhaltenssteuerung aufweisen. Abschließend sollte auch das Werte- und Normensystem entfaltet sein und eine gewisse Stabilität erreicht haben. Durch die Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben ist die Selbstbestimmungsfähigkeit des Individuums erreicht (vgl. Hurrelmann & Quenzel, 2016, S. 33f.). Die Bewältigung der genannten Entwicklungsaufgaben hat eine wichtige Bedeutung für den weiteren Lebensverlauf. Im Übergang zum Erwachsenenalter erfolgen wichtige Weichenstellungen für das Leben. Für den materiellen und sozialen Status ist insbesondere die schulische und berufliche Qualifikation entscheidend. Für Beziehungen und Lebenspartnerschaften ist die Bindungsfähigkeit maßgebend. Die erlernte Konsumfähigkeit regelt den Umgang mit Geld, Waren und der Freizeit. Die soziale Integration eines Menschen hängt stark mit dem Erwerb des Werte- und Normensystems ab. Durch die Entwicklungsaufgaben, die ein junger Mensch im Übergang von der Jugendphase in das Erwachsenenalter bewältigt, werden die genannten Weichenstellungen realisiert (vgl. Faltermeier, 2017, S. 16f.). „Dies alles sind Voraussetzungen für eine gute Balance zwischen Individuation und Integration und damit Kernmerkmale personaler und sozialer Identität eines Menschen“ (Faltermeier, 2017, S. 17). Jede Entwicklungsaufgabe bringt eine Vielfalt an Einzelanforderungen mit sich. Feste Vorgaben für die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben gibt es jedoch nicht. Es ist möglich, dass jeder Jugendliche seinen persönlichen Weg einschlägt, welcher seinen Voraussetzungen am besten entspricht. Ein Schulabschluss, der Aufbau einer Partnerschaft, die Beherrschung des Internets oder soziales Engagement werden als Ergebnis der Entwicklungsaufgaben jedoch erwartet. Dem Großteil aller Frauen und Männer gelingt die Bewältigung der Aufgaben. Nur bei schätzungsweise 20 % der jungen Generation kommt es zu dauerhaften Problemen bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben. Grund hierfür ist, dass meist die personalen oder sozialen Ressourcen für die Bewältigung nicht ausreichen (vgl. Hurrelmann & Quenzel, 2016, S. 223).

 

Im folgenden Kapitel wird das System der Kinder- und Jugendhilfe sowie die Hilfen zur Erziehung näher erläutert. Anschließend rückt die Heimerziehung in den Fokus.

 

2.2 Kinder- und Jugendhilfe

 

Die Kinder- und Jugendhilfe ist das größte Arbeitsfeld innerhalb der Sozialen Arbeit und wurde in den letzten Jahrzehnten stark ausgebaut. Circa ein Drittel aller Sozialarbeiter*innen und Sozialpädagog*innen sind in der Kinder- und Jugendhilfe beschäftigt. Bereits im Mittelalter gab es erste Waisenhäuser und Regelungen für verwaiste Kinder. Im 19. Jahrhundert entstanden dann viele verschiedene Einrichtungen und Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe (vgl. Aner & Hammerschmidt, 2018, S. 29). In einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes (Destatis) heißt es, dass die Gesamtausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe im Jahr 2019 in Deutschland bei rund 54,9 Milliarden Euro lagen. Dieser Betrag hat sich in den vergangenen 10 Jahren mehr als verdoppelt. Im Jahre 2009 lag der Wert noch bei 26,9 Milliarden Euro. Zwei Drittel der Ausgaben wurden in die Kindertagesbetreuung investiert. Ein weiterer Großteil (circa ein Viertel) der Ausgaben entfiel auf die Hilfen zur Erziehung. Hierzu zählt unter anderem die Vollzeitpflege junger Menschen, die Heimerziehung oder andere betreute Wohnformen. Außerdem wurde in die Jugendarbeit und in sonstige Aufgaben investiert (vgl. Statistisches Bundesamt (Destatis), 14.12.2020).

 

Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) ist ein Artikelgesetz und trat am 3. Oktober 1990 in Deutschland in Kraft. Artikel 1 meint hierbei das Achte Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII), welches sich im Laufe der Zeit stetig geändert hat. Es kam zu kleinen Korrekturen sowie zu erheblichen sachlichen Veränderungen. Die weiteren 23 Artikel des KJHG regeln Anpassungen anderer Gesetze an Sprache und Inhalt des SGB VIII, Übergangsvorschriften, rechtliche Details sowie Schlussvorschriften. In der Alltagssprache wird das KJHG oftmals mit dem SGB VIII gleichgesetzt, jedoch besteht hier in juristischer Sprache ein Unterschied (vgl. Struck, 2016, S. 666f.). Im Folgenden soll kurz auf wichtige Inhalte des SGB VIII eingegangen werden. Hierbei werden die dort formulierten Ziele und Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe aufgegriffen und folgend die Zuständigkeiten erläutert.

 

Das SGB VIII ist in zehn Kapitel unterteilt. Diese umfassen allgemeine Vorschriften, Leistungen der Jugendhilfe, andere Aufgaben der Jugendhilfe, Schutz von Sozialdaten, Träger der Jugendhilfe mit ihrer Zusammenarbeit und Gesamtverantwortung, zentrale Aufgaben des SGB VIII, Zuständigkeiten und Kostenerstattungen, Teilnahmebeiträge, Heranziehung zu den Kosten, Überleitungen von Ansprüchen, Kinder- und Jugendhilfestatistiken und zuletzt auch Straf- und Bußgeldvorschriften (vgl. Struck, 2016, S. 671-680). Die Ziele und Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe sind in § 1 SGB VIII aufzufinden. Diese nennen verschiedene Erwartungen auf verschiedenen Ebenen. Eine Erwartung ist unter anderem, dass es Angebote der Beratung und Unterstützung der Eltern bei der Erziehung der Kinder geben sollte. Des Weiteren sollen junge Menschen gefördert werden und Benachteiligungen vermieden oder abgebaut werden. Bei einer Gefährdung des Kindeswohls soll die Kinder- und Jugendhilfe dafür sorgen, dass die Gefahr abgewehrt wird. Außerdem soll zu positiven Lebensbedingungen für junge Menschen und ihren Familien, sowie zu einer kinder- und familienfreundlichen Umwelt beigetragen werden (vgl. Hansbauer, Merchel & Schone, 2020, S. 48).

 

Jugendhilfe mit ihrer Breite der Handlungsfelder und Methoden wird als der Versuch verstanden, auf vielfältige Lebensbewältigungsanforderungen von Eltern und ihren Kindern durch die Bereitstellung einer fördernden, helfenden und schützenden Infrastruktur zu reagieren. (Hansbauer, Merchel & Schone, 2020, S. 49)

 

Die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe müssen besonders vielfältig sein, um angepasst auf die komplexen gesellschaftlichen Anforderungen und ungleichen Teilhabechancen in der Gesellschaft zu sein. Es sollten Bedingungen für junge Menschen geschaffen werden, durch diese gesellschaftliche Teilhabe und individuelle Verwirklichungschancen ermöglicht werden. Damit dies möglich ist, müssen sich die gesetzlichen Grundlagen immer wieder auf den Prüfstand befinden und den gesellschaftlichen Entwicklungen stets angepasst werden (vgl. Hansbauer, Merchel & Schone, 2020, S. 49).

 

Im SGB VIII wird außerdem zwischen „Leistungen und anderen Aufgaben“ unterschieden. Freie Träger sind hierbei als „Leistungserbringer“ tätig. Für die „anderen Aufgaben“ sind die Kommunen zuständig. Dies sind sogenannte hoheitliche Aufgaben, welche nicht von freien Trägern durchgeführt werden dürfen. Hierbei wird durch die Kommunen beispielsweise auch unter bestimmten Bedingungen in Grundrechte (wie das Elternrecht auf Erziehung) eingewirkt. Der Kinder- und Jugendhilfe stehen widersprüchliche rechtliche Anforderungen entgegen. Einerseits sollen die Leistungen an den Bedürfnissen der Anspruchsberechtigten angepasst sein, jedoch muss in bestimmten Fällen auch gegen den Willen der Kinder, Jugendlichen oder Eltern gehandelt werden. Hierbei steht das Kindeswohl im Mittelpunkt. Demnach richtet sich die Entscheidung (vgl. Aner & Hammerschmidt, 2018, S. 33).

 

Im Folgenden wird sich auf die Hilfen zur Erziehung konzentriert und die rechtlichen Grundlagen kurz umrissen.

 

2.2.1 Hilfen zur Erziehung

 

Der Anspruch auf Hilfen zur Erziehung ergibt sich für minderjährige Kinder oder Jugendliche aus dem § 27 Abs.1 SGB VIII. Wortwörtlich heißt es dort:

 

Ein Personensorgeberechtigter hat bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. (§ 27 Abs.1 SBG VIII)

 

Somit ist der Personensorgeberechtigte in diesem Fall auch der Anspruchsberechtigte. Sobald ein Kind oder ein Jugendlicher von einer seelischen Behinderung bedroht ist, greift § 35a Abs.1 SGB VIII. Demnach ist dann das Kind oder Jugendliche auch der*die Anspruchsberechtigte, da er*sie einen Anspruch auf Eingliederungshilfe hat. Bei jungen Volljährigen ist nach § 41 Abs.1 SGB VIII auch eine Hilfe zur Erziehung möglich. Die Hilfe sollte aufgrund der Lebenssituation des jungen Volljährigen geeignet und nötig sein. Es handelt sich hierbei jedoch nur um eine Soll-Vorschrift. Damit ist gemeint, dass theoretisch auch eine Ablehnung der Hilfe möglich wäre, wenn ein atypischer Sachverhalt vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe begründet und bewiesen werden kann. Meist führt eine negative Prognose für den weiteren Lebenslauf des jungen Volljährigen zu einer Ablehnung. Für die Gewährung der Hilfen zur Erziehung von § 27, 35a und 41 SGB VIII muss immer ein Antrag beim öffentlichen Träger (Jugendamt) gestellt werden. Es handelt sich hierbei um Einzelfallhilfen. Für die Gewährung der Hilfen ist zu prüfen, ob ein erzieherischer Bedarf besteht oder ob die Hilfe geeignet oder notwendig ist. Um dies zu überprüfen, spielen die vorherrschenden Normvorstellungen zu dem bestimmten Zeitpunkt in der Gesellschaft eine wichtige Rolle. Fachkräfte bestimmen aufgrund dieser, welche Verhaltensweisen und Lebensumstände der betroffenen Kinder und Jugendliche als akzeptabel, defizitär oder gefährdenden einzuschätzen sind. Für Hilfen, die eine längere Zeit geleistet werden und auf Grundlage von §§ 27, 35a oder 41 SGB VIII bewilligt werden, ist ein Hilfeplanverfahren durchzuführen. Die Hilfeplanung ist in § 36 SGB VIII näher geregelt. Hierbei werden unter anderem das Erreichen der angestrebten Ziele regelmäßig überprüft oder die Hilfe an veränderte Lebensumstände angepasst (vgl. Hansbauer, Merchel & Schone, 2020, S. 237ff.).

 

Im nächsten Abschnitt rückt besonders die Heimerziehung als eine Form der Hilfen zur Erziehung in den Fokus.

 

2.2.2 Heimerziehung als Hilfe zur Erziehung

 

Für den Großteil der Bevölkerung wirkt die Heimerziehung eher befremdlich. Der Begriff des Heims an sich ist positiv besetzt, da hiermit beispielsweise das Gefühl des Wohlfühlens, des Zuhauseseins oder des Willkommenseins assoziiert werden. Dennoch wird der Begriff der Heimerziehung eher als negativ besetzt wahrgenommen. Hiermit werden schwierige Kinder oder Jugendliche, vereinheitliche Zustände oder eine nicht freiwillige Unterbringung in Verbindung gebracht. Somit existieren weiterhin Vorurteile gegenüber der Heimerziehung. Zieht beispielsweise eine Außenwohngruppe in ein etabliertes Wohngebiet, herrscht oftmals eine große Skepsis der Nachbarn gegenüber der Wohngruppe. Aufgrund der herrschenden Vorurteile der Heimerziehung, wird schnell schlimmes befürchtet (vgl. Heidemann & Greving, 2011, S. 24).

 

Das System der Hilfen außerhalb der Herkunftsfamilie ist erst im Laufe der Jahrhunderte zu dem geworden, was es heute ist. Die historischen Wurzeln sind in religiösen Fürsorgeeinrichtungen aus dem Mittelalter zu finden. Im Laufe der Zeit erfuhr die Heimerziehung einige Formenwandel (vgl. Zeller, 2016, S. 793). Heutzutage ist die Heimerziehung näher im § 34 SGB VIII geregelt. Wie bereits im Gesetz bestimmt, beschreibt diese Form der Hilfen zur Erziehung die Unterbringung eines Kindes oder Jugendlichen über Tag und Nacht in einer Einrichtung. Somit befindet sich diese*r nicht mehr im Elternhaus. In der Einrichtung wird dem Kind oder Jugendlichen eine befristete oder auf längere Dauer angelegte Lebensform geboten. Hierbei kann es verschiedene Zielsetzungen geben, die kurz aufgezählt werden. Zum einen kann die Rückkehr in die Familie angestrebt werden und soll in der Zeit innerhalb der Einrichtung gefördert werden. Auch die Vorbereitung einer Vollzeitpflege, welche in einer anderen Familie stattfindet, kann angezielt werden. Außerdem kann die Heimerziehung auch als eine Lebensform für längere Zeit angestrebt werden oder als eine Vorbereitung für ein selbstständiges Leben dienen. Durch die unterschiedlichen möglichen Zielsetzungen hat sich eine Konzeptvielfalt in der Heimerziehung entwickelt, um alters- und entwicklungsgerechte Hilfen anbieten zu können. Das Jugendamt ist dabei zu einer aktiven Prozessbegleitung verpflichtet (vgl. Jordan, Maykus & Stuckstätte, 2015, S. 265f.). Sobald Kinder oder Jugendliche in Heimen untergebracht werden und dies gegen den Willen der Eltern entspricht, muss ein familiengerichtlicher Beschluss vorliegen. Dieser soll aussagen, dass den Eltern die elterliche Sorge oder ein Teil ihres Sorgerechts entzogen wird. Dieses Sorgerecht wird dann nach § 1666 BGB einem Vormund oder Pfleger übertragen. Dieser hat die Aufgabe, eine geeignete Unterbringung für das Kind oder den Jugendlichen außerhalb der Herkunftsfamilie zu finden. Bevor die Unterbringung in einer Pflegefamilie oder in einer stationären Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe angestrebt wird, muss nach § 1666a BGB geprüft werden, ob nicht andere öffentliche Hilfen ausreichen würden. Die Heimerziehung kommt somit immer nur dann als Hilfe zur Erziehung infrage, wenn sie tatsächlich notwendig ist. Diese Hilfe soll die Familie nicht ersetzen, sondern eine Hilfe für eine gewisse Zeit bieten. Dies geschieht dann, wenn die Herkunftsfamilie die notwendigen Voraussetzungen für die Erziehung des Kindes oder Jugendlichen nicht bieten kann (vgl. Heidemann & Greving, 2011, S. 28).

 

2.2.3 Verschiedene Formen der Heimerziehung

 

Die Begriffe Heimerziehung und stationäre Erziehungshilfen werden heute oft synonym verwendet. Es gab jedoch in der Fachdiskussion immer wieder Versuche den Begriff der Heimerziehung zu ersetzen. „Heim“ wird oftmals mit einer großen Institution in Verbindung gebracht. Jedoch gibt es auch dezentrale, flexible und ausdifferenzierte Formen der stationären Erziehungshilfe. Somit wäre der Begriff der Fremdplatzierung geeigneter, um den Zustand zu beschreiben, dass es viele Möglichkeiten gibt, einen Menschen an einem anderen Lebensort unterzubringen (vgl. Zeller, 2016, S. 792f.). In den letzten Jahrzehnten entstanden in Deutschland viele unterschiedliche Formen der Unterbringung für Kinder und Jugendliche, was häufig als „Differenzierung“ oder „Spezialisierung“ bezeichnet wird. Früher war es oftmals so, dass Kinder und Jugendliche in vielen verschiedenen Einrichtungen gelebt haben und diese häufig, beispielsweise aufgrund ihres Alters, wechseln mussten. Es existierten Heime für Säuglinge, Vorschulkinder und Schulkinder. Heutzutage besteht dieses Modell kaum noch. Kinder und Jugendliche müssen ihre Wohngruppen nicht mehr nur aufgrund ihres Alters wechseln. Es werden verschiedene Betreuungsformen in den einzelnen Wohngruppen geboten, was als „Binnendifferenzierung“ bezeichnet wird. Kinder und Jugendliche müssen heutzutage jedoch trotzdem je nach Fall die Einrichtung wechseln. Gründe hierfür können sein, dass die pädagogischen Mitarbeiter*innen oder das ganze Erziehungssystem in der Einrichtung eine Überforderung mit der Erziehung und Betreuung des Betroffenen aufweisen. Oftmals gilt der Zustand als „nicht mehr tragbar“ (vgl. Heidemann & Greving, 2011, S. 35). Einige unterschiedliche konzeptionelle Ausrichtungen der Heimerziehung sollen im Folgenden aufgeführt werden. Hierbei werden nur einige der wichtigsten Heimarten aufgeführt, da es hierbei ein sehr umfangreiches Spektrum an Ausrichtungen gibt.

 

Es gibt Wohneinheiten in Zentralheimen, in welchen meist fünf bis acht Kinder von vier bis fünf pädagogischen Fachkräften im Schichtdienst betreut werden. Die Kinder wohnen in abgetrennten Wohneinheiten in einem Haus oder auf einem Heimgelände. Des Weiteren gibt es dezentrale Wohngruppen, in welchen auch meist fünf bis acht Kinder wohnen. Diese wohnen in Mietwohnungen oder Einfamilienhäusern in normalen Wohnfeldern und gehören einem größeren Träger beziehungsweise Zentralheim an oder sind eigenständig. Eine weitere Form sind Wohngruppen mit sozialpädagogischen, heilpädagogischen oder therapeutischen Ausrichtungen. In diesen finden nach einem spezialisierten Konzept Förderungen und therapeutische Angebote statt. Des Weiteren gibt es Wohngruppen mit einem spezifischen Zielgruppenbezug. Dort kommen Zielgruppen, wie etwa junge straffällige Männer oder Kinder eines bestimmten Alters unter. Außerdem gibt es Familienähnliche Wohnformen. Betreuer*innen und Kinder leben hier zum Teil in privaten Räumlichkeiten zusammen und werden stundenweise durch pädagogische Ergänzungskräfte im familienähnlichen Alltag mitunterstützt. Unter diese Wohnform fallen auch sozialpädagogische Lebensgemeinschaften, Erziehungsstellen oder Kinderdörfer. Ältere Jugendliche können in Verselbständigungsgruppen leben. Hierbei leben mehrere Jugendliche zusammen und werden nach Bedarf sozialpädagogisch betreut (vgl. Jordan, Maykus & Stuckstätte, 2015, S. 270f.).

 

2.2.4 Alltag in der Heimerziehung

 

In der Heimerziehung ist es wichtig, sich mit der Gestaltung des Alltags in den Gruppen zu beschäftigen. Viele Aspekte des Tagesablaufs sind vergleichbar mit dem Tagesablauf in Familien, wie etwa das Wecken der Kinder, das gemeinsame Frühstück, der Schulunterricht der Kinder und Jugendlichen, das gemeinsame Mittagessen und viele weitere Aspekte. Jedoch bedarf es trotzdem einer besonderen Alltagspädagogik in der Heimerziehung. Dies hat Gründe, die kurz aufgeführt werden. Die Kinder und Jugendlichen in den Einrichtungen weisen Entwicklungsdefizite und Verhaltensauffälligkeiten auf. Da die Heimerziehung ein „unnatürliches“ Erziehungsgebilde darstellt, sind Planung und Strukturen besonders wichtig, um den verschiedenen Ansprüchen der Kinder oder Jugendlichen gerecht zu werden. Des Weiteren werden die Kinder nicht von den Eltern, sondern von professionellen Erziehenden betreut, die nach einem gesetzlich formulierten Erziehungsauftrag handeln. Aus diesen Gründen ist eine „Pädagogisierung“ des Alltagshandelns erforderlich. Im pädagogischen Alltag können die Erziehenden viele Dinge tun, um die Kinder und Jugendlichen positiv zu beeinflussen. Hierbei spielt die Gestaltung des Tagesablaufs eine wichtige Rolle. Alle Mitarbeiter*innen, sowie auch die Hauswirtschaftskraft, sind Gestalter des alltagspädagogischen Milieus. Das Handeln im Alltag sollte nicht zufällig ablaufen, sondern von der Konzeption der Gruppe abgeleitet werden (vgl. Heidemann & Greving, 2011, S. 158f.). Im Alltag der Heimerziehung ist somit eine gewisse Professionalität gefragt. Kinder und Jugendliche treffen in der Heimerziehung auf eine Rahmung, die sie so selbst nicht gewählt haben. Beispielsweise sind die Möbel und Bilder der Wohngruppe nicht ihrem Geschmack entsprechend, die Urlaubsplanung entspricht nicht den eigenen Wünschen, an die fremden Gruppen- und Hausregeln muss sich zunächst gewöhnt werden, sowie an die anderen Kinder und Jugendlichen. Zwischen den anderen Kindern und Jugendlichen muss sich zuerst behauptet werden und demnach entwickeln sich entsprechend Freundschaften, Ablehnungen oder Konkurrenzen. Außerdem ist der Wohnort der Familie nun nicht mehr der Wohnort des Kindes oder Jugendlichen (vgl. Hansbauer, Merchel & Schone, 2020, S. 252f.). „Heimerziehung steht also vor der fachlichen Aufgabe, in einem Rahmen, den das Kind i.d.R. als fremdgestaltet erlebt, wesentliche Versorgungs- und Erziehungsfunktionen in Stellvertretung der Eltern zu übernehmen (oder, wann immer das möglich ist, sie mit den Eltern gemeinsam zu erbringen)“ (Hansbauer, Merchel & Schone, S. 253). Die Heimerziehung übernimmt die Aufgaben der Sozialisationsfunktion, Platzierungsfunktion, Freizeitfunktion und der sozialen Reproduktionsfunktion. Durch die Sozialisationsfunktion werden Individuen zum Teil einer Gesellschaft. Die Platzierungsfunktion beschreibt das Finden der gesellschaftlichen Position innerhalb und außerhalb des Erwerbslebens. Die Freizeitfunktion beschreibt die Trennung zwischen Arbeitszeit und der frei verfügbaren Zeit. Und zuletzt meint die Reproduktionsfunktion die Formen der Regeneration, die dazu führen, dass die Leistungsfähigkeit etwa wie in Bereichen der Schule aufrecht gehalten oder wiederhergestellt wird (vgl. Hansbauer, Merchel & Schone, S. 253).

 

2.3 Statuspassage Care Leaver*innen

 

Nachdem in den vorherigen Kapitel die verschiedenen Lebensphasen und die Heimerziehung näher dargestellt wurden, wird sich nun weiter dem Titel der Arbeit angenähert. Care Leaver*innen, die sich im Übergang aus der Heimerziehung befinden, rücken nun in den Fokus. Hierbei soll diese Personengruppe zunächst näher beschrieben werden und auf den Prozess des Übergangs, sowie dem Erwerb der Selbstständigkeit eingegangen werden.

 

Die Lebensphase des Leaving Care beschreibt die Zeit nach dem Verlassen einer Einrichtung der Erziehungshilfe. Somit ist dies nach Sievers, Thomas und Zeller eine Statuspassage im Lebenslauf, welche eine längere Zeit andauert. In dieser Zeit wird gleichzeitig der Erwachsenenstatus erreicht, sowie aus der öffentlichen Erziehung und dem unterstützenden Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe herausgetreten. Die als Care Leaver*innen bezeichnete Gruppe von jungen Menschen wird in internationalen empirischen Befunden aufgrund ihrer psychosozialen Belastung als sozial benachteiligte Gruppe bezeichnet. Daher gelten sie als eine unterstützungsbedürftige Zielgruppe (vgl. Sievers, Thomas & Zeller, 2018, S. 20f.). Die Bezeichnung der Care Leaver*innen meint jedoch bei genauerem Hinsehen einen sehr heterogenen Personenkreis. Jeder Person sind unterschiedliche biografische Voraussetzungen und Hilfebedürfnisse begegnet. Die Anlässe für die stationäre Unterbringung sowie die Hilfeverläufe sind vielfältig (vgl. Thomas, 2015, S. 20). Care Leaver*innen kehren in der Regel nicht in ihre Herkunftsfamilien zurück, sondern stehen vor dem Übergang in ein Erwachsenen- und Berufsleben. Diese Art der Verselbstständigung wird institutionell vorgesehen. Beim Auszug aus der stationären Hilfe sollen die jungen Erwachsenen bereit für ein eigenständiges und selbstverantwortliches Leben sein (vgl. Strahl & Thomas, 2013, S. 2).

 

Die stationäre Hilfe zur Erziehung soll den Care Leaver*innen eine Form der Hilfe in ihrem Leben bereitstellen, in welcher sie Konflikte entschärfen können und in ihrer jeweiligen familiären Lebenssituation aufgefangen werden. Jedoch erfahren die in diesem Setting erreichten Entwicklungsschritte einen Bruch, sobald die Hilfe endet. Einhergehend mit dem Übergang in die Selbstständigkeit gibt es jedoch hinsichtlich der Übergangsbegleitung vielseitige Probleme (vgl. Strahl & Thomas, 2013, S. 9). Auf diese Problematik im Übergang soll im nächsten Kapitel schrittweise aufmerksam gemacht werden.

 

2.3.1 Übergänge aus der Heimerziehung

 

Ein Menschenleben hält zahlreiche Übergänge bereit. Sei es der Übergang von Kindergarten in die Schule, Übergänge in verschiedenen Schulformen, der Übergang von Schule in den Beruf – also institutionelle Übergänge – und individuelle Übergänge, wie vom Single-Dasein zum Paar, vom Paar zu Eltern, von Gesundheit zu Krankheit, Wohnübergänge, Übergänge in ein Studium, etc. – oder eben auch der Übergang in und aus der Heimerziehung, Wegzug von Eltern(-teilen), Umzug in eine eigene Wohnung, usw. (Theile, 2020, S. 91)

 

Übergänge lassen sich als vielschichtige Phasen und Ereignisse im Lebenslauf bezeichnen, welche vom Individuum und der Gesellschaft beeinflusst werden. Übergänge vollziehen sich dabei individuell und werden von jedem Menschen unterschiedlich verarbeitet, bewältigt und bewertet. Die Unterschiede resultieren hierbei aus den verschiedenen Lebensgeschichten der Menschen. Somit können Veränderungen, neue Anforderungen, Unsicherheiten, Anpassungsleistungen oder auch Verletzungen durch den Prozess des Übergangs entstehen. Übergänge haben Folgen für den weiteren Lebensverlauf (vgl. Theile, 2020, S. 97).

 

Die Übergangsthematik in der Kinder- und Jugendhilfe ist äußerst vielschichtig. Es existieren einige Facetten der Übergangsthematik, welche vielfältige professionelle Herausforderungen mit sich bringen. Im Folgenden wird sich nun spezifisch auf den Übergang von der Heimerziehung in ein selbstständiges Leben konzentriert. Care Leaver*innen verlassen die Jugendhilfe und stehen somit am Übergang zur Selbstständigkeit und dem Erwachsenenalter. Herausfordernd ist dabei gleichzeitig den Übergang aus der Erziehungshilfe und den Übergang in eine neue Lebensphase des Erwachsenenalters zu meistern. Dieser Zustand macht eine gute Übergangsgestaltung seitens der Sozialen Arbeit nötig (vgl. Köngeter & Zeller, 2013, S. 571). Der Prozess des Übergangs von Care Leaver*innen erfährt heutzutage besondere Aufmerksamkeit. Dies liegt unter anderem daran, dass der Übergangsprozess des jungen Erwachsenenalters langwieriger und komplexer geworden ist, als er in der Vergangenheit noch war. Der Übergang für die Care Leaver*innen hat sich jedoch beschleunigt, da die Unterstützung in den Erziehungshilfen zeitlich begrenzt ist (bis zum 18. oder 21. Lebensjahr). Außerdem sind im Vergleich zu den Peers weniger Unterstützungsressourcen vorhanden. Das liegt daran, dass es meist keine Unterstützung durch die Herkunftsfamilie oder andere erwachsene Bezugspersonen gibt. Das führt unter anderem dazu, dass Care Leaver*innen als eine stark sozial benachteiligte Gruppe gelten (vgl. Köngeter & Zeller, 2013, S. 582).

 

Im Folgenden soll der Unterschied zwischen dem Übergang von Care Leaver*innen aus der Heimerziehung in ein selbstständiges Leben und ihren Peers, die in der Herkunftsfamilie leben und den Weg in die Selbstständigkeit gehen, verdeutlicht werden. Dem Statistischen Bundesamt (Destatis) zufolge wohnten im Jahr 2019 noch circa 28 % der unter 25-Jährigen im elterlichen Haushalt. Söhne bleiben hierbei im Schnitt mit 34 % länger im Haushalt der Eltern leben als Töchter mit circa 21 %. Das Durchschnittsalter des Auszugs liegt in Deutschland bei circa 23,7 Jahren. Die Gründe für den Auszug können sehr vielfältig sein. Unter anderem sind der Wunsch nach Selbstständigkeit, ein Studienplatz oder der Berufseinstieg Gründe hierfür (vgl. Statistisches Bundesamt (Destatis), 05.08.2020). Werden die Übergänge von Care Leaver*innen und ihren Peers, die in ihren Familien aufwachsen verglichen, fallen somit große Unterschiede auf. Care Leaver*innen, die in der öffentlichen Erziehung aufwachsen, erleben oftmals beschleunigte Übergänge in das Erwachsenenleben. Daraus folgt, dass Zeiträume für die individuellen Übergänge und Entwicklungsprozesse begrenzt werden (vgl. Sievers, Thomas & Zeller, 2018, S. 22). Sie müssen sich frühzeitig mit dem Übergang in eine eigenverantwortliche Wohn- und Lebensform vertraut machen. Den Schutzraum und die Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung, die ihnen im Setting der stationären Hilfe geboten wurden, müssen nun verlassen werden. Im Vergleich zu ihren Peers, die in den Herkunftsfamilien aufwachsen, bleibt ihnen weniger Zeit, um sich auf die selbstständige Lebensführung vorzubereiten. Dem spricht die eigentliche Vorstellung entgegen, dass die in dem Setting der Hilfen zur Erziehung befindende Personen eine längere Reifungsphase haben und eine intensivere Unterstützung benötigen. Das kann biografische oder in der Persönlichkeit des jungen Menschen liegende Gründe haben (vgl. Strahl & Thomas. 2013. S. 5).

 

Die Universität Hildesheim hat in Zusammenarbeit mit der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) einige Forschungsprojekte zum Themengebiet der Care Leaver*innen durchgeführt. Unter anderem führten sie in den Jahren 2013 und 2014 das Projekt „Nach der stationären Erziehungshilfe – Care Leaver in Deutschland“ durch. Bei dem Projekt wurden die verschiedenen Erfahrungen der Ausgestaltung der Hilfen in den Einrichtungen aus der Perspektive der professionellen Akteur*innen erhoben. Aus diesen Erfahrungen entstand eine erste systematische Erfassung (Monitoring) von den Übergangspraxen. In einem zweiten Schritt wurden die deutschen Formen der Übergangsbegleitung mit den internationalen Übergangspraxen und -modellen verglichen. Ein wichtiges Ziel dieses Projektes war es, auf die besondere Situation von den Care Leaver*innen aufmerksam zu machen und auf nötige strukturelle Anpassungen für Care Leaver*innen im Hilfesystem hinzuweisen (vgl. Sievers, Thomas & Zeller, 2014, S. 4f.). Durchgeführt wurde das Projekt in Form von Interviews. Nach einer ersten Literaturrecherche wurden Interviewleitfaden entwickelt. Daraufhin erfolgten acht telefonische Interviews mit Führungskräften und pädagogischen Mitarbeiter*innen aus verschiedenen Einrichtungen. Diese erhobenen Interviews wurden anschließend ausgewertet (vgl. Sievers, Thomas & Zeller, 2014, S. 8). Einige wichtige Erkenntnisse des Projektes werden nun aufgeführt. Das Fall- und Übergangsmanagement in der Übergangsbegleitung aus den stationären Erziehungshilfen in ein selbstständiges Leben wurde als unzureichend identifiziert. Im Übergang von der Erziehungshilfe in andere Hilfesysteme liegt kein ausgearbeitetes Fall- und Übergangsmanagement vor. Allein die örtliche Hilfekultur und einzelne Personen sind bislang dafür verantwortlich, ob der Übergang gut vorbereitet ist und ob anschlussfähige Unterstützungssysteme bereitstehen. Des Weiteren sollten auch andere Hilfesysteme für die Situation der Care Leaver*innen sensibilisiert und eine intensive Kooperation zwischen den unterschiedlichen Leistungsbereichen vertieft werden. Außerdem wird eine inklusive Zuständigkeit der Personengruppe zwischen 18 und 25 Jahren vorgesehen. Dies liegt daran, dass die Zeit des Erwachsenwerdens im Vergleich zu früher verlängert ist. Besondere Hilfesettings und spezialisierte soziale Dienste sollten für diese Altersgruppe entstehen. In den Datenerhebungen hat sich generell gezeigt, dass der Hilfebedarf für Care Leaver*innen teilweise weiterbesteht. Kritisiert wird, dass die Einrichtungen der Erziehungshilfe keine weitere Kenntnis mehr zu den Care Leaver*innen erhalten und auch nicht erfahren, wie nachhaltig die Hilfe somit war. Von den Projektdurchführenden wird eine Verpflichtung zur nachhaltigen Kontaktpflege vorgeschlagen, die in anderen Ländern bereits praktiziert wird. Dadurch können biografische Verläufe beobachtet und gegebenenfalls Unterstützung angeboten werden (vgl. Sievers, Thomas & Zeller, 2014, S. 30f.).

 

Ein Resultat der Projektarbeit ist die Erkenntnis, dass die Stärkung der Rechtsposition von Care Leaver und deren Partizipation im Übergang in ein eigenständiges Leben sowie an der politischen Sensibilisierung für diese Zielgruppe im Rahmen einer stärker selbstorganisierten Interessenvertretung wichtige nächste Schritte sind, um die soziale Situation junger Erwachsener im Übergang aus stationären Erziehungshilfen in ein selbstständiges Leben zu verbessern. (Sievers, Thomas & Zeller, 2014, S. 31)

 

2.3.2 Übergangsmanagement

 

In diesem Kapitel wird das Konzept des Übergangsmanagements nach Andreas Oehme näher vorgestellt. Der Begriff des Übergangsmanagements wird immer präsenter und fasst heute eine Vielzahl an Maßnahmen, die eine Gestaltung von Übergängen anzielen. Schwerpunkt ist hierbei der Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter. Das Konzept setzt dabei an den Problemen an, dass seit den 1990er-Jahren die Übergänge an sich komplexer und die Phasen des Übergangs länger geworden sind. Des Weiteren existieren sehr viele Angebote, die kaum in Bezug zueinanderstehen (vgl. Oehme, 2013, S. 791f.).

 

Übergangsmanagement zielt darauf ab, durch regionale Vernetzung Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangebote zu koordinieren und zueinander in Bezug setzen, um eine zumindest in Ansätzen kohärente Übergangsstruktur in den Regionen zu gestalten, die dem lokalen Bedarf an Bildung, Ausbildung und Unterstützung der Menschen im Übergang gerecht wird. (Oheme, 2013, S. 791)

 

Es gibt zwei Begriffsverständnisse des Übergangsmanagements. Zu einem existiert das „strukturelle Übergangsmanagement“. Hierbei werden unterschiedliche Akteure in einer Region vernetzt und die Unterstützungsangebote aufeinander abgestimmt. Eine neue Managementebene entsteht, die die relevanten Aufgaben übernimmt (etwa die Netzwerkarbeit koordiniert, Kontakte erschließt, Angebote erfasst usw.). Oftmals ist diese Managementebene in der Verwaltungsstruktur der Kommune angesiedelt. Das zweite Begriffsverständnis des Übergangsmanagements wird als „individuelles Übergangsmanagement“ bezeichnet. Dieses hat das Ziel, eine individuelle Begleitung des Jugendlichen im Übergang zu ermöglichen. Diese Idee geht davon aus, dass manche Jugendliche einen besonderen Förderbedarf aufweisen und daher mit Übergangsprozessen und den Angeboten zur Unterstützung überfordert sein könnten. Hierbei steht somit der Einzelfall im Fokus. Wichtig für die individuelle Begleitung ist, dass eine entsprechende Unterstützungsstruktur besteht, welche dem individuellen Unterstützungsbedarf des Jugendlichen auch entspricht. Das individuelle Übergangsmanagement kann somit eine Brücke zwischen Angebot und Jugendlichen schlagen (vgl. Oheme, 2013, S. 792f.).

 

2.3.3 Faktoren für einen gelingenden Übergangsprozess

 

Im Folgenden sollen Aspekte vorgestellt werden, die als gute Voraussetzungen für einen gelingenden Übergang aus der Hilfe in das eigenständige Leben identifiziert wurden. Der erste Aspekt ist das Vorhandensein von sozialen Beziehungen und wichtigen Wegbegleiter*innen. Stabilität und Kontinuität in sozialen Beziehungen können sich äußerst positiv auf den Übergangsprozess auswirken. Wegbegleiter*innen können etwa ehemalige Mitarbeiter*innen aus der Heimerziehung, Gleichaltrige oder auch Personen aus der Herkunftsfamilie sein. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Übergangs betrifft die Wohnsituation. Es sollte eine stabile und zufriedenstellende Wohnsituation geschaffen werden. Auch die psychische und physische Gesundheit spielt eine entscheidende Rolle. Der Gesundheitszustand von jungen Menschen aus stationären Erziehungshilfen wird im Vergleich zu ihren Peers generell als schlechter angesehen. Im Übergang aus der Erziehungshilfe kann sich der Gesundheitszustand jedoch positiv ändern, wenn es eine fortlaufende Unterstützung einer Bezugsperson im Übergangsprozess gibt. Außerdem ist es wichtig, dass Care Leaver*innen Zugänge zu einer geeigneten Gesundheitsversorgung bekommen. In Deutschland gibt es aktuell jedoch keine adäquaten psychiatrischen Angebote für diese Personengruppe. Ein weiterer wichtiger Aspekt im Übergang sind die Bildungschancen. Hierbei ist es wichtig, in stationären Hilfen sowie im Übergang formelle und informelle Bildungsgelegenheiten gezielt zu berücksichtigen und zu fördern. Der letzte Aspekt für einen gelingenden Übergang, der hier aufgeführt wird, sind die alltagspraktischen Kompetenzen. Damit ist beispielsweise das Kochen oder der Umgang mit dem eigenen Budget gemeint. Diese Kompetenzen werden in der stationären Erziehungshilfe oftmals trainiert, jedoch können die erworbenen Fähigkeiten allein in der eigenen Wohnung schwieriger angewendet werden. Es kommt häufig zu einer Überforderung, wenn es darum geht den eigenen Haushalt selbstverantwortlich zu führen. Um die Kompetenzen jedoch zu stärken, sollte hierbei eine längerfristige Begleitung stattfinden (vgl. Thomas, 2015, S. 21ff.).

Ende der Leseprobe aus 50 Seiten

Details

Titel
Leaving Care. Der Übergang von der Heimerziehung in ein selbstständiges Leben
Hochschule
Universität Siegen
Note
1,5
Jahr
2021
Seiten
50
Katalognummer
V1204054
ISBN (eBook)
9783346644817
ISBN (eBook)
9783346644817
ISBN (eBook)
9783346644817
ISBN (Buch)
9783346644824
Sprache
Deutsch
Schlagworte
leaving, care, übergang, heimerziehung, leben
Arbeit zitieren
Anonym, 2021, Leaving Care. Der Übergang von der Heimerziehung in ein selbstständiges Leben, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1204054

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