Le Monde comme il va ist im Gegensatz zu anderen Erzählungen Voltaires, wie beispiels-weise Zadig, L’ingénu und Candide, weniger bekannt und wissenschaftlich untersucht worden. Dieser geringe Bekanntheitsgrad ist erstaunlich, denn Le Monde comme il va ist geradezu repräsentativ für die Gattung des „conte philosophique.“ Außerdem überzeugt die Erzählung durch eine komplexe Handlung mit weitreichenden Interpretationsmöglichkeiten und sprachlichen Raffinessen, die durch ironische Formulierungen erzielt werden. Durch den aktuellen Forschungsansatz einiger Literaturwissenschaftler, die Stadt Persepolis mit Paris gleichzusetzen, hat der Text heute ebenfalls ein historisches Interesse.
Ab 1704 wurden die Geschichten aus 1001 Nacht (um 956) von Antoine Galland (1646-1715) ins Französische übersetzt und nahmen Einzug in die literarische Welt des Abend-landes. Die orientalischen Märchen wurden allerdings als Unterhaltungsliteratur betrachtet, als nette Geschichten ohne Bedeutung. Die „contes philosphiques“ hingegen unterscheiden sich von den Erzählungen des Orients in einem wichtigen Punkt. Sie beinhalten eine „vérité fine“, einen tieferen Sinn, der den Leser nicht nur amüsieren, sondern auch zum Nachdenken anregen soll. Die „vérité fine“ ist kasuistisch, das heißt von Fall zu Fall ent-scheidend.
Auf den folgenden Seiten werde ich herausarbeiten, welche „vérité fine“ Le Monde comme il va beinhaltet und dabei den conte unter verschiedenen Aspekten untersuchen. Dabei werde ich im ersten Teil eine hauptsächlich textimmanente Analyse durchführen. Danach werde ich auf die beiden Prophetenerzählungen eingehen, die Voltaire in Le Monde comme il va mit eingebunden hat. Diese Betrachtungsweise ist nicht unerheblich, weil Voltaire die Bibel häufig als Inspirationsquelle verwendete. Im letzten Teil werde ich mich mit der Interpretation unter biographischen Gesichtspunkten befassen und diese exemplarisch verdeutlichen.
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Zur Entstehungsgeschichte
2. Gut und Böse in der Erzählung
3. Intertextualität in Le Monde comme il va
3.1 Das Buch Jona
3.2 Das Buch Daniel
4. Le Monde comme il va als satirisches Panorama der Stadt Paris
5. Die „vérité fine“ des conte: Die Relativierung aller moralischen Urteile
6. Fazit: Le Monde comme il va als „conte philosphique“
Verwendete Literatur
Einleitung
Le Monde comme il va ist im Gegensatz zu anderen Erzählungen Voltaires, wie beispielsweise Zadig, L’ingénu und Candide, weniger bekannt und wissenschaftlich untersucht worden. Dieser geringe Bekanntheitsgrad ist erstaunlich, denn Le Monde comme il va ist geradezu repräsentativ für die Gattung des „conte philosophique.“ Außerdem überzeugt die Erzählung durch eine komplexe Handlung mit weitreichenden Interpretationsmöglichkeiten und sprachlichen Raffinessen, die durch ironische Formulierungen erzielt werden. Durch den aktuellen Forschungsansatz einiger Literaturwissenschaftler[1], die Stadt Persepolis mit Paris gleichzusetzen, hat der Text heute ebenfalls ein historisches Interesse.
Ab 1704 wurden die Geschichten aus 1001 Nacht (um 956) von Antoine Galland (1646-1715) ins Französische übersetzt und nahmen Einzug in die literarische Welt des Abendlandes. Die orientalischen Märchen wurden allerdings als Unterhaltungsliteratur betrachtet, als nette Geschichten ohne Bedeutung.[2] Die „contes philosphiques“ hingegen unterscheiden sich von den Erzählungen des Orients in einem wichtigen Punkt. Sie beinhalten eine „vérité fine“, einen tieferen Sinn, der den Leser nicht nur amüsieren, sondern auch zum Nachdenken anregen soll. Die „vérité fine“ ist kasuistisch, das heißt von Fall zu Fall entscheidend.
Auf den folgenden Seiten werde ich herausarbeiten, welche „vérité fine“Le Monde comme il va beinhaltet und dabei den conte unter verschiedenen Aspekten untersuchen. Dabei werde ich im ersten Teil eine hauptsächlich textimmanente Analyse durchführen. Danach werde ich auf die beiden Prophetenerzählungen eingehen, die Voltaire in Le Monde comme il va mit eingebunden hat. Diese Betrachtungsweise ist nicht unerheblich, weil Voltaire die Bibel häufig als Inspirationsquelle verwendete. Im letzten Teil werde ich mich mit der Interpretation unter biographischen Gesichtspunkten befassen und diese exemplarisch verdeutlichen.
Le Monde comme il va kann unter einer zahlreichen Themenvielfalt betrachtet werden. Obwohl die Untersuchung der satirischen Effekte oder die Darstellung der Frauen in diesem conte sicherlich ergiebig wäre, werde ich mich aus Gründen der Machbarkeit bei meiner Analyse auf die Frage konzentrieren: Wie werden Gut und Böse in Le Monde comme il va dargestellt?
1. Zur Entstehungsgeschichte
Die Erzählung wurde erstmals im Oktober 1747 im Salon der Duchesse du Maine vorgelesen. Hierbei handeltet es sich um die Frau von Louis Auguste de Bourbon, dem ältesten Sohn Ludwigs XIV. In ihrem Schloss Sceaux etablierte sie ihren Salon, der die berühmtesten Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Literatur anzog. Voltaire wohnte einige Zeit bei ihr und schrieb Erzählungen, um die Herzogin zu unterhalten. Gedruckt wurde Le Monde comme il va erstmals 1748 unter gleichnamigem Titel von Walther de Dresde. Ein Jahr später benannte der Verleger Lambert den Titel in Babouc ou le Monde comme il va um. Die Endfassung aus dem Jahre 1764 lautete Le Monde comme il va. Vision de Babouc, écrite par lui-même. (Vgl. 93)[3]
2. Gut und Böse in der Erzählung
In der Erzählung Le Monde comme il va werden positive und negative Eigenschaften der Bewohner der Stadt Persepolis[4] aufgezeigt und durch die Beschreibung des Skythen[5] Babouc miteinander in Beziehung gesetzt. Die Betitelung „Skythe“ ist nach Donna Isaacs Dalnekoff bewusst gewählt.
Babouc, as a native of the traditionally idealized Scythia is presented as the incarnation of the principles of reason and common sense, principles dear to the eighteenth century philosophers and considered by them to be the attributes of natural, uncorrupted man.[6]
Der Protagonist ist unbeeinflusst und steht allem Neuen vorerst offen gegenüber. “As an ignorant outsider, Babouc is not committed to any conventional outlook and is capable of new insights. He will look carefully before he makes any judgement.”[7]
Auch Peter Brockmeier betont die Unvoreingenommenheit des Protagonisten in Le Monde comme il va, die ebenfalls der Figur Candide in der gleichnamigen Erzählung von Voltaire zuteil wird:
Candide und Babouc haben die Fähigkeit, mit ungetrübten Sinnen und unverdorbenem Verstand Wahrnehmungen zu sammeln und sich ein selbständiges Urteil zu bilden. Sie behalten oder sie gewinnen Distanz zu sich selbst und zu ihrer Umwelt; sie sind oder sie werden skeptisch, resignierte, desengagiert urteilende Betrachter des Weltgeschehens.[8]
Durch seine Position als Fremder gelingt es Babouc, sich in verschiedenen sozialen Gruppen zu bewegen und dadurch unterschiedliche Erfahrungen zum sammeln, beispielsweise in den Bereichen Krieg, Religion und Kirche, Geselligkeit, Rechtwesen, Kunst und Geist, Staatsverwaltung, und sozialen Umgangsformen. Einige Themen, die für das Ancien Régime nicht unwichtig waren, bleiben ausgespart: Die Landwirtschaft und die Probleme der ständischen Hierarchie. Begeben wir uns also auf die Reise des Skythen Babouc.
Auf dem Weg in die Stadt trifft Babouc auf einige Soldaten der persischen Armee, die sich im Krieg mit Indien befinden. Der Skythe stellt fest, dass die kämpfenden Soldaten die Gründe für den Krieg nicht kennen:
Par tous les dieux, dit le soldat, je n’en sais rien. Ce n’est pas mon affaire: mon métier est de tuer et d’être tué pour gagner ma vie; il n’importe qui je serve. Je pourrais même dès demain passer dans le camps des Indiens. (592)
Nur einer der Generäle kann Babouc die Ursache für den Krieg erklären. Es geht um einen Streit, der bereits zwanzig Jahre anhält. Der Eunuch einer Frau des Großkönigs von Persien und ein Hofbeamter des Großkönigs von Indien streiten sich im Namen ihrer Herrscher um einen Rechtsanspruch, der sich ungefähr auf den dreißigsten Teil eines Dareikos[9] beläuft. Das unsinnige Motiv für den Krieg ist offensichtlich. Mit Gräuel betrachtet Babouc das grausame Benehmen aller Beteiligten:
Il vit des officiers tués par leurs propres troupes; il vit des soldats qui achevaient d’égorgés leurs camarades expirants par leur arracher quelques lambeaux sanglants, déchirés et couverts de fange. Il entra dans les hôpitaux où l’on transportait les blessés, dont la plupart expiraient par la négligence inhumaine de ceux mêmes que le roi de Perse pavait chèrement pour le secourir. (96)
Angeekelt von Mord, Brandschatzungen und Verwüstungen unter fragwürdigem Beweggrund fragt sich Babouc: „Sont-ce là des hommes [...] ou des bêtes féroces?“ (96)
Ein wenig später lernt er auf dem Kriegsschauplatz jedoch zu seiner Freude auch Menschen mit tugendhaften Eigenschaften kennen: Gastlichkeit und Nächstenliebe: „Il y [dans le camps des Indiens] fut aussi bien reçu que dans celui des Perses […]. Il apprit des actions des générosité, de grandeur d’âme, d’humanité […] (96f.) Im Text befinden sich allerdings keine expliziten Beispiele für diese großen Taten. In diesem Zusammenhang merkt R. Pearson an:
Subsequently one of the most striking features of the story is the way in which the evils of Persepolis continue to be demonstrated ‚in action’, in both narrative and dialogue, while the ‘good side’ is merely reported but not demonstrated.[10]
Durch das Kriegserlebnis geprägt ahnt Babouc gleich zu Beginn seiner Reise, dass die menschliche Psyche ambivalent ist: „Inexplicables humains, s’ecria-t-il, comment pouvez-vous réunir tant de bassesse et de grandeur, tant de vertus et de crime?“ (97)
Bei seiner Ankunft in Persepolis sieht der Skythe altertümliche und plumpe Bauwerke, die er als unangenehm empfindet. Zudem ist er von schmutzigen und hässlichen Menschen umgeben. Babouc glaubt, er befände sich auf einem Markt für Strohstühle; doch eigentlich wohnt er einem Gottesdienst bei. Das laute Geschrei der vielen Menschen und der bestialische Gestank schrecken ihn ab. Voller Ekel bemerkt er die orthodoxen Riten der Einwohner. Die Menschen begraben ihre Toten am demselben Ort, an dem sie ihre Götter anbeten. „Leurs temples sont pavés de cadavres! Je ne m’étonne plus de ces maladies pestilentielles qui désolent souvent Persépolis.“ (98) Babouc ist davon überzeugt, dass Persepolis zerstört werden muss, um eine neue schönere Stadt an dieser Stelle zu errichten. Doch einige Zeit später entdeckt Babouc prächtige Tempel, Plätze, Paläste und Brunnen und trifft auf freundliche Menschen. Vor einem großen Haus sieht er Tausende von alten, verwundeten und ruhmgekrönten Soldaten, die zu Gott beten. Erfüllt von diesen neuen positiven Eindrücken wird der Skythe von einer Frau zum Essen eingeladen. Statt der vorher so unangenehmen Atmosphäre auf dem „Marktplatz“ verbringt er nun einen Abend in gepflegten Räumen mit einer Gesellschaft von ehrenwerten Leuten und einem vorzüglichen Mahl. Doch im Laufe des Abends wird Baboucs gute Stimmung geschmälert. Er beobachtet, wie seine verheiratete Gastgeberin mit einem jungen Mann kokettiert. Ein anderer Gast drückt in Anwesenheit seiner Frau leidenschaftlich eine Witwe an sich. Der Skythe wird dadurch wieder in seiner Meinung bestärkt, dass Persepolis vernichtet werden müsse. Ehebruch hat in seiner Moralvorstellung für die Gesellschaft weitreichende Konsequenzen: „la jalousie, la discorde, la vengeance“ (99). Babouc geht davon aus, dass die betrogenen Männer die Liebhaber ihrer Frauen töten oder selbst getötet werden.
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[1] Z.B. Donna Isaacs Dalnekoff und Peter Brockmeier.
[2] In der Erzählung Zadig (1747) kritisiert dies Voltaire unterschwellig: „C’était du temps où les Arabes et les Persans commençaient à écrire des Mille et une Nuit, des Mille et un Jours, etc. Ouloug aimait mieux la lecture de Zadig; mais les sultanes aimaient mieux les Mille et un. ,Comment pouvez-vous préférer, leur disait le sage Ouloug, des contes qui sont sans raison, et qui ne signifient rien?“ (29 f.)
[3] Die Zahlen in runden Klammern hinter Zitaten bezeichnen Seitenzahlen in Voltaire: Romans et contes, édition établie par René Pomeau, Paris: Garnier-Flammarion, 1996.
[4] Die Stadt Persepolis hat wirklich existiert. Sie galt als Hauptstadt des altpersischen Reiches und wurde 332 v. Chr. von Alexander dem Großen niedergebrannt.
[5] Sammelbezeichnung für Nomadenstämme der eurasischen Steppe im 1. Jahrtausend v. Chr.
[6] Dalnekoff, D.I.: „Voltaire’s Le Monde comme il va: a satire on satire". In: Studies on Voltaire and the 18th century, 106 (1973). S. 98.
[7] ebd., S. 92.
[8] Brockmeier, Peter: „Die Kritik der Vorurteile in der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts“, in: Brockmeier, Peter & Wetzel, Hermann H. (Hg.) Französische Literatur in Einzeldarstellungen, Bd. 1, Stuttgart: Metzler, 1981. S. 354.
[9] Altpersische Goldmünze.
[10] Pearson R.: The Fables of Reason. A study of Voltaire’s ‘Contes Philosophiques’. Oxford: Clarendon Press, 1993. S. 74.
- Arbeit zitieren
- M. A. Nikola Poitzmann (Autor:in), 2001, Zu Voltaires "Le Monde comme il va", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120570
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